Stille Wasser - Angélique Mundt - E-Book

Stille Wasser E-Book

Angélique Mundt

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Beschreibung

Eine schöne Unbekannte wird tot auf einem Schiff gefunden, ein junger Mann kämpft verzweifelt um die Liebe seines Lebens, und im Hamburger Hafen droht eine Bombe zu explodieren: Psychotherapeutin Tessa Ravens ist in einen neuen Fall involviert, der in die dunkelsten Tiefen der menschlichen Seele führt, sie immer weiter hinab zieht in einen Strudel aus Zweifel, Angst und Wahnsinn. Als es auch für Tessa um Leben und Tod geht, muss sie sich die Frage stellen: Wie weit geht ein Mensch, um seine Liebe zu retten?

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Zum Buch

Eine schöne Unbekannte wird tot auf einem Schiff gefunden, ein junger Mann kämpft verzweifelt um die Liebe seines Lebens, und im Hamburger Hafen droht eine Bombe zu explodieren: Psychotherapeutin Tessa Ravens ist in einen neuen Fall involviert, der in die dunkelsten Tiefen der menschlichen Seele führt, sie immer weiter hinabzieht in einen Strudel aus Zweifel, Angst und Wahnsinn. Als es auch für Tessa um Leben und Tod geht, muss sie sich die Frage stellen: Wie weit geht ein Mensch, um seine Liebe zu retten?

Zur Autorin

ANGÉLIQUE MUNDTwurde 1966 in Hamburg geboren. Nach ihrem Studium der Psychologie arbeitete sie lange in der Psychiatrie, bevor sie sich 2005 als Psychotherapeutin mit einer eigenen Praxis selbständig machte. Sie arbeitet ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuzes, das Menschen bei potentiell traumatisierenden Ereignissen »Erste Hilfe für die Seele« leistet. Stille Wasser ist der dritte Roman in der Serie um die Psychotherapeutin Tessa Ravens und Hauptkommissar Torben Koster. Angélique Mundt lebt in Hamburg.

ANGÉLIQUE MUNDT BEI BTBNacht ohne Angst. Kriminalroman Denn es wird kein Morgen geben. Kriminalroman Erste Hilfe für die Seele. Einsatz im Kriseninterventionsteam

ANGÉLIQUE MUNDT

STILLE WASSER

KRIMINALROMAN

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Originalausgabe November 2017 Copyright © 2017 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © befo/Getty Images Satz: Uhl + Massopust, Aalen mr · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-21361-9 V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

1

Sonnenstrahlen auf der Haut. Ein Summen auf den Lippen. Kribbeln im Bauch. Fühlte sich so Glück an?

Tessa rückte sich einen Stuhl zurecht, um ihre Beine daraufzulegen und ließ sich dann wieder in ihren Gartenstuhl zurücksinken. Sie saß am späten Morgen, nur mit einem T-Shirt und Shorts bekleidet, auf ihrer kleinen Dachterrasse, genoss ihr Frühstück und hielt mit geschlossenen Augen ihr Gesicht in die Sonne. Ob dieses Gefühl, welches gerade durch ihren Körper flutete, die Empfindung war, dem die ganze Menschheit hinterherjagte? Glück? Zufriedenheit? Liebe?

Sie war verliebt in Torben. Und sie lächelte selig, während zwei Eichhörnchen den Baum hochjagten und oben in der Baumkrone in Höhe ihres Balkons ankamen. Eines der kleinen Tiere keckerte laut und sprang mit einem großen Satz auf den daneben stehenden Baum, um sich mit hoher Geschwindigkeit wieder den Stamm hinabzuschrauben. Das zweite Tier hatte offenbar die Lust verloren hinterherzulaufen.

»Na du? Guten Morgen. Möchtest du eine Walnuss zum Frühstück?« Das Eichhörnchen putzte sich und würdigte sie keines Blickes.

Tessa lächelte und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Vielleicht war ihr Gefühl nur eine flüchtige Stimmung an einem schönen Morgen und ließ sich nicht festhalten. Aber sie wollte sich in diesem Moment durch nichts stören lassen. Nur den Sommer genießen, diesen wundervollen, heißen Sommer. Auch heute war wieder keine Wolke am klaren blauen Himmel zu sehen. Durch die Blätter der Bäume raschelte ein leichter Windhauch. Ein Juli, wie ihn Hamburg selten erlebt. Vielleicht war Tessa deswegen so euphorisch? Ihr Leben mit Torben hatte eine andere Farbe bekommen. Die Farbe des Sommers. Nein, nicht die rosarote Brille, dachte sie. Eher Orange. Ein warmer goldener Ton. Beruhigend, wärmend, sättigend. Sie fühlte sich geborgen, dankbar und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

Na ja, durch fast nichts. Sie blinzelte in die Sonne und steckte ihr langes schwarzes Haar zu einem unordentlichen Knoten zusammen. Hauptsache es kam etwas kühlender Wind an ihren Nacken.

In der Praxis gab es ein paar Patienten, um die sie sich Sorgen machte. Gestern hatte sie mit einem jungen Manager gesprochen, der seit ein paar Monaten wegen seiner Beziehungsprobleme bei ihr in Behandlung war. Zwar war er beruflich erfolgreich, aber um sein Privatleben machte er sich Sorgen. Er verbrachte seine Zeit damit, von einer Frau zur nächsten zu wechseln. Manchmal unterhielt er über einige Wochen Affären mit drei oder vier Frauen gleichzeitig. Wenn er keine Lust mehr hatte oder eine neue, scheinbar aufregendere Frau kennenlernte, tauschte er sie einfach aus. Er war ständig auf der Jagd. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher als eine feste Beziehung. Theoretisch. Praktisch tat er alles, um die Frauen zu verletzen. Es dauerte nicht lange, bis Tessa herausgefunden hatte, dass dieser blendend aussehende Frauenschwarm vor ein paar Jahren überraschend seine Mutter an Brustkrebs verloren hatte. Er wollte das damals nicht wahrhaben, hatte bis heute keine Träne vergossen oder trauern können, weil er seitdem damit beschäftigt war, sich in irgendwelche Abenteuer mit Frauen zu stürzen, die er dann doch wieder verließ, sobald es ernst wurde. Dabei war seine Stimmung ständig gereizt, und er fühlte immer eine Art Trauer, von der er nicht wusste, woher sie kam. Von Spaß, Glück oder sogar Liebe keine Spur. Dazu kamen exzessiver Alkoholkonsum und leichtsinniges Autofahren. Er forderte das Schicksal heraus und zerstörte systematisch sein Leben. Er wusste nicht, wie er damit aufhören sollte. Der Sog war zu stark. So weit waren sie inzwischen in den Therapiegesprächen gekommen.

Tessa lauschte dem Zwitschern eines Buchfinken, der sich in der nahen Birke niedergelassen hatte.

Der nächste Schritt war jetzt, die Vermeidung seiner schmerzhaften Trauergefühle zu thematisieren und einen Weg mit ihm zu suchen, wie er den Verlust seiner geliebten Mutter verarbeiten konnte.

Heute hatte sie allerdings keine Patiententermine. Sie war im Bereitschaftsdienst für das Kriseninterventionsteam. Ein anderer Teil ihres beruflichen Lebens, den sie nicht missen mochte. In dieser ehrenamtlichen Tätigkeit, setzte sie ihre psychologischen Fähigkeiten ein, um Menschen zu helfen, die gerade Opfer oder Augenzeuge eines schrecklichen Unglücks geworden waren. Brauchten Betroffene nach einem Gewaltverbrechen oder Angehörige nach einem plötzlichen Todesfall Betreuung, alarmierte die Polizei das Kriseninterventionsteam, das KIT, wie sie es nannten. Tessa und ihre Kollegen begleiteten die Polizei zum Beispiel, wenn eine Todesnachricht eines Angehörigen überbracht wurde, um den Menschen zur Seite zu stehen, die gerade die wahrscheinlich schlimmsten Stunden ihres Lebens durchmachten. Eine fordernde Aufgabe. Und trotzdem liebte Tessa sie.

