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Ein wunderschöner Roman einer Selbstfindung
Lilli ist Ende 30 und hat sich gerade von ihrem langjährigen Lebenspartner und ihrem Job getrennt.
Mitten im April kommt sie auf die Idee, nach Himmelpfort zu reisen und dort ihren Wunschzettel für den Weihnachtsmann in den Briefkasten zu werfen. »Ich wünsche mir ein Leben, in dem mir niemand ein schlechtes Gewissen macht.« Auf ihrer Rückreise lernt sie Rike kennen, die ihr von einem Haus erzählt – genau genommen ist es ein abgelegenes Häuschen im Nirgendwo, in das sie auch tatsächlich einzieht und wo sie wunderbar ihrem Hobby Papier zu schöpfen nachgehen kann.
Als sie Elias kennenlernt, kommt sie erstmals in Kontakt mit dem wertvollsten Garn der Welt – der Meerseide, was beide auf eine Idee bringt.
Dieser warmherzig und wunderschön erzählte Roman von Paula Carlin zeichnet eine Heldin, die in ihrem Leben an einer Weggabelung steht und sich für sich entscheidet. Lilli schafft es, sich von dem Gefühl zu befreien, minderwertig zu sein.
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Seitenzahl: 391
Inhalt
Mitten im April fährt Lilli nach Himmelpfort, um dort ihren Wunschzettel für den Weihnachtsmann in den Briefkasten zu werfen. »Ich wünsche mir ein Leben, in dem mir niemand ein schlechtes Gewissen macht.« Auf ihrer Rückreise erfährt sie von einem abgelegenen Häuschen im Nirgendwo. Sie pachtet es und kann dort wunderbar ihrem Hobby Papier zu schöpfen nachgehen.
Als sie Elias kennenlernt, kommt sie erstmals in Kontakt mit dem wertvollsten Garn der Welt – der Meerseide, was beide auf eine Idee bringt.
Autorin
Paula Carlin ist das Pseudonym der deutschen Spiegel-Bestsellerautorin Patricia Koelle. Sie wurde 1964 in Alabama/USA geboren und lebt seit 1965 in Berlin. Ihre größte Leidenschaft gilt dem Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften Planeten zum Ausdruck bringt.
Paula Carlin
Ein Roman über den Zauber der Hoffnung
Diederichs
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Copyright © 2023 Diederichs Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: © FinePic®, München
Illustration: © Keya/stock.adobe.com
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-30113-2V001
www.diederichs-verlag.de
Uns allen gewidmet.
Und auch solchen Orten wie Blumenow, das es wirklich gibt.
1
Lilli
»Findest du, ich sollte umkehren?«, fragte Lilli den Schwan. Er reckte den Hals und betrachtete sie interessiert. Der Vogel schien mit großem Ernst zu überlegen, ob Lilli eventuell als Schwanendame in Betracht kam. Sie hockte auf seiner Augenhöhe im Gras, hatte die Arme um die Knie geschlungen und trug eine lange weiße Strickjacke. Ihre braunen Haare passten wahrscheinlich nicht zu einer Prinzessin seiner Gattung, obwohl er selbst um den Kopf herum eher dunkel war. Schließlich hatte er gerade noch in schlammigen Tiefen gegründelt. Als Lilli sich genähert hatte, war von ihm nur das Hinterteil sichtbar gewesen. Es wirkte auf der Wasseroberfläche wie ein Sahnehäubchen auf ihrem Tag. Jetzt lupfte er leicht die Flügel.
»Das ist keine Hilfe«, sagte sie zu ihm. Ihre Worte trieben gemächlich mit dem Wasser davon, stromabwärts in eine sanfte, grasbewimperte Kurve.
Wenn sie jetzt umkehrte, würde niemand jemals von ihrem absurden Plan erfahren. Vielleicht war es ein Hinweis, dass ihr Navi verkündet hatte, sie müsse jetzt unbedingt links abbiegen, und dass die Straße kurz darauf ebenso nachdrücklich mitten im Nichts ihr plötzliches Ende an einem Fluss fand.
Doch da war dieser Zettel in der inneren Brusttasche ihrer Jacke, so nahe an ihrer Haut. Wie ein Gewicht und Flügel zugleich. Die Überzeugung ließ sie nicht los, dass sie sowohl diesen als auch sich selbst enttäuschen würde, wenn sie es sich jetzt anders überlegte. Womöglich war es ihre letzte Chance auf Glück, dieses zerknitterte Quadrat mit dem Fußabdruck und dem angefangenen Wort, das ein Unbekannter darauf geschrieben hatte. Das Stückchen Papier hatte Lilli gefunden oder Lilli das Papier, oder sie beide einander. Es sah genauso gebraucht aus, wie sie sich fühlte. Das musste doch etwas zu bedeuten haben? Wenn nicht, wollte sie dafür sorgen, dass es jetzt einen Sinn bekam. Sie benötigte einen Schritt vorwärts, irgendeinen, und zu diesem hier hatte sich Lilli entschlossen. Er musste nichts Großes bewegen. Sie wollte nur eine Hoffnung. Im Grunde tat sie gerade genau dasselbe wie der Schwan. Sie gründelte im Ungewissen, auf der Suche nach etwas, das gut für sie war.
Der würdevolle Vogel wandte sich dieser Suche jetzt wieder zu und beachtete sie nicht mehr. Lilli war dennoch dankbar für seine Gegenwart. Sie kam sich so klein vor unter diesem ungewohnten weiten Himmel zwischen Wiesen, die vor Frühlingslebenslust in allen Farben leuchteten.
Und trotzdem fühlte sie sich frei. Es war ein ungewohntes Gefühl. So, als gehöre es gar nicht zu ihr, sondern stünde fragend da wie ein Gegenüber. Wie der Schwan, der sich ihr wohl nur bei einem Futterangebot weiter genähert hätte. Doch womit füttert man Freiheit? Womit entlockt man eine Antwort?
Stille lag über dem Fluss, dessen Glitzern zwischen Schilf weiter hinten in einer dunstigen Ferne verschwand. Lilli saß regungslos. Die Ruhe war wohltuend. Der Schwan tauchte schließlich wieder auf, schüttelte einen klebrigen Algenfaden ab, der sich um seinen Hals gewickelt hatte, und schwamm entschlossen ein Stück gegen den Strom. Dort versuchte er es weiter mit dem Gründeln. Irgendwann würde er etwas finden, was ihm schmeckte.
»Na gut«, sagte Lilli. »Das ist wohl eine Antwort. Ich mache es wie du.«
Kneifen gilt nicht, schien seine Haltung auszudrücken. Das hätte Tante Nessa auch gesagt, obwohl sie wenig Ähnlichkeit mit einem Schwan besaß.
Als Lilli den Wagen wendete und das Navi wieder einschaltete, tat dieses, als hätte es selbstverständlich schon immer den richtigen Weg gewusst. Diesmal bestätigten das die Ortsschilder.
Dafür stand sie eine halbe Stunde später im Stau.
Sie kurbelte das Fenster herunter und ließ die Frühlingsluft hereinströmen. Ein kleiner Junge rannte an ihrem Auto vorbei und verschwand hinter einem Busch. Im Rückspiegel sah sie den besorgten Vater, der nervös aus dem Fahrerfenster spähte und hoffte, dass sich der Stau nicht ausgerechnet jetzt in Bewegung setzen würde. Lilli litt mit ihm. Doch der Junge kehrte rasch zurück, mit einem erleichterten Gesichtsausdruck. Vor Lillis Fenster blieb er abrupt stehen und strahlte sie sommersprossengetupft an. »Ich hab eine Blume gefunden!«, sagte er wichtig und überreichte ihr mit tiefer Würde eine Löwenzahnblüte wie eine Auszeichnung. So fühlte es sich für Lilli auch an. »Vielen Dank!«, sagte sie und wünschte sich für einen Augenblick ebenfalls Sommersprossen, um sein Lächeln angemessen erwidern zu können.
