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Nachrichtensprecherin kündigt ihre eigene Ermordung öffentlich an! Bestseller-Autorin Ursula Poznanski sorgt in ihrem Thriller »Stille blutet« mit einer bizarren Mord-Serie für Gänsehaut – und eine geheimnisvolle Erzähler-Figur treibt ihr ganz eigenes Spiel mit den Leser*innen. Wenige Worte machen die aufstrebende Wiener Nachrichtensprecherin Nadine Just über Nacht berühmt: Vor laufender Kamera kündigt sie ihre Ermordung an – zwei Stunden später ist sie tot! Ebenso ergeht es dem Blogger Gunther Marzik nach einer ganz ähnlich lautenden Ankündigung. Während die österreichische Medienwelt kopfsteht, trendet der Hashtag #inkürzetot, Nachahmer-Beiträge und Memes fluten das Netz. Wie soll die junge Ermittlerin Fina Plank im fünfköpfigen Team der Wiener »Mordgruppe« zwischen einer echten Spur, einem schlechten Scherz oder schlichtem Fake unterscheiden? Schließlich rückt Nadines Ex-Freund Tibor Glaser ins Zentrum von Finas Ermittlungen, ein aalglatter Werbefachmann und Weiberheld, der verzweifelt seine Unschuld beteuert. Während sich die Schlinge um Tibors Hals langsam zuzieht, beobachtet von allen unbemerkt ein weiterer Spieler mit Interesse das Geschehen – und bereitet einen raffinierten Schachzug vor … Ursula Poznanski, Bestseller-Autorin der »VANITAS«-Thriller, hat mit »Stille blutet« eine Thriller-Reihe gestartet, deren Bände über eine ebenso schillernde wie zwielichtige Erzähler-Figur verknüpft sind. Wer ist diese geheimnisvolle Stimme aus dem Off, und was sind ihre wahren Absichten? Die Fälle der Mordgruppe Wien sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Stille blutet - Böses Licht - Teufels Tanz
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Seitenzahl: 563
Ursula Poznanski
Thriller
Knaur eBooks
Wenige Worte machen die aufstrebende Wiener Nachrichtensprecherin Nadine Just über Nacht berühmt: Vor laufender Kamera kündigt sie ihre Ermordung an – zwei Stunden später ist sie tot! Ebenso ergeht es dem Blogger Gunther Marzik nach einer ganz ähnlichen Ansage. Während die österreichische Medienwelt kopfsteht, fluten Nachahmerbeiträge und Memes das Netz. Wie soll die junge Ermittlerin Fina Plank zwischen einer echten Spur, einem schlechten Scherz oder schlichtem Fake unterscheiden? Von allen unbemerkt, beobachtet ein weiterer Spieler mit Interesse das Geschehen – und bereitet einen raffinierten Schachzug vor …
Hinweis
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
10. Kapitel
11. Kapitel
An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut
16. Kapitel
17. Kapitel
Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt
18. Kapitel
19. Kapitel
O, das versunkene Läuten der Abendglocken
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
O, das gräßliche Lachen des Golds
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt
Ein ganz großes Dankeschön an:
Triggerwarnung
Leseprobe »Böses Licht«
Liebe Leser*innen,
bei manchen Menschen lösen bestimmte Themen ungewollte Reaktionen aus. Deshalb finden Sie am Ende des Buches eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Hinweise auf den Inhalt des gesamten Buches.
Wir wünschen Ihnen gute Unterhaltung mit Stille blutet!
Nadine wusste, dass sie zu spät dran war, aber das Mädchen mit den Hasenzähnen zitterte in ihrem Arm wie eine Erfrierende. Die Kleine jetzt einfach stehen zu lassen, war keine gute Idee, umso mehr, weil ihr Onkel die paar Minuten Unpünktlichkeit wert war. Er stand drei Schritte entfernt und schoss Fotos; Nadine strahlte ihn an. Eine Wohltat fürs Auge, aber sie war auch nicht verwöhnt, seit die Sache mit Kurt lief.
Fans waren wichtig, die fertigte man nicht hastig ab. Man gab Autogramme, plauderte, schoss gemeinsame Fotos. Badete ein wenig in Bewunderung.
»Meine Nichte ist Ihr größter Fan«, hatte der Mann gesagt, während das Mädchen kaum gewagt hatte, Nadine anzusehen. »Ich natürlich auch. Dürfte ich ein paar Fotos von Ihnen beiden machen?«
Fans im Kindesalter waren neu, aber wahrscheinlich gab es ein paar einzelne Klugscheißerchen, die schon mit zwölf Nachrichten und Diskussionssendungen verfolgten. Für das Mädchen, das immer noch zitterte, war es jedenfalls empfehlenswert, sich eher auf den Inhalt ihres Köpfchens als auf ihr Aussehen zu verlassen. Himmel, hatten die Eltern kein Geld für eine Zahnspange?
Der Onkel trat einen Schritt näher und betrachtete lächelnd das Display. »Die sind sehr schön geworden, die Fotos. Danke!«
Nadine ließ das Kind los und stellte sich neben ihn, so knapp, dass ihre Schulter seinen Arm berührte. »Ja, wirklich. Vielleicht würden Sie mir eines davon schicken? Ich gebe Ihnen meine Nummer.« Mit demselben Stift, mit dem sie vor zwei Minuten noch die Autogrammkarte signiert hatte, schrieb sie nun ihre Handynummer auf die Innenseite seines Handgelenks. Strich dabei sanft mit dem Daumen über seine Haut. Er zuckte nicht zurück. Lächelte nur. »Danke!« Er nahm seine Nichte bei der Hand. »Na«, sagte er zu ihr, »da hast du zu Hause etwas zu erzählen.«
»Noch einen schönen Abend«, rief Nadine und lief zum Eingang des Senders, jetzt in äußerster Eile.
»War sie das wirklich?«, hörte sie das Mädchen noch sagen. Süß. Da lohnte sich auch eine kleine Verspätung, würde das Team eben Tempo machen müssen. Das war besser, als Fans vor den Kopf zu stoßen, deren Onkel vielleicht Instagram-Accounts hatten. Und wunderschön braune Augen.
Nicht, dass Iris das hätte nachvollziehen können, wie auch, sie würde niemals Fans haben. Freunde auch eher nicht. Sie hatte sich schon bei der Portiersloge auf Nadine gestürzt, hässlich und selbstgerecht, wie sie war, und sie den ganzen Weg bis in die Maske zur Schnecke gemacht. Und sie hörte nicht auf damit, auch während Nadine mit geschlossenen Augen dasaß und an sich rumpinseln ließ. »Wir gehen in sieben Minuten auf Sendung, und du siehst aus, als hättest du drei Nächte durchgesoffen! Wenn du keine Lust auf den Job hast, sag es einfach! Jemanden wie dich können wir durch jede Praktikantin ersetzen, wenn sie nicht gerade Analphabetin ist.«
Beleidigungen dieser Art ließen Nadine kalt, da konnte Iris zehnmal die Chefin vom Dienst sein. Sie saß am längeren Hebel, das wusste der ganze Sender. »Reg dich ab. In drei Minuten bin ich verkabelt, und wir starten pünktlich.«
»Ja«, fauchte Iris, »weil alle anderen doppelt so schnell arbeiten, um deine Verspätung auszubügeln! Das war das letzte Mal, klar?«
»Du tust echt so, als wären wir CNN. Ich mache den Newsflash, du erinnerst dich?« Die Sendung war nicht einmal fünf Minuten lang und bestand aus maximal zwei Meldungen, die diesen Namen auch verdienten. Der Rest waren Soft News: Misswahlen, Promizeug, von Bäumen gerettete Kätzchen. Das war es, was man sich bei Quick-TV unter Nachrichten vorstellte.
Sie öffnete die geschminkten Augen und lächelte in den Spiegel. Alles perfekt. Falls der Typ von vorhin sie nicht anrief, war er sicher schwul. »Na, siehst du«, sagte sie. »Schon erledigt. Wollen wir?«
Der langhaarige Tontechniker – Harry, Henry, Horst oder so – verkabelte sie, und Nadine glitt hinter das Newsdesk. Noch eine knappe Minute, alles bestens.
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, genoss sie es, die anderen auf Trab zu halten. Solange sie nicht wirklich einmal eine Sendung platzen ließ und solange der Chef die Hand über sie hielt, konnte ihr keiner vom Fußvolk etwas anhaben, schon gar nicht eine pausbäckige Kuh wie Iris, die jetzt neben der Kamera Aufstellung nahm, als müsste man Nadine bewachen. Auf dem Monitor wurden die Sekunden runtergezählt. Vier, drei, zwei, eins – und sie waren auf Sendung.
»Guten Abend, hier sind die Quick-News auf Quick-TV.« Es juckte sie jedes Mal, »Quickie-TV« zu sagen, was durchaus zu Programmgestaltung und Niveau des Senders gepasst hätte, doch etwas Derartiges würde Kurt sogar ihr übel nehmen. Sie richtete den Blick auf den Teleprompter.
»Die Zahl der Todesopfer durch das Erdbeben in der chinesischen Provinz Qinghai ist laut Angaben der Regierung auf dreiundfünfzig gestiegen, rund einhundertachtzig Personen werden noch vermisst. Der anhaltende Regen erschwert die Bergungsarbeiten …« Was feixte Iris da eigentlich in Richtung Regie? Der bebrillte Kabelträger neben ihr grinste, der schien zu wissen, worum es ging. Um sie wahrscheinlich. Um Nadine.
