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Die heilende Kraft der Begegnung
»Vor allem nachts, im Mondlicht, über den Schneeflächen siehst du es«, hatte Lunis gesagt. »Es ist, als ob du mit deinem Atem auch selbst größer wirst, und ganz leicht. Dabei entsteht ein Knistern, und dann fällt er mit einem leisen Klirren zu Boden. Die Einheimischen nennen das Sternflüstern.«
Es ist ein wunderbarer Sommer. Die 56-jährige Künstlerin Irith hadert jedoch mit dem Verlust ihres Freundes Lunis. Sie versucht sich durch ihre Arbeit in einem Hotel abzulenken. Dann taucht plötzlich die junge Sophie bei ihr auf. Sie ist ebenfalls Künstlerin und verkauft ungewöhnliche Bilderrahmen. Die Frauen inspirieren sich gegenseitig und beschließen kurzerhand, gemeinsam an einem Wandmosaik zu arbeiten. Irith hat allerdings noch eine Aufgabe zu erfüllen: Lunis hat ihr ein verschlossenes Päckchen hinterlassen, um es einer Frau namens Alix zu geben. Aber wer ist diese Frau? Und welche Rolle hat sie in seinem Leben gespielt? Die Begegnung der drei Frauen, die durch Lunis schicksalhaft verbunden sind, wird zum Wendepunkt ihrer Leben.
In wundervollen Bildern erzählt die Autorin, wie es sich anfühlt, an einem Scheideweg im Leben zu stehen und wie ein klarer Blick nach innen, aber auch die Begegnung mit anderen Menschen helfen können, sich auf den richtigen Weg zu machen.
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Seitenzahl: 376
Veröffentlichungsjahr: 2021
Ein verlassener Garten,
ein Mosaik aus Glas
und die schicksalhafte Begegnung dreier Frauen.
Irith ist 56 Jahre alt und dabei, ihr Leben nach dem Tod ihres Freundes Lunis neu zu sortieren. Als sie die junge Sophie kennenlernt und mit ihr ein Mosaik erschafft, schöpft sie wieder neuen Mut. Allerdings ist da noch das verschlossene Päckchen, das Lunis ihr hinterlassen hat und das sie einer Frau namens Alix zusenden soll. Endlich fasst sie den Entschluss, Kontakt mit Alix aufzunehmen.
Die Begegnung der drei Frauen zeigt, welch heilende Kraft darin liegt, sich immer wieder neu auf das Leben einzulassen.
Paula Carlin ist das Pseudonym der deutschen SPIEGEL-Bestsellerautorin Patricia Koelle. Sie wurde 1964 in Alabama/USA geboren und lebt seit 1965 in Berlin. Ihre größte Leidenschaft gilt dem Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt.
Paula Carlin
Die Geschichte
eines Neuanfangs
Diederichs
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Illustration: © Julia/stock.adobe.com
Satz: dtp im Verlag
E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-27766-6V002
www.diederichs-verlag.de
Dem Leben gewidmet
1
»Du findest mich hier, in diesem Garten!«
Die ungewöhnliche Hitze dieses Sommers hatte die Busfahrt so unerträglich gemacht, dass ich auf dem Heimweg von der Arbeit mehrere Stationen früher ausgestiegen war. Auf meinem spontanen Spaziergang durch eine unbekannte Straße hatte ich ausnahmsweise nicht an Lunis gedacht, als ich seine Stimme hinter dem verfallenden Haus hörte.
Oder hatte er »dich« gesagt? Du findest dich hier in diesem Garten? Möglich war es. Ich hatte keinen Ort mehr, seit ich Lunis verloren hatte.
Das Schild »ZU VERKAUFEN« hatte ich kaum wahrgenommen. Ich weiß nicht, warum ich nicht weitergegangen war. Kaum etwas lag mir ferner, als ein Haus zu kaufen. Selbst wenn ich das gewollt hätte, wäre nicht daran zu denken gewesen.
Andere dachten wohl auch nicht daran, denn das behelfsmäßige Schild, eine Fahne nur aus weißem Stoff mit roten Buchstaben, war voller Taubendreck und Ruß, außerdem halb zerrissen. Der Name der Maklerfirma war gerade noch erkennbar. Mich ging es nichts an. Und doch blieb ich stehen, als hätte ich mich in diesem kurzen Moment gerade hier in die Erde gebohrt, ebenso wie über Jahre die Bäume, die auf dem Grundstück gediehen, wild und von keiner ordnenden Hand berührt. Zwei davon waren durch den Zaun nach draußen zum Licht hingewachsen und hatten dabei das alte Schmiedeeisen unbeirrt auseinandergebogen.
Die Stimme existierte natürlich nur in meiner Einbildung und war aus meiner Sehnsucht entstanden. Ein bedenkliches Echo meiner Trauer.
Doch ein Abendwind, sommersanft und voller Lindenblütenduft, wirbelte aus dem Garten herauf, und wieder hätte ich schwören können, dass er Lunis’ Stimme in sich trug. Seine Stimme und ein leises Lachen. Ich starrte auf die Stelle, wo der Ahorn die Stäbe im Zaun geöffnet hatte. Es wäre ein Leichtes, dort hindurchzuschlüpfen. Das Brennnesseldickicht fürchtete ich nicht, denn ich trug lange Hosen. Neben den Brennnesseln kroch eine gelb-schwarz gestreifte Raupe eine verwilderte Dillstaude hinauf. Sie hätte Lunis gefallen. »Daraus wird einmal ein Schwalbenschwanz«, hätte er bedeutungsschwer gesagt, als ob er der Einzige wäre, der so etwas wüsste. Und ich hätte so getan, als habe er mir etwas beigebracht. Oft genug war das der Fall, und es tat ihm gut, etwas geben zu können.
Er hatte mir so viele Fenster geöffnet, mit einem neuen Blick auf das Leben hinter jedem davon. Wie hätte ich da nicht nachsichtig sein können? Mit ihm – und mit mir. Zwischen uns war immer zugleich ein Fernbleiben wie auch ein leidenschaftliches Einssein auf so vielen Ebenen, wie sich Farben in den Gesteinsschichten eines Gebirges finden. Mit ihm war etwas aus meinem Leben verschwunden, was zum tragenden Fundament gehört hatte. Da erst musste ich mir eingestehen, wie unerschütterlich ich ihn geliebt hatte, mit all seinen Widersprüchen und Brüchen.
»Was machst du hier, Lunis?«, fragte ich über den Zaun. »Willst du mir zeigen, dass du dich amüsierst? Worüber? Über mich oder darüber, dass ich dir das zutraue?«
Die einzige Antwort war ein Eichhörnchen, das oben auf dem Zaun entlanglief, kurz stoppte, um mir einen fragenden Blick zuzuwerfen, und dann schimpfend im Ahorn verschwand.
Tage mit Lunis hatten stets einen goldenen Rand besessen, vielleicht weil wir in den ganzen Jahren nie einen Alltag teilten. Der Himmel zeigte diesen Rand jetzt gerade auch. Vielleicht spiegelte er meine Gedanken, oder hatte auch er Lunis’ Worte vernommen? Während ich da stand, wo mich etwas Unerklärliches festhielt, trieb mit der Kühle leichter Dunst in den von Abendsonne erfüllten Garten, der tiefer lag als die Straße. Dahinter erhob sich das Haus, das mich vage an eine brütende Glucke erinnerte.
