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»Nur weil ich die Abgründe kenne, kann ich darüber schreiben.« - Angélique Mundt
Leila wacht auf, und ihr Leben ist nicht mehr dasselbe. Wie ist sie an diesen Ort geraten, in dieses Bett, in diese Psychiatrie? Erinnerungen mischen sich mit Ahnungen, sie hat Angst, sie weiß nicht mehr, wer sie wirklich ist. Wann ist ihr Traum zum Alptraum geworden? Und was hat sie wirklich getan?
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Zum Buch
Leila erlebt ihren ganz persönlichen Alptraum: Sie kann sich nicht an die Nacht erinnern, in der ihr Musikproduzent getötet wurde. Weder ihre Familie noch die Polizei glauben ihr, dass sie sich an nichts erinnert. Ganz plötzlich fällt Leila aus ihrem normalen Leben heraus. Sie versteht immer weniger, was wirklich passiert ist und was sich nur in ihrem Kopf abspielt.Mit Hilfe einer Psychiaterin versucht Leila, ihren verschütteten Erinnerungen auf die Spur zu kommen. Was hat sie getan? Je näher die beiden Leilas Erinnerungen kommen, umso mehr häufen sich bedrohliche Zwischenfälle auf der Akutstation der Psychiatrie, in der Leila behandelt wird. Zufall? Oder hat es einer der Mitpatienten auf Leila abgesehen? Nach und nach erkennt Leila Zusammenhänge, die ihr große Angst machen. Wenn sie recht hat, wenn diese Alpträume nun ein Teil ihrer Erinnerungen sind, dann muss sie sich und ihr Leben schützen – um jeden Preis …
Zur Autorin
ANGÉLIQUE MUNDT wurde 1966 in Hamburg geboren. Nach ihrem Studium der Psychologie arbeitete sie lange in der Psychiatrie, bevor sie sich 2005 als Psychotherapeutin mit einer eigenen Praxis selbstständig machte. Sie arbeitete 12 Jahre ehrenamtlich im Kriseninterventionsteam des Deutschen Roten Kreuz, das Menschen bei potentiell traumatisierenden Ereignissen »Erste Hilfe für die Seele« leistet. »Trauma« ist nach »Nacht ohne Angst«, »Denn es wird kein Morgen geben« und »Stille Wasser« ihr vierter Roman bei btb. Angélique Mundt lebt in Hamburg.
ANGÉLIQUE MUNDT BEI BTB
Nacht ohne Angst. Kriminalroman
Denn es wird kein Morgen geben. Kriminalroman
Erste Hilfe für die Seele. Einsatz im Kriseninterventionsteam
Stille Wasser. Kriminalroman
ANGÉLIQUE MUNDT
TRAUMA
WENN SIE SICH ERINNERT, WIRD SIE ZUR MÖRDERIN
Thriller
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Originalausgabe Mai 2021
Copyright © 2021 by btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: © Arcangel Images/Hayden Verry
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
mb · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-24143-8V001
www.btb-verlag.de
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Eine Mörderin zu sein ist leicht.
Ich steche zu.
Immer wieder hebe ich meine rechte Hand und lasse sie herunterfahren. Die Schere dringt in den weichen Körper ein.
Wenn man erst einmal den Entschluss gefasst hat, ist es ganz einfach. Die innere Haltung entscheidet.
Wenn man keinen Zweifel mehr hat, dass man töten will, kein Zögern einen bremst, dann ist es leicht.
Kurz durchzuckt mich der Gedanke, ob ich Grund genug habe, den Mann auf dem Boden vor mir zu töten? Aber wie viel Grund ist genug, um einen Mord zu begehen?
Ich sehe Blut auf dem weißen T-Shirt, es breitet sich aus, ich sehe meine Hand und die Schere, eine Wunde, einen Körper, ich höre Dave Brubecks Saxophonklänge von Take Five. Ich sehe noch mehr Blut.
Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich zugestochen habe. Der Körper auf dem Boden liegt jetzt ganz still. Ich habe ihn besiegt.
Er macht mir keine Angst mehr. Er nicht.
Plötzlich stottert die Musik. Schauer jagen mir über den Rücken. Misstöne. Quietschen. Die Musik bricht ab.
Ich halte inne. Ich bin durcheinander. Aber ich darf jetzt nicht aufhören, auf keinen Fall. Dieser Mann darf nie wieder lügen, dafür muss ich sorgen.
Hinter mir ein Geräusch. Ich blicke mich um. Da ist niemand, keiner sieht mich hier. Doch plötzlich ist sie da, eine Taube schlägt mit den Flügeln, pickt nur wenige Meter entfernt etwas vom Boden auf. Ich starre sie an.
Ihre kleinen Knopfaugen sehen mich unverwandt an, sie begreift nicht, was hier passiert.
Ich versuche wegzuschauen, ich darf jetzt nicht durchdrehen, nicht wegen einer erbärmlichen Taube, aber sie kommt auf mich zu, sie gurrt, grinst, sie schnalzt, als finge sie gleich an, höhnisch zu lachen. Sie kommt weiter auf mich zu, fast kann ich sie berühren mit meiner blutigen Hand, sie nickt mit dem Kopf, sie widert mich an, und dann höre ich es. Sie spricht. Diese verdammte Kreatur spricht zu mir.
Ginseng Abu Lasemir. Ginseng. Sie hat keine Scheu, schaut mich direkt an, kommt ganz nahe, streift mein Bein entlang, ich kann mich nicht bewegen, mir wird schlecht. Mit einem Sprung flattert sie auf den Bauch des leblosen Körpers.