»… immer wieder kommt es zu Erdrutschen.«
Nächste Meldung. Iris zog eine Grimasse und schüttelte in gespielter Verzweiflung den Kopf, wieder in Richtung Regie. Dachte sie, Nadine bekam das nicht mit? Es war ihr bewusst, dass hinter ihrem Rücken getuschelt wurde, hauptsächlich über ihr besonders gutes Verhältnis zum Chef. Wobei man »besonders gutes« auch weglassen konnte, wenn man gehässig sein wollte. Und das wollte Iris zweifellos.
»Ein trauriges Ereignis droht demnächst die Medienlandschaft zu erschüttern«, las Nadine vom Prompter und versuchte gleichzeitig, Iris und den Bebrillten im Auge zu behalten. »Eines der hoffnungsvollsten Talente der heimischen TV-Szene wird in Kürze tot aufgefunden werden.« Am liebsten hätte sie sich umgedreht, um zu sehen, was Max in seiner Regiekammer tat. Er musste der Anlass für Iris’ Heiterkeit sein, die allerdings gerade eben ins Gegenteil umgeschlagen war.
»Was soll das?«, hörte sie ihn über den Knopf in ihrem Ohr rufen. Nadine stockte kurz, sie hatte kaum auf das geachtet, was sie vom Prompter ablas; hatte dem, was sie in die Kamera sprach, gerade so viel Aufmerksamkeit geschenkt, dass sie sich nicht in der Zeile irrte.
Die eben gelesenen Worte hallten in ihr nach, und erst jetzt wurde sie sich ihrer Merkwürdigkeit bewusst. In Kürze aufgefunden werden?
»Ein Verbrechen wird man nicht ausschließen können«, las sie automatisch weiter, ohne merkliche Unterbrechung, während sie gleichzeitig Max im Regieraum fluchen hörte: »Was soll der Schwachsinn, was erzählst du da?«
Man durfte ihr die Verwirrung nicht anmerken, die Kamera lief noch, oder? Ja, tat sie, und auch der Text auf dem Prompter rutschte weiter, also fuhr Nadine fort, was sollte sie auch sonst tun, einfach nur wortlos in die Kamera glotzen? »Bei dem Opfer handelt es sich um die siebenundzwanzigjährige Nadi…« Sie wollte innehalten, bremste sich aber zu spät. »Nadine Just.«
Ihr Name, ihr eigener Name. Was war das für eine Scheiße, was zur Hölle sollte das?
»Abbruch!«, schrie Max, seine Stimme kam schmerzhaft laut über das Earpiece. Iris, sichtlich nicht mehr zu Scherzen aufgelegt, rannte bereits aus dem Studio, zurück blieben der Kameramann und sein Assistent. Auf dem Teleprompter war noch der letzte Satz zu lesen: Bei dem Opfer handelt es sich um die siebenundzwanzigjährige Nadine Just.
Sie musste jetzt etwas sagen, etwas tun. Die Situation retten. Aber da war nichts als Leere in ihrem Kopf. Und das überdeutliche Bewusstsein, dass sie gerade eine denkbar schlechte Figur vor laufender Kamera abgab. Halb offener Mund, Hilfe suchende Blicke nach allen Seiten. War sie noch live, immer noch? Nein, das Licht war erloschen, der Kameramann trat hinter seinem Gerät hervor.
»Verdammt!« Max’ Stimme in Nadines Ohr überschlug sich. »Da baut jemand Mist, und die blöde Kuh liest den tatsächlich vor.«
Sie sprang auf, riss sich das Empfangsteil aus dem Ohr und lief ins Off. Blöde Kuh, aha. Jetzt würden Köpfe rollen, aber ihrer würde keiner davon sein.
»Wer von euch beschissenen Ärschen ist das gewesen?« Sie war in ihre Garderobe gerannt, wo sich nach und nach das ganze Quick-News-Team versammelte. »Das habe ich dir zu verdanken, nicht wahr?«, fuhr sie Iris an. »Als kleine Revanche für ein paar Minuten Verspätung?«
»Ich? Was für ein …«
»Oder aus Neid?« Nadine ließ sie nicht zu Wort kommen. »Denkst du, ich weiß nicht, dass du lieber auf meinem Platz als bloß in der Redaktion sitzen würdest? Tut mir echt leid, aber etwas wie dich will keiner auf dem Bildschirm sehen!«
Es war klar erkennbar, dass Iris ihre ganze Beherrschung aufbringen musste, um ruhig zu bleiben. »Schon möglich«, sagte sie langsam. »Dafür habe ich genug Hirn, um zu verstehen, was ich lese. Inhaltlich, weißt du? Und entsprechend zu reagieren.« Sie drehte sich zu Max um. »Ich habe immer gesagt, es wäre besser, Profis hinter das Newsdesk zu setzen, die sich in einer solchen Situation geistesgegenwärtig verhalten können und nicht wie Kaninchen vor der Schlange.«
Nadine verschränkte die Hände, damit niemand sah, wie sehr sie zitterten. Die anderen würden sofort Schwäche wittern. Würden denken, sie hätte Angst, dabei war sie nur kurz davor, alles klein zu schlagen vor Wut. »Ich kriege raus, wer das gewesen ist. Mithilfe der Polizei, und dann werdet ihr nicht bloß gefeuert, sondern kassiert obendrauf eine Anzeige. Das war eine Todesdrohung, ist euch das überhaupt klar? Wer hat den Text geschrieben?«
Iris wandte sich einer jungen Frau mit Haarknoten und Nasenpiercing zu, die mit gesenktem Kopf im Hintergrund stand. »Das war Melanie. Aber sie sagt …«
»Der Text mit der Todesankündigung war nicht von mir«, fiel Melanie ihr panisch ins Wort. »Die erste Meldung war China, bei der zweiten ging es um den 5G-Ausbau. Keine Ahnung, wer sich da dran zu schaffen gemacht hat!«
»Jemand, der mich tot sehen will.« Nadine wählte ihre Worte mit Bedacht und legte extra dunkles Timbre in ihre Stimme. »Ich weiß, dass mich hier keiner leiden kann. Aber das hier ist nicht nur geschmacklos, es ist unprofessionell und schadet dem Sender.« Sie wandte sich Max zu. »Es ist alles rausgegangen? Alles? Mein Name auch?«
Er nickte. »Und tut mir leid, das mit der blöden Kuh.« Die Entschuldigung klang eher genervt als überzeugend. »Ich habe so schnell wie möglich abgebrochen. Wäre bloß hilfreich gewesen, wenn du … na ja, ein bisschen schneller reagiert und nicht alles bis zum Schluss vorgelesen hättest.«
»Also meine Schuld, ja?« Es kam schriller heraus, als sie es beabsichtigt hatte, aber sie kam gegen ihre Wut nicht mehr an. Klar, sie war es, die in der Öffentlichkeit als dumme Nuss dastehen würde, die stumpf alles in die Kamera plapperte, was man ihr vorlegte. Nicht die unfähige Redakteurin. Auch nicht Iris, die für die Schlusskontrolle der Texte zuständig war, und schon gar nicht die Person, die den Prompter sabotiert hatte. »Ich will wissen, wer diese Meldung geschrieben hat. So viele können ja nicht Zugriff auf die Redaktionscomputer haben, oder?«
Max hob beschwichtigend die Hände. »Keine Sorge, Nadine, wir kümmern uns darum. Wir finden heraus, wer das war. Hauptsache, du nimmst das nicht zu ernst. Ich denke, es sollte bloß ein dummer Scherz sein, keine Drohung, aber so etwas ist einfach nicht akzeptabel.«
»Nein, ist es nicht«, stimmte Iris zu. »Drohungen sind nie in Ordnung, aber verlasst euch darauf, ich weiß spätestens morgen, wer das gewesen ist. Die Aktion ist nicht nur strafbar, sie ist auch Gift für den Ruf unseres Senders. Jede Wette, dass das Internet gerade explodiert und längst ein Clip hochgeladen ist?« Sie lehnte sich gegen die Wand. »Was für eine Riesenscheiße.«
Daran hatte Nadine noch gar nicht gedacht. Aber ja, natürlich, die Sache würde viral gehen. Und sobald klar war, dass ihr nicht ernsthaft Gefahr drohte, sondern es sich bloß um einen dämlichen Streich handelte, würde niemand mehr Mitleid haben. Sie würde als inkompetent dastehen, als jemand, der sich leicht überrumpeln ließ.
»Gift für den Sender, aha«, stieß sie hervor. »Ist ja schön zu sehen, wo eure Prioritäten liegen. Aber was, wenn es kein Scherz war? Sondern eine Morddrohung? Wenn da wirklich jemand ist, der mich umbringen will?«
Max legte ihr die Hand auf die Schulter, die Geste sollte wohl beruhigend wirken. »Wir werden natürlich Anzeige erstatten. Und die Sicherheitsmaßnahmen verschärfen. Iris und ich, wir kümmern uns darum. Du hast doch keine Angst, oder?«
Nein, hatte sie nicht. Tatsächlich nicht. Jedenfalls nicht um ihr Leben, da hatte sie schon heftigere Drohungen bekommen. Einmal hatte sie einen geköpften Frosch vor ihrer Haustür gefunden. Über die Abartigkeit der gephotoshoppten Bilder, die man ihr immer wieder schickte, hatte sie sich nach einer gewissen Zeit nur noch amüsiert.
Bellende Hunde, die nicht zubissen.