Sie war guter Dinge, dass an diesem Sommertag, keine Todesnachricht einer ahnungslosen Familie überbracht werden musste. Nein, heute geschah nichts Dramatisches, der Tag war viel zu schön.

Am liebsten wäre sie an die Ostsee gefahren. Am Strand spazieren gegangen. Hätte sie in der Sonne gelegen. Ein Bad im Meer genommen. Leider ließen sich ihre heimlichen Träume heute nicht erfüllen, aber vielleicht am Wochenende? Sie wollte Torben abends darauf ansprechen. Das wäre doch ein guter Plan für die nächsten freien Tage.

Tessa stand auf, streckte sich genüsslich und griff nach der leeren Müslischale, um sie mit den restlichen Erdbeeren in die Küche zu bringen, als ihr Handy klingelte.

Da sie in KIT-Bereitschaft war, lag das Telefon auf dem Balkontisch, damit sie keinen Anruf verpasste. Aber sie war doch überrascht, als der kleine schwarze Kasten es wirklich wagte, sich zu rühren. Noch dazu schrillte er mit diesem besonderen Klingelton, den sie nur der Polizei und der Leitstelle des Kriseninterventionsteams zugeordnet hatte, deren Anruf immer am Anfang eines Einsatzes stand. Und dieser Ton zerstörte die Idylle des Sommermorgens.

Verblüfft starrte Tessa auf das Display, auf dem deutlich Leitstelle zu lesen war. Welches Unglück konnte diesen wunderbaren Tag trüben? Ihr Herz schlug plötzlich bis zum Hals – so war es immer.

Sie nahm das Handy vom Tisch und meldete sich.

»Hier spricht die Leitstelle. Es gab eine Bombendrohung auf einem Kreuzfahrtschiff im Hafen. Wir wissen noch nichts Genaues. Die Polizei fordert das KIT zur Betreuung der Passagiere an und möchte ihre Lageeinschätzung vor Ort. Fahren Sie sofort zum Kreuzfahrtterminal Altona.« Der Mann räusperte sich und klang nicht mehr ganz so souverän. »Sonder- und Wegerechte sind freigegeben.«

»Bombendrohung? Ein Anschlag?«, flüsterte Tessa. Ihre Kehle war von einer Sekunde auf die andere wie ausgedörrt.

Der Disponent schwieg.

»Kreuzfahrtterminal Altona«, krächzte Tessa. Sie hatte eher das Bedürfnis sich zu setzen, als sofort loszufahren.

»Beachten Sie Ihre Eigensicherung«, erwiderte der Anrufer nur.

Was zum Teufel meinte er damit? Begab sie sich in Gefahr? Sie wollte die Antworten auf ihre unausgesprochenen Fragen eigentlich gar nicht wissen.

Sie riss sich zusammen. »Ich melde mich.« Tessas Entgegnung kam tonlos und automatisch. Sie wollte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Drohte dem Hafen ein Bombenanschlag? Das war vollkommen unmöglich. Nicht in dieser Sommeridylle. Nicht heute. Nicht in Hamburg.

Ihre Hände zitterten, als sie die Balkontür schloss.

2

Es machte ihm nichts aus zu sterben.

Im Gegenteil. Der Gedanke auf der luxuriösen Ocean Queen in Hamburgs Hafen seinen letzten Atemzug zu tun, weckte die tiefe Sehnsucht nach Frieden in ihm.

Sein Wunsch nach Ruhe war stärker als die Angst vor dem letzten Atemzug. Er starrte auf die Decksplanken. Durfte er Christa zurücklassen?

»Lauf, Walter, beeil dich«, hörte er sie rufen.

Vermutlich sollte er genauso viel Angst haben wie der Rest der Passagiere. Sollte um sein Leben rennen. Aber ihm gefiel der Gedanke, an Bord eines Kreuzfahrtschiffes abzudanken.

Von weit her hörte er das Schiffshorn eines Containerriesen tönen. Musik in seinen Ohren. Die Dieselmotoren der Schiffe, das leise Piepsen der Van-Carrier und das Schreien der Möwen: die ganz spezielle Melodie des Hafens, seines Hafens. Der Geruch von Schiffsdiesel und Elbwasser, die vertraute Umgebung, die er kannte wie seine Westentasche. Das würde er vermissen, wenn er … plötzlich stieß ihn jemand von hinten an, und er stolperte vorwärts gegen die Reling. Um nicht auf das Deck zu stürzen, klammerte er sich an den hölzernen Handlauf und rappelte sich langsam wieder hoch. Die Menschen hasteten an ihm vorbei. Sie pressten Kinder, Handtaschen oder Rucksäcke an den Leib. Panik im Blick. Sie wollten nur runter von dem Schiff.

»Oh Gott, Walter, nun komm schon…« Ihre Stimme klang hysterisch, so kannte er sie sonst gar nicht, und schien sich immer weiter zu entfernten. Angst verändert uns, dachte er.

Eine Frau rempelte ihn an, weil sie mit ihren beiden Kindern an der Hand sonst nicht durch den engen Gang gepasst hätte. Die Kinder weinten. Sie murmelte eine Entschuldigung, und er bemühte sich, ihr Platz zu machen. Der Schweiß lief ihm über die Stirn. Er merkte seine zweiundsechzig Jahre jetzt deutlicher denn je. Ja, er wollte sterben, aber er wollte doch nicht totgetrampelt werden. Er lehnte sich zurück, gegen die Brüstung. An seinen Beinen spürte er den Rettungsring, der am Geländer befestigt war.

Sein Blick flackerte erneut über die fliehenden Passagiere. Ein Junge mit Akne im Gesicht filmte mit dem Handy die Evakuierung. Er schwenkte über die flüchtenden, verängstigten Menschenmassen. Walter seufzte. Wie viele Klicks wohl ein Video bekäme, auf dem zu sehen war, wie Walter bei einer Explosion in tausend Stücke zerfetzt würde?

Das wäre wahrlich ein heldenhafter Tod. Oder er würde über Bord geschleudert? Taucher würden nach ihm suchen, aber die Elbe gäbe ihn nicht frei.

Und das alles, weil er eine Schiffsbesichtigung für sich und Christa arrangiert hatte. Wie war er auf die Schnapsidee gekommen, auch nur daran zu denken, eine Kreuzfahrt für sie beide zu planen? Er wollte Christa mit einem von der Reederei angebotenen Besuch auf dem Luxusliner überraschen. Sie davon überzeugen, dass eine kleine Reise gut für sie beide wäre. Mal wieder unter Menschen kommen. Etwas Schönes erleben.

Stattdessen stand er nun in diesem Chaos.

Auf der anderen Seite gab es kaum etwas Besseres, als an einem heißen Sommertag im Hamburger Hafen zu sterben. Sollten die anderen um ihr Leben rennen, er entschied sich zu bleiben. Er stemmte die Beine in die Holzplanken des Decks und presste den Bauch gegen die Reling.

Die Lautsprecherdurchsage des Schiffs plärrte. Alle Passagiere sollten sich an den Sammelplätzen bei den Rettungsbuchten einfinden, um von dort evakuiert zu werden. Doch es gingen Gerüchte um, dass eine Bombe an Bord sei und explodieren könnte. Natürlich hielt sich keiner mehr daran, zu einem Sammelplatz zu gehen. Der Fluchtinstinkt siegte. Jeder war sich plötzlich selbst der Nächste.