»Andy, komm bitte!«, rief der Vater von hinten besorgt, weil vorn die Kolonne zu rollen begann. Lilli startete den Motor und sah, wie Andy gerade rechtzeitig in den Wagen hüpfte. Erst eine Weile später bekam sie die Gelegenheit, die Löwenzahnblüte in ihre Wasserflasche zu stecken und diese in die Tasche der Seitentür zu klemmen, wo die Blume bei jedem Halten und Starten nickte. Lilli fühlte sich davon ermutigt. Die braunen Flecken, die der Saft des abgebrochenen Stängels auf ihren Fingern hinterlassen hatte, hatte sie früher auch oft an den Händen gehabt. Damals, als sie selbst noch Löwenzahn pflückte. Und als sie im Winter danach den ersten Wunschzettel ihres Lebens verfasst hatte. Niemand hatte ihn abgeholt.
Jetzt erst, über dreißig Jahre später, hatte sie wieder einen geschrieben. Im April.
Nach einigen ruckartigen Versuchen löste sich der Stau nun unerwartet rasch auf.
Ob es Andys zuversichtliche Sommersprossen gewesen waren oder die Blüte, die er Lilli geschenkt hatte – seit dieser Begegnung war eine Umkehr endgültig unmöglich geworden. Sie fuhr hartnäckig weiter, obwohl ihr die Straße zunehmend unsympathisch wurde. Es gab einfach zu viele eilige Autos auf ihr und zu wenig Andys. Aber dies war nun mal der Weg, der nach Himmelpfort führte.
Dorthin, wo sich das Weihnachtspostamt befand.
Diesmal würde Lilli dafür sorgen, dass nichts schiefging. Das Postamt hatte zwar erst ab November geöffnet. Doch außen gab es einen Briefkasten, allein für Wunschzettel. Dort würde sie ihn einstecken.
Weil das gerade das Einzige war, was ihr zu ihrem Leben einfiel. Weil ihr der Zettel buchstäblich über den Weg gelaufen war. Und weil alle gescheiterten Versuche eine zweite Chance verdient hatten, auch wenn Jahrzehnte dazwischenlagen.
Außerdem war es das Verrückteste, was ihr in den Sinn gekommen war, um sich selbst wieder in Bewegung zu bringen.
2
Der Name tauchte am Straßenrand eher auf, als sie bereit dazu war. Himmelpfort, schwarze Buchstaben auf Gelb. Der Ort existierte tatsächlich! Lilli hatte daran gezweifelt, obwohl die Landkarte und einige ältere Zeitungsartikel es behauptet hatten. Bald dahinter erhob sich sogar ein weiteres Schild aus dem jungen Gras, diesmal auf Lateinisch: Coeli Porta. Lilli starrte beklommen darauf. Unversehens verlieh das ihrer verspielten Mission einen Anstrich bindender Gültigkeit. Es klang wie ein Schwur.
Auch der Briefkasten war da. Rot und ehrwürdig, mit einigen Rostflecken, eisernen Schnörkeln oben und unten und einer weißen Schreibschrift darauf. Wunschzettel, daneben ein großer Pfeil, damit man den seitlichen Schlitz auch wirklich fand. Lilli erschien das berührend fürsorglich.
Der Kasten hing an einem Holzbalken neben der Tür eines bescheidenen Fachwerkhauses.
Auf der anderen Seite stand ein mächtiger Stuhl, zu dem zwei Stufen hinaufführten. Er war aus Baumstämmen geschnitzt und mit Sternenmotiven verziert. Im April konnte man nicht erwarten, dass der Weihnachtsmann anwesend war, aber er erschien trotzdem deutlich vor Lillis innerem Auge. Sie war froh, dass er nicht tatsächlich hier war. Mit ihm hatte sie noch nie etwas anfangen können. Nicht einmal damals hatte sie ihn fragen wollen, warum er ihren ersten Wunschzettel nicht vom Fensterbrett ihres Kinderzimmers abgeholt hatte. Lilli hatte diesen merkwürdigen Mann, den ihre Mutter nie erwähnt hatte, fortan für einen Scherz ihrer Freundin Hanna gehalten.
Sie sah sich um. Himmelpfort war still. Eine Handvoll kleiner Häuser, mit gelben oder in einem verblichenen Apricot angestrichenen Fassaden, wirkte wie rechts und links an die Straße gestreut, jedes mit einem individuellen Charakter. Das eine trug eine hölzerne Veranda mitten im Gesicht wie ein Lächeln, das andere einer verrutschten Schlafmütze gleich einen schiefen Giebel. Hier herrschte kaum Verkehr, auch wenn das im Sommer sicherlich anders war. Niemand nahm Notiz von Lilli, denn es war kein Mensch zu sehen. Für einen Augenblick vermisste sie die Gegenwart des Schwans. Schließlich zog sie den Umschlag mit dem Zettel aus der Tasche, hob entschlossen die Briefkastenklappe und ließ ihn in das geheimnisvolle Dunkel dahinter fallen. Sie vernahm nur ein weiches Plopp. So war er wohl auf vielen Wünschen anderer zur Ruhe gekommen. Wahrscheinlich war Lilli mit ihren siebenunddreißig Jahren mindestens sechsmal so alt wie sämtliche dieser sehnsuchtsvollen Zettelschreibenden, dachte sie. Aber sie hatte nirgends eine Altersbeschränkung entdeckt. Notfalls konnte man ihre Post immer noch als Aprilscherz ansehen. Sie hatte kein Datum darauf geschrieben, und es war erst der zweite April.
Und nun? Die Tür, über der Weihnachtspostamt stand, war offen. Lilli konnte nicht widerstehen und trat ein. Auch hier war niemand. Es gab einen Tisch und ein Biedermeiersofa, Bücherregale und ein Bett für den Weihnachtsmann, davor ruhten Stiefel und ein geblümter Nachttopf. Es beruhigte Lilli, dass der Weihnachtsmann für praktische Dinge gerüstet war, obwohl es ihn nicht gab. Außerdem schien er Kaffeetrinker zu sein, wie eine bauchige Kanne verriet. Es war kühl, staubig und dämmrig hier drinnen, seltsam unwirklich. Lilli war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob sie gerade tatsächlich ihrem kürzlichen verrückten Impuls gefolgt war oder sich in einer Fantasie befand.
Impuls. Lilli stellte sich den als einen knallgrünen Klecks vor, der mit vielen Armen wedelte und sie spöttisch angrinste. Sie mochte nicht einmal im Ansatz darüber nachdenken, was Knut dazu gesagt hätte.
Doch das spielte nun keine Rolle mehr. Sie fuhr mit dem Finger über die Schnitzerei an der Sofalehne. Ob sie jemals mit Knut zusammengekommen wäre, wenn ein Weihnachtsmann existiert und ihren damaligen Wunschzettel erhalten hätte?