»Das alte Ungeheuer wird leider niemand kaufen«, sagte eine fremde Stimme plötzlich hinter mir. Ich schrak zusammen und blickte mich um. Eine Frau, noch nicht alt, aber mit einem Gesichtsausdruck, als sei sie es gewohnt, Sorgen zu tragen, die nicht ihre waren. »Eine Katastrophe, wie das hier aussieht! Das tut sich keiner an, der bei Sinnen ist. Da müsste man ein Vermögen reinstecken, und das für einen alten Kasten, in dem es nicht nur durch das Dach regnet. Ich fürchte, mit dem Anblick werden wir noch lange leben müssen.«
»Wohnen Sie im Nachbarhaus?«, erkundigte ich mich. Von einer Katastrophe hatte ich eine andere Vorstellung als sie.
»Nein, im übernächsten. So habe ich das Elend wenigstens nicht vor meiner Nase. Aber es ist ein Trauerspiel.«
In dieser Hinsicht gab ich ihr recht. Das Haus wirkte, als wäre es einmal glücklich gewesen, doch nun in einer tiefen, traurigen Einsamkeit versunken. Es hätte einen Prinzen verdient, der es aus seinem Dornröschenschlaf küsste. Aber dafür war es wohl zu alt und von den Jahren gebeugt. Die Gesellschaft verlangt ausschließlich nach jungen Prinzessinnen. Daran hatte sich seit Grimms Zeiten nichts geändert.
»Wer hat denn einmal hier gelebt, und wie lange steht es schon leer?« Das Gespräch half ein wenig gegen die Melancholie, die mich überkommen hatte. Ich wollte mehr hören von der vertrauten, verlorenen Stimme aus dem Garten und wusste doch, dass das nicht mehr sein konnte als eine Illusion. Nie wieder würde dieser Tonfall durch meine Tage hallen, der so voller Begeisterung war, dass er mich mitriss und fast unerträglich lebendig machte.
Die Frau musterte mich kritisch. »Haben Sie etwa Interesse an dem Haus?«
Bei einem Ja würde sie sicherlich noch zutraulicher. Sie hätte jeden als Nachbarn akzeptiert, nur damit wieder Ordnung herrschte.
»Ja«, sagte ich.
Es war nicht gelogen. Das Haus interessierte mich, auch wenn ich es niemals hätte kaufen können und es nicht einmal ansatzweise in meine Lebensplanung passte, die es gerade kaum noch gab.
Wie erwartet erwärmte sie sich für mich. »Hier hat ein älterer Herr gelebt, ich glaube sein ganzes Leben. Er war nicht gesellig, aber auch nicht unfreundlich. Früher hat er sich leidenschaftlich um den Garten gekümmert und auch ab und zu einen Gärtner beschäftigt, der ihm half. Das konnte er sich wohl später nicht mehr leisten. Er ging natürlich immer zur Arbeit, jeden Tag pünktlich. Nie war er krank.« Sie nickte nachdrücklich, als fürchtete sie, ich würde ihr nicht glauben. »Als er dann Rentner wurde, fing alles an zu verwahrlosen. Wahrscheinlich war es keine hohe Rente. Er machte trotzdem einen sehr zufriedenen Eindruck. Immer! Ich glaube, er hat gar nicht wahrgenommen, wie der Garten zuwucherte und das Dach Löcher bekam. Er war zu Hause, er war gesund, und er war glücklich.« Jetzt klang sie verständnisvoll. Und wehmütig. Und neidisch.
»Hat er denn keine Familie gehabt? Das Haus ist doch zu groß für einen Menschen allein.« Ich stellte mir den Mann vor, wie er jahrzehntelang kam und ging. Wie er durch das Haus lief, wie seine Schritte zu schlurfen begannen, sein Rücken gebeugter wurde und wie er durch den Garten spazierte und diesen immer noch so sah, wie er vielleicht vor zwanzig Jahren einmal gewesen war. Mit Blumenkübeln und Gemüsebeeten und einem Rasen, auf dem Kinder hätten spielen können, wenn es welche gegeben hätte.
Sie schüttelte den Kopf. »Eine Zeit lang kam manchmal eine Frau. Sie trank mit ihm Kaffee und erledigte etwas Gartenarbeit, und ein paarmal gingen sie zusammen aus. Aber es ist nichts daraus geworden, oder vielleicht war da auch gar nichts. Doch er wirkte bei allem nie unzufrieden, der Herr Wilhelms. Ganz im Gegenteil. Er ist Motorrad gefahren, auch als er schon sehr alt war. Dann kam er immer mit einem Lächeln nach Hause. Stellen Sie sich vor, er ließ sich sogar einen Pferdeschwanz wachsen, als er nicht mehr arbeitete. Wie so ein Altrocker.« Widerwillig schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Irgendwie habe ich ihn bewundert! Er tat, was er wollte, fiel keinem zur Last, rechtfertigte sein Tun vor niemandem und es war ihm egal, was andere über ihn redeten. Einen Großneffen hatte er, der kam manchmal zu Besuch, auch mit einem Motorrad. Der hat das Haus geerbt, aber er kann sich nicht darum kümmern. Hat kein Geld, um es vor dem Verfall zu bewahren, außerdem wohnt er nicht in der Stadt. Er hofft verzweifelt, dass sich ein Käufer findet. Ist schon mit dem Preis runtergegangen. So steht das hier nur herum, verursacht Kosten und verliert an Wert. Traurig, wirklich traurig!«
Ich revidierte mein Bild von dem alten Herrn Wilhelms. Sicher war er nicht gebeugt gewesen und mit schlurfenden Schritten durch das Haus geirrt. Er saß auf seinem Motorrad und genoss seine Freiheit mit wehenden Haaren. Vielleicht hatte er sich einfach nie binden wollen, um diese Freiheit zu behalten. Er war ein zufriedener Mensch gewesen. Gab es das noch?
Auch das Haus wirkte nicht unzufrieden, mit seinem breiten Dach, das sich rechts und links wie Flügel ausbreitete. Es war nicht unglücklich, nur verlassen.
Die Frau deutete auf das Schild. »Die Nummer der Maklerfirma haben Sie ja, wenn Sie sich wirklich interessieren. Ich muss weiter. Wäre schon schön, wenn sich etwas täte, obwohl das garantiert viel Dreck und Lärm gibt. Alles Gute.«
»Auf Wiedersehen.«
Warum hatte ich auf Wiedersehen gesagt? Ich war nur zufällig durch diese Straße gegangen. Gewiss würde ich nie wieder hierherkommen. Ich war nur stehen geblieben, weil … Ja, warum? Im Augenblick war ich mir nicht mehr sicher, ob ich mir wirklich eingebildet hatte, Lunis’ Stimme zu hören, oder ob es das Haus selbst war, das nach mir gerufen hatte.