Er wischte sich den Schweiß aus den Augen. Die Sonne brannte vom Himmel, und die Hitze war unerträglich. Oder hatte das Schiff Feuer gefangen?

Schräg unter sich sah er auf die Pier. Das Cruise Center Altona. Er kannte das Terminal. Nicht so gut wie den restlichen Hafen, aber doch sehr gut. Sein Hafen. Seine große Liebe. Dann erst kam Christa. Oder?

Wie sollte es jetzt weitergehen? Er atmete noch einmal tief durch und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, aber seine Gedanken wirbelten durcheinander, wie Blätter in einem Herbststurm.

Vielleicht war es wirklich das Beste, wenn das Schiff jetzt explodierte. Dann könnte Christa um ihren Helden trauern, und er hätte seine Ruhe. Kein feiger Suizid. Und feige war er, das hatte er heute begriffen.

Er vermochte die Gesichter der Menschen, die die Gangway runterstürzten, nicht zu erkennen. Er stand zu weit weg. Unten angekommen liefen sie entlang der Sperrgitter und von Security-Männern geleitet in das Terminal. In eine andere Welt. Die Welt der Überlebenden.

Es kamen immer noch mehr Streifenwagen. Polizisten liefen durcheinander.

»Sammelt euch, Schäfchen, sammelt euch«, murmelte er.

»What are you doing? Hurry up.«

Ein kleiner Mann in weißer Schiffsuniform schrie ihn an. Er war doch nicht taub. Er wollte sich nicht beeilen. Er versuchte, die Hand vom Arm abzuschütteln, aber der Kerl krallte sich fest wie ein Terrier in der Wade eines Einbrechers. Es tat weh. »Leave me alone!«, maulte er.

Der Mann aber zog immer weiter an ihm. Immer weiter Richtung Gangway. Dahin wollte er nicht. Er wollte das Schicksal entscheiden lassen. Nicht irgendein Sicherheitsmenschlein, das seine Arbeit zu ernst nahm. Der sprach noch immer auf ihn ein, aber die Worte verwehten.

Das Letzte, was er wahrnahm, war der Geruch der Elbe. Ein wenig moderig und wunderbar vertraut.

Er hörte eine Möwe kreischen. Schillernd und schnell jauchzte sie ihre Töne.

Dann blendete er alles aus und ließ sich treiben.

3

Walter saß auf einem Plastikstuhl. Wie war er hierhergekommen? Er erinnerte sich nicht. Er sah sich in der Halle um, erfasste aber kaum, was er sah. Zu viele Menschen, zu viel Unruhe, zu viele Eindrücke. Schlagartig setzte die Erinnerung ein: Er hatte sich weggeblendet. Dissoziieren nannte seine Therapeutin das. Eine Art Abschalten der bewussten Wahrnehmung – oder so ähnlich. Ihm war das egal, aber seine Therapeutin versuchte immer, ihm die Dinge, die ihm wiederfuhren, zu erklären. Sie meinte, es sei wichtig, dass er verstehe, wie er reagierte. Er war zwar erst zu wenigen Gesprächen bei ihr gewesen, doch musste er zugeben, dass es ihm guttat, über sich zu sprechen. Obwohl es gar nicht so leicht war, wie es sich anhörte: über sich sprechen. Ein Thema diskutieren, ja, über andere und deren Sorgen reden, auch gut, aber über die eigenen Gefühle sprechen? Das hatte er noch nie getan. Trotzdem hatte er beschlossen, sich Mühe zu geben und erkundete auf seine alten Tage noch neues Terrain.

Das Kreuzfahrtschiff, jetzt fiel es ihm wieder ein.

Er hatte es unbedingt mit Christa besichtigen wollen. Sie waren mit … wie hieß die Frau von der Reederei doch gleich? Mit einer Besuchergruppe waren sie an Bord gegangen.

War das Schiff explodiert?

Er wusste es nicht. Er schluckte trocken, als ihm dämmerte, dass er wirklich hatte sterben wollen. Wie dumm von ihm. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Deshalb saß er jetzt unversehrt in diesem Terminal. Zum Glück.

Er schaute an sich hinunter und bewegte vorsichtig Arme und Beine. Er war unverletzt. Ihm war nur entsetzlich heiß.

Schräg gegenüber bugsierte die Mitarbeiterin der Reederei ein Pärchen auf zwei freie Stühle. Sie hatte die Führung der Besuchergruppe an Bord der Ocean Queen geleitet und interessante Fakten über das Schiff, seine Besatzung und die Abläufe an Bord berichtet.

Bis das Schiff evakuiert worden war.

Und nun saß er hier.

Er besah sich das Pärchen auf den Plastikstühlen. Die Frau erinnerte ihn an jemanden. Ihm fiel nur nicht ein, an wen. Sie trug High Heels, enge Jeans an schlanke Waden gepresst und ein knappes Oberteil, das ihren Busen betonte. Ihr blondes Haar fiel ihr wirr ins Gesicht und über die Schultern. Der Mund stand ein wenig offen, der Blick irrte umher. Ihre Wimperntusche war verlaufen, das sah ziemlich komisch aus. Sie weinte.

War doch Schlimmes passiert?

Er wandte den Blick von der Frau ab und betrachtete den Mann mit dem kleinen Ohrring, der neben ihr saß. Der legte beschützend seinen wuchtigen Arm um die weinende Frau. Der Unterarm war mit einem Kreuz, um das sich Rosen rankten, tätowiert. Das Kreuz gefiel Walter. Er mochte Tattoos.

»Walter!«, ertönte eine Stimme, er nahm sie gar nicht richtig wahr, konzentrierte sich ganz auf die beiden vor ihm.

Ob der Mann gläubig war? Er sah ihm in die Augen, und der Mann erwiderte seinen Blick. Gelassen. Starr. Aggressiv? Unruhe stieg in Walter auf. Er bekam kaum noch Luft. Griff sich an das Hemd, riss den obersten Knopf auf. Luft. Er brauchte Luft. Ihm war so heiß.

»Walter!«

Die Angst überrollte ihn aus heiterem Himmel. Ihre Stimme. Und dieser Kerl. Der sollte aufhören, ihn anzustarren. In seinen Ohren rauschte es. Ein Schleier legte sich vor seine Augen. Er riss sie so weit wie möglich auf. Immer noch sah er den tätowierten Mann an. Sah, wie die Rosen auf dessen Arm ein Eigenleben zu führen schienen. Sie rankten und wuchsen über die Hand hinaus, verfärbten sich zu schwarzen dornigen Büschen.

Walter wollte nichts mehr sehen, schloss die Augen und fühlte sein Blut umso lauter durch die Adern rauschen.

Das war keine Panikattacke. Das war ein Herzinfarkt. Bestimmt hatte er einen Herzinfarkt. Warum half ihm niemand? Er flehte innerlich um Hilfe, aber die Angst schnürte ihm die Kehle zu, und es kam kein Ton aus seinem Mund.

»Walter, oh mein Gott, da bist du ja. Ich suche dich überall.«

Er gab auf.

»Was hast du, Walter? Liebling, kannst du mich hören? Bitte sprich mit mir«, bettelte sie. »Alles ist gut.«

Er hörte ihre Stimme wie durch eine Nebelwand. Dumpf. Verzerrt.

Christa. Sie hatte ihn gesucht und schon wieder hatte sie ihn rechtzeitig gefunden.

»Ja«, presste er heraus. Er konzentrierte sich so sehr darauf, sein Herz nicht explodieren zu lassen, dass er keine Kraft zum Sprechen fand.

»Liebster, wir sind wieder zusammen, jetzt ist alles gut«, wiederholte sie.