»Nein!«, flüsterte sie über die Absperrleine hinweg, welche die Möbel vor übergriffigen Besuchern schützte. Nein, denn wenn ihre Wünsche von damals irgendeine Beachtung gefunden hätten, dann wäre sie andere Wege gegangen, auf denen sie Knut nicht begegnet wäre. Er hätte sich niemals Ähnliches gewünscht wie das, was sie als kleines Mädchen aufgeschrieben hatte. Es waren Dinge gewesen, die man nicht kaufen konnte. Zum Beispiel Schwärme von Gänseblümchen auf einer Wiese, über die man barfuß laufen durfte. Dass es so etwas gab, hatte sie von ihrem bis dahin einzigen Ausflug aufs Land gewusst, zu dem Tante Nessa Lilli mitgenommen hatte. Das Gras war unfassbar weich unter ihren nackten Füßen gewesen. Damals war sie überzeugt, wenn sie weit genug rannte, würden die Gänseblümchen unter ihren Sohlen wie weiße Vögel auffliegen und ihr folgen, so leicht hatte sie sich gefühlt. Diese Möglichkeit wollte sie geschenkt bekommen, besitzen als einen jederzeit verfügbaren Schatz.
Und noch etwas anderes hatte sie damals hoffnungsvoll auf jener Liste als Wunsch genannt: das einzigartige Geräusch, das Taue im Wind machten, wenn sie in einem Hafen an die Bootsmasten schlugen. Und die Seile, manchmal mit Karabinerhaken daran, die gegen Fahnenmasten klirrten. Gemeinsam erzeugten sie dieses aufregende Klingen, das von allen Geheimnissen der großen weiten Welt erzählte. Lilli hatte es nur einmal vernommen, während eines Ferienbesuchs bei ihrem Patenonkel Vincent. Sie hatte es niemals vergessen. Beim Lauschen darauf war sie selig und hungrig zugleich geworden, hungrig nach dieser unbestimmten Empfindung, die sie durch und durch lebendig und fast unerträglich neugierig auf das Leben machte.
Doch der Zettel, auf dem sie dies am ersten Advent so gut ausdrückte, wie es ihr mit sechs Jahren möglich war und welcher demjenigen von heute selbst in der Farbe geähnelt hatte, hatte am nächsten Morgen noch immer auf dem Fensterbrett gelegen. Er wirkte müde unter dem Stein, mit dem sie ihn beschwert hatte. Auch am übernächsten Tag war er noch dort, doch da war die Schrift vom Regen verwischt und Lillis Worte in ein dunkles Klecksmuster verwandelt worden, aus dem die Tinte tropfte. Lilli faltete ihn zusammen und warf ihn der Stadt in den malmenden Rachen aus Häuserschluchten und Autoreifen. Ihrer Mutter hatte sie nichts von dem Versuch erzählt, und Hanna gegenüber tat sie so, als hätte alles funktioniert.
Vielleicht interessierte sich der Weihnachtsmann ja nur für Kinder mit Vätern. Schließlich war er selbst ein Mann. Im Gegensatz zu Hanna besaß Lilli keinen Vater. So dachte sie jedenfalls. Dass das so nicht stimmte, hatte sie erst lange danach erfahren. Es gab ihren Erzeuger, möglicherweise immer noch, nur wusste niemand, wer es war. Das hing laut Tante Nessa damit zusammen, dass auf einer gewissen Faschingsparty einfach zu viele Männer mit Augenklappe und falschem Piratenbart einander ähnlich gesehen und mehrere Gäste großzügig die angebotene alkoholfreie Bowle mit Wodka veredelt hatten.
Das Klingen der Schiffstaue hatte Lilli nie wieder gehört, denn Onkel Vincent hatte sie nicht noch einmal einladen können. Er war gestorben. Dass er ihr eine bescheidene Erbschaft hinterlassen hatte, erfuhr sie erst viele Jahre später. So spät, dass sie die Summe ablehnte, um das Geld vor Knuts Zugriff zu schützen. Dadurch erhielt Nessa diese Rücklage und hütete sie für Lilli wie ein Drache den geraubten Goldschatz. Bedeutet hatte es Lilli bisher nichts. Viel lieber hätte sie noch einmal mit Vincent am Hafen gesessen.
Auch Gänseblümchen mit Nessa hatte es nicht mehr gegeben, weil diese weit weg in eine andere Stadt gezogen war.
Heute war Lilli trotz allem hier. Sie hatte es der Widerspenstigkeit des Schicksals zum Trotz ein zweites Mal gewagt, einen Wunschzettel zu schreiben. An diesem Morgen hatte sie sich einfach ins Auto gesetzt und war losgefahren.
»Gut, dass du endlich etwas unternimmst«, hatte Nessa gesagt. »Wir konnten uns früher auch nicht bei jeder Unbill verstecken!«
Unbill. Was für ein schönes, altmodisches Wort. In Lillis übereifriger Vorstellung erschien Unbill prompt als eine Art drohend geflügeltes Wesen, ein dunkles Gegenstück zu Pegasus. Aber war »Bill« nicht das englische Wort für »Rechnung«? Vielleicht war die Unbill eher ein langer Zettel voller schwer leserlicher Zahlen und Buchstaben, ähnlich einem Bon aus dem Supermarkt – die Rechnung nämlich, die einem das Leben vor die Nase hielt, wenn man etwas falsch gemacht hatte.
Diesmal wollte sie möglichst viel richtig machen. Auf den Wunschzettel würde sie sich dabei nicht verlassen. Er war nur ein Symbol für den Mut, den sie sich selbst zusprechen musste. Eine geheime Flagge, die sie hisste. Und die war nicht weiß für Kapitulation. Auf gar keinen Fall. Grün war eine angemessene Farbe.
Hier drinnen im Büro des unzuverlässigen Weihnachtsmanns war es zu düster für Hoffnungen. Hastig trat Lilli wieder hinaus. Der frische Aprilwind jagte Schäfchenwolken über den Himmel, dessen Blau leichter wirkte, nachdem sie den Zettel losgelassen hatte. Vielleicht würde etwas von dieser Leichtigkeit auf sie abfärben. Sie mochte noch nicht zurück. Stattdessen wanderte sie durch den Ort. Zuerst fiel ihr ein Haus mit einer rosenberankten Holzveranda auf. Es beherbergte einen winzigen Laden, in dessen Schaufenster Regenschirme hingen.BESCHIRMT stand in dezenter Schrift darüber. Lilli betrachtete die ungewöhnlichen Farben und Muster der Schirme eine Weile und stellte fest, dass sich ihre Bedrückung löste, die sie bei dem Gedanken an den Rückweg überkommen hatte. Danach zogen sie die Backsteinbogen einer Klosterruine an. Efeu malte geheimnisvolle Botschaften darauf, zog grüne Vorhänge vor die Öffnungen. Lilli spazierte hindurch und legte die Hand an die rauen Steine, die vorfrühlingskühl und sonnenwarm zugleich waren. Eine dornige Rose an einer Säule trieb erste Blattspitzen. Scheinbar unerschütterliche Eichen und Buchen in einem Wald dahinter trugen ihre Jahrhunderte mit beeindruckender Seelenruhe. Lilli setzte sich eine Weile auf eine knorrige Wurzel und dachte wohltuend an nichts.
Später gelangte sie an einen See, über den Kinderstimmen hallten und dessen Oberfläche der Wind kräuselte. Von einer Brücke über den Schleusengraben aus schließlich entdeckte sie beim Beobachten der Schiffe einen öffentlichen Kräutergarten, der zum Kloster gehörte. Auch dort schlenderte sie hindurch. Sie las die verwitterten Bezeichnungen an den grünen Spitzen, die aus der Erde und aus holzigen Zweigen drängten und verheißungsvolle Duftspuren in den Frühling legten. Zitronenmelisse, Lavendel, Waldmeister, Pfefferminze, Rosmarin. In einen steinernen Brunnen spähte sie hinab und sah unten winzig klein ihr Gesicht gespiegelt. Während sie noch hinuntersah, lief Hand in Hand ein Paar vorüber und hinterließ einen Gesprächsfetzen zwischen den Apfelbäumen.