Großen Grund zur Sorge gab es jetzt allerdings, wenn es um ihre Karriere ging. Das hier konnte ein Schlusspunkt sein, wenn sie ab sofort nicht alles richtig machte. Und deshalb musste sie klug auf die Frage nach ihrer Angst reagieren. Nicht ehrlich sein, sondern geschickt die Stimmung zu ihren Gunsten drehen. »Doch«, flüsterte sie. »Und ob ich Angst habe. Derjenige, der das geschrieben hat, muss schließlich irgendwie bis in den Sender gekommen sein. Bis in die Redaktion.« Dramatische Pause. »Wenn es nicht überhaupt jemand von euch ist.«
»Ich sagte schon, ich finde es raus, und du kannst davon ausgehen, dass derjenige fliegt. Oder diejenige.« Iris strich sich in einer müden Geste das Haar aus der Stirn. »Max, du redest jetzt als Erstes mit dem Portier und findest raus, ob Besucher im Haus waren. Melanie, du überlegst genau, wen du heute Nachmittag in der Redaktion gesehen hast und wer Zugriff auf die Computer gehabt haben könnte. Dann formulieren wir eine Erklärung für die News um sieben – dazu sollten wir uns gemeinsam den Kopf zerbrechen. Wir müssen eine Rechtfertigung für die Teleprompter-Panne finden und eine Erklärung dafür, dass Nadine null reagiert hat. Angst, Schock, so was.« Sie nickte dem Team zu. »Ich bleibe hier bei ihr. Sie sollte jetzt nicht alleine sein.«
Null reagiert. Alles klar, Iris würde nicht zulassen, dass Nadine vom Sender den Rückhalt erhielt, der ihr als Opfer zustand. Auch wenn sie sich der Öffentlichkeit gegenüber solidarisch zeigte, intern würde sie immer wieder »Inkompetenz, Inkompetenz!« rufen, bis auch Kurt keine Argumente mehr finden würde, um Nadines Karriere am Leben zu halten.
Sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, stellte sich die schadenfrohen Reaktionen im Netz vor, wünschte, sich beherrschen zu können, spürte aber, dass ihre Bemühungen scheiterten.
Sie sprang auf. »Raus hier, alle! Vor allem du, Iris, du verlogenes Dreckstück! Jeder hier weiß, dass ich diesen Mist dir zu verdanken habe, da kannst du noch so unschuldig und professionell tun!« Sie griff nach dem halb vollen Wasserglas, das vor dem Spiegel stand. Schaffte es gerade noch, es nicht nach Iris zu werfen. Allerdings schüttete sie ihr den Inhalt ins Gesicht, mit einer schwungvollen Bewegung, die sich befreiend anfühlte. »Verschwindet!«, schrie sie. »Haut ab, ich will keinen von euch mehr sehen!«
Iris, der das Wasser vom Kinn tropfte, blickte auf ihr nasses Shirt hinab, dann winkte sie die anderen zur Tür. »Du solltest dir einen guten Therapeuten suchen«, sagte sie betont ruhig, dann waren sie draußen. Alle. Nur Melanie drehte sich noch einmal zu Nadine um, verstohlen, so wie man auf einen bewusstlosen Obdachlosen schielt, der in seiner eigenen Pisse liegt. Zu gleichen Teilen mit Ekel und schlechtem Gewissen. Sie war sichtlich froh, sich verdrücken zu können.
Endlich alleine, wischte Nadine ein paar Wassertropfen von der Sitzfläche ihres Stuhls, ließ sich darauf sinken und griff nach ihrem Handy. Ohne lange nachzudenken, wählte sie Kurts Nummer.
Köpfe würden rollen.
Er sah den Auftritt nicht live – seit sie sich vor über zwei Monaten getrennt hatten, fühlte Tibor sich nicht mehr verpflichtet, den News-Flash von Quick-TV zu verfolgen, ebenso wenig wie die Diskussionsrunden, die Nadine gelegentlich moderierte.
Nur hatte er, während er im Hansen saß und wartete, dummerweise sein Handy nicht stumm geschaltet, und die Nachrichten aus dem Freundeskreis kamen im Sekundentakt. WhatsApp, Twitter, Skype. Und überall der gleiche Link, zu einem Videoclip, in dem Nadine die Hauptrolle spielte.
»Ein Verbrechen wird man nicht ausschließen können. Bei dem Opfer handelt es sich um die siebenundzwanzigjährige Nadine Just.« Tibor war mit den Nuancen von Nadines Mimik ausreichend vertraut, er sah die Überraschung in ihren Augen, die Ratlosigkeit. Er hörte das leichte Schwanken in ihrer Stimme, bevor sie ihren eigenen Namen aussprach.
Warum in aller Welt hatte sie sich nicht vorher eingebremst? Es hätte genügt, eine technische Panne vorzuschützen, aber sie war wohl nicht bei der Sache gewesen. Schon zu Beginn der Sendung hatte sie abgelenkt gewirkt.
»Darf ich Ihnen schon etwas zu trinken bringen?« Ein junger Kellner war an den Tisch getreten, ein Tablet in Händen. Rund um einen seiner Ringfinger war eine Schlange tätowiert.
»Nein, ich warte noch auf … oder doch. Ein kleines Bier, bitte.«
Ein schneller Blick auf die Uhr, Ricarda sollte seit zehn Minuten hier sein. Es war ihr zweites Date, und so, wie Tibor es einschätzte, auch ihr letztes. Nach der Zeit mit Nadine wollte er nichts Kompliziertes mehr – keine Eifersucht, keine Eskapaden. Nadine war ein Fehler gewesen; er hätte mit Rebecca zusammenbleiben sollen, oder überhaupt gleich mit Marie-Luise. Aber diese Dinge begriff man immer erst im Nachhinein. Für alles Künftige wünschte er sich jedenfalls Substanz, keine Effekte, die über einen Mangel an Inhalt hinwegtäuschen sollten.
Noch einmal spielte er das Video ab. Nadine war von jeher eine Meisterin der Effekte gewesen. Er zoomte ihr Gesicht größer. Sah die Überraschung darin, aber keinen Schock. Eher etwas wie Wut.
Er lächelte unwillkürlich. Nein, so leicht war sie nicht zu erschrecken. In den Social Media hatte sie sich mit Gott und der Welt angelegt und auch über die widerwärtigsten Reaktionen meist nur gelacht. Sie provozierte, es wirkte, sie verbuchte das als Erfolg.
Hatte sie den Text deswegen bis zum Schluss vorgelesen? Der Wirkung wegen? Weil sie wusste, dass diese Szene sie tage-, wenn nicht wochenlang in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rücken würde? Steckte sie etwa selbst hinter der Sache?
Unwahrscheinlich. Tibor wog das Telefon in der Hand. Er wollte keinen Kontakt mehr, es ging ihm so viel besser ohne Nadines Launen, ihre Lügen, ihre Selbstbeweihräucherung, ihre Dramen.
Aber aus reiner Anständigkeit würde er zumindest nachfragen, wie es ihr ging. Er würde das Gespräch ganz kurz halten, den Ton sachlich. Es würde nicht mehr als ein Höflichkeitsanruf sein.
Die Voicemail sprang sofort an, kein Wunder, garantiert versuchte ihr gesamter Bekanntenkreis gerade, bei ihr durchzukommen. Hallo, hörte er ihre Stimme, hier ist Nadine Just. Hinterlass mir eine Nachricht!
Er räusperte sich. »Hi, Nadine, Tibor hier. Ich wollte nur nachfragen, ob alles okay ist, nach dem Vorfall heute. Schräge Geschichte. Da hat sich jemand einen wirklich schlechten Scherz erlaubt, weißt du schon, wer es war? Es gibt echt einen Haufen Verrückte da draußen, aber die ahnen alle nicht, mit wem sie sich anlegen, hm?« Er stockte, hatte das zu unbeschwert geklungen? Gefühllos? Wahrscheinlich. Und nun wusste er nicht, wie er zu einem passenden Schluss kommen sollte. Ihr Hilfe anbieten? Ein offenes Ohr? Oder einfach Ciao sagen?
»Also dann …«, begann er, und im nächsten Moment wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Ein lang gezogener Ton signalisierte das Ende der Aufzeichnung.
Das einfach so stehen zu lassen, fühlte sich noch falscher an als gar keine Nachricht, doch die Gelegenheit zu goldenem Schweigen hatte er nun verpasst. Er legte das Handy auf den Tisch, im gleichen Moment, als auch der Kellner das Bier brachte. Ricarda war immer noch nicht da. Hatte auch keine Nachricht geschickt.
Tibor griff nach dem Glas und stellte es zurück, ohne etwas getrunken zu haben. Stattdessen nahm er wieder das Smartphone zur Hand und öffnete WhatsApp.
Voicemail hat mich verfrüht rausgeschmissen. Wollte dir nur noch sagen, dass du dich gern melden kannst, wenn du jemanden brauchst, der zuhört. Stay strong!
Er schickte die Nachricht ab und fand sie schon im nächsten Moment fürchterlich dumm. Stay strong! Noch schwachsinniger konnte man sich nicht mehr ausdrücken. Er hasste diese Pseudo-Coolness bei anderen, und jetzt fing er selbst damit an.
Aber immerhin würde er am Ausmaß des Spotts in Nadines Antwort ablesen können, wie es ihr ging.
Nur musste die Nachricht erst ankommen, was sie zu Tibors Erstaunen nicht tat. Nicht nach zwei Minuten und auch nicht nach fünf.