Sie zeigte mit dem Finger auf etwas, was Walter nicht fokussieren konnte.

»Wir sind in Sicherheit. Die Rettungskräfte kümmern sich um alles. Wir gehen gleich nach Hause.«

Walter machte eine vage Handbewegung. Die Hand zitterte. Christa streichelte ihn unermüdlich. Er beruhigte sich. Die Panikattacke verging. Er seufzte.

»Sind Sie in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«, sprach ihn der Mann mit den Tattoos an.

Christa antwortete nicht, sah ihn nur mit gerunzelter Stirn an. Walter riss sich zusammen.

»Danke. Wir kommen zurecht … es ist alles … zu viel.«

»Hoffentlich finden sie keine Bombe«, murmelte Christa.

»Aber nein, wir können bestimmt bald zurück an Bord«, sagte der Mann.

»Was? Sie wollen zurück auf das Schiff?«, rief Christa und griff sich ans Herz, um ihrem Entsetzen Nachdruck zu verleihen.

Damit war seine Idee mit der Kreuzfahrt wohl vom Tisch, dachte Walter. Es war sein letzter Versuch gewesen.

Die blonde Frau sah hilfesuchend zu ihrem Freund.

»Corine nimmt das alles sehr mit. Wir haben mit einer netten Besichtigungstour gerechnet …«

Christa schüttelte den Kopf. »Wir gehen nach Hause, nicht wahr, Walter?«

Er brummte eine Art Zustimmung, da ihn etwas anderes ablenkte. Direkt hinter ihm schnarrte ein Funkgerät, wahrscheinlich von einem der Polizisten, die hier überall herumliefen.

52/10 für Hundeführer. Die Hunde haben angeschlagen. Kommen Sie sofort an Bord!

Walter drehte sich um und sah in die Augen eines kleinen Manns in Uniform und mit auffälligem Schnurrbart.

Der nickte ihm zu.

Er hasst mich, dachte Walter.

4

Das rote Auto schoss laut hupend an ihr vorbei und riss Tessa aus ihren alptraumhaften Gedanken.

»Oh mein Gott …« Sie hatte den Wagen nicht kommen sehen. Tessa trat auf die Bremse und riss das Steuer herum. Die Reifen quietschten zwar, aber sie behielt die Kontrolle über den Wagen. Sie umklammerte das Lenkrad fester, atmete schneller. Der KIT-Wagen schoss vorwärts, bog direkt in die Max-Brauer-Allee ein. Gott sei Dank war die Straße frei, sonst hätte das hier böse enden können.

Tessa atmete tief ein und aus. Fing sich, versuchte, sich zu konzentrieren.

Als sie hergefahren war, hatte sie sich in einem wilden Tagtraum ausgemalt, was am Einsatzort auf sie wartete, sollte tatsächlich eine Bombe explodiert sein. Sie hatte dicke schwarze Rauchschwaden vor ihrem geistigen Auge gesehen, die ihr die Sicht vernebelten und es fast unmöglich machten, Luft zu holen. Es hatte gestunken. Nach verbranntem Gummi, nach Öl und … nach etwas Undefinierbarem.

Tessa schüttelte den Kopf, um die Bilder loszuwerden. Die Bilder, die ihr so real erschienen waren, dass ihr Herz raste.

In ihren Gedanken hatte das Kreuzfahrtschiff in leichter Schräglage quer vor ihr gelegen. Der aufgerissene Rumpf hatte knapp über dem Wasserspiegel einen Blick in das Innere des Schiffes freigegeben, als eine Windbö den Qualm auseinandertrieb.

Verkohlte Trümmerteile trieben im dunkelblau schimmernden Wasser. Auch die Pier war voller Trümmerteile gewesen. Dann hatte Tessa ihren Kopf ganz langsam nach links gedreht. Weg vom Schiff. Dorthin, wo das Elend auf sie wartete.

Klaffende Löcher in den Glasfronten des Terminals sandten wie aufgerissene Münder stumme Schreie in die Stille.

Kein Laut war zu hören.

Keine Panik war ausgebrochen.

Nur stummes Entsetzen. Und leises Stöhnen von Sterbenden.

Sie war wie in Zeitlupe einen ersten Schritt auf das Terminal zugegangen. Zersplittertes Glas knirschte unter ihren Schuhen.

Glas. Blut. Kleidungsfetzen. Ein Schuh.

Dort harrten sie, die die Katastrophe hatten mitansehen müssen.

Sie warteten auf Hilfe.

Warum hörte sie nichts? Sie sah die Menschen doch mit geöffneten Mündern schreien!

Plötzlich setzte die Akustik wieder ein. Als ob jemand einen Schalter in ihrem Gehirn umgelegt hatte. Auf einmal hörte sie die Rufe. Die Anweisungen der Feuerwehrmänner. Namen, mit denen die Überlebenden ihre Liebsten riefen. Die Schmerzensschreie der Verletzten.

Die Klagen hallten durch ihren Kopf. Steigerten sich zu einem kreischenden Crescendo.

Dann hatte sie begriffen, dass es keine realen Schreie waren, sondern ein Auto, das wiederholt gehupt hatte, um sie aus ihren viel zu realen Gedanken zu reißen. Sie war nur knapp einem Zusammenstoß entkommen. Und jetzt saß sie hier, in ihrem Auto, musste sich endlich fokussieren und ihren Job machen. Sie musste sich einen Überblick verschaffen und aufhören, sich irgendwelchen Horrorszenarien hinzugeben. Ihre Gedanken hatten sich auf eine ungesunde Art und Weise selbstständig gemacht. Sie atmete lautstark ein und wieder aus.

Tessa bog rechts in die Klopstockstraße ab. Es war nicht mehr weit bis zum Cruise Center Altona. Sie nahm den Fuß vom Gas und warf einen Blick in den Rückspiegel, sah sich selbst an. Für einen Moment huschte ein gequältes Lächeln über ihr Gesicht. Sie musste sich beruhigen. Ihre Wangen rot erhitzt, Schweißperlen auf der Stirn und das Haar derangiert zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden. Souveränität sah anders aus.

Und souverän sollte sie jetzt sein. Die Menschen warteten auf Helfer und hofften, dass dann alles gut sei. Niemand fragte sich, wie es den Rettungskräften in solchen Situationen erging, wie sie die Bilder, Gerüche und Geräusche verarbeiteten, denen sie am Einsatzort ausgeliefert waren. Tessa fühlte sich nicht vorbereitet auf eine Bombenexplosion. Niemand war das. Man konnte sich nicht wappnen für so etwas, egal wie oft man den Ernstfall geprobt hatte. Was waren schon gut vorbereitete und im Ablauf genau geplante Katastrophenschutzübungen gegen die Realität?

Tessa wischte sich die Hände an ihrer Jeans trocken. Neben ihrer Anspannung trug die Hitze das Übrige zu ihrer überhöhten Körpertemperatur bei. Strahlender Sonnenschein, der von einem makellos blauen Himmel schien und vom Radio angesagte 28 Grad schickten sich an, diesen Tag zu einem perfekten Strandtag zu küren – vollkommen ungeeignet, der schwärzeste Tag Hamburgs seit der großen Sturmflut von 1962 zu werden.

»Jetzt hör aber auf«, murmelte sie. »Verkneif dir diese Schwarzmalerei. Du weißt überhaupt nicht, was los ist.«

Tessa bog aus der Großen Elbstraße in die Van-der-Smissen-Straße ein. Gleich müsste sie einen ersten Blick auf das Schiff erhaschen können. Sie streckte sich, um besser sehen zu können. Zunächst tauchte allerdings ein Streifenwagen vor ihr auf, der mit blinkendem Blaulicht die halbe Fahrbahn verstellte. Sie schaltete das Martinshorn aus und rollte langsam auf ihn zu.