»Lass uns doch lieber einen anderen Weg zurück in die Stadt fahren. Die Autobahn war unerträglich«, sagte die Frauenstimme.
»Wir könnten die Landstraße über Zehdenick nehmen«, lautete die Antwort. »Das dauert nur länger.«
»Das ist es wert.«
Die Stimmen versickerten in der Ferne. Lilli beschloss, diesem Hinweis ebenfalls zu folgen. Sie stimmte der Unbekannten absolut zu.
Über dem Brunnen hing ein Eimer an einer Kette. Lilli legte unwillkürlich eine Hand auf die rostige Kurbel, die sich daraufhin ein Stück drehte, aus ihrem Gleichgewicht gebracht. Die Kette gab ein geheimnisvolles Knarren von sich. Es klang wie ein Auftakt. Zu einem Film, zu einer Geschichte oder vielleicht zu Lillis Zukunft.
Der Eimer war leer bis auf etwas Herbstlaub. Lilli pflückte ein frisches Kleeblatt und legte es dazu. Sie hatte das Bedürfnis, hier irgendetwas außer dem Wunschzettel zu hinterlassen, etwas, das Teil dieser schlichten, unbefangenen Wirklichkeit war.
3
Elias
Er sah sie von seinem Balkon aus dort im Kräutergarten stehen, eine schmale Frau mit einem dunklen Zopf. Sie tauchte hinter den Apfelbäumen auf, immer dann, wenn der Wind für einen Moment die Zweige beiseiteschob, an denen jetzt neue Knospen wach wurden.
Moment, so hatte er die bernsteinfarbene Katze genannt, die gelegentlich bei ihm vorbeikam. An einem Zuhause war sie nicht interessiert, obwohl er es ihr angeboten hatte. Sie nahm Futter von ihm, manchmal auch ein Streicheln und einen Nachmittag auf dem Sofa oder dem Balkon. Sie widmete Elias einen nachdenklichen Blick, sogar ein Schnurren, doch dann ging sie wieder ihrer Wege. Der Name Moment sollte ihn daran erinnern, dass Momente das Kostbarste im Leben waren, zugleich das Flüchtigste, Vergänglichste, der Stoff, aus dem das Dasein gemacht war. Sein Leben, gestickt aus unzähligen davon. Einige darunter waren es, die das Muster ergaben, das dieses Leben einzigartig und so schmerzlich, erschütternd und manchmal atemberaubend schön machen konnte.
Er sah zu, wie die Frau in den Brunnen blickte wie in ein Fernglas, und immer noch, als sie nach einer Weile die Kurbel berührte und schließlich etwas in den Eimer legte. Er hätte gern gewusst, was es war. Ein tiefer Ernst umgab sie, etwas Entrücktes und doch unglaublich Anwesendes. So gegenwärtig schien sie ihm, dass er meinte hören zu können, wie sie kurz den Atem anhielt, als sie losließ, was immer es war. Etwas Leichtes, Flüchtiges, das eigentlich für etwas anderes, Schwereres stand. Er hätte ihr gern Mut gemacht, ihr gesagt, dass es sicher richtig war, was auch immer sie da für sich tat. Doch er glaubte nicht, dass sie ihn brauchte oder sonst jemanden. Sie schien eins mit sich zu sein, dem zeitlosen Brunnen und den Lichtern und Schatten dort hinter den Bäumen. Mit dem Augenblick. Mit ihrem Moment.
Elias fragte sich, wann er selbst zuletzt einen solchen Moment erlebt hatte. Er überlegte, später hinunterzugehen und nachzusehen, was in dem Eimer lag. Vielleicht, wenn er die Katze hinausließ. Doch es erschien ihm ungehörig, wie das Lesen eines fremden Tagebuchs.
Welchen seiner Schirme sie wohl ausgesucht hätte, wenn sie in seinen Laden gekommen wäre?
Er sah ihr nach, wie sie zurück auf die Schleusenbrücke ging, unter der die Schiffe vorbeizogen. Einer der Schiffer hob grüßend die Hand, weil ein Kind oben stand und winkte. Elias sah, wie die Frau ebenfalls zurückwinkte, ehe sie aus seinem Blickfeld verschwand. Flüchtig bedauerte er es, dass sie ihn nicht hatte sehen können, oben auf seinem Balkon hinter den Petunien vom letzten Sommer. Er stand hier wie ein Kapitän auf seiner Brücke, nur bewegte er sich nirgendwohin. Er hätte ihr auch winken können.
Der Winter war so mild gewesen, dass die Petunien überlebt hatten. Er untersuchte die braunen Ranken und stellte fest, dass sich auch hier junge Spitzen rührten. Sie trugen alles Wissen in sich, um wieder Blätter und Blüten vor den Himmel zu zeichnen.
Als er hineinging, spürte er, dass sich auch in ihm etwas an ähnliche Fähigkeiten erinnerte.
Moment schien das zu ahnen, denn die Katze sprang zum ersten Mal seit Langem auf seinen Schoß und schnurrte behaglich.
Einen Kaffee, ein Kapitel in dem Buch, das er las, und zwei Arbeitsstunden später entschloss er sich doch zu einem Abendspaziergang. Er beobachtete die Schiffe, die wie aus der tief stehenden Sonne heraus durch das orangerot glühende Wasser pflügten, und winkte ihnen zu. Auch das hatte er lange nicht getan. Dann ließ er sich von dem Duft, der mit dem Dunst nach oben stieg, in den Kräutergarten locken. Es war niemand mehr dort. Die blauen Schatten lagen allein zwischen den Tausendschönchen.
Im Eimer über dem Brunnen entdeckte er braunes Herbstlaub und ein grünes Kleeblatt. Er hätte es gern herausgenommen und in ein Buch gelegt. Dann hätte es ihn an jenen Augenblick erinnern können, in dem er begonnen hatte, sich aus seiner zu langen Winterstarre zu lösen.
Doch er ließ es da, wo es hingehörte. Geborgen, schwebend zwischen Himmel und Erde. Niemand wusste davon außer ihm und jener Frau, mit der er jetzt ein Geheimnis teilte. Eines, das so klein und unbedeutend war, dass es die Kraft hatte, ihn zu erden. Und wieder neugierig zu machen. Auf das Leben, in dem Fremde sich nicht einmal begegnen mussten, um Spuren ineinander zu hinterlassen.
Er wusste wieder, warum er im letzten Jahr so von seinem Weg abgewichen und dass er sich seiner Sache im Grunde so sicher war wie die Petunien.
4
Lilli
Hier drängten sich entschieden weniger Fahrzeuge. Die Landstraße gefiel Lilli wesentlich besser als das gestaute Hasten auf der Autobahn. Oder lag es daran, dass sie es geschafft hatte zu erledigen, was ihr Plan gewesen war? Sie fühlte sich so beschwingt, als hätte der Zettel in ihrer Tasche schwer gewogen. Vielleicht war es auch nur, weil ihr ihre Unternehmung im Nachhinein wunderbar sinnlos erschien. Sie war bisher selten unvernünftig gewesen. Alles auch nur ansatzweise Unlogische oder Unnütze in ihrem Verhalten hatten erst ihre Mutter, später Knut mit einer Art unsichtbarer Fliegenklatsche beiseitegewischt, ehe es auch nur zu flattern wagte.
Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die Bäume und zeichnete bewegte Muster auf den Asphalt. Ungewohnter, beinahe feierlicher Frieden breitete sich in Lilli aus. Bis ihr Magen ganz unfeierlich zu knurren begann.
Sie hatte vergessen, in Himmelpfort etwas zu essen. Wenn sie hungrig war, fuhr sie unkonzentriert. Deshalb war sie erleichtert, als sie eine Viertelstunde später ein Schild entdeckte, das eine Gaststätte ankündigte. Amselhof. Dankbar bog sie ab, rumpelte über einen Feldweg und blieb auf einem grasbewachsenen Parkplatz stehen. Eine Ansammlung alter, dunkelroter Klinkergebäude umgab einen Hof mit unebenem Kopfsteinpflaster. Die Steine waren spiegelblank gewetzt von unzähligen Füßen, Hufen und Rädern und lagen so gleißend im Sonnenlicht, dass es blendete. Lilli zwinkerte und bildete sich für einen Moment ein, dass die grünen Fensterläden zurückzwinkerten, so freundlich und angenehm belebt wirkte alles. Gelbe und weiße Narzissen blühten in dicken Büscheln, sogar zwischen den Pflastersteinen. Es wurde bereits ein wenig kühler. Lilli fröstelte und griff nach ihrer dicken Strickjacke auf dem Beifahrersitz.
Eine Horde Kinder mit schlammigen Hosenbeinen stob kichernd vorbei. Vor einer ehemaligen Scheune standen Tische und Stühle, an denen nur wenige Menschen saßen. Lilli ging zögernd darauf zu. Es wirkte sehr privat. Doch dann entdeckte sie die Speisekarte, mit Kreide auf eine Tafel an der Hauswand geschrieben. Omelett mit frischen Kräutern! Den Rest las sie gar nicht mehr. Sie setzte sich an einen wackligen Holztisch neben einen Kirschbaum, an dem sich erste Blüten öffneten. Bald war sie so damit beschäftigt, die Hummeln darin zu beobachten, dass sie ihren Hunger vergaß. Wie es wohl wäre, sich in etwas so voll und ganz und mit summender Leidenschaft hineinzustürzen wie die Hummeln in die weißen Trichter? Von den Fühlern bis zu den Beinen mit gelbem Staub bedeckt, die durchsichtigen Flügel in der Sonne leuchtend, schienen sie nichts anderes um sich herum wahrzunehmen.
»Guten Tag, herzlich willkommen! Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?« Lilli fuhr zusammen, als ein Schatten auf sie fiel. Sie sah auf in dunkle Augen unter knallblauen Ponyfransen. Ein verschmitztes Lächeln, dem ein widersprüchlicher Ernst anhaftete. »Verzeihung, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte die Frau, die gleichzeitig mit Lilli erkannte, dass sie etwa im selben Alter waren.
»Alles gut.« Lilli tauchte eilig aus ihren Gedanken auf und versuchte, sich zu konzentrieren. »Ich nehme das Omelett, bitte.«
»Gute Wahl. Und was ist mit einem Getränk?«, wiederholte die Frau geduldig. »Du siehst etwas verfroren aus. Ich kann dir unseren hausgemachten heißen Holundersaft empfehlen.«
Lilli hatte noch niemals Holundersaft getrunken. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er schmeckte. Hier an diesem Ort, an diesem ungewöhnlichen Tag, schien das auf einmal wie ein unverzeihliches Versäumnis. Sie hatte schon so viel versäumt! Was wohl noch außer Gänseblümchenwiesen, Hafengeräuschen und Holundersaft?
»Ja, sehr gerne.«
»Kommt sofort. Das Omelett und Wunder dauern etwas länger.«
Wunder. Lilli musste lächeln. Ein Wunder hatte sie noch nie verlangt. Die Frau mit den blauen Stirnfransen, deren Pferdeschwanz blond war, ließ Lilli wieder allein mit den Hummeln, dem Duft nach Frühling und dem fernen Lachen der Kinder. Ein Hahn krähte in der Nähe, als wäre es noch früh am Morgen, dabei fühlte sie sich plötzlich erschöpft von diesem Tag. Was sie auf den Zettel geschrieben hatte, war doch viel zu groß für sie, genau wie das Krähen des Hahns für den stillen Nachmittag!
Gut, dass sie keinen Absender hinzugefügt hatte. Sie würde sich für diesen symbolischen Akt vor niemandem rechtfertigen müssen.
Das allein war schon Wunder genug.
»Hier, bitte! Lass ihn dir schmecken.« Die Frau stellte ihr ein Glas hin und balancierte ein gefährlich volles Tablett kunstvoll weiter in Richtung eines anderen Tisches. Das Glas war angenehm warm in Lillis Händen, die Flüssigkeit darin glühte im Licht tiefdunkel und geheimnisvoll. Sie roch daran und kostete vorsichtig. Nach dem ersten Schluck schossen ihr Tränen in die Augen. Der Holundersaft schmeckte so unerwartet nach einer Erinnerung. Daran, wie sich Lilli das Leben vor langer Zeit einmal vorgestellt hatte. Nach reifen Früchten, nach dem Geruch von Erde bei einem warmen Regen, nach Sonnenstrahlen, die durch karminrotes Glas fielen, und Lachen tief aus dem Bauch heraus. Danach, einfach nur zu sein, ohne nachdenken zu müssen, was jemand davon hielt, was man tat, sich wünschte oder dachte. Das Leben ungeniert für ein Wunder zu halten, das länger dauerte als ein Omelett.
»So schlimm?« Während Lilli sich noch die Augen wischte, stellte die Frau das nun leere Tablett auf dem Tisch ab und setzte sich ihr gegenüber, als hätte sie alle Zeit der Welt, nur für eine Fremde. »Ich hoffe, es liegt nicht am Saft. Ich bin Rike, und du?«
»Lilli.« Sie schüttelte den Kopf. »Der Saft ist unglaublich lecker.«
Rike reichte ihr ein Taschentuch, in das Lilli dankbar hineinschniefte. Rike wartet geduldig. »Kann ich dir helfen?«, fragte sie schließlich, während ein Schmetterling zwischen ihnen auf dem Tisch landete und die Flügel auf- und zuklappte.
»Hast du schon.« Lilli zeigte auf den Saft. »Der Geschmack hat mich an etwas erinnert, das ich mal wollte.«
»Vielleicht haben wir ihn im Hofladen. Wir haben eine Menge hausgemachte Säfte, Marmeladen und Käse. Aber ich vermute, wegen so einfacher Dinge weinst du nicht.«
Lilli musste lächeln. »Nein, es ist leider … abstrakter. Obwohl, eigentlich auch wieder nicht.«
»Und? Wirst du es bekommen?« Rike klang ehrlich interessiert.
»Ich weiß gerade nicht mal, wie es aussehen soll«, gestand Lilli.
»Hast du Lust, dir den Hof anzusehen? Wenn du mit dem Essen fertig bist, habe ich Feierabend. Ich führe dich herum, wenn du magst«, bot Rike an, wahrscheinlich weil es das Einzige war, was sie in diesem Fall zu geben hatte.
