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Mit Romantik oder gar Leidenschaft hätte Tin nicht gerechnet, als sie nach einer schweren Trennung für ihr Kunstgeschichte-Studium nach Bielefeld zieht. Doch in ihrem ersten Seminar lernt sie den charismatischen Max kennen. Was als leidenschaftliche Anziehung beginnt, entwickelt sich schnell zu einer intensiven, aber komplexen Beziehung. Denn hinter Max' selbstsicherer Fassade verbirgt sich ein düsteres Geheimnis, das nicht nur Tins Vertrauen, sondern auch ihre eigenen Überzeugungen, auf eine harte Probe stellt. Ist ihre Liebe stark genug, um die Herausforderungen zu überstehen?
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Seitenzahl: 417
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Still Believe in Love
Für Phil und Tin.
„Tränen stiegen mir in die Augen,
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Sabrina Pick
nicht nur wegen ihm, sondern auch wegen meiner eigenen Vergangenheit. Ich erinnerte mich daran, wie hilflos ich mich damals gefühlt hatte, als die Menschen, die ich am meisten liebte, sich in Fremde verwandelten.“
Max war einer dieser Menschen, die einen Raum betraten und ihn sofort mit ihrer Präsenz füllten. Das wurde mir klar, als sein Lachen mich aus meinen Gedanken holte.
Ich drehte mich zur Tür und sah einen jungen Typen, der mit lässigen Schritten auf mich zukam.
Aufrecht, die Schultern zurück, strahlte sein ganzer Gang Selbstbewusstsein aus.
Er unterhielt sich lebhaft mit einem anderen Studenten. Wieder lachte er. Es war ein Lachen, das nicht nur angenehm, sondern auch anziehend klang und den dunklen Ton seiner Stimme verriet. Sein dunkelblondes Haar war leicht zerzaust, das stand ihm aber ziemlich gut. Eine längere Strähne fiel ihm ins gebräunte Gesicht. Er strich sie zurück und da bemerkte ich seine Augen:
Strahlend blau-grün, wie das Meer.
Er ging an meinem Sitzplatz vorbei und bückte sich plötzlich. Als er sich mit einem charmanten Lächeln wieder aufrichtete, begann mein Herz schneller zu schlagen.
„Ist das deiner?“, fragte er und reichte mir einen Kugelschreiber.
Ich lächelte zurück und nickte.
Dann wandte er sich wieder dem anderen Studenten zu, mit dem er sich vorher unterhalten hatte.
„Komm Ben, wir setzen uns hier hin.“
Die beiden nahmen eine Sitzreihe vor mir Platz.
Ich beobachtete ihn – oder besser gesagt, seinen Hinterkopf – und wünschte mir, dass er sich zu mir umdrehen würde, damit ich sein Gesicht noch einmal sehen konnte.
Doch diesen Gefallen tat er mir nicht.
Ich zupfte an einer losen Haarsträhne, die aus meinem Dutt herausgerutscht war. Mit geübten Fingern drehte ich sie um meinen Zeigefinger und spielte eine Weile damit.
Sonnenstrahlen durchbrachen den bewölkten Oktoberhimmel und fielen in den Seminarraum. Sie ließen mein Haar in einem warmen Braunton leuchten, der der Farbe meiner mandelförmigen Augen sehr ähnelte. Zarte Sommersprossen, die letzten Überbleibsel des Sommers, waren kaum noch auf meiner hellen Haut zu sehen.
Nach einigen Minuten gelang es mir, meine Aufmerksamkeit wieder auf die Worte des Dozenten zu lenken. Er erklärte gerade, dass wir im Laufe des Semesters Gruppenreferate vorstellen sollten. Eine Studentin mit dunkelbraunem Pagenkopf in der ersten Reihe bekam ein Blatt vom Professor.
„Ich gebe jetzt eine Liste herum, auf der alle Themen stehen. Tragen Sie sich bitte bei Ihrem Wunschthema ein.“
Die Liste erreichte den blonden Typen, der sich mit Ben beriet, welches Thema sie wählen sollten. Seine Stimme war klar und laut, sodass jeder sie hören konnte. Der Professor ignorierte das und fuhr routiniert mit seinem Vortrag fort.
Ich hörte ihm nur halb zu, und als die Liste bei mir ankam, wusste ich, welches Thema ich wählen würde. Die Studentin aus der ersten Reihe gab die ausgefüllte Liste zurück an den Professor, der sie kurz überflog.
„Wunderbar. Wie es aussieht, bekommt jeder sein Wunschthema.“
Er lächelte zufrieden und sah dabei mit seinem weißen Vollbart ein wenig wie ein Weihnachtsmann aus.
„Gruppe A: Rebecca, Hendrik, Max, Benjamin und Christin. Kommt bitte nach vorne.“
Er deutete rechts vor sein Pult.
Ich stand auf, als ich meinen Namen hörte. Obwohl mich meine Freunde nie so nannten, hieß ich eigentlich Christin. Langsam ging ich nach vorne und stellte mich neben die erste Reihe. Ich beobachtete, wie Benjamin und sein Freund auf mich zukamen. Endlich konnte ich sein Gesicht wieder sehen, aber ich traute mich kaum, ihn anzuschauen. Ob er wohl Hendrik heißt? Oder Max?
Plötzlich trafen sich unsere Blicke und mir wurde abwechselnd heiß und kalt.
Bestimmt heißt er Max.
Max klang passender.
Der Dozent rief bereits die nächsten Namen auf und überließ es uns, uns selbst vorzustellen.
„Was haltet ihr davon, wenn wir unsere Nummern austauschen? Habt ihr alle WhatsApp?“, fragte die Studentin mit dem Pagenkopf. „Ich bin übrigens Rebecca“, fügte sie hinzu und lächelte selbstsicher.
„Gute Idee“, stimmte er zu.
Ich spürte, wie sich die Aufregung in mir verstärkte. Mein Herz klopfte schneller und meine Beine fühlten sich wie Gummi an. Er holte sein Telefon hervor, ein modernes Smartphone mit schwarzem Metallrahmen, das noch recht neu aussah.
„Ich erstelle die Gruppe. Passt das für euch?“, fragte er und sah in die Runde. Dabei fiel sein Blick wieder auf mich. „Wir kennen uns noch nicht, oder?“
Mein Herz überschlug sich.
„Ich heiße Tin“, antwortete ich und spürte, wie mir heiß wurde. Bloß nicht rot werden.
„Und wie heißt du?“, fragte ich schnell.
„Ich bin Max“, entgegnete er und reichte mir seine Hand, während er schräg grinste.
Max. Tatsächlich Max.
Seine Haut war weich, und sein Händedruck genau richtig. „Woher kennt ihr euch?“, erkundigte ich mich, als ich seine Hand losließ.
Der andere Student, Hendrik, kam Max zuvor. Mit nasaler Stimme und leicht arrogantem Ausdruck sagte er: „Wir sind alle hier in Bielefeld aufgewachsen. So groß ist die Stadt ja nicht. Da läuft man sich zwangsläufig über den Weg.“
Mir fiel sein sorgfältig gegeltes Haar auf.
„Mach dir nichts draus, ich bin auch neu“, warf Rebecca ein und lächelte mich an. Ihre Augenform ließ mich vermuten, dass sie asiatische Wurzeln hatte. Max tippte währenddessen auf seinem Telefon.
„Dann gebt mir mal eure Nummern“, bat er und sah mich erwartungsvoll an.
Ohne es bewusst wahrzunehmen, nannte ich ihm meine Telefonnummer. Nicht nur Max‘ Mund, sondern auch seine Augen lächelten mich an.
„Dann machen wir später in der Gruppe einen Termin für das Referat aus. Ben und ich müssen jetzt los zum Training.“
Ich spürte eine leichte Enttäuschung. Zu gerne hätte ich diesen Moment festgehalten.
Max und Benjamin verabschiedeten sich und gingen zur Tür. Kurz bevor Max den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um und warf mir ein flüchtiges Lächeln zu.