Tief durchatmen. Es ging los. Konzentrier dich, mahnte sie sich. Deine erste Aufgabe hast du geschafft. Du bist am Einsatzort angekommen. Nun orientierst du dich und sammelst Informationen. Verschaffst dir einen Überblick, so wie immer, das kannst du. Los jetzt.

Der Polizist an der Absperrung wollte sie durchwinken, aber Tessa hielt neben ihm an und ließ das Fenster herunter.

»Wie sieht es an der Pier aus?«, fragte sie. Zitterte ihre Stimme?

»Alles ruhig.« Der Mann zuckte desinteressiert die Schultern.

»Ruhig? Es ist also keine Bombe explodiert?« Ihre Stimme zitterte tatsächlich.

Der junge Polizist war nicht aus der Ruhe zu bringen. »Ich hab keine Explosion gehört. Hier ist alles ruhig, wie gesagt.«

Tessa fuhr langsam weiter. Sie schaltete die Klimaanlage aus und merkte, wie sie trotz der Hitze fröstelte.

Entwarnung? Alles halb so schlimm? Hatte ihre blühende Fantasie ihr einen Streich gespielt? Ihr Herz klopfte noch immer, und sie hatte einen trockenen Mund.

Die Macht der Bilder. Die Macht der Gedanken. »Tja, es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Art und Weise wie wir über sie denken«, sagte sie in die Stille. Das erzählte sie ihren Patienten ständig … jetzt hatte sie es am eigenen Leib erfahren. So wie wir denken, so fühlen wir uns auch. Und ihre Vorstellungen waren weit an der Wirklichkeit vorbeigegangen. Ein Irrweg, denn von Verwüstung, Chaos und Verletzten war weit und breit nichts zu sehen. Tessa zählte leise bis zehn und atmete tief durch.

Am Terminal angekommen, stieg sie aus dem Wagen, zog sich ihre KIT-Weste über, klemmte den KIT-Ausweis gut sichtbar daran und ging an den Löschfahrzeugen der Feuerwehr vorbei auf den Eingang zu. Drinnen, in der Halle, wuselten hunderte Reisende durcheinander.

Keine Schreie, kein Stöhnen, keine Toten, keine Verwüstung.

Alles nur geträumt. Tessa war erleichtert.

Ein stämmiger Polizist kam auf sie zugeeilt. Tessa hörte ihn ins Funkgerät sprechen. Das Kriseninterventionsteam ist da. Es knisterte, als die prompte Antwort kam. Soll beginnen, ich komme.

»Moin«, sagte er.

Moin. Ein Wort. Ein Wort nur, aber es vermochte ihr eine riesige Last zu nehmen. Wenn Ruhe und Gelassenheit für ein lapidares Moin war, konnte es nicht so schlimm sein. Tessa konnte sogar kurz lächeln. »Was ist passiert? Keine Bombenexplosion?«

»Eine Bombendrohung. Wir evakuieren die Ocean Queen.« Der Polizist wies in die entgegengesetzte Ecke der Halle. »Wir richten ein improvisiertes Betreuungszentrum für die Passagiere ein. Einige der älteren Herrschaften reagieren verängstigt auf die Gerüchte.«

»Sind wir so nahe am Schiff überhaupt sicher?«

Der Polizist zuckte mit den Schultern. »Ich nehme mal an, der Polizeiführer weiß, was er tut.« Er grinste.

Tessa seufzte erleichtert. »Herrje, ihr habt mir echt Angst gemacht. Ich hab mir die schlimmsten Szenarien ausgemalt.«

»Der Einsatzleiter kommt gleich und erklärt dir alles.« Er wies mit einer ausladenden Geste und einer kleinen Verbeugung in den Terminal, als wolle er ihr die Tür zum Ballsaal öffnen, um den Tanz zu eröffnen.

Tessa schätzte, dass mehrere hundert Menschen in der großen Halle auf Bierzeltbänken und Plastikstühlen saßen und in Grüppchen zusammenstanden. Die Passagiere waren offensichtlich unverletzt, obwohl sie ein paar Sanitäter umherlaufen sah. Tessa überlegte, dass fünf KIT-Kollegen für die Nachalarmierung reichen sollten, dann würden sie die Situation meistern können.

»Ist die Evakuierung schon abgeschlossen?«

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Wir wissen noch nicht, wie viele Passagiere an Bord waren, aber die Zahlen müssten jeden Moment kommen. Nützt uns aber nicht viel, da die Menschen hier in der Halle noch nicht registriert sind. Es dauert noch, bis wir wissen, ob Passagiere fehlen. Es gibt wenige Verletzte. Die meisten haben Knochenbrüche durch Stürze erlitten. Die Sanitäter kümmern sich darum.«

Tessa ging ein paar Schritte in das Terminal hinein, um einen besseren Blick aus den großen Fenstern auf die Pier zu bekommen. Sie war neugierig.

Was war passiert?

Nichts.

Die Panoramafenster waren intakt und ließen den Blick auf die Pier frei. Dort lag die Ocean Queen vor dem strahlend blauen Himmel, als könne sie kein Wässerchen trüben.

Eine Explosion?

Sie suchte nach dem zerstörten Rumpf, den sie noch vor ein paar Minuten plastisch vor Augen gehabt hatte. Kein Loch in der Schiffshaut. Stattdessen sah sie den mit grafischen Mustern in verschiedenen Orangetönen gestalteten Bug, auf dem sich der Schriftzug Ocean Queen hinzog. Auf Höhe der Pier begannen die Reihen mit den Bullaugen, darüber die Decks mit Balkonkabinen und den Glasfronten der Restaurants. Alles unversehrt, genauso wie es sein sollte.

Tessa drehte sich um und ging zurück zur Tür. Sie nahm ihr Handy und rief die KIT-Kollegen, die mit einem weiteren Wagen auf der Anfahrt waren, an. Sie konnten mit der Betreuung beginnen. Je nachdem, wie lange die Menschen hier ausharren mussten, bräuchten sie Informationen, Zuwendung, Essen, Trinken, Medikamente und Beschäftigung. Es bauten sich Spannungen auf, wenn hunderte Menschen über eine längere Zeit in einem Raum saßen, das war normal, das würden sie auffangen müssen. Noch wirkte alles sehr friedlich. Stimmengewirr und sogar vereinzeltes Lachen waren zu hören.

Aber das konnte sich jeden Moment ändern.

5

»Du liebe Güte, hier ist aber jemand vom Kurs abgekommen«, sagte Michael Liebetrau und grinste von einem Ohr zum anderen. »Das große Gedeck – für nichts. Herrlich!«

»Nichts? Immerhin eine Bombendrohung und irgendwo auf dem Schiff liegt eine Tote«, antwortete Torben Koster. Sie waren ehrfurchtsvoll stehen geblieben, nachdem sie aus dem Terminal auf die Pier getreten waren. Koster staunte über das Polizei- und Feuerwehraufgebot, das sich auf der Pier tummelte. Ein Teil davon lief geschäftig in das Terminal, andere standen leise plaudernd in Grüppchen beisammen. Er schirmte seine Augen mit der Hand vor der gleißenden Sonne ab, um sich in Ruhe umzuschauen. Direkt vor ihnen lag die strahlend weiße Ocean Queen mit dicken Trossen vertäut. Die Mordkommission sollte sich um einen ungeklärten Todesfall an Bord kümmern, das war der Grund, aus dem sie hier waren. Eine Frau lag tödlich verletzt in einer Abstellkammer und viel deutete auf ein Verbrechen hin.

»Wetten? Das Tötungsdelikt klären wir in den nächsten drei Tagen.« Liebetrau kramte umständlich ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich mit einem leidenden Seufzer.