Doch ich konnte nicht anders, ob verboten oder nicht. Auf Hausfriedensbruch stand sicher höchstens eine Geldstrafe. War es überhaupt eine Straftat, wenn niemand im Haus wohnte? Ich würde den Frieden nicht stören. Dafür war er zu tief. Ich konnte ihn spüren, als ich durch den Zaun schlüpfte. Still stand ich vor dem Haus auf dem Kiesweg, auf dem knöcheltief die Blätter des letzten Herbstes umhertrieben. Vielleicht war dieser Frieden bereits hier gewesen, als der Herr Wilhelms noch lebte. Möglicherweise war es dieser Frieden gewesen, der ihn so frei machte.
Eine ganze Weile verharrte ich im Schutz eines dichten Rhododendrons. Von der Straße aus konnte man mich nicht sehen. Drei Stufen führten zu der Haustür hinauf, die aus schwerem Holz war und oben rund geschwungen, ein Portal, wie es einem solchen Haus anstand. Es hätte protzig wirken können, wenn es nicht so schlicht gewesen wäre. Der steinerne Rundbogen um die Tür herum wies eingemeißelte Ornamente auf, die jenen Gräsern ähnelten, die mich hereingebeten hatten.
Der Fassade hatte das Alter eine undefinierbare braune Farbe auferlegt, aber der Putz war überraschend gut erhalten. Das Dach war eindeutig in schlechterem Zustand. Es trug Vergänglichkeit wie eine rostige Krone, mit Würde und Trotz. Altmodische Fensterläden waren beidseitig der Fenster aufgeklappt. Auch sie waren in gutem Zustand, mit feinen durchbrochenen Mustern. Das Holz war überraschend hell, vielleicht waren sie einmal erneuert worden. Ich strich mit der Hand darüber. Es fühlte sich warm und glatt an. Diese Fensterläden forderten, morgens aufgeklappt zu werden, um den Tag hineinzulassen, und abends wieder zu, um Geborgenheit zu schaffen. Ich zog die Hand rasch weg. Ich wollte und durfte mich niemals in dieses Haus verlieben! Es ist zwar nie vergeblich, sich zu verlieben, auch wenn es aussichtslos ist. Das wusste ich spätestens jetzt. Doch zurzeit war ich nicht in der Lage dazu.
Ein Kitzeln am Ohr machte mir bewusst, dass um mich herum Krümel fielen, sanft und gleichmäßig, wie grüner Schnee. Überrascht blickte ich hoch und sah, dass sie aus dem wilden Wein rieselten, der vom Geländer eines Balkons über dem Portal herabhing wie Ponyfransen. Von dort kam auch das beständige Summen, das mir erst jetzt auffiel, nachdem ich näher an das Haus getreten war. Es klang beinahe elektrisch; erst nahm ich an, es liefe irgendwo in der Ferne ein Rasenmäher. Aber es war ein anderer Ton, fast musikalisch, sehr intensiv, wie ein ständiges Vibrieren in der Luft. Ein Ton, der mich etwas aus meiner Betäubung der letzten Wochen weckte und von Leben sprach, von ungeduldiger, fast verzweifelter Lebendigkeit. Einen ähnlichen Ton hatte ich schon einmal gehört, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.
2
Der Wein blühte, unscheinbare weiße Blütentrauben zwischen dichten grünen Blättern, die einer Unmenge Hände gleich nach dem Himmel griffen oder auf die Erde wiesen. Die Blüten waren winzig, doch sie trugen einen süßen Nektar in sich, der die Bienen unwiderstehlich anzog. Ganze Schwärme davon waren emsig darin unterwegs und stürzten sich voller Leidenschaft hinein, was dazu führte, dass ständig welkende Blütenteile zu Boden fielen. So kam der grüne Schnee zustande, der unter dem Dach eine feine Linie auf den Boden zeichnete. Eine Weile sah ich dem Treiben zu und lauschte diesem vertrauten Ton.
Damals waren die Bienen in einer weiten Wiese unterwegs gewesen, von Blüte zu Blüte, einzeln nur, nicht in Schwärmen. Damals war ihr Summen die Stimme eines langsamen Sommers gewesen, träge und warm und in der Gewissheit, dass Lunis in der Nähe war und ich nur den Blick heben brauchte, um ihn über seine Arbeit gebeugt zu sehen.
Ich überließ die Bienen ihrem Fest und suchte einen Weg an der Seite des Hauses entlang. Dort gab es eine großzügige Terrasse und darunter eine Garage, zu der eine abschüssige steinerne Ebene hinunterführte und die ein hölzernes Portal besaß, das der Haustür ähnelte, aber größer war. Es hätte selbst einer kleinen Ritterburg Ehre gemacht. Die Terrasse war von überhängenden Bäumen so stark zugewuchert, dass man sie kaum erkennen konnte. Ich bahnte mir einen Gang durch undefinierbares Gestrüpp. Dahinter sah ich eine verdorrte Rasenfläche, die aus dem Schatten des Dickichts heraus blendend hell wirkte. Sie lag noch tiefer als das schräge Gelände an der Seite. Fast kniehoch schichteten sich auf ihr Blätter und Reisig, Sedimente aus vergangenen Herbsten. Es roch nach Moder und Pilzen, dabei herrschte seit Wochen Trockenheit. Auf einmal musste ich an Jakob denken. Nun war mir kalt. Was war das hier, ein Garten der Geister? Mein Mann lebte schon seit siebzehn Jahren und fünf Monaten nicht mehr! Die Jahrtausendwende hatte ihn mit sich genommen, als hätte seine Krankheit nur darauf gewartet. Er war seitdem sicher in meiner Erinnerung geborgen, mir immer nahe. Warum dann schien er mir gerade jetzt besonders gegenwärtig, wenn doch der Gedanke an Lunis mich hier hereingelockt hatte?
Oder war es das Haus selbst, das sich Scherze mit mir erlaubte? Wollte es mich in seine Einsamkeit hineinzwingen? Unwillkürlich schüttelte ich den Kopf. Damit würde es kein Glück haben! Ich wollte mich nicht wieder einfangen lassen. Von nichts und niemandem. Ich wollte niemals wieder um jemanden trauern müssen. Ich wollte mir nicht einmal Sorgen um ein unbekanntes altes Haus machen.
Jetzt, da auch Lunis fort war, wollte ich frei sein, frei und zufrieden, und zwar genau so wie der alte Herr Wilhelms. Noch nie war mir das so klar geworden wie hier in diesen unheimlichen Schatten der Jahre eines Fremden und ihrer Spuren.
Doch wie konnte ich jemals frei sein, wenn Lunis diese Leere und offenen Fragen in meinem Leben hinterlassen hatte? Wenn ich in der einen oder anderen Weise seiner Abwesenheit zum Trotz an jeder Ecke auf ihn stieß?
Und solange obendrein noch das zerbrechliche Päckchen unbekannten Inhalts, das er ungeniert und bleiern auf mein Gewissen gelegt hatte, noch ganz hinten in meinem Schrank lauerte?
Was war ihm nur eingefallen, mich damit zu belasten? Nun, da ich nicht einmal mehr Nein sagen konnte? Das war so typisch für ihn! Es machte mich wütend und amüsierte mich zugleich. Warum fällt es uns oft so schwer, Nein zu sagen? Abzulehnen, wenn uns jemand ein Päckchen auferlegt, das gar nicht unseres ist, ein zerbrechliches noch dazu?