Dann verließ er den Seminarraum und ich konnte das Grinsen auf meinem Gesicht nicht unterdrücken. Ich verlor mich kurz in meinen Gedanken, bis Rebecca mich zurück in die Realität holte.
„Und wo musst du jetzt hin?“
„Warte mal. Ich schaue nach“, antwortete ich und kramte in meiner Umhängetasche, die eher ein Beutel war.
Der grob gewebte Jutestoff trug den Slogan „Go green or go home“, ich hatte ihn bei einem Kleidertausch gefunden. In meiner Freizeit liebte ich es, Zeit auf Flohmärkten, in Trödelläden oder bei Kleidertausch-Partys zu verbringen. Einerseits fühlte es sich gut an, etwas für die Umwelt zu tun, andererseits entdeckte ich dabei oft kleine Schätze.
Ich holte mein zerkratztes Smartphone hervor und schaute auf den Veranstaltungsplan.
„Ich habe gleich meine erste Vorlesung in Kunstgeschichte“, las ich laut ab. Vorfreude breitete sich in mir aus. Schon seit meiner Kindheit faszinierte mich Kunst. Früher hatte ich meine Oma oft in Museen und Galerien begleitet, um die Werke großer Künstler wie Vincent van Gogh, Claude Monet und Gustav Klimt zu bewundern. Die lebendigen Farben und die Schönheit der Kunstwerke zogen mich seitdem in ihren Bann.
Vor ein paar Jahren begann ich selbst, mit Acrylfarben zu experimentieren und Leinwände zu bemalen. Ich sah mich zwar nicht als Künstlerin, träumte aber davon, eines Tages eine eigene Galerie zu führen oder in einem Kunstmuseum in New York zu arbeiten. Deshalb hatte ich mich entschieden, Kunstgeschichte zu studieren.
Rebecca erwiderte: „Das wäre nichts für mich. Ich kann mit Kunst nichts anfangen.“ Sie lachte und ihre Stimme klang leicht selbstironisch.
„Ich dachte, alle im Seminar würden das Gleiche studieren wie ich“, gab ich zu.
Rebecca erklärte, dass „Quantitative Methoden“ zum Basiswissen für alle Bachelorstudiengänge gehörte. Sie selbst studierte Jura.
„Ich will Staatsanwältin werden“, sagte sie stolz.
Ich ließ mein Telefon in den Beutel gleiten, doch meine Gedanken schweiften wieder zu Max.
Was studiert er wohl?
Ich folgte den grünen Pfeilen an den Wänden, die zur Fakultät für Kunstgeschichte führten. Zügig stieg ich die Treppen zum ersten Stock hinauf, wo sich mein Hörsaal befand. Unterwegs fiel mein Blick auf eine Gruppe von Studenten, die hektisch durch den Flur eilten, um noch rechtzeitig zum Unterricht zu kommen.
Dann bemerkte ich einen Mann, der mit Kopfhörern um den Hals und einem Kaffee in der Hand die Treppe hinunter stolperte. Fast wäre er mit mir zusammengestoßen. Er sah müde aus, als hätte er eine lange Nacht hinter sich, aber er schenkte mir ein freundliches Lächeln, als er an mir vorbeiging.
Im Hörsaal ließ ich meinen Blick neugierig umherwandern. Ein Geruch nach Tafelkreide, Papier und Holz erfüllte den Raum. Ich entdeckte einen freien Sitzplatz in der Mitte des Saals und setzte mich. Meinen Beutel legte ich auf den Boden. Ich lehnte mich leicht zurück und überkreuzte die Beine, während der Dozent mit seinem Vortrag begann.
Neben mir saß ein großer, schlaksiger Student mit einem hellbraunen Man Bun und einem schwarzen Rollkragenpullover, der gelangweilt wirkte. Er schaute auf seinem Telefon TikTok-Videos an. Ich hingegen folgte interessiert dem Vortrag des Dozenten über die Entstehung der abstrakten Kunst in den 1920er Jahren. Besonders die verschiedenen Strömungen innerhalb dieser Kunstbewegung und die Werke von Künstlern wie Wassily Kandinsky und Kazimir Malewitsch faszinierten mich.
Der junge Dozent erklärte, wie die abstrakte Kunst sich von den traditionellen, realistischen Darstellungen abgrenzte und sich auf Farben, Formen und Linien konzentrierte. Meine Augen verfolgten aufmerksam die Bilder auf der Projektionsfläche, während ich Notizen machte.
Nach der Vorlesung packte ich meine Unterlagen zusammen, als der Student mit dem Man Bun mich ansprach.
„Ich muss zugeben, das Thema hat mich nicht sehr geflasht. Was genau hat dich daran so bewegt?“
Er lächelte mich freundlich an und ich bemerkte seine goldene Brille und die feingliedrige Goldkette um seinen Hals. Er schien seine Frage ernst zu meinen.
Während wir gemeinsam den Hörsaal verließen, erklärte ich ihm meine Begeisterung.
Er nickte zustimmend.
„Hast du Lust, einen Kaffee trinken zu gehen? Ich bin übrigens Lenn.“
Er streckte mir die Hand entgegen und mir fielen seine schwarz lackierten Fingernägel auf.
Ich schlug ein.
Zwei Cappuccinos und vierzig Minuten später wusste ich, dass Lenn eigentlich Lennart hieß und in einem bayerischen Dorf aufgewachsen war. Er hatte einen älteren Bruder, der Polizist war, und seine Familie legte großen Wert auf Tradition und bayerische Kultur.
Irgendwann kamen wir auf das Thema Geld zu sprechen.
„Ich bin total pleite. Der Umzug nach Bielefeld hat all meine Ersparnisse aufgefressen“, gestand Lenn, ohne seinen Humor zu verlieren.
Ich nickte zustimmend und war erleichtert, dass ich nicht die Einzige mit solchen Problemen war, wollte das Thema aber nicht vertiefen.
„Ich muss noch in die Bibliothek“, sagte ich mit einem Blick auf die Uhr.
„Du bist ja fleißig“, meinte Lenn grinsend und wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung.
Anschließend ging ich mit schnellen Schritten die Flure entlang und betrat die Bibliothek, die von den Studenten einfach Bib genannt wurde.
Mein Blick glitt über die Buchrücken.
Ich erreichte die Regale mit den Kunstbüchern und begann, nach passender Literatur zu suchen.
Während ich die Seiten umblätterte und die Bilder betrachtete, fühlte ich mich wie in einem Rausch.
Der Gedanke, dass ich tatsächlich Kunst studieren konnte und meine Leidenschaft leben durfte, erfüllte mich mit einer intensiven Freude. Ich war dankbar, diese Chance bekommen zu haben, auch wenn es wegen der Kosten für das Studium und das Apartment nicht einfach war.
Die Zeit verging wie im Flug und ich verlor mich in den Büchern. Es war ein Gefühl der Glückseligkeit, das mich durchströmte. Ein Gefühl, das mir sagte, dass ich auf dem richtigen Weg war.
Meine beste Freundin Sophie stand am Herd ihrer kleinen Küche und briet Gemüse in der Pfanne. Der Duft von gerösteter Paprika und Zucchini erfüllte die Luft. Ich saß an einem weißen Ikea-Holztischchen und nippte an meinem gekühlten Weißwein. Sophie studierte ebenfalls seit diesem Wintersemester an der Uni Bielefeld. Sie hatte sich für
Psychologie entschieden. Ich konnte mir gut vorstellen, wie Sophie später als einfühlsame Therapeutin arbeiten würde, und bewunderte sie dafür, dass sie ihre eigenen Erfahrungen nutzen wollte, um anderen Menschen zu helfen.
Meine Gedanken schweiften wieder zu Max.
Ich lächelte verträumt vor mich hin, als ich an ihn dachte.
Sophie beobachtete mich und begann zu grinsen.