»Erkältet?«, fragte Koster und wandte sich seinem Freund und Kollegen zu.

»Da ist etwas im Anmarsch. Ich hab die Symptome im Internet recherchiert. Entweder bekomme ich eine mörderische Sommergrippe oder hab einen defekten Vergaser. Um was wetten wir?«

»Ich tippe auf den defekten Vergaser.« Koster grinste.

Liebetrau rollte mit den Augen. »Wir klären den Fall in drei Tagen!«

»Drei Tage? Das schaffen wir nie. Schau lieber mal, wie wunderschön dieses Schiff ist! Hast du schon mal eine Kreuzfahrt gemacht?«

»Länger brauchen wir nicht. Die Anzahl der Verdächtigen ist begrenzt. Crew und Passagiere. Zur Not vernehme ich jeden einzeln. Kein Problem. Drei Tage.«

Koster kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Der Verlierer gibt ein Fischfrühstück für das ganze Team aus?«

Liebetrau zögerte, als rechne er aus, was es ihn kosten würde, sollte er die Wette verlieren. Er schlug ein. Koster schätzte Liebetraus Intuition, aber drei Tage …? »Und? Hast du?«

»Was?«, fragte Liebetrau und schaute sich mürrisch um. Koster wusste, dass Liebchen es nicht mochte, wenn viele Menschen um ihn herum waren. Nicht an einem Tatort. Er wollte alles unter Kontrolle behalten. Und die Erkältung ließ seine hypochondrischen Ängste aufblühen. »Meinst du, Tessa mag Kreuzfahrten?«

»Oh Gott, deine gute Laune ist nicht auszuhalten. Jetzt willst du auch noch deinen Urlaub auf irgendeinem Dampfer verbringen, um Tessa zu gefallen. Ehrlich, das geht entschieden zu weit. Das halte ich in meinem Zustand nicht aus.« Er stoppte abrupt vor einem Schutzpolizisten, der sich ihnen breitbeinig in den Weg stellte, als sie die Gangway betreten wollten. »Was?«, blaffte Liebetrau.

Koster begrüßte den Kollegen freundlich, bevor Liebetraus bärbeißige Art ihn vor den Kopf stieß. Wenn der wüsste, was für ein großes Herz Liebchen hatte. »Guten Morgen. LKA 41.« Er lächelte aufmunternd und hielt seinen Polizeiausweis hoch. »Ich hoffe, der Kapitän erwartet uns?«

»Ach so, ja. Bitte nehmt die Gangway und dann nach achtern durch«, antwortete der Schutzpolizist.

»In den Allerwertesten der Luxuskarosse«, brummte Liebchen und schnalzte verächtlich.

Koster schubste ihn vorwärts. »Benimm dich. Wir sind an Bord zu Gast. Warum bist du so negativ?«

»Ich bin todkrank. Und wieso zu Gast? Das ist mein Tatort«, echauffierte er sich. »Meiner!«

»Ruhig, mein Bester, der Kapitän lädt uns bestimmt zu einem Kaffee ein. Vielleicht bekommen wir sogar eine Schiffsführung …«

Liebetrau verzog angeekelt den Mund und drängelte sich wortlos zwischen den Passagieren, die immer noch das Schiff verließen, die Gangway hinauf. Im Foyer sprach sie ein bärtiger Mann in weißer Uniform der Ocean Queen an.

»Guten Tag, die Herren. Ich bin der Chief Purser an Bord und begleite Sie zum Kapitän.«

Liebetrau zog fragend eine Augenbraue nach oben.

»Ich bin verantwortlich für die Crew des Schiffes. Der Kapitän bat mich, Sie abzuholen. Sie wurden uns angekündigt.«

»Das ist sehr nett von Ihnen. Kriminalhauptkommissar Koster und Kriminaloberkommissar Michael Liebetrau.« Koster strahlte den Mann an. Ihm gefiel dessen ausgesuchte Höflichkeit. »Wir sehen uns erst den Tatort an und kommen anschließend mit unseren Fragen zum Kapitän.« Nun würde sich entscheiden, wie ernst die Freundlichkeit gemeint war.

»Gerne. Folgen Sie mir bitte.«

»Na, geht doch«, murmelte Liebchen und bekam von Koster erneut einen Rippenstoß.

Er fing an, sich an Bord der Ocean Queen wohl zu fühlen. In seinem Freundeskreis kannte er niemanden, der schon einmal eine ausgedehnte Schiffsreise gemacht hatte. Er erinnerte sich, dass ein Kollege einmal von einer Fahrt zum Nordkap berichtet hatte. Vielleicht etwas kalt für den Anfang? Aber sicher gab es auch schöne Reisen durchs Mittelmeer. Ob Tessa so etwas mochte?

Sie fuhren schweigend mit dem Fahrstuhl zwei Decks nach unten, und der Purser führte sie durch die Gänge ins Heck des Schiffes. Dann öffnete er eine Stahltür und blieb stehen. Koster sah die Spurensicherung am Ende des Ganges arbeiten.

»Ich warte hier auf Sie«, sagte der Mann.

Koster nickte ihm dankbar zu. Er bewunderte die stilvolle Diskretion des Pursers.

»Eine Frage habe ich noch.« Liebetrau hielt den Mann auf. »Die Evakuierung … läuft das immer so? Es sah ziemlich improvisiert aus, wie sich da alle über die Gangway drängelten. Koordiniert das niemand?«

Der Mann sah sie einen Moment aus unergründlich dunklen Augen an. »Es gibt kein Konzept, welches auf eine Evakuierung im Hafen angewandt werden kann. Da sind wir doch eigentlich in Sicherheit. Wir dürfen auch nicht tausende Passagiere über eine Gangway evakuieren. Wenn hingegen auf hoher See etwas passiert, haben wir Pläne, wie wir die Menschen über die Rettungsboote evakuieren. Aber im Hafen lässt man ja keine Rettungsboote zu Wasser. Diesen Platz brauchen die Löschboote der Feuerwehr.« Er hob fragend eine Augenbraue. »Verstehen Sie? Die Menschen müssen auf dem Schiff bleiben, so ist es vorgesehen. Sie dürfen das Schiff eigentlich gar nicht verlassen, sondern müssen so hoch es geht nach oben und an Deck gehen. Würde das Schiff tatsächlich sinken, wären sie dort in Sicherheit, denn das Hafenbecken ist nicht tief.« Er seufzte. »Aber wie bringt man Menschen, die in Panik sind, dazu, nicht fluchtartig das Schiff zu verlassen, wenn sie irgendeine Möglichkeit dazu haben?«

Liebchen setzte den Gedanken fort: »Das Schiff hat nur eine Gangway und da drängeln sich dann tausende Menschen gleichzeitig hinunter. Ein Wunder, dass nicht mehr passiert ist.«

Der Purser nickte. »Die Passagiere wollten nur noch an Land und die wenigen Meter überbrücken, um in Sicherheit zu sein.«

»Und dabei gehen sie über Leichen«, murmelte Liebetrau.

6

Tessa stand im Terminal und ließ das Chaos auf sich wirken. Es kamen immer noch mehr Menschen vom Schiff herunter in die Halle gehastet und versuchten, sich zu orientieren. Vor allem die älteren Passagiere waren zwar heilfroh von Bord zu sein, aber die Kraft schien sie in dem Moment zu verlassen, in dem sie den Trubel im Betreuungszentrum wahrnahmen. In der Halle war es heiß und stickig, und der Geräuschpegel der vielen aufgeregt schwatzenden Menschen hüllte sie ein wie in eine Zwangsjacke, aus der man sich nicht befreien konnte.