Momentan, gelähmt von der Hitze und meiner immer noch fassungslosen Trauer, fand ich keinerlei Kraft, mich darum zu kümmern.
Ich ging weiter auf die Lichtung zu. Vielleicht würde mir der Garten etwas über das Geheimnis von Herrn Wilhelms Zufriedenheit und Freiheit verraten. Die Frau aus dem übernächsten Haus hatte geklungen, als wäre sie neidisch auf ihn. Ich war nicht neidisch, aber zu gern hätte ich gewusst, wie man es anstellt, glücklich und zufrieden zu sein.
Ich rieb mir die Gänsehaut von den Armen, trat um die Hausecke und blinzelte gegen die tief stehende Sonne, die mir Wärme auf das Gesicht legte.
Ein Fuchs stakste durch das welke Gras und betrachtete mich fragend, ohne Furcht. Er blieb stehen, ich auch.
»Ich will dich nicht stören«, sagte ich. Ich gehörte nicht zu denen, die glauben, Tiere würden es verstehen, wenn man mit ihnen spricht. Aber es tat so gut, zur Abwechslung nur meine eigene Stimme zu vernehmen an diesem unverhofften Ort meiner Geister.
Jakob und Lunis. Nacheinander war ich ihnen nahe gewesen und nacheinander hatte ich sie verloren. Doch hier benahm sich die Zeit wie eine zusammengedrückte Ziehharmonika. Alles war jetzt. Beide waren gleichzeitig so gegenwärtig wie der Fuchs, nur unsichtbar. »Vielleicht sagen sich hier Fuchs und Hase gute Nacht«, murmelte ich. Der abgegriffene alte Spruch passte in diesen Garten, obwohl er in einer Stadt lag. Ich hatte schon einmal mit Lunis über dieses Sprichwort diskutiert, ganz am Anfang.
Der Fuchs wandte sich ab und schritt würdevoll weiter, bis er unter einer Trauerbirke das Ende seines Tages fand, sich zusammenrollte und einschlief. Er empfand mich nicht als Bedrohung, eher als Nebensache.
War ich der Hase gewesen in der Beziehung zu Lunis? Auch er war, wie der Fuchs, meinetwegen nicht einen Zentimeter von seinem Weg abgewichen. Und wenn er wieder einmal mit seinem langen Arm beiläufig über meine Schulter griff und einige Steine aus meinem Mosaik anders anordnete, ließ ich ihn gewähren. Für mich gab es beim Erschaffen von etwas kein Besser oder Schlechter mehr, nur ein anders.
Dieser Garten war selbst wie ein Mosaik. Überall leere Blumentöpfe, alte Ziegel, zerbrochene Fenster, geborstene Trittplatten, und doch ergaben sie ein eigenartiges harmonisches Ganzes. Hatte Lunis mich deshalb hereingerufen, um mir das zu zeigen? Weil er wusste, dass es mir gefallen würde? Oder um mir zu beweisen, dass mein Anordnen von Fragmenten inzwischen überflüssig war? Was wollte meine Erinnerung mir sagen, indem sie seine Stimme heraufbeschworen hatte? Dass ich selbst, mein Leben, das Mosaik war, das ich zum ersten Mal auf meine ganz eigene Weise neu zusammenfügen musste?
Ich entdeckte eine steinerne Sonnenuhr, die Reste eines Wasserbeckens und einer Kräuterspirale, sogar das Skelett eines Gewächshauses. Die Sonne war mittlerweile hinter den Nachbarhäusern versunken, und das Grundstück füllte sich mit langen Schatten, die sich trafen und zu einem wurden. Ich beeilte mich, zurück auf die Straße zu finden, in die echte Zeit. Das laute Brausen des Verkehrs erschien mir beruhigend wirklich.
Ich war erleichtert, als ich wieder in einen vertrauten Weg einbog, um diesen Spaziergang zu vergessen wie alle anderen auch, die ich häufig an meinen Feierabenden unternommen hatte.
Gerade als ich meine Wohnung betrat, kam Frau Keller aus der Nachbarwohnung auf mich zugeeilt. »Ich habe ein Paket für Sie angenommen, Frau Falterberg!« In ihrer Stimme lag eine Wichtigkeit, als enthielte das kleine Päckchen, das sie mir reichte, meine gesamte Zukunft anstatt einer kleinen Flasche Spezialkleber.
»Vielen Dank, Frau Keller. Einen schönen Abend noch!«
Sie bohrte ihren Absatz in meine Fußmatte. »Kommt denn der Herr Bendixen gar nicht mehr?«
»Nein«, sagte ich. »Der kommt nicht mehr.«
Sie holte Luft, aber ich schloss leise die Tür vor ihrer Neugier. »Er war doch immer so charmant, der Herr Bendixen«, hörte ich sie im leeren Flur, gefolgt von einem Seufzen, über das der Herr Bendixen schallend gelacht hätte.
Wie vermisste ich Lunis’ Lachen! Kein Wunder, dass es mich vorhin in den Garten gelockt hatte, auch wenn ich nicht begriff, wie es dorthin gekommen war.
»Ihnen auch einen schönen Abend, Frau Falterberg!«, sagte die Nachbarin draußen noch, ehe sie geräuschvoll ihre Tür schloss.
Immerhin hatte sie mich erfolgreich in die Realität zurückgeholt. Heute würde ich keine Stimmen mehr hören, die nur in meiner Einbildung existierten.
Als Kind hatte ich mir unter meinem Familiennamen vorgestellt, dass ich auf einem Berg geboren wäre, der sich als einziger mitten aus einer flachen, frühlingsgrünen Landschaft erhob. Über seinem sanft gerundeten Gipfel voller Blumen kreisten Schmetterlinge in allen Farben und Größen. Damals schwor ich mir, diesen Falterberg zu finden und wieder zu erklimmen. Eines Tages, wenn ich erwachsen war und niemand mehr an mir herummäkeln würde und ich es endlich verdient hätte. Wenn ich gut genug für die Schmetterlinge unter dem Himmel war. Wenn keine Eltern und keine Lehrer mir mehr einschärfen mussten, meine Haltung wäre zu nachlässig, meine Schrift zu unordentlich, mein Charme und meine Höflichkeit unzulänglich und mein Wissen rudimentär.
Doch als ich erwachsen war, gab es die Ausbilder in der Hotelfachschule, dann die Küchenchefs, Hausdamen und Hoteldirektoren, die mir erklärten, dass ich die Kartoffeln falsch schälte, die Handtücher zu langsam sortierte und bei der Zimmervergabe die Laufkundschaft den Stammgästen vorgezogen hätte.
Ich war nie gut genug für den Gipfel. Und nachdem mein Mann Jakob mir später mit liebevoller Nachsicht erklärte, dass mein Kleid nach seinem Empfinden für den Empfang auf dem Presseball nicht ganz angemessen war, meine Haare zu wild vom Wind und mein Interesse an altem Gerümpel übrigens auch nicht als Tischgespräch geeignet, vergaß ich irgendwann, nach dem Berg zu suchen.