Es schien, als wäre Nadines Handy offline, was in den über zwei Jahren, die Tibor mit ihr verbracht hatte, nie der Fall gewesen war, außer während Flugreisen. Er versuchte es noch einmal mit einem Anruf, landete aber sofort wieder in der Sprachbox.
Tibor stand auf, leerte sein Glas auf einen Zug und drückte dem Kellner fünf Euro in die Hand. »Wenn jemand nach mir suchen sollte, sagen Sie der Dame, ich habe lange genug gewartet.«
Kein Polizeiwagen vor dem Sender und auch sonst keine Anzeichen dafür, dass etwas Außergewöhnliches passiert war. Tibor stellte sein Auto auf einem der Besucherparkplätze ab und stieg aus, nicht mehr sicher, warum er es für eine gute Idee gehalten hatte, herzukommen.
Der Portier erkannte ihn sofort. »Guten Abend, Herr Glaser! Ich darf Sie nicht reinlassen, fürchte ich, hier herrscht heute Ausnahmezustand.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Tibor entsperrte sein Handy. Immer noch war seine Nachricht an Nadine nicht durchgekommen. »Aber vielleicht könnten Sie mich mit Frau Just verbinden? Ich kann sie nicht erreichen und wollte … na ja, einfach sichergehen, dass sie okay ist.«
Der Portier nickte freundlich und griff nach dem Hörer der Hausanlage. »Dann schauen wir doch einmal, wo sie gerade steckt. Im Haus müsste sie jedenfalls noch sein.« Er tippte eine Nummer ins Telefon. »Hallo, ist die Just bei euch? Okay, klar, versuche ich.«
Er nickte Tibor zu und wählte eine andere Nummer. »Bin auf der Suche nach der Just, ist die bei euch irgendwo? Auch nicht? Ah, okay, danke. Warum? Ihr Freund ist da, also ihr Ex, der Glaser, und will sie sprechen.« Er blinzelte einige Male. »Garderobe zwei? Ist gut.«
Mit dem Hörer noch am Ohr wählte er die nächste Nummer. Wartete. Zuckte irgendwann die Schultern. »Da geht niemand ran.«
»Und Nadine ist sicher noch im Haus?«
»Also, wenn sie nicht mit einem Hubschrauber vom Dach geflüchtet ist, ja.« Er legte auf, versuchte es noch einmal. »Sieht schlecht aus«, konstatierte er.
Einfach wieder verschwinden, dachte Tibor. Es als Zeichen nehmen, dass sie keinen sehen oder hören will, sonst würde sie ans Telefon gehen.
Nur dass ihr das überhaupt nicht ähnlichsah. Sie stellte sich aufrecht in jeden Shitstorm und konterte Steinwürfe mit Handgranaten. Je schlimmer es wurde, desto heftiger reagierte sie, das ging bis zur Selbstbeschädigung, zu gefährlichen Trotzreaktionen. Er musste wissen, warum sie sich gerade jetzt zurückzog, sonst würde es ihm den restlichen Abend lang keine Ruhe lassen.
»Könnte ich kurz nachsehen gehen?« Er deutete in Richtung Aufzug.
»Nein, tut mir leid.« Der Portier zog übertrieben bedauernd die Mundwinkel nach unten. »Ich habe strikte Anweisung, keine hausfremden Personen durchzulassen. Das müssen Sie verstehen.«
»Natürlich.« Ein zweites Mal wollte er sich zum Gehen wenden, als die Fahrstuhltür sich öffnete und eine Frau heraustrat, der Tibor schon begegnet war. An ihren Namen erinnerte er sich nicht mehr, aber daran, dass sie in der Redaktion beschäftigt war.
Er hob grüßend die Hand in ihre Richtung. »Hallo!«
Sie blieb stehen. Verzog das Gesicht. »Oh. Auch hallo.«
»Ich wollte nach Nadine sehen. Wissen Sie, wie es ihr geht? Ist sie in Ordnung?«
Die Frau gab ein Geräusch von sich, irgendwo zwischen Grunzen und Lachen. »In Ordnung? Wann wäre sie das jemals gewesen?« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich weiß, der Zwischenfall muss unangenehm für sie gewesen sein, aber mein Mitgefühl hält sich gerade in Grenzen. Sie hat ihre ganze Wut an mir ausgelassen. Ich habe die Nase endgültig voll von ihr.« Sie warf dem Portier einen kurzen Blick zu. »Ist sie nicht längst nach Hause gegangen?«
»Nein.« Der Mann kratzte sich am Hals. »Ich habe mich seit drei Stunden hier nicht wegbewegt, und sie ist nicht vorbeigekommen.«
»Na, dann ist sie beim Chef«, stellte die Redakteurin fest. Wie hieß sie nur? Irene? Ingrid? Der süffisante Unterton in ihrer Stimme war unmissverständlich. Hätte Tibor nicht längst von der Affäre gewusst, spätestens jetzt hätten keine Zweifel mehr bestanden. Aber es ging ihn nichts mehr an, mit wem sie schlief, zum Glück. Gutes Gefühl.
»Nein, beim Chef ist sie nicht, glaube ich«, meldete sich der Portier. »Der ist vor einer halben Stunde gegangen. Dinner mit Werbekunden. Frau Just war nicht bei ihm.«
»Dann schmollt sie eben noch in ihrer Garderobe.« Die Redakteurin wirkte zunehmend ungeduldig. »Soll sie. Ich habe ihr meine Gesellschaft angeboten, und sie hat sehr deutlich klargemacht, dass sie keinen Wert darauf legt.«
Tibor nickte. »Wann war denn das?«
»Na ja, knapp nach der Sendung. Vor ungefähr eineinhalb Stunden.«
»Und seitdem haben Sie sie nicht mehr gesehen?«
Die Frau schien zu ahnen, worauf er hinauswollte. »Wir haben angeboten, uns um sie zu kümmern, und sie hat uns zum Teufel geschickt«, sagte sie patzig. »Wollen Sie ihr psychologischen Beistand vorschlagen? Mal sehen, womit sie dann nach Ihnen wirft.«
Es sah Nadine nicht ähnlich, zwei Stunden wütend vor sich hinzuköcheln, ohne ihrer Umgebung ebenfalls den Tag zu verderben. Es sah ihr nicht ähnlich, ihr Handy auszuschalten. »Ich möchte gern nachsehen«, erklärte Tibor, »ob sie wirklich noch in der Garderobe ist.«
Die Frau maß ihn mit einem Blick, aus dem gleichermaßen Belustigung und Mitleid sprach. »Ihr seid aber nicht mehr …«
»Nein. Sind wir nicht.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich muss das nicht verstehen. Aber okay, kommen Sie mit. Beppo?« Sie drehte sich zum Portier um. »Ich bringe Nadines Ex zu ihrer Garderobe und dann wieder zurück. Auf meine Verantwortung.«
Die Aufzugtüren öffneten sich vor ihnen, im Inneren hing eines der Promo-Fotos des Senders. Fünf Moderatoren blickten mit strahlendem Lächeln in die Kamera, alle hielten dem Fotografen den hochgereckten Daumen entgegen, als hätten sie gerade gemeinsam einen Gipfel bezwungen. In der Mitte stand Nadine, das blonde Haar fiel ihr in Wellen über die Schultern.
»Hat eigentlich schon jemand die Polizei informiert?«, erkundigte sich Tibor.
»Ja, natürlich. Habe ich selbst gemacht, ich scheine hier nämlich für alles zuständig zu sein.« Die Frau lehnte sich gegen die Aufzugswand. »Sie wollten jemanden vorbeischicken, aber der Beamte am Telefon hat mir gesagt, sie seien nicht sicher, ob der Tatbestand der gefährlichen Drohung gegeben wäre.« Sie rieb sich die Augen. »Weil ja nichts angedroht wurde, sagte er. Es sei ein Graubereich, eventuell so etwas wie Vorspiegelung falscher Tatsachen. Es sei ja auch nicht strafbar, eine Todesanzeige für einen quicklebendigen Menschen in die Zeitung zu setzen.«
Die Fahrstuhltür glitt zur Seite, und die Frau trat auf den Gang, grüßte eine Kollegin, die mit einem Tablet unter dem Arm und dem Handy am Ohr an ihnen vorbeilief. »Da vorne, die dritte Tür rechts. Gehen Sie ruhig rein, ich warte draußen. Ich habe keine Lust, mir noch ein Glas Wasser ins Gesicht schütten zu lassen.«
Du liebe Güte. Tibor nickte und steuerte auf die Tür zu. Klopfte mehrmals, ohne eine Antwort zu bekommen. »Nadine?«, rief er. »Ich bin’s, Tibor. Kann ich reinkommen?«
Keine Reaktion. Er warf der Redakteurin – Iris hieß sie, jetzt fiel es ihm wieder ein –, er warf der zunehmend ungeduldig wirkenden Iris einen entschuldigenden Blick zu, dann drückte er die Klinke nach unten.
Die Garderobe war leer. Keine Spur von Nadine, allerdings hing ihre Handtasche an einem der Wandhaken. Das bestätigte die Beobachtung des Portiers, sie musste noch im Haus sein.
Tja, das Sendegebäude war groß, und die Wahrscheinlichkeit, dass Nadine gerade ihr Herz einem Kollegen ausschüttete, ebenfalls. Wie er sie kannte, würde sie sicherstellen wollen, dass sie bei der Erklärung des Zwischenfalls möglichst gut wegkam.