So kam es, dass Lilli, mit dem Aroma eines Omeletts auf der Zunge, das nach allen nur denkbaren frischen Kräutern geschmeckt hatte, die erstaunlichen Gebäude erkunden durfte. Einen Heuboden und den Hofladen, das Gutshaus mit ein paar Fremdenzimmern, das Atelier eines Bildhauers namens Damian. Sie wurde mit den Schweinen bekannt gemacht und mit den Ziegen, der Hofkatze und den Schwalben und stolperte zweimal beinahe über ein Huhn, das ihr vor die Füße lief. Die Wegweiser hierhin und dorthin waren mit viel Humor und Zeichnungen von Tieren einfach an die Hauswände gepinselt worden. Hätte nicht ein Geruch nach Jauche sich mit dem der Veilchen gemischt und ein herumstehender Traktor einen Platten gehabt, hätte Lilli alles für ein Traumbild gehalten, eine zu perfekt geratene Illusion. Die Begeisterung für alles, die aus jeder Geste, jeder Erklärung Rikes sprühte und in ihren Augen leuchtete, schien hier die Wände zu durchtränken und das Gemüse in den Beeten wachsen zu lassen. Dieselbe Leidenschaft bemerkte Lilli bei Lennox, Rikes Freund, der im Hofladen an der Theke stand und nebenbei die Sense schliff. Bei Damian, der nicht nur Skulpturen schuf, sondern auch die Zäune aus Weide flocht. Und in Berit, die in der Küche mit Schneebesen, Aromen und dänischen Ausdrücken jonglierte. Sie alle brannten für diesen Hof, nach dessen jahrzehntelangem Dornröschenschlaf noch vieles nicht fertig war, wie Rike erklärte. »Wir bauen Stück für Stück wieder auf und entwickeln es weiter, so wie es eben passt. Die Bedürfnisse der Menschen und Tiere ergeben sich eines aus dem anderen. Wir sind ein Team. Jeder kann mitgestalten.«
Es war also möglich. Hier wurde gelebt, wie Lilli es auf ihren Zettel geschrieben hatte.
Ich wünsche mir ein Leben, in dem mir niemand ein schlechtes Gewissen macht. An einem Ort, der zu mir passt.
Schlichte Worte, die nur die sichtbare, ratlose Verpackung waren für eine ganze Fülle von Dingen wie Gänseblümchen, Hafengeräusche, fröhliche Unvernunft, Unterhaltungen mit Schwänen, dem Lächeln von Fremden und dem Geschmack von Holundersaft.
Sie konnte sich nicht einmal an eine Zeit erinnern, in der es nicht da gewesen war: dieses schlechte Gewissen, weil sie nicht genug redete oder zu viel. Weil sie nicht nach der neuesten Mode angezogen oder weil sie zu schick war, weil sie nicht ausging oder zu lange fortblieb, weil sie zu dick war oder zu dünn, ihre eigenen Ideen hatte oder zu sehr die Ratschläge der anderen befolgte, das Falsche gekocht hatte oder zu viel oder zu spät. Weil sie Dinge tat, die niemandem nützten, oder jemandem geholfen hatte, dem sie nicht nützen sollte.
Erst ihre Mutter, dann Knut hatten dieses Gewissen dermaßen perfektioniert, dass es unerbittlich bei Fuß ging. Vielleicht war sie auch so geboren. Es spielte keine Rolle, wo es herkam, Lilli konnte es nicht mehr ertragen. Es musste möglich sein, das bissige Biest abzuschütteln.
Sie lehnte sich auf den Zaun am Ziegenstall und sah zu, wie eine weiße und eine braune Ziege darin gemächlich an etwas kauten, nur um im nächsten Augenblick aus purem Übermut umherzuspringen. Das hätte sie auch gern getan, irgendwann in der vorstellbaren Zukunft.
»Ich habe festgestellt, wenn man nicht sicher ist, was man will, macht es manchmal glücklich, das zu nutzen, was eben da ist«, sagte Rike.
»Dafür lebe ich gerade am falschen Ort«, erklärte Lilli. »Ich bin vorübergehend bei meiner Tante Nessa untergekommen. Sie hat ihr eigenes Leben in einer Stadt, in der ich nicht bleiben will.«
»Und was war vorher?« Rike lächelte sie entschuldigend an. »Lennox behauptet, ich sei zu neugierig. Sag, wenn es dich stört.«
»Du bist nicht zu neugierig. Man kann gar nicht neugierig genug sein! Lass dir deswegen bloß kein schlechtes Gewissen einreden!«, entfuhr es Lilli. Erschrocken über ihre Heftigkeit biss sie sich auf die Lippen. Verwundert sah Rike sie an.
»Er macht mir nie ein schlechtes Gewissen. Das ist nur Geplänkel zwischen uns. Und man kann ja durchaus zu aufdringlich sein.«
»Entschuldige«, sagte Lilli zerknirscht. »Was vorher war, ist kein Geheimnis. Ich habe mich von meinem langjährigen Partner getrennt und dadurch auch gleich von meiner Arbeit.«
Rike betrachtete sie aufmerksam. »Und ich nehme an, das war gut. Hast du denn ein schlechtes Gewissen deswegen?«
Lilli dachte nach. »Nein. Endlich nicht mehr.« Sie sah sich um. »Am liebsten würde ich hierbleiben.«
Realitätsflucht, würde Tante Nessa sagen. Du wolltest doch eine vernünftige Lösung finden, wie es weitergeht.
»Wir haben Gästezimmer«, sagte Rike. »Im Gutshaus. Die sind bloß teuer. Wir müssen irgendwie Geld erwirtschaften, für die Tiere und die weitere Instandsetzung des Hofes. Ich könnte mit Lennox und Berit reden, vielleicht bekommst du für ein paar Tage einen Sonderpreis, wenn wir nicht ausgebucht sind. Dann kannst du in Ruhe nachdenken. Im Team brauchen wir leider im Augenblick niemanden. Wir müssen auf absehbare Zeit sparsam wirtschaften.«
Lilli schüttelte den Kopf. »Danke. Das ist lieb. Aber ich möchte nicht Gast sein. Nicht einmal hier.« Ich war lange genug Gast in meinem eigenen Leben. »Ich will ankommen. Irgendwo.«
»Hmmm. Sagtest du irgendwo?« Übermut blitzte auf einmal aus Rikes Blick. »Ich wüsste da ein Irgendwo. Mehr irgendwo geht nicht. Eigentlich ist es eher ein Nirgendwo.«
Durch Lilli lief ein Schauer wie ein Funkeln, sie wusste nicht, woher. »Erzähl mal. Bitte!« Ein Grashüpfer landete auf dem verwitterten Holz des Zaunpfahls, an dem Lilli lehnte, genau auf Augenhöhe. Sie sah die geschwungenen Fühler, die gezähnten Beine, mit denen er Musik machen konnte. Überall Wunder.
5
»Onkel Pielow!«, sagte Rike mit einer Miene, die halb unschlüssig verlegen war, halb wirkte, als hätte sie gerade ein Kaninchen aus einem Hut gezaubert.
»Onkel Pielow?«, fragte Lilli, als Rike danach nur nachdenklich die braune Ziege kraulte. Unwillkürlich tauchte die alte Erinnerung an ihren Patenonkel Vincent auf. Sie hatten im Hafen Eis gegessen und dabei den an den Masten klingenden Tauen zugehört, und er hatte absolut nichts von ihr verlangt, außer dass sie einfach war, wie sie sein wollte.
Vincent war Schiffsmechaniker gewesen und ein Cousin ihrer Mutter Almut. Als Almut ihre versehentliche Schwangerschaft bemerkt und ihm gegenüber Bedenken geäußert hatte, ob sie ein Kind großziehen könne, hatte er abgewinkt. »Das kann doch nicht schwer sein! Man muss bei allem nur die Rädchen klug verbinden und die richtigen Schrauben verwenden.«
»Aber nicht bei Kindern!«, sagte Almut aufgebracht und machte ihn kurzerhand zum Patenonkel, um ihm das eindrücklich zu beweisen. Sie fand nie heraus, ob er einsah, dass sie recht hatte, denn er starb lange vor ihr und bevor er an Lilli jemals irgendetwas als schwierig betrachtet hatte.