Ich hätte den Fuchs fragen sollen, vielleicht kannte der einen solchen Berg, er, der ungehindert durch die Landschaft schlich und sich von Menschen dabei nicht beirren ließ.
Die Nacht brachte mir keinen erholsamen Schlaf und kein Vergessen. In der folgenden war es nicht anders. Der Mond hinter den Birken rief mich so laut wie die Stimme im Garten. Morgens war ich erschöpft. Mittags ballte sich die versöhnliche Sonne des Vortags zu einer Hitzefaust und raffte die Schäfchenwolken zu Gewittertürmen zusammen. Südlich der Stadt brannte der Wald. Der Wind trug den Rauch heran und legte Asche auf das Fensterbrett und in die Lungen.
Ich wusste, warum die Nächte zerrissen waren. Es war, weil ohne Lunis meinen Tagen fehlte, was sie zusammengehalten hatte, was ihnen den Geschmack von Klee und Meerwasser gegeben und sie mit seiner endlosen Energie zum Summen gebracht hatte wie die Bienen im wilden Wein.
Die Atmosphäre in dem verlassenen Garten ließ mich nicht mehr los, drängte sich in meine Gedanken. Die Schatten dort hatten mir vorgehalten, was ich verdrängt hatte. Ohne Lunis konnte ich nicht weitermachen, als wäre nichts geschehen.
Nachmittags packte ich eine Thermoskanne Kaffee in meinen Rucksack, zog meine Regenjacke an und holte im Vorbeigehen beim Bäcker ein Stück von der Blaubeertorte, die Lunis und ich gemocht hatten. Ich bog in die Straße ein, die ich nie wieder hatte betreten wollen und in der mich bereits die Nachbarn grüßten. Ein verhaltenes Donnern lief durch die Hitzestille, und erster Regen fiel aus dem schweren Himmel. Die Eisenstäbe des Zauns hinterließen rostige Spuren auf meiner Jacke, als ich mich hindurchdrückte. Im wilden Wein glänzten die Tropfen, bevor sie mir in den Kragen liefen. Ich zog die Kapuze hoch und blickte zu den grünen Fransen auf, in denen heute keine Bienen summten, sondern silbernes Licht plätscherte. Das Wasser war angenehm kühl auf meinem erhitzten Gesicht.
Ich setzte mich auf die zweite Terrasse hinten am Haus, die überdacht war und einer Veranda ähnelte. Dort hatte das Dach keine Löcher; die Blätter, die der Wind in die Ecken gefegt hatte, waren trocken, und sogar ein durchgesessener Korbstuhl stand noch da. Er ächzte, als ich mich setzte, aber er hielt. Der Regen rauschte nun heftig auf den ausgetrockneten Garten. Aus der geborstenen Dachrinne stürzten breite Bäche, die Silhouetten der Bäume dahinter waren jetzt verzerrt. Ein Blitz erhellte alles blendend, dann krachte ein Donnerschlag, der alles erzittern ließ. Ich liebe Gewitter. Es roch nach nasser Erde, etwas Schimmel, Blaubeertorte und neuer Energie. Das matte Gras begann sich aufzurichten, während ich einfach nur dasaß, die Zeit vergaß und daran dachte, wie es war, als ich Lunis kennenlernte.
Vielleicht muss man noch einmal an den Anfang zurückkehren, überlegte ich, um etwas beenden zu können.
Erst jetzt bemerkte ich, dass der Fuchs hier ebenfalls Schutz gesucht hatte.
Zusammengerollt lag er in einer anderen Ecke und betrachtete mich.
»Hallo«, sagte ich. Seine Schwanzspitze zuckte leicht. Er wirkte nicht krank; außerdem war die Tollwut hier schon lange ausgemerzt. Die Stadtfüchse waren oft zahm. Und da ich heute noch nichts im Garten angefasst hatte, machte mir auch ein eventueller Fuchsbandwurm keine Angst. Ich warf ihm ein Stück Blaubeertorte hin. Gemächlich erhob er sich, schnupperte, kostete, fraß alles auf und leckte sich die Schnauze, bevor er sich wieder auf seinen Platz begab und in den Regen hinaussah.
»Wildtiere soll man nicht füttern!«, waren Lunis’ erste Worte an mich gewesen.
3
Es war ein ähnlich feuchter Tag, damals. Ich saß auf einer Bank und wartete darauf, dass der Markt in dem kleinen Urlaubsort beginnen würde.
»Ja, ich weiß, dass es nicht gut ist, Wildtiere zu füttern. Aber es ist nur ein Frosch«, erwiderte ich.
Ich hatte den Mann nicht beachtet, der sich mit einem schweren Handkarren näherte.
Als der Frosch aus den welken Gräsern auf mich zugesprungen war, hatte ich mich gefreut. Frösche erinnerten mich an meine Kindheit. Oft hatte ich sie mit Mehlwürmern gefüttert, die ich für ein paar Pfennige im Zoogeschäft erstand. Frösche fressen nur, was sich bewegt. Darum hatte ich auch Geschick darin entwickelt, ihnen tote Fliegen so hinzuwerfen, dass sie sie im Sprung erwischten. Ich mochte es, ihnen zuzusehen, wenn sie hinterher befriedigt schluckten, wobei sich durch einen Reflex ihre Augen schlossen. Es wirkte so genießerisch und zufrieden. Schon damals wünschte ich mir, diese Zufriedenheit auch spüren zu können.
Es gelang mir nie, mit einem solchen Ausdruck das Fleisch herunterzuwürgen, das zu Hause auf den Tisch kam. Mir wurde wie den meisten von uns zu jener Zeit eingetrichtert, glücklich darüber sein zu müssen, dass dieses Essen überhaupt auf dem Tisch war, schließlich gab es die vielen armen hungrigen Kinder in Afrika. Und früher im Krieg habe man auch nichts zu beißen gehabt und wäre dankbar gewesen. Das alles sah ich durchaus ein. Dennoch gelang es mir nicht, den Widerwillen gegen den sonntäglichen Braten zu überwinden. Anscheinend hatte ich mit den Fröschen wenig gemeinsam. Trotzdem machte es mir heute wieder Freude, dass der Frosch meinen angebotenen Regenwurm sofort annahm. Ich mochte die goldenen Funken in seinen Augen, die Zeichnung auf seinem Rücken und die souveräne Art, wie er mit seinen langen Beinen umging. Schon immer war ich froh gewesen, dass Frösche Frösche blieben und keine Prinzen wurden. Viel erstaunlicher ist doch die Wandlung von der Kaulquappe zum Frosch. Was für ein Nichts ist dagegen ein Prinz!
Die Einmischung des Fremden störte mich. Was ging ihn mein Tun an, auch wenn er im Prinzip recht hatte? Ich hatte dem Frosch keine Bratwurst angeboten. Es handelte sich um artgerechte Nahrung. Ich hätte dem Mann gar nicht antworten sollen, überlegte ich gerade, da blieb er stehen und betrachtete den Frosch. »Der sieht allerdings recht zufrieden aus«, sagte er. Das erschien mir wie ein unheimliches Echo meiner Gedanken. Etwas zu hastig sprang ich auf, um dem Fremden wenigstens auf Augenhöhe zu begegnen. Der Frosch erschrak und hüpfte zurück ins Gebüsch.