Gut, dachte Tibor, ich habe es versucht. Mehr kann man von einem Ex wirklich nicht ver…
Es war, als hätte jemand den Rest seines Gedankens mit einer Axt gekappt. Tibor war einen Schritt weiter ins Innere des Raums gegangen und sah nun, was die lindgrüne Couch zuvor verborgen hatte. Den Spalt zwischen Boden und Badezimmertür, durch den kein Licht quoll, sondern glänzendes, hellrotes Blut.
Fina war nicht schnell genug gewesen und fluchte innerlich, als sie den Wagen erreichte, denn Oliver saß bereits am Steuer.
Sie hasste es, wenn er fuhr. Als wäre sein Dienstausweis gleichzeitig die Lizenz für Straßenrennen, als könnte man mit einem Polizeiauto nicht ebenfalls Fußgänger umnieten.
Er startete den Motor, kaum dass sie die Beifahrertür geöffnet hatte. »Ahmed und Manfred sind informiert, Spurensicherung ist ebenfalls auf dem Weg«, sagte er. »Und das könnten wir auch sein, wenn du mal ein bisschen mehr Tempo machen würdest.«
Sie antwortete nicht, sondern suchte auf ihrem Handy nach dem Videoclip, auf dem das Opfer angeblich die kommende Tat ankündigte. Oliver fuhr mit quietschenden Reifen vom Platz – was sie weniger gestört hätte, wäre ihr nicht klar gewesen, dass er das ihretwegen tat. So war es jedes Mal, wenn sie einander zugeteilt wurden.
Fina war ziemlich sicher, dass Oliver nur zwei Typen von Partnern akzeptabel fand. Entweder einen Mann – vorzugsweise einen Kumpeltyp, der über seine Witze lachte; einen »Buddy«, mit dem er eine verschworene Einheit bilden konnte.
War sie nicht.
Oder – auch nicht übel – eine heiße Braut, die zu ihm aufblickte und seine Worte nur durch bewunderndes Nicken kommentierte.
Fina blickte durchaus zu ihm auf, was aber nicht an ihrer inneren Einstellung, sondern an ihrer Körpergröße lag. Mit einem Meter sechzig wäre sie vor einigen Jahren noch gar nicht für den Polizeidienst infrage gekommen. Eine Tatsache, die Oliver nicht müde wurde zu betonen.
Sie hatte das Video jetzt gefunden und klickte es an. Eine junge Frau blickte in die Kamera, wirkte dabei aber nicht allzu konzentriert. Immer wieder zuckte ihr Blick für Sekundenbruchteile zur Seite, während sie über das Erdbeben in China sprach. Dann eine kurze Pause, bevor sie zur nächsten Meldung überleitete.
»Ein trauriges Ereignis droht demnächst die Medienlandschaft zu erschüttern.« Im Hintergrund war völlig unpassend das Bild eines Smartphones eingeblendet. »Eines der hoffnungsvollsten Talente der heimischen TV-Szene wird in Kürze tot aufgefunden werden.«
Nadine Just hatte von Anfang an abgelenkt gewirkt, aber nun war ihr anzusehen, dass die Quelle ihrer Irritation eine neue war. Dass sie das eben laut Gelesene erst begreifen musste, während sie schon die nächsten Sätze sprach.
»Ein Verbrechen wird man nicht ausschließen können. Bei dem Opfer handelt es sich um die siebenundzwanzigjährige … Nadine Just.«
Fina spielte die letzte Sequenz noch einige Male ab. Justs Überraschung wirkte echt, ihren eigenen Namen sprach sie leise und ungläubig aus. Danach wusste sie sichtlich nicht weiter, blickte sich um, griff sich ans linke Ohr, in dem vermutlich der Empfänger saß, über den sie Regieanweisungen erhielt. Ihr Blick war in völliger Ratlosigkeit auf die Kamera gerichtet, als der Clip abbrach.
Einer von Olivers abrupten Bremsvorgängen ließ das Handy beinahe aus Finas Hand rutschen. »Hat uns nach der Ausstrahlung niemand vom Sender verständigt?«
»Doch.« Er lenkte scharf nach links. »Es gab eine Anzeige gegen unbekannt, aber nach allem, was ich gehört habe, wollten sie es nicht so hochspielen. Weil ja sehr wahrscheinlich jemand ihrer eigenen Leute dahintersteckt, und Quick-TV ist sowieso schon in zwei oder drei Gerichtsverfahren verwickelt.«
Sie betrachtete das versteinerte Gesicht der Frau auf dem Handydisplay. »Ich schaue diesen Sender nie. Sehr trashig, oder?«
Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. »Oh, du würdest kotzen. Sie stricken ihr Programm aus Klatsch, Reality-Kram und Skandalen. Alles total unter deiner Würde.«
Eigentlich war das ein Kompliment, fand Fina; aus Olivers Mund klang es trotzdem wie eine Beleidigung. Also verkniff sie sich weitere Fragen. War ohnehin besser, sich selbst ein Bild zu machen.
Der Sender war im elften Bezirk beheimatet, in einem der neuen Businesscenter nahe der Tangente, die um diese Tageszeit bis zum Stillstand verstopft war. Das Quick-Logo drehte sich in leuchtendem Orange auf dem Dach.
Oliver gab noch einmal Gas und schoss auf dem Pannenstreifen an der Kolonne vorbei auf die Ausfahrt zu.
Vor dem Sendegebäude parkten bereits drei Streifenwagen, zwei Beamte in Uniform standen rechts und links des Eingangs. »Dritter Stock«, erklärte man ihnen. »Die Spusi ist schon oben.«
Sie passierten die Portiersloge, aus der ihnen ein blasser Mann mit Glatze zunickte, und gingen auf den Fahrstuhl zu. Oliver mit so langen Schritten, dass Fina beinahe in Trab verfallen musste, um ihm folgen zu können.
Im Aufzug schwiegen sie, bis die Türen im dritten Stock zur Seite glitten und den Blick auf einen mit Deckenspots erleuchteten Gang freigaben. Garderoben zu beiden Seiten, nur drei davon standen offen.
Fina verlangsamte ihre Schritte, als sie an der ersten vorbeiging; sie erhaschte einen schnellen Blick auf eine Frau mit kurzem, weißblondem Haar und einen groß gewachsenen Mann, der vornübergebeugt auf einem Stuhl saß und das Gesicht in den Händen verbarg.
Aber Oliver war schon weitergelaufen, und sie hatte keine Lust, sich von ihm abhängen zu lassen. Noch bevor er die Tür erreichte, vor der die Koffer der Spurensicherung abgestellt standen, war sie wieder an seiner Seite.
»Homburg!«, begrüßte ihn einer der Männer. Fina war nicht sicher, ob sie ihn kannte, durch das Sichtvisier des Schutzanzugs sah man nur Teile seines Gesichts.
»Hallo, Georg.« Mit einer nachlässigen Geste wies er auf Fina. »Das hier ist unsere Neue in der Mordgruppe, sie heißt …«
»Plank«, fiel Fina ihm ins Wort, bevor er wieder ihren vollständigen Namen zum Besten geben konnte. Was er grundsätzlich nur in süffisantem Ton tat.
»Freut mich, Kollegin. Ich bin Georg Matejka. Von der Tatortgruppe, wir sehen uns künftig sicher öfter.« Er wies ins Innere des Raums, wo zwei weitere Spurensicherer am Werk waren. »Die Tote liegt im Bad, ist eine ziemliche Sauerei da drin. Bisschen müsst ihr noch warten.«
Fina lehnte sich an den Türrahmen. Versuchte, erste Details abzuspeichern. Die blutigen Schuhabdrücke zum Beispiel, die quer durch den Raum zur Tür führten und dabei immer blasser wurden. Die Lache Erbrochenes vor der Couch. Eine Damenhandtasche, die an einem Wandhaken hing, den farbigen Streifen nach wahrscheinlich von Gucci.
Fina checkte auf ihrem Handy die Social Media – offenbar war noch nicht durchgesickert, dass Nadine Justs Ankündigung ihres eigenen Todes Realität geworden war. Keine entsetzten Kommentare, keine Kerzen-GIFs, kein R. I. P. Das würde natürlich alles bald kommen. Aber im Moment war die Sache noch auf ganz andere Weise Thema; die meisten User spöttelten, dass Quick-TV offenbar vor nichts zurückschreckte, um Quote zu machen.
»So, jetzt könnt ihr.« Georg war wieder aus dem Bad getreten und klebte umständlich ein Etikett auf einen Spurensicherungsbeutel, in dem sich ein tropfnasses Smartphone befand. »Ich habe die Gerichtsmedizin schon verständigt, die sind auf dem Weg.«
Fina betrat die Garderobe, achtete darauf, nicht auf die Blutspuren zu treten, und schob Oliver sanft zur Seite, als er sich so raumfüllend vor die Badezimmertür stellte, dass er ihr jegliche Sicht versperrte.
Sie hatte sich für einen schlimmen Anblick gewappnet, trotzdem musste sie beim Blick ins Innere des Badezimmers schlucken. Im Lauf ihrer Polizeiarbeit hatte sie noch nicht so viele Tote gesehen, dass sie für Momente wie diesen eine Routine hatte entwickeln können. Und bei keinem ihrer bisherigen Einsätze war sie mit so viel Blut konfrontiert gewesen.
Nadine Just lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, die Augen weit geöffnet. Sie trug noch dieselbe Kleidung wie in der Sendung – eine in Blautönen gestreifte Bluse mit V-Ausschnitt. Alles war blutverschmiert, vor allem der Hals, und dort meinte Fina seitlich eine kleine, dunklere Stelle ausmachen zu können. Ein Loch möglicherweise.