Wenn er noch leben würde, bräuchte sie jetzt sicher keinen Onkel Pielow, trotzdem weckte das Wort Onkel eine vage Hoffnung in Lilli.
Rike gab der Ziege einen freundlichen Klaps und wandte sich um. »Ach was, ehe ich es dir lange erkläre, zeige ich es dir lieber. Ich sage nur kurz Lennox Bescheid.«
Lilli beobachtete durch das Fenster, wie die beiden ein paar Worte, einen Kuss und ein Winken austauschten. Bald saß sie neben Rike in einem Lieferwagen, der nach Ziegen roch und durch Schlaglöcher rumpelte.
»Wohin fahren wir? Zu deinem Onkel Pielow?«
»Er ist Lennox’ Onkel«, erklärte Rike. »Da fahren wir nachher hin, wenn du es überhaupt möchtest. Erst zeige ich dir das Irgendwo. Es ist nicht weit.«
Zwei Kurven und ein Stück Straße später passierten sie ein Ortsschild. »Blumenow«, las Lilli laut und war damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie ein Ort mit diesem Namen aussehen müsste, als sie über ihnen einen großen weißen Vogel kreisen sah. »Ein Storch!«, rief sie ungläubig.
Rike warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Stimmt. Die haben hier wieder genistet. Das tun sie seit einigen Jahren.«
»Tut mir leid, aber ich habe noch nie einen lebendigen Storch gesehen«, entschuldigte sich Lilli, bevor ihr einfiel, dass sie sich für so etwas nicht mehr entschuldigen musste. »In Städten gibt es ja keine.«
»Sie haben ihr Nest auf dem alten Gutsschornstein«, erklärte Rike. »Siehst du, dort!«
Staunend spähte Lilli an dem hohen Schornstein aus wettergegerbten Klinkersteinen empor. Obendrauf saß in einem gewaltigen Nest ein zweiter Storch. Das Bild brannte sich in ihr Gedächtnis. Es wirkte auf sie wie ein Ausrufezeichen hinter etwas, das sie noch nicht kannte, aber das sich nicht rückgängig machen ließ. Eine seltsame Aufregung erfüllte sie. Rike bog ab und fuhr ein Stück eine andere Straße entlang. Lilli dachte noch darüber nach, wie viel Himmel sich hier über die kleinen Häuser breitete, als Rike hielt und ausstieg. Sie trat an einen Zaun, der unter einem Gewirr von rankendem Grünzeug kaum zu erkennen war. Ursprünglich hatte er aus schmiedeeisernen Elementen bestanden. Manche davon fehlten jetzt und waren durch hölzerne Latten ersetzt worden, an die Kinder mit Kreide bunte Vögel gezeichnet hatten.
»Dort hinten ist der Kindergarten«, erklärte Rike und wies vage ein Stück die Straße hinunter, ehe sie sich dem Grundstück zuwandte. Sie lehnte sich auf eine Latte und runzelte die Stirn. »Ich war lange nicht hier. Das sieht ja noch schlimmer aus als letztes Mal.«
Lilli stellte sich neben sie und versuchte, hinter all dem jungen Grün und einem blühenden Apfelbaum etwas zu sehen.
»Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist«, sagte Rike, »aber darf ich vorstellen? Das Wilde Haus.«
Als Lilli das Haus schließlich entdeckte, gewahrte sie es in einiger Ferne geduckt hinter einen undefinierbaren Wall. Ein dunkles Dach, hellere Wände, von Pflanzen überwuchert. Die Fenster in all dem Grün boten nur einen verhangenen perlmutternen Schimmer gerade wie ein verschlafener Augenaufschlag.
»Wieso wild?« Sie hatte nie etwas gesehen, das friedlicher wirkte. Verloren, vielleicht. So, als hätte es keine Hoffnung mehr, irgendwann noch erwünscht zu sein. Es hatte sich damit abgefunden, sich immer tiefer in die Büsche und das welke Gras vom Vorjahr sinken zu lassen und schließlich als unauffälligen Hügel in die Landschaft zu fügen.
So ähnlich wie Lilli vor einiger Zeit in Knuts Büro.
»Ach, das hat sich so eingebürgert. Es ist eben arg verwildert, seit es niemand haben will. Ich habe keinen Schlüssel, aber hier war ein Brett locker, warte mal …« Rike suchte in den Efeuranken und stieß einen triumphierenden Ruf aus. »Kommst du?« Sie hielt eine der Latten schräg und bedeutete Lilli hindurchzuschlüpfen.
»Dürfen wir das? Wem gehört es denn?«, fragte Lilli verwirrt, als sie auf der anderen Seite zwischen austreibenden Brennnesseln und vertrockneten Kletten standen.
»Zuletzt hat ein alter Mann darin gewohnt, und als er ohne Erben starb, ist es an die Gemeinde gefallen. Das ist schon fünf Jahre her. Seitdem versuchen sie, einen Käufer oder Pächter zu finden. Dafür ist in diesem Fall Onkel Pielow zuständig, er ist Pfarrer, und er arbeitet im Gemeindebüro. Er hat sogar einen Router installieren lassen, aber es möchte trotzdem niemand hier wohnen.«
Rike stapfte durch zerfallenes Laub in Richtung Haus, Lilli folgte ihr und stolperte nach wenigen Schritten über Backsteine.
»Vorsicht!«, warnte Rike. »Hier vorn hat mal das eigentliche Haus gestanden, eine größere Villa, die schon vor langer Zeit abgebrannt ist. Von den Fundamenten ist einiges übrig. In dem kleinen Haus haben Angestellte gewohnt.«
»Will es deshalb keiner haben?«
»Ich denke, es liegt einfach daran, dass Blumenow wirklich ein Irgendwo ist. Es ist völlig unspektakulär. Hier ist absolut nichts los. Selbst zum Einkaufen muss man in den Nachbarort. Ich weiß nicht, wie es bei dir finanziell aussieht, aber der Preis ist immerhin stetig runtergegangen.«
»Woher kommt der Name Blumenow?«
»Der soll sich wirklich von Blumenaue ableiten. Vielleicht haben die, die einmal das alte Gut gebaut haben, von dem noch hauptsächlich der Schornstein mit den Störchen steht, hier einst eine fruchtbare Aue vorgefunden.«
Als sie sich durch das Gelände gekämpft hatten, standen sie vor einem kniehohen Wall aus Backsteinen, der ebenfalls überwuchert war. Darum hatte das Haus so geduckt gewirkt.
»Das hat der ehemalige Bewohner aufgeschichtet. Er wollte von der Straße aus nicht gesehen werden. Steine waren ja genug da. Was hältst du von dem Haus? Onkel Pielow sagt, das Dach ist dicht.«
Nicht gesehen werden. Der Satz wirkte auf Lilli wie eine freundlich ausgestreckte Hand. Wer sie nicht sah, würde sie nicht tadeln.
Bis jetzt war ihr alles unwirklich vorgekommen, wie ein Märchen, das diese nette Fremde namens Rike ihr erzählte. In diesem Augenblick aber änderte sich das. Alles wirkte unversehens beinahe zu deutlich, so wie wenn es plötzlich doch gelingt, ein Fernglas scharf einzustellen.