„Du denkst gerade an einen Typen, oder?“
Sie kicherte und schwenkte die Pfanne.
„So offensichtlich?“
Ich verdrehte meine Augen.
„Ich weiß, dass es bescheuert ist. Gestern habe ich dir noch gesagt, dass ich froh bin, Single zu sein“, erklärte ich.
Sophie zuckte mit den Schultern und schüttete die Gnocchi in die Pfanne. Ihre roten Locken wippten bei der Bewegung.
„Ich finde es schön, dass du ein bisschen verknallt bist. Das hast du wirklich mal verdient.“
Trotz ihrer lieben Worte blieb ein unangenehmes Gefühl zurück. Es lag nicht so sehr an dem, was Sophie gesagt hatte, sondern an den Erinnerungen, die plötzlich in mir hochkamen.
Ich musste an Hannes denken, meinen letzten Exfreund. Mein Gesichtsausdruck veränderte sich und meine Lippen zogen sich zu einer dünnen Linie.
Hannes war Mitte zwanzig und sehr charismatisch. Das war mir sofort aufgefallen, als ich ihn eines Abends beim Ausgehen kennengelernt hatte. Lässig stand er neben mir an der Bar und bot mir charmant einen Cocktail an. Hannes wirkte wie jemand, der genau wusste, was er wollte. Mit seinen dunklen Haaren, die wild um sein Gesicht fielen, und einem dichten Bart, der seine markanten Gesichtszüge betonte, strahlte er eine ungezähmte Energie aus, die mich anzog. In den Wochen danach trafen wir uns häufig abends und verbrachten viel Zeit zusammen. Mir gefiel, dass ich mit Hannes viel lachen konnte, aber auch tiefgründige Gespräche führen konnte. Bald wurden wir ein Paar.
Ich war so verliebt, dass ich sogar meinen Traum vom Studium und einem Leben im Ausland aufgeben wollte. Doch je besser ich Hannes kennenlernte, desto mehr wurde mir klar, dass ich nicht die einzige Frau in seinem Leben war. Keine vier Wochen waren vergangen, als er mir immer seltener schrieb. Ich bemerkte seine mehrdeutigen Blicke zu anderen Frauen, die vertrauten Gesten und das leise Flüstern.
Es beunruhigte mich.
Als ich schließlich eindeutige Nachrichten auf seinem Telefon fand, wurde mir schmerzhaft bewusst:
Hannes hatte mich betrogen.
Ich war nur eine von vielen.
Diese Erkenntnis traf mich tief und erinnerte mich an die Verletzungen, die mein Vater unserer Familie zugefügt hatte.
Sophie stellte zwei dampfende Teller mit Gemüse-Gnocchi auf den Tisch und holte eine Packung Parmesan aus dem Kühlschrank. Die Käsereibe lag schon bereit. Sie schenkte uns Wein ein und setzte sich. Ich nahm einen Bissen.
Der Raum war erfüllt von den Aromen des Essens und dem sanften Licht der Lichterkette an der Wand. Eine angenehme Stille breitete sich aus, unterbrochen nur vom leisen Klirren des Bestecks.
Plötzlich sagte ich: „Ich werde die Kaution für das Apartment auf jeden Fall noch diesen Monat zurückzahlen.“
Eine leichte Röte stieg mir ins Gesicht.
Sophie schaute überrascht von ihrem Teller auf.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie schnell und legte beruhigend ihre Hand auf meinen Arm.
Sophie und ich kannten uns seit der Grundschule. In all den Jahren hatten wir nicht nur die schönen, sondern auch die schweren Zeiten gemeinsam durchgestanden. Eine dieser schweren Zeiten war die Scheidung meiner Eltern. Damals war ich zwölf und mein Bruder Jaron gerade acht.
Unser Vater verließ die Familie für eine jüngere Frau. Seitdem trug meine Mutter, eine alleinerziehende Krankenschwester, die gesamte Verantwortung für die Familie.
Geld war immer knapp. Trotzdem tat Charlotte alles, um uns Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen.
Als es um die Kaution für mein Apartment ging, stieß ich jedoch auf Widerstand. Charlotte war skeptisch gegenüber meiner Entscheidung, Kunstgeschichte zu studieren, und wollte mich finanziell nicht unterstützen. In diesem Moment sprangen Sophies Eltern ein und liehen mir das nötige Geld, um meinen Traum zu verwirklichen.
„Ich will euch das wirklich so schnell wie möglich zurückzahlen“, beharrte ich.
Ich wollte bei niemandem in der Schuld stehen, vor allem nicht bei Sophie und ihrer Familie.
Aber woher soll ich das Geld nehmen?
„Vielleicht sollte ich mir einen Nebenjob suchen“, dachte ich laut nach.
Sophie hatte prompt eine Idee und erzählte von einer Jobbörse an der Uni, über die sie ihre Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin gefunden hatte. Sie lächelte und ihre Stupsnase kräuselte sich dabei leicht.
Meine Neugier war geweckt und ich beschloss, mich in den nächsten Tagen darum zu kümmern.
Nachdem wir uns einige Stunden lang über die neuesten Social-Media-Trends in Sachen Mode und Make-up unterhalten hatten, fand ich mich gegen halb drei Uhr morgens etwas beschwipst in meinem Zimmer wieder. Meine Gedanken kehrten zu Max zurück.
„Max“, murmelte ich leise vor mich hin.
Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, als ich mir vorstellte, ihn zu küssen. Kurz danach schlief ich umhüllt von der wohligen Dunkelheit ein.
Als ich wieder aufwachte, war ich einen kurzen Moment verwirrt. Verschlafen schaute ich auf mein Telefon, bis ich plötzlich realisierte, dass meine Vorlesung genau jetzt begonnen hatte.
Verdammt, warum hat mein Wecker nicht geklingelt?
Doch für Vorwürfe blieb keine Zeit.
Hastig sprang ich aus dem Bett, zog eine frische Jeans an und band meine gewellten, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz.
Für Make-up war es schon zu spät.
Die Bahn würde jede Minute kommen.
Schnell warf ich noch einen Block und einen Stift in meine Tasche und stürzte aus der Wohnung. Mit einem Sprint, der mir selbst olympiaverdächtig vorkam, erreichte ich gerade noch rechtzeitig die sich schließende Tür der Straßenbahnlinie 4.
Die Bahn zur Uni war rappelvoll. Es gab keine freien Sitzplätze mehr und kaum Raum zum Stehen. Alle standen dicht gedrängt. Ich hielt mich an einer Stange fest und versuchte, in den Kurven mein Gleichgewicht zu halten. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag, der durch den Sprint noch heftig pochte. Der Geruch von Schweiß und Deo mischte sich in der Luft. Zwischen den Köpfen und Schultern der anderen Fahrgäste entdeckte ich auf einmal Lenn, der ein paar Reihen vor mir stand. Durch seine Körpergröße und den Man Bun ragte er einen Kopf über die anderen hinaus. Ich winkte ihm zu und er erwiderte mein Lächeln mit einem breiten Grinsen.
An der Haltestelle der Uni Bielefeld wurden Lenn und ich mit den anderen Studenten aus der Bahn gespült. Die Menge verteilte sich in Richtung der verschiedenen Fakultäten auf dem Campus. Gerade hatte ich ihn erreicht, als ich eine Stimme hinter mir hörte – männlich und angenehm.
„Hallo Tin?“
Ich drehte mich um und da stand Max.
Ausgerechnet Max.
Am liebsten wäre ich unsichtbar geworden, denn so hatte ich mir unser Wiedersehen gestern Abend sicher nicht vorgestellt.
Warum habe ich nicht wenigstens ein bisschen Mascara aufgetragen?
„Hey“, antwortete ich knapp.
Ein Lächeln erhellte Max‘ Gesicht.
„Bist du heute Nachmittag dabei? In der Cafete?“
Ich stand auf dem Schlauch.