Aorta getroffen, dachte sie. Sie ließ ihren Blick über den blutbespritzten Spiegel wandern, die Fliesen, auf denen Tropfen ein Stück nach unten gelaufen und dann eingetrocknet waren. Die Handabdrücke auf dem Waschbecken, die Schmierstreifen an der Toilette. Wie jeder an ihrer Stelle musste sich die Frau zuerst an die Wunde gefasst und sich dann an allem Greifbaren festgehalten haben, bevor sie zusammengebrochen war. Auch an der Innenseite der Badezimmertür war Blut verschmiert.
»Die Trittspuren?«, fragte Oliver.
»Stammen von ihrem Ex«, erklärte Georg. »Heißt Tibor Glaser und sitzt in Garderobe vier. Er sagt, er sei hergefahren, weil er sich nach der Sendung Sorgen gemacht habe.«
Fina wandte sich um. »Ich habe ihn vorhin gesehen. Da war eine Frau bei ihm, mit kurzen blonden Haaren.«
»Iris Radnitzky«, bestätigte Georg. »Sie ist die Chefin vom Dienst in der Nachrichtenredaktion.«
»Gut.« Fina war schon auf dem Weg nach draußen, diffus dankbar dafür, das Blutbad hinter sich lassen zu können. Blutbad, dachte sie, im doppelten Wortsinn, wieso fällt mir das jetzt ein?
Sie umschiffte mit schnellen Schritten das Erbrochene und trat auf den Gang hinaus. Atmete durch.
»Du wirst für diesen Job ein dickeres Fell brauchen«, hatte ihr Vater gesagt, als sie ihm von ihrer Entscheidung erzählt hatte.
»Als ob der Rest von mir nicht schon dick genug wäre«, hatte sie grinsend geantwortet. Jetzt war ihr nicht mehr nach Scherzen zumute. Sie fühlte ihren Magen rebellieren. Ein Verbrechen wird sich nicht ausschließen lassen.
Wie viel Zeit war zwischen der Ankündigung und der Tat verstrichen? Eine Stunde, eineinhalb? Das war wenig. Alles musste genau nach Plan gelaufen sein. Fina steuerte auf Garderobe vier zu. Unvorstellbar, dass es jemand gewesen war, der das Haus nicht kannte.
Sie hatte Iris Radnitzky gebeten, in Garderobe drei zu warten, und saß nun Tibor Glaser gegenüber. Dem Ex.
Er und Nadine mussten ein schönes Paar gewesen sein. Beide groß, sie blond, er dunkelhaarig. Gut aussehend auf nachlässige Art, als würde ihm seine Wirkung auf andere nichts bedeuten.
Im Moment traf das wohl auch zu. Er hatte Fina bei ihrem Eintreten mit einem Hilfe suchenden Blick gestreift und dann den Kopf wieder gesenkt. Seitdem hatte er sie nicht mehr angesehen, auch nicht, als sie sich einen Stuhl herangezogen und sich ihm gegenübergesetzt hatte.
»Sie sind Polizei, richtig?«, murmelte er.
»Ja.« Sie wunderte sich nur kurz über seine Ausdrucksweise. Nicht von der Polizei, nein, die Polizei selbst. »Mein Name ist Plank, ich gehöre zur Mordgruppe zwei. Sie sind Herr Glaser?«
Er nickte, und Fina legte ihr Handy auf den Tisch. »Ich möchte unser Gespräch gern aufzeichnen. Sind Sie einverstanden?«
Nun blickte er doch hoch. Richtete sich auf. »Ist das ein Verhör?«
»Nein, das ist nicht einmal eine Vernehmung. Alles ganz informell, aber Sie sind schließlich Zeuge.«
Er nickte, und sie tippte auf das Display, startete die Aufnahme. »Herr Glaser, in welchem Verhältnis standen Sie zu Frau Just?«
Er holte zweimal tief Luft, als müsse er gegen aufkommende Übelkeit anatmen. »Wir waren zusammen. Also, ein Paar. Vor zwei Monaten haben wir uns getrennt.«
»Sie sich von Ihnen oder umgekehrt?«
»Umgekehrt. Ich mich von ihr.«
»Warum?«
Nun suchte sein Blick erstmals ihren und glitt nicht sofort wieder zur Seite. Dunkelgrüne Augen. So was war selten. »Erstens«, sagte er, »hatten wir wegen jeder Kleinigkeit Streit. Wegen lächerlichem Zeug, zum Beispiel darüber, wer einen Teller an den falschen Platz geräumt hat. Zweitens«, er machte eine bedeutsame Pause, »hatte sie eine Affäre. Vielleicht auch mehrere, aber von einer habe ich erfahren.«
Fina ärgerte sich über ihr eigenes Erstaunen. Dass gut aussehende Menschen nicht betrogen wurden, war ein Klischee, und Klischees waren in ihrem Beruf ebenso hinderlich wie Vorurteile. »Wissen Sie auch, mit wem?«
Er gab ein Geräusch von sich, das nur entfernt einem Lachen ähnelte. »Natürlich, jeder hier weiß das. Mit Kurt Eferling, dem Eigentümer des Senders. De facto ist er auch der Programmchef, er trifft alle wichtigen Entscheidungen.«
Fina nickte langsam – hier hatte sie also ein Klischee, das abgedroschener nicht sein konnte und trotzdem der Wahrheit entsprach. Eine Karriere-Affäre.
Sie schüttelte den Kopf über sich selbst, ihre Neigung zu Wortspielen war hier echt fehl am Platz. »Wenn Sie getrennt sind, Herr Glaser, warum sind Sie dann in den Sender gefahren?«
Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück und fuhr sich über die Stirn. »Weil ich so ein … Gefühl hatte. Dass etwas nicht stimmt. Nadines Handy war nicht im Netz, und das war extrem untypisch. Ich …« Er unterbrach sich, suchte sichtlich nach der richtigen Formulierung. »Ich hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn ich meine Ahnung ignoriert hätte. Ich war ihr nichts schuldig, aber mir selbst schon. Irgendwie.«
»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.« Fina verschränkte die Hände ineinander. Sie verstand es wirklich, aber – um ein weiteres Klischee zu bemühen, das sich oft bewahrheitete – bei Frauenmorden waren die Täter meistens die Partner. Und oft auch die Ex-Partner.
»Wer hat Frau Just gefunden? Sie?«
»Ja. Gemeinsam mit der Redakteurin. Iris. Sie hat mich heraufbegleitet.«
»Hat jemand von Ihnen die Tür zum Badezimmer geöffnet?«
Er gab ein zustimmendes Geräusch von sich, die Lippen dabei fest geschlossen. Fina wartete, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. Fragte sich, ob Oliver bereits mit der blonden Frau sprach. Oder in Kürze hier hereinplatzen und ihr die Dinge aus der Hand nehmen würde, so wie bisher meistens.
Trotzdem würde sie Tibor Glaser nicht unter Druck setzen.
»Ich«, begann er, »ich habe die Tür aufgerissen, unten aus dem Spalt ist schon Blut geronnen. Ich habe …« Er schloss die Augen, verlor die Kontrolle über seinen Gesichtsausdruck, kurz dachte Fina, er würde zu weinen beginnen.
»Wissen Sie«, sagte er nach ein paar Sekunden, »wie das ist, wenn man einen Menschen, der einem einmal nahegestanden hat, so sieht?«
Nein, das wusste sie glücklicherweise nicht. Bisher hatte sie Menschen nur auf gewaltfreie Weise verloren.
»Es fühlt sich an, als würde einem plötzlich die Welt entgleiten. Man glaubt es nicht, weiß aber gleichzeitig, dass es wahr ist, und dieser Widerspruch reißt einen fast in zwei Teile.« Wieder holte er Luft, ruckartig, wie ein Ertrinkender. »Und dann hat die Frau zu schreien begonnen, die Redakteurin, Iris …«
»Iris Radnitzky«, half sie ihm.
»Genau. Es war ein merkwürdiges Schreien, auf- und abschwellend wie eine Sirene, aber vielleicht war das eine verzerrte Wahrnehmung, wegen des Schocks … Ich bin sofort wieder raus. Hätte Frau Radnitzky beinahe umgestoßen und dann –«
»Ist Ihnen schlecht geworden?«
Er nickte. »Ich habe kaum gemerkt, was passiert, mein Magen hat sich einfach umgedreht, alles ist hochgekommen, und ich wäre fast hineingefallen … aber … das ist unwichtig, oder?«
»Jedes Detail im Ablauf ist interessant«, sagte Fina. »Wann genau waren Sie denn am Sender?«
Diesmal musste er kaum überlegen. »Kurz nach sieben.«
»Ist Ihnen da etwas aufgefallen? Jemand, der es eilig hatte, wegzukommen, zum Beispiel?«
»Nein.« Er dachte noch einmal nach. »Nein«, bekräftigte er dann, »es war alles erstaunlich normal. Nur der Portier war strenger als sonst.«
Mit ihm würden sie sich auch noch eingehend unterhalten müssen. Wer das Gebäude betrat, kam an ihm vorbei. Das hieß, er hatte den Täter gesehen.
Oder die Täterin, mahnte Fina sich selbst. Sie durfte nicht bloß in eine Richtung denken, auch wenn die Statistik ein klares Bild zeichnete. Sie räusperte sich.
»Hatte Frau Just Feinde? Streit mit irgendjemandem?« Die Frage war Standard, sie war alles andere als originell. Umso mehr wunderte sich Fina, als ihr Gegenüber in haltloses Lachen ausbrach. Sich kaum beruhigen konnte.