In diesem Augenblick legte sich ihr von hinten eine Hand auf die Schulter und Tessa wirbelte herum. Vor ihr stand ein Mann in Jeans, weißem Hemd und Sakko, der ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Die Kleine weinte bitterlich.

»Hören Sie, bitte, das Kind hier, das ist nicht meines. Es stand alleine oben auf dem Deck und weinte. Es hat seine Mutter verloren. Können Sie sich um das Kind kümmern und die Mutter finden, bitte.« Er schob Tessa das Kind in die Arme, als hätte das Mädchen eine ansteckende Krankheit.

Tessa schätzte die Kleine auf fünf Jahre. Sie kniete sich zu ihr. »Hallo. Ich bin Tessa. Ich helfe dir, deine Mutter zu finden. Ich bleibe bei dir, bis wir sie gefunden haben. Dir passiert nichts, in Ordnung?!«

Das Mädchen schluchzte noch lauter.

»Wie heißt du? Komm, lass uns aus dem Gedrängel hier rausgehen.« Tessa stand auf und zog das Mädchen ein paar Schritte an die Seite. Der Mann im Sakko war nicht mehr zu sehen. Sie kniete sich wieder hin.

»Lisa«, piepste die Kleine.

»Lisa. Das ist ein schöner Name. Sag mal Lisa, warst du alleine mit deiner Mama auf dem Schiff oder war dein Papa auch dabei?«

Die Kleine schüttelte den Kopf.

Okay, also kein Vater. Tessa streichelte dem Mädchen langsam über den Arm. »Du machst das prima. Wir finden deine Mutter und dann …«

»Und was ist mit Pinkie?« Heftige Schluchzer erschütterten den kleinen Körper.

»Pinkie? Ist das dein Bruder?«

Lisa schüttelte energisch den Kopf und schrie Tessa beinahe an: »Das ist doch mein Hase. Mein Stoffhase. Der ist auf der Bank liegen geblieben, deshalb bin ich doch zurückgelaufen und hab plötzlich die Mama nicht mehr gesehen.«

Der Schmerz dieser beiden Verluste schien die Kleine förmlich zu zerreißen. Und doch lächelte Tessa, denn angesichts der eigenen Verzweiflung, die sie in ihrem Tagtraum erlebt hatte, war dieses Problem eine wahre Wohltat. »Eins nach dem anderen. Zuerst suchen wir deine Mama und dann finden wir heraus, ob Pinkie nicht auf der Bank auf dich wartet.«

Tessa stand auf und reichte Lisa die Hand. Die Kleine ergriff sie und drückte so fest zu, als habe sie Angst, neuerlich einen Erwachsenen zu verlieren. Tessa ließ ihren Blick über die Menschenmassen schweifen. Wie sollte sie in diesem Gewirr die Mutter der Kleinen ausfindig machen? Sie sah lächelnd auf das Mädchen hinab, die ihren Blick erwartungsvoll erwiderte. Sie vertraute den scheinbar grenzenlosen Fähigkeiten eines Erwachsenen.

»Wir probieren es zuerst bei den Sanitätern.«

Kurze Zeit später fanden sie nicht nur einen improvisierten Informationsstand, sondern auch eine in Tränen aufgelöste Mutter, die ihr Kind vor Glück, es unverletzt vor sich stehen zu sehen, beinahe erdrückte. Tessa schluckte. Wie schnell sich das Leben wandelte. Zur falschen Zeit am falschen Ort und schon war das eigene Kind in Gefahr.

»Der Einsatzleiter der Polizei sucht sie«, unterbrach ein Sanitäter Tessas Gedanken. Er wies mit dem Zeigefinger auf eine Gruppe von Polizisten, die sich langsam entfernte. »Der zweite von rechts, der mit dem Schnurrbart.«

Tessa nickte und kniete sich zu Lisa. »Nun wartest du mit deiner Mama, bis ihr zurück an Bord gehen dürft und dann schaust du auf der Bank nach, ob Pinkie dort auf dich wartet. Er weiß bestimmt, dass du dir Sorgen machst und nach ihm suchen wirst.«

Die Kleine schaute sie aus tränenverquollenen Augen an.

Tessa stand auf und verabschiedete sich von der Mutter, die sich überschwänglich bedankte. Tessa wandte sich ab, um der Gruppe von Polizisten hinterherzulaufen, die in der Menschenmasse verschwunden war.

Sie holte sie ein und näherte sich von der Seite. Sie suchte den Blick des Einsatzleiters. Dessen dunkles Haar, die buschigen Augenbrauen und der Schnauzbart erinnerten Tessa an Tom Selleck als Magnum. Nur dass dieser etwas zu klein geratene Wasserschutzbeamte nicht annähernd so gut und fröhlich aussah. Seine spitze Nase und die hängenden Mundwinkel verpassten seinem Gesicht etwas Verbittertes.

»Hallo«, sprach Tessa ihn an. »Tessa Ravens vom Kriseninterventionsteam.« Sie reichte ihm die Hand und erntete ein gequältes Lächeln.

»Schön, dass Sie da sind. Wir schätzen, dass wir hier fünfhundert bis sechshundert Passagiere haben. Sie sehen ja selbst.«

»Ich bin mit fünf Kollegen hier. Bisher ist alles ruhig.«

Der Einsatzleiter senkte die Stimme. »Die Registrierung läuft. Die Passagiere können vorerst nicht zurück an Bord. Das komplette Schiff wird noch nach einer Bombe durchsucht. Das dauert.« Er strich sich resigniert über den Bart.

Tessa wollte gerade antworten, als sie ihn sah. Wie kam er in die Halle? Sie drehte sich, um besser sehen zu können, aber in diesem Moment schob sich eine Menschentraube zwischen sie und die Ecke, in der sie den alten Mann gesehen hatte. Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie sich vertan. Tessa wandte sich wieder dem Einsatzleiter zu, der sich aber schon einem anderen Polizisten zugewandt hatte.

Plötzlich hörte sie hinter sich eine bekannte Stimme: »Was machen Sie denn hier? Folgen Sie mir etwa?«

Sie sah in die müden Augen und das verschwitzte Gesicht ihres Patienten Walter Petersen. »Hab ich doch richtig gesehen!« Sie lächelte ihn an und gab ihm die Hand. »Waren Sie auf dem Schiff?« Sein Aussehen erschreckte sie. Das Gesicht sah fahl und eingefallen aus. Das graue Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Er wirkte, als sei er achtzig, nicht knapp über sechzig. Selbst seine Sprache klang schleppend und verwaschen. Sein kariertes Hemd hing halb aus der Cordhose heraus. Cord. Bei diesen Temperaturen?

Da der Polizist das Gespräch mit ihr offenbar nicht wieder aufnehmen wollte, wandte sich Tessa ihrem Patienten vollständig zu – er kam noch nicht lange in ihre Praxis, aber für sie war er schon jetzt ein besonderer Fall.

»Kommen Sie, Herr Petersen.« Sie zeigte auf zwei freie Stühle. Er folgte ihr kommentarlos. Tessa wiederholte ihre Frage, ob er auf dem Schiff gewesen sei? Er gehörte mit Sicherheit nicht zu den Passagieren, denn sie hatten sich erst vorgestern in ihrer Praxis gesehen. Walter Petersen hatte also gar keine Zeit für eine Kreuzfahrt gehabt.

»Sie war da«, sagte er unvermittelt und ohne Tessa anzusehen.

»Wer?«, fragte Tessa.

Er schwieg. Tessa wusste, dass sie ihn nicht drängen durfte. Er hatte sein eigenes Tempo. Mal schnell, mal unendlich langsam, das hatte sie verstanden.