„Ähm, Cafete?“
Ich verfluchte diesen Moment und dass ich offensichtlich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
„Ja, fürs Referat. Heute um 14 Uhr“, erklärte Max, in seinem Blick lag etwas Amüsiertes.
Ich atmete tief ein und dachte kurz nach. Dann nickte ich und bemühte mich, entspannt zu wirken.
Innerlich wiederholte ich:
Es ist alles gut. Diese Situation ist überhaupt nicht peinlich.
Das half jedoch nur bedingt.
„Nice. Dann sehen wir uns später.“
Max zwinkerte mir zu und drehte sich um. Ich sah ihm hinterher, als Lenn neckisch fragte:
„Wer war denn der Typ?“
Ich fühlte mich ertappt und hoffte, dass meine Aufregung Max gegenüber nicht zu offensichtlich gewesen war. Schnell erzählte ich Lenn von dem Referat, doch er durchschaute mein Ausweichmanöver.
„Du magst den Kerl, oder?“, fragte er direkt.
Lenns braune Augen schauten mich durch seine goldgeränderte Brille schelmisch an.
Ich seufzte, verdrehte die Augen und gab ihm recht. Doch dann fiel mir auf, dass wir längst zu spät für unsere Vorlesung waren. Entschlossen griff ich nach Lenns Arm und zog ihn energisch mit mir in Richtung Hörsaal. Lenn war von meiner plötzlichen Entschlossenheit überrascht, ließ sich aber bereitwillig mitziehen, während er versuchte, mit mir Schritt zu halten.
Gemeinsam rannten wir durch die Flure der Uni, bis wir den Hörsaal erreichten. Leise schlüpften wir in den vollen Saal und entdeckten zwei freie Plätze in der vorletzten Reihe. Wir setzten uns auf die harten Holzklappsitze. Die Dozentin, die einen britischen Akzent hatte, sprach gerade über Marina DeBris, eine bedeutende Vertreterin der Umweltkunst. Sie thematisiert in ihren Werken Müll, Umweltverschmutzung und Konsumkritik, indem sie aus weggeworfenen Materialien Kunst schafft.
Während ich Notizen machte, blickte ich gelegentlich auf, um die Bilder von DeBris Werken zu betrachten.
Als die Dozentin durch die Frage einer Studentin vom Thema abschweifte, holte ich mein Telefon unter dem Pult hervor und checkte WhatsApp.
Tatsächlich.
Sechs neue Nachrichten in der Referatsgruppe und eine von Sophie.
Zuerst öffnete ich den Gruppenchat.
Die anderen hatten sich für 14 Uhr verabredet.
Offenbar war der Treffpunkt die Cafete.
Ich stupste Lenn in die Seite.
„Weißt du, wo das ist?“, flüsterte ich.
Lenn schnaubte amüsiert und erklärte mir, dass Cafete die Abkürzung für Cafeteria ist. Er versprach mir, mich später hinzubringen. Dankbar lächelte ich ihn an.
Danach öffnete ich Sophies Nachricht.
Guten Morgen Liebes,
bist du auch so verkatert wie ich? Nie wieder so einen Billo-Wein. Na ja, ich wollte dir noch den Link zum Job-Portal schicken. Hier ist er.
Küsse, Sophie.
Ich klickte auf den Link. Neben den Stellenangeboten, die speziell für die Uni ausgeschrieben waren, entdeckte ich auch reguläre Aushilfsjobs. Ich überflog die Anzeigen und notierte mir drei interessante Stellen:
Kassiererin in einem Supermarkt,
Texterin für ein Online-Magazin und
Warenverräumung bei einer Drogeriekette.
Ich nahm mir vor, mich heute Abend zu bewerben.
Dann legte ich mein Telefon weg und konzentrierte mich wieder auf die Dozentin.
Nach der Vorlesung und einem Seminar über Jackson Pollock, einen Vertreter des abstrakten Expressionismus, brachte Lenn mich zum Eingang der Cafete. Ich wollte mich gerade verabschieden, als er mich leicht in die Seite stieß.
„Bist du schon aufgeregt, Max wiederzusehen?“
Ein schelmisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Ach, hör auf“, entgegnete ich, konnte aber nicht anders, als ebenfalls zu lächeln.
Ich betrat den Raum und blieb für einen Moment stehen, um mich umzusehen.
Die Cafete war ein lebhafter Ort voller Studenten, die sich hier zwischen den Lehrveranstaltungen trafen. Zwei ältere Mitarbeiterinnen arbeiteten hektisch hinter der Bedientheke. In der Ecke neben der Theke befand sich ein Automat mit Getränken, und an einem Aufsteller hing eine Liste mit täglich wechselnden Tagesgerichten.
Der Duft von Kaffee, Gebäck und belegten Brötchen lag in der Luft, vermischt mit dem Geräusch von plappernden und lachenden Studenten. Durch die großen Fenster strömte Tageslicht in den Raum. Die pastellfarbenen Wände waren mit bunten Plakaten und kunstvollen Grafiken geschmückt. Die hellen Holzmöbel und die gepolsterten Stühle wirkten einladend.
Dann entdeckte ich Rebecca. Sie saß bereits an einem der Holztische, vor sich einen Laptop und eine Kaffeetasse. Neben ihr tippte Hendrik wild auf seinem Telefon herum. Von Max und Benjamin fehlte noch jede Spur.
Ich lächelte und ging zu ihnen hinüber.
„Hallo“, begrüßte ich sie.
Rebecca blickte von ihrem Laptop auf und ihr nachdenkliches Gesicht verwandelte sich in ein freundliches Lächeln. Auch Hendrik schaute auf und schenkte mir ein knappes Nicken.
„Wie war euer Tag bisher?“, fragte ich, während ich mich auf einem der gepolsterten Stühle fallen ließ.
„Ich hab gerade übelsten Stress“, beklagte sich Hendrik und erzählte von einem Seminar, in das er unbedingt noch wechseln müsse, um das Semester abschließen zu können. „Das wird schon. Du hast doch sechs Semester Zeit, nicht nur dieses eine, um alle Kurse zu belegen“, versuchte ich ihn zu beruhigen.
Rebecca war wieder mit ihrem Laptop beschäftigt.
Während ich mich weiter mit Hendrik unterhielt, hörte ich plötzlich ein vertrautes Lachen. Es war ein Klang, den ich sofort erkannte. Instinktiv drehte ich mich um und sah Benjamin und Max auf uns zukommen.
Mein Herzschlag beschleunigte sich.
Max zog den Stuhl neben mir zu sich heran, während Benjamin sich auf den freien Platz neben Hendrik setzte. Das Quietschen der Stühle über den Boden war kurzzeitig lauter als das allgemeine Stimmengewirr in der Cafete.
Rebecca schaute von ihrem Bildschirm auf und übernahm das Wort.
„Super, dass ihr so schnell Zeit gefunden habt. Bis zur Vorstellung unseres Themas haben wir zwar noch knapp zwei Monate, aber besser früh als zu spät, oder?“
Sie strahlte die Runde an. Anscheinend gefiel ihr die Rolle der Gruppenleiterin. Ohne eine Reaktion abzuwarten, nahm sie ihren Notizblock zur Hand.
„Thema 1, wer will das übernehmen? Du, Benjamin?“ Max‘ Freund war ein sportlicher Typ mit kräftigen Schultern und Armen. Seine Haare wurden von einer Baseball-Kappe verdeckt, die er verkehrt herum trug. Er nickte nur kurz und wirkte dabei etwas grimmig. Doch keiner widersprach Rebecca, und so waren die Themen schneller verteilt, als ich aufstehen und mir eine Tasse Kaffee holen konnte.
Hendrik, der ohnehin gestresst und auf dem Sprung war, war dankbar für die schnelle Abwicklung. Er murmelte eine Entschuldigung und verließ eilig die Cafete. Bald darauf folgte Rebecca, die zu einem Seminar musste.
Benjamin schaute auf sein Telefon.
„Wir haben noch Training“, sagte er zu Max.