Sie ließ ihn gewähren. Anspannung machte sich auf die unterschiedlichsten Arten Luft.
»Ob sie …«, brachte er mühsam hervor, »… Feinde hatte?« Er wischte sich über die Augen. »Sie hatte fast ausschließlich Feinde. Ich habe mir oft gedacht: Sie braucht das. Sie will diese extreme Reaktion. Ich bin sicher, Sie werden ihren Social-Media-Content durchgehen, und dann werden Sie es selbst sehen. Sie hat es geliebt, andere zu reizen – die sind sie dann plump und ungeschickt angegangen, und sie konnte sie vor allen ihren Followern lächerlich machen.«
Er war wieder ernst geworden. »Ich habe sie oft gewarnt, dass irgendwann jemand ausflippen wird. Aber es war, als würde sie aus der Aggression, die sie ausgelöst hat, Kraft ziehen.«
»War es in letzter Zeit schlimmer?«
Glaser verzog den Mund. »Keine Ahnung, wir waren getrennt. Null Kontakt.«
»Verstehe. Wissen Sie trotzdem, ob Frau Just …«
In diesem Moment platzte Oliver herein. »Tut mir leid, dass es länger gedauert hat.« Er schüttelte Glaser die Hand. »Oliver Homburg, LKA. Ich hoffe, meine junge Kollegin hat Ihnen etwas zu trinken gebracht … nein?« Er wandte sich ihr zu. »Fina, kümmerst du dich bitte? Zwei Glas Wasser, zwei Kaffee, das kriegst du hin, oder?«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, das dieser Unverschämtheit angemessen war, aber ihr fiel nichts ein. Besser sachlich bleiben. »Wir waren fast fertig«, erklärte sie und hasste ihre Stimme dafür, wie dünn sie klang.
Oliver drehte ihr den Rücken zu. »Sie sind sicher durstig, Herr Glaser. Ich kann mir vorstellen, wie sehr die Situation Sie mitnimmt.«
Fina stand auf und griff nach ihrem Handy. Stoppte die Aufnahme und ging nach draußen. Wünschte sich, sie wäre auch der Typ Frau, der aus Aggression Kraft ziehen konnte.
»Ich will das nicht alles noch einmal …«, hörte sie Glaser noch sagen, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
Auf ihrer zornigen Suche nach einem Kaffeeautomaten oder der Kantine kam sie zuerst an Ahmed vorbei, dem Lieblingskollegen, der gerade die Arbeiterinnen des Putztrupps befragte und dabei offenbar Verständnisprobleme hatte. Deutsch und Türkisch beherrschte er perfekt, aber bei seiner aktuellen Gesprächspartnerin schien etwas Slawisches gefragt zu sein. Serbisch, Bosnisch?
Er würde vermutlich einen Dolmetscher zuziehen müssen, aber im Moment versuchte er es noch mit Händen und Füßen und Geduld.
Die Fina fehlte. Sie bog um die Ecke und wäre beinahe in den Spusi-Mann hineingelaufen, mit dem Oliver sich vorhin unterhalten hatte. Georg. Ohne seine Ganzkörperverhüllung wirkte er wie ein Straßenmusiker, der zu wenig verdiente. Das dünne, blonde Haar war ein bisschen zu lang und – vermutlich dank der Overallkapuze – völlig zerzaust. »Sie sehen mitgenommen aus«, stellte er fest. »Keine Sorge, es wird einfacher. Es lässt einen nie ganz kalt, aber man lernt damit umzugehen, nach einiger Zeit.« Er lächelte, und um seine wasserblauen Augen bildeten sich feine Fältchen.
»Lernt man auch, mit fiesen Kollegen umzugehen?« Ihre Stimme klang bitter, aber das war besser, als wenn sie geschwankt hätte.
Georgs Lächeln wich einer verständnisvollen Grimasse. »Oliver? Macht er es Ihnen schwer?« Er biss sich kurz auf die Lippen. »Wäre es okay, wenn wir uns duzen? Machen wir im Kollegenkreis alle, aber wenn es dich, also Sie, stört …«
Fina schüttelte den Kopf. Es gab eine Menge, was sie derzeit störte, aber ein freundschaftlicher Umgangston gehörte nicht dazu.
»Bestens.« Georgs Lächeln kehrte zurück. »Du darfst Oliver nicht zu ernst nehmen, er ist noch nicht ganz drüber hinweg, dass Andreas in Pension geschickt wurde – und jetzt eine Frau den Platz in der Gruppe einnimmt.« Er sah sie wartend an, und als keine Reaktion von ihr kam, nahm er sie bei den Schultern. »Hey, du bist die einzige Frau in allen drei Mordgruppen! Das ist doch etwas! Das zeigt, dass du was draufhast!«
Er war nett, wirklich, aber sie hatte nicht die geringste Lust, sich beschwichtigen zu lassen. »Offenbar bin ich sehr qualifiziert dafür, Kaffee zu holen.«
Georg fuhr sich über den Kopf, was den Gesamteindruck seiner Frisur nicht verbesserte. »Am besten, du ziehst gleich klare Grenzen«, sagte er. »Jaja, ich weiß, das klingt einfacher, als es ist. Aber weißt du was? Sobald mein Bericht fertig ist, schicke ich ihn als Erstes an dich.«
Es war nach zehn Uhr abends, als Tibor den Sender endlich verlassen konnte. Sein Inneres fühlte sich taub an, und er brauchte ungewöhnlich lange, um seinen Wagen auf dem Parkplatz zu finden. Psychologischen Beistand hatte er abgelehnt, er wollte nur alleine sein.
Die kleine, stämmige Polizistin war kurz zurückgekehrt, um wortlos zwei Tassen Kaffee und eine Flasche Wasser auf den Tisch zu stellen. Dann war sie verschwunden, leider, so hatte er ihrem Kollegen alles noch einmal erzählen müssen. Dessen betont kumpelhaftes Gehabe war ihm nach kurzer Zeit auf die Nerven gegangen, doch das war nur ein vages Gefühl gewesen. Alles war überlagert von den Bildern, die vor Tibors innerem Auge festhingen. So detailliert, in allen grauenvollen Einzelheiten. Diese unglaublichen Mengen an Blut. Nadines Gesicht, die Augen halb geschlossen, der Mund offen, als versuche sie, aus der Lache zu trinken.
Der gekachelte Raum wie ein Schlachthof; Nadine auf dem Boden wie ein ungeschickt abgestochenes Tier. Er hatte gar nicht erst nach ihrem Puls gefühlt oder nach Hilfe gerufen – es bestand kein Zweifel daran, dass sie tot war. Alles, was sie ausgemacht hatte, war fort; die leer geblutete Hülle nur noch ein verstörendes Objekt.
Er wusste nicht, wie er dieses Bild je wieder loswerden sollte. Den Geruch vergessen.
Zu Hause stellte er sich unter die Dusche und drehte das Wasser so heiß, wie er es gerade noch ertrug. Dann, nur in ein Handtuch gewickelt, schaltete er den Fernseher an. Der Geräuschkulisse wegen, er hätte die Ruhe seiner Wohnung nicht ertragen.
Doch er ertrug auch die läppische Komödie nicht, die auf dem eingestellten Privatsender lief. Er holte sich einen Tumbler aus der Vitrine, ließ drei Eiswürfel hineinfallen und goss mit Chivas Regal auf. Der Whisky war fünfundzwanzig Jahre alt, nur zwei Jahre jünger, als Nadine es gewesen war.
Mit dem Glas in der Hand setzte er sich auf die Couch, griff nach der Fernbedienung und zappte durch die Sender. Er mied Quick-TV, doch wie sich zeigte, war Nadines Tod auf jedem der Nachrichtenkanäle Thema Nummer eins.
Obwohl er es nicht wollte, blieb er hängen, bei einer Diskussionsrunde, die sehr eilig zusammengestellt worden sein musste. Eine Psychologin, ein pensionierter Ermittler, eine Fachfrau für Computersicherheit, eine Nachrichtenredakteurin. Und ein selbstverliebter Moderator, der es nur mühsam schaffte, Betroffenheit vorzutäuschen.
Chronik eines angekündigten Todes, war im Hintergrund eingeblendet, über einem Foto von Nadine, auf dem sie strahlend schön aussah.
Tibor schloss die Augen und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. Wäre er bloß nicht zum Sender gefahren, es hatte niemandem etwas gebracht. Er hatte nur den Tatort verunreinigt und sich wahrscheinlich ein veritables Trauma eingefangen.
Hätte er besser auf sein Date gewartet und sich die Hiobsbotschaft von Freunden aufs Handy schicken lassen. Er hatte es stumm geschaltet, sah aber am regelmäßigen Aufleuchten des Displays, dass unentwegt neue Nachrichten eintrafen, Anrufe ins Leere gingen.