Der Mann aber war bereits mit seinem Handkarren auf dem Weg zur nächstgelegenen Bretterbude, die er aufschloss und einzuräumen begann. Er würdigte mich keines weiteren Blickes.
Ich schlenderte über den Markt, kaufte mir ein Brötchen und sah zu, wie die Händler ihre Stände öffneten. Ich war im Urlaub und hatte Zeit. In diesem kleinen Ort wurde auf dem Markt noch Kunsthandwerk verkauft. Es war kein Rummel mit Schießbuden und Riesenrädern. Es gab alte Spinnräder und moderne Keramik, traditionellen Blaudruck und experimentelle Schrottplastik. Dazwischen gelbe Zucchini und erstaunlich riesige Sträuße aus Sonnenblumen und Rittersporn. Ich kaufte nichts. Ich sammelte Farben und Gerüche, Gesprächsfetzen und Gelächter, genoss den Wind und sorglos blauen Himmel. Eine zeitlose Weile später fand ich mich am Ende meines Rundgangs vor dem Stand des Mannes mit dem Handkarren und dem angenehmen Bariton wieder. Ich bemerkte nicht gleich, dass es sein Stand war, weil mein Blick von seiner Ware angezogen wurde.
»Aha, Sie haben die Erinnerung an den Frosch verewigt«, sagte er und zeigte auf mich. Verwirrt sah ich an mir herunter und stellte fest, dass die Stachelbeerkonfitüre von meinem Brötchen auf mein T-Shirt getropft war. Tatsächlich sah der grünbraune Fleck einem Frosch ähnlich. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder peinlich berührt sein sollte. Als ich jedoch dem Blick meines Gegenübers begegnete, lag darin so viel übermütige Heiterkeit, dass ich nicht anders konnte als ihn anzulächeln. Ich schätzte, dass er ein paar Jahre älter als ich war, über vierzig jedenfalls. Er hatte graue Schläfen und auch sonst Silberfäden im dichten, etwas zu langen Haar, dazu einen gepflegten Bart, der noch so schwarz war, dass er das Licht zu schlucken schien. Seine Augen wirkten ungewöhnlich groß und erinnerten mich an eine herbstliche Dämmerung, zwischen Grau und Blau, kühl und voller Licht, mit ein wenig Schwermut im Hintergrund.
»Haben Sie diese Landschaften gemacht?« Mein Finger berührte wie von selbst den Rand einer gläsernen Schale und damit die filigranen Äste eines Baumes auf einer Wiese. Beides war kaum zu ahnen, ein Hauch nur, ein Traumbild. Ich hatte das Gefühl, dass die Szene beim nächsten Hinsehen verschwunden sein könnte, als wäre die Oberfläche nur für diesen Augenblick von unserem Atem beschlagen. Doch das Bild blieb, auch als Wolken über die Sonne fuhren und das Licht durch diesen Lidschlag des Himmels wechselte. Der Baum hatte Charakter, trug einen Ausdruck; ich war mir nicht sicher ob absichtlich. Aus der Wiese stieg Nebel, Gräser bogen sich vom Tau.
»Ja«, sagte der Mann und widmete sich wieder seiner Arbeit. »Die Teller und Gefäße nicht, die Bilder ja.«
Er hielt ein Trinkglas in der Hand, bevor er den Stift ansetzte. Aber es war gar kein Stift, sondern ein elektrisches Gerät, das er wie einen solchen gebrauchte. Ich weiß nicht, warum ich erwartet hatte, dass sein Handwerk lautlos vonstattenginge. Es hätte eben besser zu den Ergebnissen gepasst. Stattdessen ertönte ein lautes, unangenehmes Geräusch. Ich hätte mir gern die Ohren zugehalten, konnte es aber nicht lassen, über all die Oberflächen zu streichen, die sich auf dem rauen Tresen ausbreiteten. Matt und samtig an einigen Stellen, dort Einkerbungen, hier Dellen, kaum spürbar, gelegentlich ein gewollt unregelmäßiger Rand, ein Riss, der keiner war, gekonnt nur so wirkte. Ein raffiniertes Spiel mit dem Betrachter, dem Licht und dem Material. Dieser Mann machte ein starres Medium gefügig, ohne es zu brechen.
Er hatte zu wenig Raum hinter dem Stand. Eine unkluge Bewegung mit dem Arm, schon stieß sein Ellenbogen gegen etwas, das auf das Kopfsteinpflaster fiel und in Scherben zersprang. Es handelte sich um eines der wenigen farbigen Teile in seinem Angebot, eine flache Schale, vielleicht als Kuchenplatte zu gebrauchen. Nun nicht mehr. Reflexartig bückte ich mich, um die Scherben aufzusammeln, die seinen bloßen Füßen in den brüchigen Sandalen gefährlich nahekamen.
»Lassen Sie liegen, das mach ich später«, sagte er ohne eine Spur von Ärger in der Stimme und blickte konzentriert auf seine Arbeit.
»Schade um das schöne Stück«, sagte ich traurig.
»Ach was. Für mich sind die Sachen immer nur so lange interessant, wie ich daran arbeite«, sagte er. »Ich muss hier aufpassen, bitte stören Sie mich nicht.«
Was machte er eigentlich, wenn Kunden kamen? Wollte er überhaupt welche?
Ich schwieg, sammelte die Scherben in eine herumliegende Tüte und zog mich auf die Bank zurück, an der ich vorhin den Frosch getroffen hatte. Der Glasmann beachtete mich nicht weiter.
Die Wärme des Tages, trotz ihrer Dichte kühler als in der Stadt, legte sich wie Frieden um mich, während sich meine Hände wie unter einem freundlichen Zwang mit dem beschäftigten, was gerade zerbrochen war.
Es war Ende August. Diese Zeit versetzte mich immer in einen besonderen Zustand. Ich mochte es, wenn das Licht nach der Sonnenwende auf der Rückseite des Sommers ins Wehmütige, Warme kippte, weil die Sonne schon bald tiefer stand, helle Finger unter die Oberflächen schob und manches in ein überraschendes Licht rückte. Konturen wurden schärfer. Die Luft schien so klar, dass ich manchmal befürchtete, wenn ich zu laut redete oder zu heftig auftrat, könnte sie in Scherben zerbrechen wie das Glas und mir vor die Füße fallen, sodass ich nicht wüsste, wie ich weitergehen sollte, ohne hineinzutreten. Kleine Dinge wie filigrane Wesen und hauchdünne Blüten, die ich im Brennen des Sommers übersehen hätte, nahm ich nun wahr, weil sie lange Schatten warfen. Selbst das Glänzen auf Libellenflügeln wirkte jetzt anders.