„Das lass ich heute ausfallen“, antwortete er schnell. „Bin aber morgen wieder dabei.“
Seine Mundwinkel hoben sich leicht, und der Ausdruck in seinen Augen verriet, dass er etwas vorhatte. Benjamin nickte nur und verabschiedete sich. Jetzt saßen nur noch Max und ich am Tisch. Max, der die Situation offensichtlich genoss, suchte meinen Blick.
„Was hast du heute noch vor?“, fragte er so leise, dass ich mich zu ihm hinüberlehnen musste, um ihn zu verstehen. Ein angenehmes Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus, als ich in seine bemerkenswert blau-grünen Augen schaute. Die Unbeschwertheit eines lockeren Flirts lag in der Luft. Ich dachte kurz nach.
„Ich denke, ich hole mir gleich einen Cappuccino und dazu ein Stück Kuchen.“
Max begann zu grinsen.
„Das klingt gut. Ich wollte mir auch gerade ein Stück holen. Darf ich dich einladen?“, fragte er selbstsicher.
Seine Stimme gefiel mir, genauso wie die Art, wie er mich ansah. Ich spürte, wie meine Wangen sich leicht rosa färbten.
„Das ist sehr lieb von dir.“
Er stand auf. „Auch Schoko, oder etwas anderes?“
„Schoko passt.“
Das Lächeln auf meinen Lippen breitete sich über mein ganzes Gesicht aus. Er erwiderte es und ging zur Theke. Während Max mit lässigen Schritten durch die Cafeteria ging, konnte ich meinen Blick nicht von ihm abwenden. Seine Hände steckten tief in den Taschen seines grauen Hoodies, was seine Schultern breiter und ihn noch größer wirken ließ. Die Beine seiner dunkelgrauen Jogginghose waren eng geschnitten und betonten seine schlanke, athletische Figur. Mit jeder Bewegung, die er machte, erschien er noch lässiger, fand ich.
Als Max zurückkam, tat ich so, als hätte ich die ganze Zeit auf mein Telefon geschaut. Ich legte es weg und sah zu, wie er die beiden Kuchenstücke und die Tassen auf einem weißen Tablett balancierte. Geschickt stellte er alles auf dem Tisch ab, ohne etwas zu verschütten.
„Voilà.“
Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und lehnte sich entspannt zurück, als ob er sich in diesem Moment um nichts in der Welt Gedanken machte.
„Danke dir, sehr lieb“, wiederholte ich.
„Kein Problem. Meine Eltern zahlen“, sagte er und lachte ein wenig abschätzig.
Seine Bemerkung verunsicherte mich.
Eine Pause entstand.
Max schien zu merken, dass er bei mir einen wunden Punkt getroffen hatte und versuchte die Stimmung wieder aufzulockern. Er erzählte mir von seiner Reise nach Vietnam und einem Erlebnis, das er dort in einer Höhle gehabt hatte.
„Die Höhle war einfach der Hammer, ich war so geflasht, dass ich laut losgeschrien hab. Blöd nur, dass ich natürlich genau unter einem Schwarm Fledermäuse gestanden hab, ohne es zu checken. Plötzlich flattern die Dinger direkt auf uns los! In dem Moment dachte ich nur: ‚Oh Mist!‘ Aber als ich mir später die Videos angeschaut hab – ich konnte echt nicht mehr vor Lachen.“
Max erzählte die Geschichte so lebhaft, ich fühlte mich fast, als wäre ich selbst dabei gewesen.
„Reist du auch gerne?“, fragte er, sein Lächeln warm und ein wenig herausfordernd.
Ich nickte und erzählte ihm von meinem Traum, eines Tages in New York zu leben und eine eigene Galerie zu führen.
Doch dann seufzte ich.
Die Gedanken an meine Geldsorgen ließen mich nicht los. Diese schienen allgegenwärtig, beeinflussten meine Entscheidungen und schränkten mich ständig ein.
Ich erinnerte mich an die Skepsis meiner Mutter, als ich ihr von meinem Wunsch erzählt hatte, Kunstgeschichte zu studieren, und wie sie meinen Traum von New York als unrealistisch abtat.
Werde ich mir jemals keine Sorgen mehr um Geld machen müssen?
Diese Gedanken holten mich auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Ehrlich gesagt, habe ich im Moment kaum Geld. Schon gar nicht, um zu reisen“, gestand ich und erzählte Max, dass ich bisher kaum außerhalb Deutschlands gewesen war.
Ich machte eine kurze Pause, unsicher, ob ich mehr sagen sollte.
Schließlich atmete ich durch und sprach weiter.
Ich berichtete von der Scheidung meiner Eltern, den finanziellen Schwierigkeiten meiner Mutter und vom abgebrochenen Kontakt zu meinem Vater. Ich sprach vom Auszug aus unserem Haus in Wollbeck in eine kleine Mietwohnung in Münster und davon, wie es zum Monatsende oft nur Spaghetti mit Tomatensoße gab, weil das Geld knapp war.
Max hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen. Er nickte verständnisvoll und legte zum Schluss seine Hand auf meine. Ein Anflug von Unsicherheit überkam mich.
Habe ich zu viel preisgegeben?
Was denkt Max jetzt von mir?
In Gedanken versunken starrte ich auf den Holztisch, zog meine Hand aber nicht zurück.
„War das zu viel?“, murmelte ich schließlich.
Max schüttelte den Kopf.
„Ich find’s schön, dass du mir von dir und deiner Familie erzählt hast. Ich will noch viel mehr über dich wissen.“
Seine dunklen Augenbrauen zogen sich leicht nach oben, und sein Blick war entschlossen. Die Wärme in seiner Stimme berührte mich, und meine Sorge, was er von mir denken könnte, löste sich auf.
Als ich bemerkte, dass Max mich unentwegt lächelnd ansah, errötete ich.
Plötzlich fragte er: „Weißt du eigentlich, wie hübsch du bist?“
Er grinste und steckte sich ein großes Stück Kuchen in den Mund. Sein Kompliment überrumpelte mich. Hitze stieg in mir hoch, und ich überlegte hastig, was ich darauf erwidern sollte. Doch Max kam mir zuvor.
„Ich mag deine Sommersprossen“, fügte er hinzu und sah mich mit einem zuckersüßen Blick an.
Nach einer kurzen Pause antwortete ich abgehackt und etwas unbeholfen: „Ich finde, du siehst auch sehr gut aus.“
Er zog amüsiert die Mundwinkel hoch.
„Danke, aber du musst das jetzt nicht nur sagen, um nett zu sein.“
„Quatsch. Ich finde das wirklich. Und ich mag, dass du so sportlich bist.“
Ich biss mir auf die Unterlippe.
Okay, das war zu viel, dachte ich leicht beschämt, als ich Max‘ irritierten Blick sah. Doch er fing sich schnell wieder und sah mich mit seinem gewinnenden Lächeln an.
„Cool, dass das Training sich endlich auszahlt.“
Erleichtert lächelte ich zurück.
Während des Gesprächs hatte ich noch keinen Bissen von meinem Kuchen gegessen, zu nervös war ich gewesen. Max‘ Teller hingegen war schon leer, bis auf ein paar Krümel.
Er schaute auf sein Telefon, das kurz vibriert hatte.
„Ich muss leider los.“
Das Bedauern in seiner Stimme spiegelte sich auch in seinem Gesicht wider.
„Aber vielleicht sehen wir uns heute Abend? Ich bin mit ein paar Jungs vom Fußball im Gegenüber verabredet. Wenn du Zeit hast, komm doch vorbei.“
Ich dachte kurz nach.
„Klingt gut, aber wo ist das Gegenüber?“
Max nahm sein Telefon und begann zu tippen.
„Ich schicke dir den Standort.“
Ich nippte an meinem Cappuccino, der inzwischen lauwarm war.
„Ab 21 Uhr sind wir wahrscheinlich da.“
Max stand auf und schob seinen Stuhl zurück an den Tisch. „Bis später dann.“
Er zwinkerte mir zu, und ich lächelte zurück. Meine Augen folgten Max, als er die Cafete verließ.