»Wie konnte es passieren, dass diese Ankündigung gesendet wurde?«, fragte der Moderator jetzt. »Warum Nadine Just sie vom Prompter abgelesen hat, werden wir wohl nie wissen – aber wie konnte sie überhaupt dort hingelangen?«
Die Redakteurin, eine Frau um die fünfzig, hatte zu jedem seiner Worte genickt. »Das habe ich mich auch gefragt. Denn eigentlich gibt es vor jeder Sendung noch eine Art Endkontrolle des Textes. Entweder hat die bei Quick-TV nicht stattgefunden, oder es gab in letzter Minute noch Manipulationen.«
Der Moderator warf einen Blick auf seine Stichwortkarten. »Frau Just war erst seit knapp einem Jahr bei Quick-TV und hat dort eine durchaus steile Karriere hingelegt. Was sicher auch an ihrer furchtlosen Art lag, unpopuläre Meinungen zu vertreten. Sie wurde in den Social Media stark angefeindet.« Er wandte sich an den Ex-Ermittler, der unentwegt an seinem Ehering drehte. »Sehen Sie da das wahrscheinlichste Motiv? Hat ihre unverblümte Art Nadine Just das Leben gekostet?«
Der Mann rückte seinen massigen Körper auf dem Stuhl zurecht. »Ist viel zu früh, das zu sagen. So, wie es sich für mich darstellt, muss diese Tat von langer Hand geplant gewesen sein. Wenn jemand aus Wut über eine böse Bemerkung auf Twitter oder Facebook gewalttätig wird, dann lauert er der Person vielleicht vor dem Haus auf oder vergiftet die Katze.« Er schüttelte den Kopf. »Und sogar das passiert nur selten. Zum Glück. Drohungen im Netz sind meistens nichts mehr als heiße Luft, mit Betonung auf meistens. Wir wissen ja noch nicht so viel über die Umstände der Tat, aber es muss ein extrem hoher Aufwand gewesen sein, diese Ankündigung in die Meldungstexte zu schmuggeln.« Er räusperte sich. »In meinen Augen spricht das für einen Täter, der sich sehr persönlich von Frau Just angegriffen und geschädigt fühlt. Und wir wissen alle, was die Statistik sagt: Meistens sind es Männer aus dem engsten Umfeld. Partner oder Ex-Partner.«
Tibor lachte auf und leerte das noch halb volle Glas auf einen Zug. Natürlich. Da durfte er als Ex-Partner sich ja schon mal auf etwas gefasst machen. Kein Mensch würde ihm abkaufen, dass er aus einer diffusen Sorge heraus zum Sender gefahren war.
Aber diese Iris war bei ihm gewesen, als er die Tür zum Bad geöffnet hatte. Sie hatten Nadine gemeinsam gefunden. Außerdem gab es seine Nachrichten auf ihrer Box und auf WhatsApp. Man konnte sicher nachprüfen, von wo die geschickt worden waren. Reichte das, um ihn aus der Schusslinie zu holen?
Er wusste es nicht, und der Alkohol auf nüchternen Magen begann, ihm das Denken schwer zu machen. Undeutlich nahm er wahr, dass jetzt die Psychologin das Wort ergriffen hatte und etwas über Hass durch Kränkung und die Verletzung narzisstischer Bedürfnisse erzählte.
Mit der starken Befürchtung, dass es ein Fehler sein würde, griff Tibor nach seinem Handy und entsperrte es.
Neunundvierzig Nachrichten auf WhatsApp, dreißig entgangene Anrufe, achtzehn SMS. Tibor schenkte sich nach und schleuderte das Smartphone mit so viel Schwung auf den Couchtisch, dass es über die Kante rutschte und aus seinem Sichtfeld verschwand.
Morgen würde er es verzweifelt suchen, aber das war jetzt egal. Der Whisky ließ die Bilder im Kopf verblassen, das war im Moment das Wichtigste.
Es war drei Uhr nachts, als er wieder erwachte. Er lag bäuchlings auf der Couch, alle Lichter brannten, und der Fernseher lief immer noch. Keine Nachrichten mehr, sondern die Wiederholung irgendeines alten Agententhrillers.
Tibor kroch vom Sofa. Fand tastend sein Handy auf dem Teppich und nahm es mit auf die Toilette.
Während er geschlafen hatte, waren zweiundzwanzig neue Textnachrichten dazugekommen, drei Leute hatten versucht, ihn telefonisch zu erreichen, darunter seine Mutter und Bernie, der sich vermutlich Sorgen um den Ruf der Agentur machte.
Die Sprachnachrichten würde er morgen abhören, wenn der Restalkohol sich verflüchtigt hatte, aber durch die WhatsApps konnte er jetzt schon scrollen. Im Bett, nach dem Zähneputzen, wenn er nicht mehr den Geschmack von altem Spülschwamm im Mund hatte.
Ricarda hatte ihm mehrmals geschrieben. Erst empört darüber, dass er nicht länger auf sie gewartet hatte, dann verständnisvoll. Wie schrecklich, schrieb sie. Wärst du geblieben, hättest du in mir ein bombenfestes Alibi, aber ich bin sicher, das hast du auch so.
Ein Alibi, das würde er doch sicher nicht brauchen? Weder die Polizistin noch ihr Kollege hatten ihn wie einen Verdächtigen behandelt, aber vielleicht kam das noch. Von wegen Partner oder Ex-Partner.
Apropos Ex-Partner. Auch Esther hatte sich gemeldet, zum ersten Mal, seit er sich von ihr getrennt hatte. Was ewig her war. Acht Jahre? Unglaublich.
Ich habe gehört, was passiert ist, und wollte dir mein Mitgefühl ausdrücken, schrieb sie. Obwohl ich immer gedacht habe, dass Nadine ein grauenvoller Mensch ist, und nie kapiert habe, warum du dich in sie verliebt hast. Du und ich, wir sind nicht im Guten auseinandergegangen, aber ich hoffe, du stehst das durch.
Für Esthers Begriffe war das ein erstaunlich friedfertiger Text. Der gleiche Tenor, wenn auch meistens weniger kühl, durchzog den Großteil der anderen Nachrichten: Oh Gott, viel Kraft, was für eine Tragödie, sie war so jung, das ganze Leben noch vor sich, wer ist zu so etwas fähig, wie furchtbar für dich.
Bei einigen meinte Tibor, eine gewisse Neugier nach Details herauszulesen, denn offenbar war durchgesickert, dass er die tote Nadine gefunden hatte. Ja, tatsächlich: Eine frühere Kollegin, die als Grafikerin nach Berlin gegangen war, schickte ihm den Link zu einem Video. Spätnachrichten, ein junger Reporter vor dem Sendegebäude von Quick-TV. »Hinter dieser Fassade wurde heute eine unfassbare Tat begangen«, erklärte der Mann mit unheilschwangerer Stimme. »Erst war die aufstrebende Journalistin Nadine Just dazu gezwungen, ihr eigenes Todesurteil zu verkünden, und schon kurz danach fand ihr früherer Lebensgefährte die blutüberströmte Leiche in ihrer Garderobe. Ein unvorstellbares Verbr…«
Tibor stoppte das Video. Dass er erwähnt wurde – wenn auch nicht namentlich –, war schlimm genug. Vollkommen unerträglich war aber der Stil, in dem die Reportage aufgezogen war. Todesurteil, du meine Güte.
Er konnte den Blick nur schwer von dem Standbild auf dem Handydisplay lösen. Von dem jungen Mann mit seinem Mikrofon und dem Logo des Konkurrenzsenders in der linken Ecke.
Tatsache war, Nadine hätte im gegebenen Fall keinen Deut seriöser berichtet. Diese Programme fischten alle im selben Konsumentenpool. Bei der Kategorie Mensch, die Handyvideos von Unfallopfern drehten.
Tibors Magen protestierte schon wieder; schwer zu sagen, ob die Übelkeit vom Whisky oder vom eben Gesehenen ausgelöst wurde. Er scrollte weiter durch die Mitteilungen und beschloss, keine einzige davon zu beantworten. Außer die von seiner Mutter und Bernie, der ihm um ein Uhr nachts geschrieben hatte, dass er am nächsten Tag natürlich nicht in die Agentur kommen müsse. Du weißt, dass ich immer ein schwieriges Verhältnis zu Nadine hatte, aber ich finde ihren Tod entsetzlich. Bitte nimm dir alle Zeit, die nötig ist. Wenn du etwas brauchst, bin ich für dich da.
Tibor wusste, dass sein Freund das Handy lautlos stellte, wenn er schlief, also gab es keinen Grund, mit einer Antwort zu warten.
Danke, schrieb er, das nehme ich gerne an. Ich werde zwei oder drei Tage brauchen, bis ich mich wieder auf die Arbeit konzentrieren kann, denke ich. Es war ein echter Schock, und wer weiß, vielleicht will mich die Polizei noch einmal sehen. Ich melde mich.
Er ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen, und überlegte nach dem ersten Schluck, ob er sich nicht einfach einen Finger in den Hals stecken sollte, um die Übelkeit loszuwerden. Doch nach dem zweiten Schluck wurde es besser, und Tibor kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Er hatte sich geirrt. Bernie schlief nicht, er hatte innerhalb von zwei Minuten auf Tibors Textnachricht geantwortet.
Okay. Pass auf dich auf. Ich verstehe auch nicht, was los ist und ob gerade etwas sehr Merkwürdiges Schule macht, aber mir hat eine Bekannte vorhin einen Link geschickt. Sieh ihn dir bei Gelegenheit an. Vielleicht ist es nur ein Scherz, aber dann ist er maximal geschmacklos.
Unschlüssig ließ Tibor den Daumen über dem mitgesendeten Link schweben. Das Letzte, was er sehen wollte, waren schlechte Scherze auf Kosten seiner ermordeten Ex-Freundin. Immerhin schien es sich um kein Video zu handeln, die URL führte weder zu YouTube noch zu Vimeo, sondern allem Anschein nach zu einer privaten Homepage. gunthermarzik.at/blog lautete die Adresse.
Der Name war Tibor irgendwann schon einmal untergekommen. Wo, konnte er beim besten Willen nicht rekonstruieren.