Auch die Wärme in der Luft änderte sich mit dem Licht und fing kaum merklich an, zu einer Erinnerung zu werden. Sie kam wie eine Überraschung mehr von unten als von oben, stieg aus den Seen auf, die sie gespeichert hatten, und aus der Erde, die sie festhielt. Alles wurde kostbarer, tiefer, weicher und würziger. Frühling und Sommer lagen jetzt auf der Zunge wie der Nachhall eines Aromas, gewürzt mit der Ahnung eines neuen Herbstes, nach der Freude darüber, dass ich nicht an einem Ort lebte, wo es nie Schnee gab und die Palmen ewig grün blieben. Ich durfte in einem Land sein, in dem sich die Blätter färbten, fielen und flüsternd unter meinen Schritten vergingen, nachdem Raureif sie noch einmal mit verzweifelter, trotziger Schönheit bemalt hatte. In einer Gegend, in der sie jedes Mal wiederkehrten, sich hellgrün entfalteten wie eine neue Hoffnung. Auch für mich, als Belohnung, wenn ich den Winter durchlaufen hatte, die Frostluft eingeatmet, obwohl sie in der Lunge biss und auch die langen dunklen Nächte irgendwie mit Licht befüllt hatte.
Vielleicht war es die tiefe Sehnsucht nach eben diesen letzten reichen Sommertagen und den frühen Herbstfarben, die diese Tage auch damals schon unterstrich, sie schwer und leicht machte, bittersüß und bunt, und die Begegnung mit dem Glasmann mit ihren Folgen ermöglichte. Ich liebe diese Jahreszeit leidenschaftlicher noch als alle anderen, gerade weil sie eine schwierige, erschrockene, gefährliche, triumphierende Gratwanderung zwischen allem ist, zwischen Freude und Schmerz, Sehnsucht und Angekommensein, Angst und Glück. Vielleicht gefällt mir jetzt, so viele Jahre später, mein augenblickliches Lebensalter so sehr, weil es mich genau dorthin stellt, in diese letzten warmen Sommertage, mit viel mehr Klarheit als zuvor und mit all dem jetzt echten Wissen um die Kostbarkeit des Augenblicks, um das Leuchten, das aus der Vergänglichkeit kommt. Gerade in solchen Tagen ist es so beängstigend und überwältigend großartig, Teil zu sein von all dem, was im Herbst abends mit dem Tau und morgens mit dem neuen, anderen Wind in der Luft liegt.
Ich bin jedes Mal bereit für den Herbst, aber noch nie so sehr wie heute. Er mag mir geben, was er zu geben hat. Ich will alles nehmen und nichts übersehen. Ich kann ihm nichts zurückgeben, außer Worten vielleicht, die er nicht braucht. Aber ich nehme es trotzdem. Ich geniere mich nicht mehr deswegen. Ich bin alt genug, um mich nicht mehr zu schämen. Bald werde ich September auf meine Fahne schreiben und den Fledermäusen zuwinken, die vor meinem Fenster unter dem Mond in einem wilden Tanz kreisen, als wäre es der letzte. Ich kann nicht mit ihnen fliegen, aber ich kann Zeuge sein. Ich werde auf den Seen paddeln und im dunkelnden Wasser schwimmen, solange ich das Kälterwerden aushalte. Ich werde auf diesen herbstlichen Wegen wandern, deren Enden unsichtbar im Nebel liegen, und durch sein fallendes Laub, auch dort, wo es mir bis zu den Knien reicht und mich zu Fall bringen wird, weil ich das Schlammloch darunter nicht sehen konnte. Ich würde weich fallen, wenn ich fiel. Ich werde in ihn hineinfallen und es wird genau da sein, wo ich sein will.
Das ist mein Gefühl im August. Immer. So war es auch in diesem, der mich mit dem Glasmann überraschte, der auf seltsame Weise dort gut hineinpasste. Als wäre genau dieses Gefühl zu einer Person geworden. Der leibhaftige August!
Ich musste lächeln über meine Fantasien, aber sie fühlten sich nicht flüchtig an.
4
Das Licht stellte an jenem Tag auch mit den Scherben in meiner Hand einiges an. Ich suchte mir am Waldrand ein flaches Stück Holz, das sich leicht von einem Baumstumpf lösen ließ. Ich entfernte die Spinnweben und vertiefte mich darin, die scharfkantigen Splitter auf dieser leicht gekrümmten Unterlage zu einem Mosaik zu legen. Ich mochte Mosaike, aber ich hatte mich nicht selbst daran gewagt. Darauf war ich nie gekommen. Doch diese ungewöhnlichen Scherben, die mir buchstäblich vor die Füße gefallen waren, hatten es mir angetan. Sie ordneten sich wie von selbst zu einem Muster, das mir immer besser gefiel. Nicht symmetrisch, sondern fast zu einer Landschaft, die nur zu erahnen war. Mit den alten römischen Meistern der Fußböden in Pompeji konnte ich nicht mithalten, aber ich war trotzdem recht zufrieden mit meinem Werk.
»Nicht übel«, hörte ich die Stimme des Glasmanns hinter mir. Ein langer Arm reichte über meine Schulter, tauschte einige Scherben untereinander aus und verschob ihre Lage ein wenig. »So ist es noch besser.«
Ich war irritiert, konnte ihm aber nicht widersprechen. Mir hatte es vorher auch gefallen, aber schlechter war das Ergebnis nicht. Es war anders. Er bückte sich jetzt nach zwei dunklen Kieselsteinen und schob sie zwischen die hellen, leichten Scherben. »Das gibt einen guten Akzent, einen Kontrast. Denken Sie immer an die Gegensätze. Zu viel Harmonie steht im Widerspruch zur Realität.«
»Um Realität geht es hier nun wirklich nicht!«, widersprach ich.
»Sind Sie sich sicher?« Belustigt hob er eine Augenbraue.
»Haben Sie zufällig einen Kleber?«, erkundigte ich mich. Auch wenn mein Werk nun nicht mehr allein mein Werk war, erinnerte es mich doch an diesen Ort und die besondere Atmosphäre. Es war nicht nur von flüchtigem Wert für mich, wie ich angenommen hatte.
Wortlos schlenderte er zu seinem Stand, kramte in einer Tüte und warf mir eine Tube zu.
Ich fixierte alles auf dem Holz, wie er es zuletzt angeordnet hatte, mitsamt den Kieselsteinen. So würde ich später darüber nachdenken können, was er damit hatte ausdrücken wollen. Außerdem war es eine schöne Erinnerung an einen Urlaubstag. Während der Kleber trocknete, betrachtete ich einige der gläsernen Schalen auf dem Stand des Mannes, der sich nicht vorgestellt hatte, noch einmal genauer. Die zarten farbigen Wiesen und Seen darauf wirkten, als hätte er den flüchtigen Schimmer von Seifenblasen festhalten und auf das Glas bannen können.
»Wie machen Sie das mit der Tönung? Es sieht aus, als wären diese pastellfarbenen Flächen nicht bemalt, sondern eingeätzt«, wollte ich wissen.
»Sind sie auch.«
»Aber bunt? Geht das?«
»Mein Geheimnis.«
Als er wieder einzupacken begann, weil der Markt schloss, erkundigte ich mich, ob ich ihn in seiner Werkstatt besuchen könnte. Er sagte Nein. Nicht unfreundlich und ohne Begründung, einfach »Nein«. Mir fiel dabei auf, dass ich mich selbst ständig für alles rechtfertigte. Wie beneidete ich ihn, dass er das nicht nötig hatte! Ob mir dies auch einmal gelingen würde?