Endlich gönnte ich mir einen Bissen von dem saftigen Schokokuchen. Während ich die zartschmelzenden Schokoladenstückchen in meinem Mund genoss, dachte ich über das Gespräch mit Max nach. Seine Einladung ließ mein Herz einen Hüpfer machen.
Doch schon bald wurde ich von den nächsten Fragen abgelenkt.
Kommt Sophie mit?
Und was soll ich anziehen?
Ich holte mein Telefon heraus und schickte meiner Freundin eine Nachricht.
Sophie antwortete umgehend. Natürlich würde sie mich begleiten. Schließlich musste sie diesen Jungen kennenlernen, der mir offensichtlich den Kopf verdreht hatte.
„Ich bin so froh, dass du mitkommst!“, rief ich und fiel Sophie um den Hals, als sie gegen 20 Uhr vor meinem Apartment stand.
„Ist schon praktisch, dass ich direkt neben dir wohne“, stellte Sophie mit einem amüsierten Unterton fest.
Sie war schon ausgehfertig und trug einen beerenfarbenen Jumpsuit mit einer hellblauen Jeansjacke. Ihre roten Locken hatte sie in der oberen Partie zu einem kleinen Dutt gebunden, während die restlichen Haare locker auf ihre Schultern fielen. Im Gegensatz dazu hatte ich noch einen rosafarbenen Handtuchturban um den Kopf gewickelt und steckte in einem geblümten Bademantel.
Sophie grinste mich an.
„Ich hoffe, das ist nicht dein Outfit für heute Abend.“
„Du bist witzig“, entgegnete ich und verdrehte albern die Augen.
Ich ließ Sophie in die kleine Wohnung. Von der Eingangstür aus betraten wir die Küche, die mit dem Nötigsten ausgestattet war. An der Fensterseite stand ein winziger, beige lackierter Esstisch. Gegenüber erstreckte sich eine schmale Küchenzeile, in die ein Backofen und ein Kochfeld eingearbeitet waren. Ein kleiner, weißer Kühlschrank, kaum höher als die Arbeitsfläche, summte leise.
Obwohl ich erst seit einer Woche hier wohnte, hatte ich meiner Wohnung schon eine persönliche Note verliehen. An den weiß gestrichenen Wänden – das war eine Vorschrift des Studentenwohnheims – hatte ich gerahmte Poster angebracht, die Aquarelle mit Wildwiesenblumen zeigten, sowie Fotos von mir und Freunden aus Münster. Auch ein Bild mit meiner Mutter und meinem Bruder, aufgenommen beim Abiball, schmückte die Wand. Auf dem Esstisch, den ich aus einem Trödelladen hatte, stand ein kleiner Nelkenstrauß und verbreitete einen süßlichen Duft.
Wir gingen weiter durch die Küche in mein Schlaf- und Arbeitszimmer. Ein Spiegel mit goldenem Rahmen hing an der Wand neben einer silbernen Kleiderstange, an der ich alle meine Blusen, Jacken und Kleider aufgehängt hatte. Eine hölzerne Kommode direkt unter dem Spiegel bewahrte die restlichen Kleidungsstücke auf, die nicht auf Bügel passten. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte ich meinen Arbeitsplatz eingerichtet. Dieser bestand aus einem einfachen, hellbraunen Tisch und einem schwarzen Schreibtischstuhl auf Rollen. Das Herzstück des Raumes bildete jedoch mein Bett mit seinem verschnörkelten, weißen Gestell, das an eine barocke Gartenbank erinnerte. Ich liebte diesen Stil und hatte mir vorgenommen, nach und nach alle improvisierten, zusammengewürfelten Möbelstücke gegen solche Lieblingsstücke auszutauschen.
Fast der gesamte Boden des Schlaf- und Arbeitszimmers war von einem mintfarbenen Langflorteppich bedeckt. Meine nackten Zehen spielten mit den weichen Fransen.
„Du hast es dir hier schon richtig schön gemacht“, bemerkte Sophie anerkennend.
Die meisten Sachen erkannte sie wieder. Ihr Blick fiel auf ein Bild über meinem Schreibtisch.
„Das sieht ja toll aus“, sagte sie und deutete auf die Leinwand.
Blaue und grüne Acrylpunkte vermischten sich zu einem glitzernden Meer. Die verschiedenen Schattierungen erzeugten den Eindruck von Tiefe und Bewegung. Ein kleiner Hafen mit pastellfarbenen Häusern an einem Steilhang rahmte das Bild halbseitig ein. Die Details der Fensterläden und Dächer waren mit feinen Pinselstrichen herausgearbeitet, und die warmen Farbtöne verliehen dem Hafen eine spätsommerliche Atmosphäre. Das Motiv wirkte mediterran, als könnte es eine charmante Stadt in Italien oder Griechenland darstellen.
„Das ist wunderschön, Tin. Kannst du mir auch sowas malen?“
Ich errötete und lächelte verlegen. Sophie bemerkte meine Schüchternheit und wechselte geschickt das Thema: „Schauen wir mal nach deinem Outfit.“
Sie trat an die Kleiderstange und begann, sie Stück für Stück zu inspizieren.
„Wie wäre es damit?“, fragte sie und hielt mir ein dunkelblaues, weiß gepunktetes Kleid hin. Der Stoff fiel leicht, das Kleid hatte keine Ärmel.
„Vielleicht ein bisschen kalt für Oktober“, kommentierte ich.
„Du ziehst ja auch eine Jacke drüber“, konterte Sophie und lachte.
Ich ließ meine Finger an den Stoffen der aufgehängten Kleidungsstücke entlanggleiten.
„Hm… Ich glaube, eine Jeans wäre besser.“
Ich öffnete die Kommode und zog eine hellblaue Hose sowie ein weißes Oberteil hervor.
„Taillenhose mit Crop Top? Dazu eine Jacke“, überlegte ich laut.
„Gute Wahl“, bestätigte Sophie und lächelte zufrieden. „Dann ab mit dir ins Bad. Wir müssen ja gleich schon wieder los.“
Sie schaute auf ihr Telefon. „Ab neun sind die Jungs da, oder?“
„Genau“, antwortete ich und dachte unweigerlich an Max. Mit weichen Knien stolperte ich ins Badezimmer.
Es war 20 nach neun, als Sophie und ich uns auf den Weg zum Gegenüber machten. Das Gegenüber war eine Studentenbar am Kesselbrink, einem belebten Platz in der Innenstadt von Bielefeld. In der Mitte des Kesselbrinks lag ein Skatepark aus Beton mit Rampen und Halfpipes. Der Platz war groß und offen, umgeben von Geschäften, Cafés und Bars, mit gepflasterten Wegen, Bäumen und vielen Bänken, auf denen man sich ausruhen oder das Treiben beobachten konnte. Im Sommer fanden hier oft Konzerte oder Open-Air-Kinos statt. Auch jetzt, Mitte Oktober, tummelten sich noch viele Menschen, vor allem Skater, auf dem Platz.
Die Sonne war längst untergegangen und der Himmel zeigte sich in einem dunklen Blau, das langsam in tiefes Schwarz überging. Die Laternen am Straßenrand begannen sich zu entzünden. Zunächst nur vereinzelt und schwach, doch mit jedem Moment wurde das Licht wärmer und warf weiche Schatten auf die umliegenden Gebäude.
In der Luft lag der Duft von Herbstlaub und feuchtem Beton, während ich im Hintergrund das Rollen und Klackern der Skateboardräder auf dem Asphalt hörte.
Mit jedem Schritt, den wir uns der Bar näherten, spürte ich ein angenehmes Kribbeln in meiner Bauchgegend. Die frische Herbstluft, die meine Lungen füllte, war belebend. Es fühlte sich an, als würde ich mich auf etwas Ungewisses und Aufregendes einlassen, und allein diese Vorstellung machte mich noch aufgeregter.