Das Haus war nicht hoch, der Giebel mit einem Fenster in der Mitte eher flach, dafür das Dach ausladend. Auf der Seite zog es sich weit über eine hölzerne Veranda, in deren Balustrade Lücken klafften.
Die Mauern bestanden unten aus Feldsteinen. Darüber waren sie mit Holz in einem hell ausgeblichenen Grün verkleidet. Hinter wildem Wein und einer anderen Rankpflanze, an der sich blaue Blütentrauben öffneten, konnte man das nur ahnen.
»Der Blauregen ist doch hübsch«, sagte Rike aufmunternd. Vermutlich fiel ihr nichts Positiveres ein.
»Die Pflanze? O ja«, sagte Lilli abwesend. Sie hatte etwas anderes entdeckt, und nun überlief sie derselbe aufgeregte Schauer wie in jenem Augenblick, als sie in Himmelpfort ihren Wunschzettel eingesteckt hatte. Nur war er diesmal erschütternder, voll verheißungsvoller Spannung.
Sie hatte die Haustür gefunden, nachdem sie ein paar schiefe hölzerne Stufen emporgestiegen war, die sie fast zu Fall brachten. Ein Brett war lose und sackte zur Seite weg. Aber sie hatte nur Augen für die Tür, die blau gestrichen und oben rund war. Doch es war nicht die Tür selbst, deren Anblick sie faszinierte, sondern der Türklopfer, dessen angelaufenes Messing einen scheuen dunkelgoldenen Glanz in den Nachmittag legte wie einen Schatz.
Er stellte keinen Löwenkopf dar, wie bei solchen Türklopfern üblich, auch keinen einfachen Ring. Es war das fein gearbeitete Abbild einer Löwenzahnblüte auf einem aufrechten Stängel, und die gezackten Blätter bildeten den Ring.
Lilli dachte sofort an Andy und die Blüte, die er ihr anvertraut hatte. Ohne Gegenforderung, ohne eine Erwartung, einfach nur so, aus Freundlichkeit. Und wie sie sich dabei gefühlt hatte. Als ob er ihr die Freiheit geschenkt hatte und das Gefühl, dass sich etwas Neues für sie eröffnen würde.
Lilli legte eine Hand auf das warme Metall.
»Nicht das Wilde Haus«, sagte sie leise. »Das Haus der Möglichkeiten!«
»Soll das heißen, du hättest tatsächlich Interesse? Wir können nicht rein, den Schlüssel hat nur Onkel Pielow«, sagte Rike bedauernd. »Denkst du denn … ich meine, was für einen Beruf hast du eigentlich? Dieser Ort ist ziemlich abgelegen. Es gibt hier nicht viel, was man tun kann.«
Lilli setzte sich auf die oberste Stufe und blickte über das verwilderte Grundstück. Hinter dem Zaun die Straße, auf der sich wenig bewegte. In der Ferne dahinter ein Hügel mit einem weiten Feld, auf dem etwas Frühlingsgrünes keimte. Was auch immer es war, es hatte nichts anderes zu tun, als Wasser und Sonne aufzusaugen und sich zum Himmel hin zu entfalten.
»Ich habe mal eine Weile BWL studiert. Meine Mutter wollte das. Sie war Kassiererin in einem Supermarkt, wir hatten nie viel Geld. Sie fand, das sei was Solides.«
»Und du warst eine brave Tochter und hast auf sie gehört?« Rike setze sich neben sie.
Lilli zuckte mit den Schultern. »Anscheinend. Aber es wurde immer langweiliger. Und dann lernte ich Knut kennen. Er hat eine Firma, die Fußbodenbeläge verkauft und verlegt, Teppiche, Laminat, Parkett, so etwas.«
»Und Knut war nicht langweilig«, vermutete Rike.
»Nein. Wir hatten Spaß. Er ging mit mir ins Kino, zu Konzerten und in Restaurants und unternahm mit mir diese unvernünftigen Dinge, die ich kaum gekannt hatte. Er zeigte mir seine Firma, und ich habe mich verliebt. In Knut, und auch in all diese wunderbaren Sachen – weiche Teppiche, Flickenteppiche, rustikale Teppiche, edles Parkett, flippige Fliesen, Sisal und Holz, Filz und Flausch, all diese unterschiedlichen Strukturen, die man fühlen und über die man barfuß laufen konnte. Und die vielen Farben! Ich stellte mir vor, was man alles damit in den jeweils passenden Räumen machen könnte. Knut ließ mich zuhören, wenn er Kunden beriet, und ich fand es spannend. Hinterher hatte ich auch eigene Ideen, wie man es am besten machen und kombinieren könnte. Einige davon schlug er sogar den Kunden vor, und es wurde so gemacht. Schließlich fragte er mich, ob ich bei ihm im Büro arbeiten wollte. Wir sind zusammengezogen, und es war wirklich schön.«
»Aber?«, fragte Rike geduldig.
»Ich … na ja, irgendwann habe ich gemerkt, dass Knut es doch nicht mochte, wenn ich Einfälle hatte. Schon gar nicht, wenn ich mit Kunden darüber sprach. Er wollte eigentlich nur eine Sekretärin. Wir haben uns geliebt, aber er hatte ganz bestimmte Vorstellungen, wie eine Frau zu sein hat. Irgendwann fing er an, mir zu sagen, wie ich mich anziehen soll und was ich tun soll und was nicht. Ich durfte kein Konto haben, auf das er keinen Zugriff hatte. Weil ich ja zur Firma gehörte und er irgendwas mit den Steuern machen wollte.« Lilli zuckte mit den Schultern. »Alles war gut, solange ich seiner Meinung war, aber wenn nicht …« Daran wollte sie nicht mehr denken. Die üblen Schimpfworte, wie aus dem Nichts, immer wieder. Die Erniedrigungen. »Zum Glück haben wir nie geheiratet. Ich wollte mich schon eher trennen, aber dann starb meine Mutter. Knut war lieb zu mir, und ich dachte, ich hätte mich geirrt. Bald darauf hat er mir ein Büro in einem Nebengebäude zugewiesen.« Lili berührte einen Grashalm, der zwischen den Stufen emporlugte. Er war weich und biegsam. »Damit ich mehr Ruhe habe, sagte er. Aber ich habe gehört, wie er Anweisungen gab, dass ich keinen Kundenkontakt mehr haben soll. Die Leute hatten angefangen, nach mir zu fragen. Das hat er wohl nicht vertragen. Da bin ich gegangen. Er wird eine andere Sekretärin finden. Ich vermisse ihn manchmal, aber es geht mir jetzt viel besser.«
»Das ist gut. Wohin bist du gegangen?«, fragte Rike.
»Zu meiner Tante Nessa, in eine andere Stadt. Nessa ist sehr in Ordnung. Sie ist viel älter, als es meine Mutter war, aber sie ist so anders. Sie lebt nach ihren eigenen Regeln. Sie liebt Kartenspielen mit Freundinnen, zieht sich knallbunt an, geht aus, mit wem sie gerade Lust hat, ist völlig unabhängig. Sie hat mich gern aufgenommen, aber sie sagt, so geht es nicht weiter, es wäre ihr Leben und nicht meins.«
»Da hat sie recht. Aber ob es hier in der Gegend Arbeit in einer Teppichfirma gibt …? Vielleicht in einem Baumarkt …?«
»Nein! Ich will nichts mehr mit Teppichen zu tun haben! Darum ging es nie. Ich dachte damals nur, ich könnte die Welt zusammen mit Knut etwas schöner machen. Ich dachte, vielleicht ändert sich etwas, wenn die Menschen den richtigen Boden unter den Füßen haben. Albern, ich weiß.«