Seine Ablehnung war so sachlich, dass ich nicht beleidigt war. Ich bedauerte es nur. Es fühlte sich an wie eine versäumte Gelegenheit. In meiner Frühherbststimmung fand ich, dass es zu spät in diesem Jahr war, um noch etwas versäumen zu wollen, das auf geheimnisvolle Weise neugierig machte.
Tage später ging ich noch einmal auf den Markt. Er war nicht dort. Ich wusste keinen Namen. Die anderen Verkäufer kannten ihn nicht, und meine Suche im Internet blieb erfolglos. Ich zuckte innerlich die Schultern. So war es eben. Die meisten flüchtigen Begegnungen bleiben genau das: flüchtig.
Dem Mosaik schenkte ich zu Hause einen Platz an der Wand, mit dem ich sonst sehr geizig war. Es wirkte zu jeder Tageszeit anders. Ich nahm mir vor, irgendwann wieder einmal eines zu erschaffen. Dann dachte ich nicht mehr daran.
Zurück in der Stadt stülpte sich wieder erhitzter Alltag über mich, doch als ich die liegen gebliebene Arbeit erledigt hatte, fiel mir auf, dass sich in diesem Alltag etwas verschoben hatte. Alles schien unwirklich. Es lag wohl daran, dass die Stadt immer noch gähnend leer war. Die Straßen waren wie ausgestorben. Selbst das Hotel war nicht ausgebucht. Egal wie beliebt und gut gelegen in der Mitte der Hauptstadt, jetzt zog die Touristen nichts hierher und die Geschäftsleute hatten nichts zu tun. Ich konnte Überstunden abbummeln. Auch im Regierungsviertel rührten sich nur Spatzen. Niemand wollte sich aufhalten, wo über Teer und Beton die Hitze flimmerte und der Geruch nach Benzin und Dönern so dicht war, dass man kaum Luft bekam. Diejenigen, die noch seltsam ziellos durch die Häuserzeilen liefen, ließen die Arme hängen und gingen gebeugt, als würden ihre Knochen nur noch lose zusammenhalten. Draußen am Rande der Stadt konnte man in schöner Einsamkeit über Felder und Wiesen wandern, ohne einen einzigen Menschen zu treffen. Aber auch hier waren meine erfrischenden Herbstgefühle wieder unerreichbar fern gerückt. Es war so heiß, dass das Getreide notgeerntet werden musste. Schon seit Anfang Juli gab es deshalb Stoppelfelder, die in der Sonne tief bronzefarben glänzten. Vom berühmten märkischen Sand war keine Spur mehr zu erkennen, allenthalben nur noch märkischer Staub, und nach diesem roch es auch. Im Vogelbad auf dem Balkon starben die Mückenlarven den Hitzetod. Das hatte es noch nie gegeben. Eine erschöpfte, ratlose Stille lag gespenstisch über dem Land, nicht der Hitze, sondern der Dürre wegen.
Vor die Landschaft dieser Geisterstadt schob sich vor mein inneres Auge eine andere. Eine zarte Szene, die ich auf einer gläsernen Schale gesehen hatte.
Die Hitze drang in meine enge Wohnung ein und rollte sich dort zusammen, um zu bleiben. Sie ließ mich wieder nicht schlafen. Wenn ich gegen Morgen endlich eindöste, mischten sich ungefragt noch mehr solcher Traumlandschaften in meine Gedanken, gesponnen aus der Unwirklichkeit des Mondlichts, aus den Geräuschen und Düften, Nachtfalterflattern und Grillenzirpen, Sommerflieder und reifenden Pfirsichen. Ich stand auf und schrieb dem Glasmann davon, dessen Adresse ich nicht kannte.
Am Morgen danach zerriss ich den Brief und warf ihn fort.
Am unerträglich heißen Abend desselben Tages fischte ich die Fetzen aus dem Papierkorb und ordnete sie auf einer farbigen Unterlage ganz anders an, als sie geschrieben worden waren. Dazwischen mischte ich Schnipsel von Tapetenresten aus dem Keller. Das Ergebnis gefiel mir so gut, dass ich ihm einen Platz gegenüber dem anderen Mosaik zuwies.
Es musste an der Hitze liegen. In ihr schmolzen die gewohnten Gefüge, auch die innerlichen. Ich war zufrieden mit meinem Leben, aber nun verschwamm es an den Rändern und innen war mir, als löse sich die Mitte auf. Sie wurde blass und drohte zu verschwinden.
Als ein Gewitterguss die Luft abkühlte und ich mich wacher fühlte, fragte ich mich, was ein Mann, den ich nicht kannte und dem ich nie wieder begegnen würde, indirekt an meinen Wänden zu suchen hatte.
Doch auf die Bilder, die sich an die Wände meines Denkens hefteten, hatte ich keinen Einfluss.
Ich war ins Hotelfach gegangen, weil ich dachte, ich würde auf diese Weise herumkommen und müsste mich nie festlegen. So war es auch. Es gefiel mir, mich um interessante Zeitgenossen und immer wieder neues Ambiente zu kümmern. Das richtige Zimmer für die richtigen Menschen, die Raumaufteilung ändern und zuordnen, die Farben, die Einrichtung. Wünsche aufspüren, Freizeitangebote, Erholung. Es war spannend zu beobachten, wie unterschiedlich die Bedürfnisse der Einzelnen waren, mit Orten und Jahreszeiten und dem Altern zusammenhingen, mit Ehrgeiz und mit Trägheit. Ich lernte Jakob kennen, der auch vom Fach war. Die zunehmende Verquickung von Arbeit, Mobilität und dem, was man jetzt Wellness nannte, faszinierte uns beide; das Zusammenspiel von Kreativität und Erholung, Teamwork und Rückzugsmöglichkeiten. Es hatte nie aufgehört, mir Freude zu machen.
Ich machte Anfängerfehler, wurstelte mich durch Unsicherheiten, ging auf jede Fortbildung, arbeitete mich hoch, wurde immer professioneller und war schließlich gefragt. Ich lebte und arbeitete zusammen mit Jakob in Japan, Saudi-Arabien, Thailand, Kanada, dann zog es uns wieder nach Deutschland. Berlin, die Hauptstadt. Kongresse, Konzerte, Messen, Start-ups, hier tobte das Leben, Multikulti, alles vor meiner Nase im Hotel. Jeden Tag interessante Menschen. Ich ging auch nach Jakobs Tod, als ich allmählich aus meiner Trauer erwachte, wieder mit Neugier jeden Morgen hin und kehrte abends mit Erinnerungen an spannende Begegnungen wieder. Unsere Gäste waren verrückt, kauzig, neugierig, aufgeschlossen, eitel, intelligent, leutselig, großzügig, launisch, kreativ, angeberisch, empfindlich, herzlich, schmutzig, eingebildet, bescheiden, humorvoll.
Warum also spukte allein ein Unbekannter tagelang in meinen Gedanken? Einer, der brummig hinter einem Marktstand in einem Dorf gestanden und mein Leben nicht berührt hatte außer durch die Scherben, die eine unachtsame Bewegung vor meine Füße und irgendwie in mein Wohnzimmer geworfen hatte?