Ich malte mir aus, wie ich heute Abend mehr über Max erfahren und ihm vielleicht auch körperlich näherkommen würde. All diese Gedanken brachten ein Lächeln auf mein Gesicht, und voller Energie öffnete ich die Eingangstür zum Gegenüber. Drinnen war es angenehm warm. Ich zog meinen marineblauen Cardigan aus und hängte ihn neben Sophies Jeansjacke an den Kleiderständer am Eingang.
Das Gegenüber wirkte wie ein gemütlicher Skater-Laden. An den Wänden hingen bemalte Boards, und statt klassischer Tische und Stühle gab es hier leicht abgenutzte Sofas und Couchtische im Oma-Stil. Die jungen Leute in der Bar fielen mir durch ihren alternativen Kleidungsstil und ihre Optik auf. Viele trugen Tattoos, Hornbrillen oder Vintage-Schmuck, Hemden mit auffälligen Mustern oder T-Shirts mit lustigen Sprüchen. Die Männer hatten zum Teil Vollbärte oder Oberlippenbärte, und insgesamt hatte ich den Eindruck, dass hier nichts Mainstream war.
Neben der Bar standen zwei Kickertische und ein Billardtisch. An letzterem entdeckte ich Max, der gerade mit einem schlanken Typen im Gespräch war. Dessen schulterlange, schwarze Haare schauten unter einer rostfarbenen Beanie-Mütze hervor.
„Das ist er“, zischte ich Sophie ins Ohr und nickte zu Max hinüber.
„Der Beanie?“, fragte sie neckisch und zwinkerte mir zu. Ich verdrehte die Augen und lachte. Aber es klang irgendwie anders als sonst – höher und nervöser.
Ich konnte meine Aufregung nicht verbergen.
Sophie griff nach meiner Hand.
„Komm, wir gehen rüber zu ihm“, entschied sie und zog mich sanft, aber bestimmt, zum Billardtisch. Mit wild klopfendem Herzen legte ich meine Hand auf Max‘ Rücken.
„Hey“, begrüßte ich ihn und schaute zu ihm hoch.
Er drehte sich mit einem Lächeln um und zog mich fest an sich. Ich war davon überrascht, aber gleichzeitig fühlte ich mich wohl in seinen starken Armen. Sein Duft und seine Wärme umgaben mich, und ich spürte, wie meine Anspannung nachließ. Langsam lösten wir unsere Umarmung und sahen uns in die Augen.
Dann drehte ich mich zu Sophie, um sie vorzustellen. In dem Augenblick gesellte sich Benjamin zu uns. Er trug diesmal keine Baseball-Kappe, wodurch sein raspelkurzes, dunkles Haar sichtbar wurde. Als er Sophie sah, weiteten sich seine Augen, und er ließ seinen Blick von ihren roten Locken über ihr milchfarbenes Gesicht bis hinunter über ihren Körper wandern. Seine Haltung veränderte sich. Er richtete sich auf, was ihn noch muskulöser erscheinen ließ, und startete einen plumpen Flirtversuch: „Deine Locken sind so lebendig und wild, ich könnte stundenlang darin versinken.“
Max und ich warfen uns einen leicht peinlich berührten Blick zu. Sophie war einen Moment sprachlos, entschied sich dann aber, den Kommentar zu ignorieren.
„Ich hole mir mal was zu trinken.“
Elegant drehte sie sich um und ging zur Bar, Benjamin folgte ihr keine fünf Sekunden später und rief ihr nach, dass er sie gerne einladen würde. Max verdrehte die Augen.
„So ein Verhalten ist mir neu“, sagte er entschuldigend und lächelte leicht.
„Was, dass er so cringe flirtet?“, fragte ich und unterdrückte ein Lachen. Irgendwie hatte ich von Benjamin, der auch äußerlich etwas grob und simpel wirkte, nichts anderes erwartet. Max wechselte das Thema.
„Hast du Lust auf eine Partie Billard?“
Er deutete auf den Tisch. Die Holzumrandung und der grüne Filz waren schon etwas mitgenommen, und die Taschen an den Ecken ausgebeult. Trotzdem hatte der Tisch einen gewissen Charme, fand ich.
„Gerne, aber ich habe keine Ahnung vom Billardspielen.“
Das war Max‘ Stichwort. Ein schiefes Grinsen erschien auf seinem Gesicht und er konnte nicht widerstehen, ebenfalls seine Flirtkünste zu testen. Er trat näher an mich heran und ich spürte seinen warmen Atem an meinem Hals. Die Spannung zwischen uns war fast greifbar, als wir uns in die Augen sahen und Max leise fragte: „Soll ich dir zeigen, wie es geht?“
Ich konnte den humorvollen Unterton in seiner Stimme nicht überhören und musste lachen. Ich schüttelte den Kopf, immer noch schmunzelnd. Max legte theatralisch eine Hand auf seine Brust.
„Na gut, dann muss ich dich erst von meinen Billardkünsten überzeugen.“
Selbstbewusst beugte er sich über den Tisch und griff nach seinem Queue. Eine dunkelblonde Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, während er sich konzentriert auf den ersten Stoß vorbereitete. Mit einem gezielten Schwung ließ er den Queue über den Filz gleiten, doch zu seiner eigenen Überraschung verfehlte er die Kugel komplett. Er grinste breit. „Offenbar sollte ich auch noch etwas üben.“
Ich zwinkerte ihm neckisch zu und nahm meinen Queue. Während ich auf die weiße Kugel zielte, fragte ich Max beiläufig nach seinem Studium.
„Ich studiere Wirtschaftswissenschaften.“
Ich hielt mitten im Spiel inne und sah Max überrascht an. Einen WiWi-Studenten hatte ich mir anders vorgestellt – eher wie Hendrik, mit Hemd und ordentlich gegelten Haaren. Max bemerkte meine Verwunderung und sein Blick verdunkelte sich.
„Darf ich dir etwas verraten?“, fragte er leise.
Seine Stimme klang ruhig, aber auch ein wenig zögerlich. „Eigentlich will ich das gar nicht studieren.“
Max machte eine kurze Pause und verzog seinen Mund zu einem gequälten Lächeln.
„Aber Ralf, mein Vater, will das. Er arbeitet selbst in der Wirtschaft und sieht das als die einzige vernünftige Karriereoption.“
Die letzten Worte betonte Max, indem er mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft malte. Ich konnte seine Unzufriedenheit deutlich spüren. Doch die Bitterkeit in seinen Augen verschwand so schnell wie sie gekommen war.
„Eigentlich stehe ich viel mehr auf Fotografie. Ich liebe es, die kleinen Details festzuhalten.“
Ich nickte, denn ich konnte seine Leidenschaft gut nachempfinden. Ich erzählte ihm von meinen selbstgemalten Bildern, und bald vertieften wir uns in ein lebhaftes Gespräch über Kunst und Fotografie. Schließlich tauschten wir unsere Instagram-Namen aus.
„Ich bin wirklich gespannt, was du von meinen Fotos hältst“, sagte Max.
Ich fühlte mich geschmeichelt und versprach ihm mein ehrliches Feedback.
„Darf ich dann auch mal deine Bilder sehen?“
Er lächelte frech.
„Wir finden bestimmt eine Gelegenheit“, antwortete ich etwas verlegen und wechselte schnell das Thema. „Wohin geht deine nächste Reise?“
Max räusperte sich.
„In den Semesterferien geht’s nach Spanien – Auslands-praktikum in Wirtschaft.“
Ich merkte, dass Max wieder etwas ernster wurde und versuchte, ihn aufzumuntern.
„Dann hat dein Studium ja doch etwas Gutes, oder?“
Mein Lächeln schien auf ihn abzufärben. Er nickte und lachte entspannt.