»Meine Frau und ich haben eine Schiffsführung gebucht. Ich dachte, eine Kreuzfahrt wäre eine feine Sache. Aber …«

»Ihre Frau ist hier? Wo ist sie?«

»Warum ist das wichtig?«, fragte er misstrauisch und schaute sich ängstlich um.

Tessa stutzte. »Na, geht es Ihrer Frau gut? Warum ist sie nicht bei Ihnen?«

Er zeigte widerwillig mit dem Finger auf eine wenige Meter entfernt stehende Bank. Dort saß eine ältere Frau mit weißem Kurzhaarschnitt und einem schicken blauen Kostüm. Sie sah zwar ernst zu ihnen herüber, blieb aber sitzen.

»Gehen wir hinüber und Sie stellen mich Ihrer Frau vor?«

Er schüttelte den Kopf.

Sie legte ihre Hand auf seine. Es geschah intuitiv und fast hätte Tessa sie gleich wieder weggezogen. Körperliche Berührungen konnten von einem Wahnkranken schnell missverstanden werden. Walter Petersen ließ es zu. Tessa spürte förmlich, dass er einen inneren Kampf austrug. Als er endlich den Kopf hob und sie ansah, bemerkte sie die Verzweiflung in seinen Augen.

»Sie verstehen es sicher nicht, aber ich kann nicht mehr. Sie war wieder da. Die Sehnsucht.«

Tessa zuckte zusammen. Seine Todessehnsucht? Erst vor kurzem war er nach einem Suizidversuch aus der Psychiatrie entlassen worden. Ihr Kollege und Freund Paul Nika hatte ihn an Tessa überwiesen. Sie standen erst am Anfang der Behandlung und Tessa erprobte verschiedene Wege, eine therapeutische Beziehung zu dem misstrauischen Walter Petersen aufzubauen.

»Sie wollen nicht mehr leben? Meinen Sie das?«

Keine Antwort.

Tessa überlegte fieberhaft, was sie sagen sollte? Für ein Therapiegespräch war das hier weder der richtige Ort noch die richtige Zeit. Aber wenn er suizidal war, durfte sie ihn nicht gehen lassen. Sie schaute auf die Hand, die noch auf seiner lag. Sie drückte etwas zu.

»Bitte tun Sie das nicht. Deuten Sie nichts an und schweigen dann. Ich will Ihnen helfen. Haben Sie ein bisschen Hoffnung – es wird besser.« Wie konnte sie ihm klarmachen, dass sie überzeugt davon war, dass die Therapie ihm helfen würde.

Er schüttelte vage den Kopf. »Mut. Liebe. Hoffnung. Alle sterben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Er flüsterte, als spräche er mit einem unsichtbaren Gegenüber.

»Genau. Sie sind mutig. Sie lieben Ihre Frau.« Von der großen Verbundenheit zu seiner Frau hatte er ihr erzählt. Aber die Ehe allein erhält einen nicht am Leben, wenn eine Wahnerkrankung einen glauben lässt, dass das eigene Leben nichts mehr wert ist. Wenn Walter Petersen in das schwarze Loch schaute, war er in Gefahr. »Sie müssen aufhören, sich in Gedanken mit dem Suizid zu beschäftigen. Entscheiden Sie sich für das Leben.«

Petersen sah sie aus traurigen Augen an.

»Wenn Sie im Kino sitzen und ständig auf den Notausgang starren, verpassen Sie den Film. Verstehen Sie? Sie verpassen das Leben.«

Erreichten ihn ihre Worte? Tessa wartete auf eine Reaktion, als er ihr seine Hand entzog und den Kopf ruckartig hob. Er wandte sich hektisch um, als habe er die Witterung eines schlechten Geruchs aufgenommen.

»Herr Petersen, ich …«

»Schsch …« Er legte einen Finger an die Lippen. »Was hat er gesagt?«

Tessa hörte am anderen Ende der Halle einen kleinen Tumult. Ein Mann rief etwas. Sie stand auf und versuchte zu erkennen, was los war. »Ich gehe nachsehen. Sie bleiben hier, setzen Sie sich zu ihrer Frau und warten auf mich. Ich bin gleich zurück.«

»Eine Tote«, schrie jemand.

Erste Wortfetzen drangen zu ihr durch. Tessa war nicht sicher, ob sie das richtig verstanden hatte. Die Worte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer durch die Halle.

»Ein Verbrechen!«, schallte es aus unterschiedlichen Richtungen.

»Sie rühren sich nicht von der Stelle«, sagte Tessa zu Petersen.

»Ein Mörder!«

Walter Petersen begann zu schluchzen.

Tessa zögerte. Sie wollte ihn nicht einfach da sitzen lassen. Aber sie musste klären, was los war, denn die Stimme rief weiter.

»Unter uns ist ein Mörder! Ein Mörder!«

Tessa bewegte sich schnell durch die Menschenmenge auf der Suche nach dem Schreihals. Sie versuchte, sich zu orientieren, woher die Rufe kamen? Es war zwecklos. Langsam ging sie durch die Menge. Dann fiel ihr ein dichter Pulk von Männern auf, in dessen Mitte der Einsatzleiter der Polizei stand, der sie eingewiesen hatte.

Er betonte für alle Umstehenden gut hörbar, dass sie sich keine Sorgen machen müssten, die Polizei habe alles unter Kontrolle, sie wären in Sicherheit.

Tessa hob die Hand, um dem Mann ein Zeichen zu geben, mit der stillen Frage, ob er kurz Zeit habe. Er wandte sich ihr sofort zu. Vermutlich war er dankbar, keine weiteren Fragen beantworten zu müssen.

»Tut mir leid, Sie zu stören, aber sie haben es ja selbst gehört. Eine Tote? Stimmt das?«

Der Mann schob sie unsanft am Arm in eine ruhigere Ecke.

»Wir haben tatsächlich eine Leiche an Bord gefunden«, zischte er. »Die Mordkommission ist gerade angekommen. Vermutlich müssen wir alle Passagiere informieren, um zu erfahren, ob es Zeugen gibt. Verdächtige Beobachtungen. Das ganze Programm. Verstehen Sie? Das gibt eine Riesensauerei.«

Der Polizist sah sich um, ob die umstehenden Passagiere etwas von ihrer Unterhaltung mitbekamen. Keiner stand dicht genug, und er schien erleichtert.

Endlich ließ er Tessas Arm los.

Tessa runzelte verständnislos die Stirn. »Was ist passiert?« Sie rieb sich den Oberarm. Er tat weh. »Wieso Mordkommission? Wenn es bei der Evakuierung ein Opfer gegeben hat, ist das …«

»Das hat nichts mit der Evakuierung zu tun. Eine Frau liegt tot in einem Abstellraum. Hören Sie, Sie müssen uns helfen, die Menschen ruhig zu halten. Demnächst fährt das Bestattungsinstitut vor, um den Leichnam abzutransportieren, und dann lässt sich das nicht mehr geheim halten.«

Tessa neigte den Kopf. »Wer informiert die Passagiere?«

Der Mann zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht. Geben Sie nichts raus, bis ich es Ihnen erlaube.«

»Die Polizei muss Stellung nehmen. Menschenmassen bewahren nur Ruhe, wenn sie sich gut informiert fühlen.«

Der Mann seufzte. Sein Gesichtsausdruck spiegelte Tessa, dass sie ihm ein neues Problem aufbürdete. Aber sie hatte Recht und das wusste er.

»Ich schicke unseren Pressesprecher.« Er drehte sich um und wollte ohne ein weiteres Wort gehen.

»Moment«, rief Tessa, »Die Tote … weiß man … ich meine, kennt man ihre Nationalität? Wohnt sie in Hamburg? Gibt es Angehörige, die wir benachrichtigen sollen? Müssen wir die Todesnachricht an die Familie überbringen?«