Die nächsten Stunden verbrachten wir damit, uns beim Billardspiel immer wieder zufällig zu berühren. Wir bemerkten kaum noch, was um uns herum geschah. Ich sah in Max‘ blaue Augen und hatte das Gefühl, mich in ihnen verlieren zu können. Mein Blick wanderte zu seinen Lippen und ich stellte mir vor, wie weich sie sich auf meinen anfühlen würden.
Gegen halb zwölf unterbrach Sophie unser Date.
„Ich mache mich jetzt auf. Kommst du mit?“, fragte sie leicht genervt. Ihr Tonfall riss mich aus meiner kleinen Traumwelt mit Max.
„Was ist denn los?“
„Ich erklär‘ es dir draußen“, sagte sie und ihre Lippen pressten sich zu einer schmalen Linie zusammen. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte.
„Okay, okay. Lass mich nur kurz Tschüss sagen.“
Ich drehte mich zu Max um, der unser Gespräch mitbekommen hatte und langsam nickte.
„Ich muss jetzt gehen. Leider.“
„Ich verstehe.“
Gerade als ich mich umdrehen wollte, spürte ich Max‘ Hand an meiner, die mich sanft festhielt.
„Warte kurz“, bat er und ließ mich los, um seine Arme auszubreiten.
„Darf ich dich zum Abschied noch umarmen?“
Die Spannung zwischen uns verstärkte sich wieder. Ich lächelte Max an und ließ mich in seine Arme fallen. Er zog mich fest an sich, ohne dass es unangenehm war. Sein Duft erinnerte mich an einen Tag am Meer. Die Umarmung fühlte sich endlos an, doch viel zu schnell löste sie sich wieder auf.
Als ich Sophie nach draußen folgte, spürte ich ein Kribbeln im Bauch, als würden viele kleine Schmetterlinge darin flattern. Ich konnte mein Grinsen nicht unterdrücken.
Die kühle Oktobernacht holte mich jedoch schnell in die Gegenwart zurück und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Sophie.
„Was ist los?“, fragte ich besorgt, als ich ihr Gesicht sah. Wir blieben auf dem Kesselbrink stehen.
„Während du ein tolles Date hattest, hat Benjamin mich nicht in Ruhe gelassen“, klagte sie. „Und als er dann immer wieder nach meiner Nummer gefragt hat, musste ich da raus. Es wurde mir wirklich zu viel.“
Wir schwiegen einen Moment, dann seufzte sie: „Es war ja nett, wie er mir immer wieder etwas zu trinken ausgegeben hat. Aber ich finde ihn einfach nicht attraktiv.“
Sophie zuckte mit den Schultern.
Benjamin sah eigentlich nicht schlecht aus. Er war sogar größer und breiter als Max – aber er hatte nicht seinen Charme. Er wirkte etwas einfach gestrickt.
„Wie war es denn bei euch?“, fragte Sophie mit einem kleinen Lächeln.
Doch ich sah sie schuldbewusst an.
„Jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich dich mit diesem Typen allein gelassen habe“, gestand ich, während wir durch die kühle Nachtluft zur Haltestelle gingen.
„Ach Quatsch. Alles gut.“
Sophie nahm meine Hand und schaute mich dann erschrocken an.
„Du bist ja eiskalt. Lass uns schnell nach Hause gehen.“ Wir zogen unsere Jacken enger und eilten zur nächsten Haltestelle. Die Kälte brannte mir im Gesicht und unsere Atemwolken formten kleine Nebelschwaden. Als wir im warmen Bus saßen, legte Sophie ihren Kopf auf meine Schulter.
„Erzähl schon. Wie war‘s mit ihm?“
Als ich die Wärme ihres Kopfes spürte, lächelte ich unwillkürlich.
Ich dachte an den Abend mit Max, an seine blauen Augen und sein Lächeln, das so viel versprach.
Als ich von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde, die durch die blassrosa Vorhänge in mein Schlafzimmer fielen, war der gestrige Abend mit Max das Erste, woran ich mich erinnerte.
Mit halb geschlossenen Augen lächelte ich leise.
Langsam richtete ich mich auf und griff nach meinem Telefon, das unter meinem Kopfkissen lag.
Statt einer Nachricht von Max erinnerte mich jedoch mein Kalender daran, den unifreien Tag für die Bewerbungen auf einen Nebenjob zu nutzen.
Gut gelaunt sprang ich aus dem Bett und ging in die Küche. Ich öffnete einen Hängeschrank und griff nach dem Früchtemüsli. Beim Öffnen der Packung verströmte es einen aromatischen Duft nach Hafer und Banane. Ich nahm eine Schale aus dem Schrank und betrachtete sie für einen Moment.
Auf der glasierten Oberfläche waren feine, florale Muster eingearbeitet. Die kleinen Blüten zogen sich elegant über die gesamte Schale, der Rand war leicht nach außen gewölbt und mit einer feinen Goldlinie verziert.
Für mich war das nicht bloß eine hübsche Vintage-Schale.
Sie war ein Geschenk meiner Oma.
Dankbar stellte ich sie auf die graue Arbeitsfläche meiner Küchenzeile und schüttete eine großzügige Menge Müsli hinein. Während ich vorsichtig Milch dazu goss, beobachtete ich, wie die Flüssigkeit die trockenen Flocken umspülte. Mit der Schale in der Hand machte ich es mir an meinem Schreibtisch bequem und öffnete meine E-Mails. Dort fand ich die Nachricht, in der ich mir die Links zu verschiedenen Stellenausschreibungen zugeschickt hatte.
Als Erstes klickte ich auf die Anzeige für eine Stelle als Kassiererin in einem Supermarkt.
Ich tippte die Nummer des Ansprechpartners ein und wartete, während es klingelte. Es klingelte viermal, bevor ein Mann mit nasaler Stimme seinen Namen nuschelte und erklärte: „Oh, da sind Sie leider zu spät. Wir haben den Job gestern vergeben.“
Eine leichte Enttäuschung machte sich in mir breit, aber ich bedankte mich höflich und beendete das Gespräch. Während ich einen Löffel Müsli nahm und nachdenklich kaute, klickte ich auf die nächste Anzeige:
Texterin für das Online-Magazin „Wir sind Bielefeld“ – keine Vorerfahrung notwendig.
Ich rief die Website des Magazins auf und überflog ein paar Artikel. Sie berichteten hauptsächlich über Veranstaltungen und Nachrichten aus Bielefeld.
Klingt eigentlich ganz gut. Ich versuch‘s.
Ich wählte die Nummer des Ansprechpartners, der gleichzeitig Herausgeber und Chefredakteur war. Ein Mann mit tiefer Stimme meldete sich harsch: „Wir sind Bielefeld, Paul Mannske am Apparat.“
„Hallo, ich heiße Christin Novak. Sie suchen eine Texterin?“, fragte ich klar und deutlich.
Der anfängliche Tonfall des Mannes änderte sich sofort.
„Hast du jetzt Zeit für ein persönliches Kennenlernen?“, fragte er freundlich.
Ich schaute kurz auf die Uhr.
„Klar.“
„Dann komm doch in meine Redaktion. Die Adresse steht in der Stellenanzeige.“
Ich legte auf und bemerkte verwundert, dass dieser Mann mich plötzlich geduzt hatte. Aber wahrscheinlich war das in den Medien so üblich.
Ich schnappte mir meine dunkelblaue Wolljacke und keine zehn Minuten später stand ich vor dem Haus von „Wir sind Bielefeld“. Ich drückte die Klingel und wartete. Paul Mannskes markante Stimme ertönte dumpf durch die Gegensprechanlage: „Es ist ganz oben. Bis gleich.“
Nachdem die Tür mit einem Summen entriegelt wurde, drückte ich sie auf. Zu meiner Überraschung stand ich in einem gewöhnlichen Wohnhausflur. Es gab keine Schilder, die auf eine Redaktion hinwiesen, keine typischen Merkmale eines Bürogebäudes. Stattdessen war ich in einem schlichten, engen Flur mit abgenutzten Bodenfliesen und einer Reihe von Wohnungstüren.