Sie schaut mich an und gurrt Ginseng. Sie wird immer lauter, schreit buchstäblich auf mich ein.
Ich ertrage es nicht mehr, rucke meinen Kopf nach vorn, um sie zu vertreiben, stoße einen furchtbaren Laut aus.
Sie flattert auf und fliegt davon.
Ich schwitze, bin völlig außer Atem, mein Herz pocht, ich habe Angst, ich fühle mich leer. Jetzt, da sie weg ist, fehlt sie mir.
Traurigkeit überschwemmt mich. Wegen einer Taube?
Ich weine, rieche den metallischen Geruch von Blut und wische mir den Schweiß von der Stirn.
Ich erwache mit dem Gefühl, dass etwas Entsetzliches passiert ist. Ich atme flach und versuche, mich zu konzentrieren. Mir ist kalt. Gänsehaut überzieht meine Arme.
Wo bin ich?
Ich liege in einem Bett. Es ist nicht meins. Die Matratze ist viel zu weich. Ein Wecker tickt, und ich höre jemanden schnarchen. Ich bin nicht allein. Weißes Licht brennt, ich sehe eine helle Decke, einen großen Raum, der nicht unser Schlafzimmer ist. Ich traue mich nicht, den Kopf zu drehen, schließe lieber wieder die Augen. Von irgendwo hinter mir höre ich das gedämpfte Piepen eines rückwärtsfahrenden LKWs. Wo bin ich, und warum bin ich hier?
Es riecht nach Desinfektionsmittel oder Bleiche.
Ein Krankenhaus?
Trotz meiner geschlossenen Augen merke ich, wie sich Tränen hinter den Lidern sammeln. Ich öffne die Augen wieder und blinzle die Tränen weg. Über mir sehe ich Neonröhren an der Decke. Ich wende den Kopf endlich langsam und schaue mich um. Nur wenige Schritte entfernt steht ein weiteres Bett. Darin liegt eine Frau unter weißer Bettwäsche. Mehr kann ich nicht erkennen.
Mein Blick streift durch das Zimmer mit Linoleumboden in Holzoptik, einem Kleiderschrank und zwei roten Sesseln vor einem Fenster. Keine Geräte, Schläuche, Infusionsständer. Neben meinem Bett steht nur ein Wasserglas, es hängt keine Kleidung über der Sessellehne. Wo sind meine Sachen? Warum bin ich hier? Panik steigt in mir auf.
Ich habe Mühe, meine Gedanken zu sortieren. Was ist passiert? Bin ich verletzt? Ich bewege mich vorsichtig und spüre einen reißenden Schmerz im Bauch. Dieses Stechen bringt die Erinnerung zurück. Wie Blitze schießen mir Bilder durch den Kopf. Das Blut. Der Kommissar, der mich gehalten hat. Ich schnappe nach Luft.
»Du bist aufgewacht.« Das Zittern in der fremden Stimme ist nicht zu überhören. »Du bist also die Neue. Willkommen auf der Akutstation.«
Ich drehe mich zu der Frau um und versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen, denn ich atme immer schneller. Ich weiß, was passiert ist. Gestern Abend im Polizeipräsidium. Angst kriecht in mir hoch und drückt mir auf die Brust.
Die Frau schlägt die Bettdecke zurück, setzt sich auf die Bettkante. Sie hängt sich umständlich eine Brille an einer Kette um den Hals. Ihre grauen Haare reichen ihr fast bis zur Hüfte. Falten durchziehen ihr Gesicht, die von einem langen Leben erzählen. Ihr Blick flattert unruhig hin und her. Altersflecken haben braune Sprenkel in die leichenblasse Haut getupft. Ihre Beine sind erschreckend mager. Sie greift nach einem Rollator, der neben ihrem Bett steht und stemmt sich mühsam hoch. Ihre knotigen Finger umklammern die Griffe so fest, dass ihre Knöchel weiß werden.
Ich reagiere nicht auf ihr Lächeln. Ich bemühe mich, nicht einmal zu zwinkern. Keine Angriffsfläche zu bieten. Ich bin wie erstarrt. Aus den Augenwinkeln beobachte ich jede Bewegung der Alten.
»Du bist in der geschlossenen Psychiatrie. Sie sagen, du willst Selbstmord begehen.« Kurz bevor sie mich erreicht, dreht sie ab und führt ihre Wanderung durchs Zimmer fort. »Die lassen dich nicht mehr raus, so viel ist sicher.« Sie sieht mich aus ihren braunen Augen mitleidig an, als sie vor der Tür wendet und zurückkommt. Sie schüttelt den Kopf.
Woher weiß sie das alles? Die Frau nähert sich schlurfend dem Fenster. Direkt davor befindet sich eine Baustelle. Ich kann erkennen, dass das Zimmer im Erdgeschoss liegt. Man kann durch die Scheiben einen Bagger sehen, der Erde aushebt. Die Zähne fahren in die Erde, und quietschend hebt sich die Schaufel an. Das Piepen des Baggers beim Rückwärtsfahren ist durch die geschlossenen Fenster zu hören. Ich hasse Baustellen. Darüber ein wolkig-weißer Himmel. Regen peitscht kahle Äste gegen die Scheibe. Herbstkälte. Die Frau beobachtet mich.
Wie lange bin ich schon hier? Mein Blick fliegt zum Handgelenk der Frau. Sie trägt keine Uhr.
»Ich bin Hanne. Ich wohne in diesem Zimmer. Leila. Leila, ich mag deinen Namen.«
Ich muss Maya anrufen. Sie muss mich hier rausholen. Ich will nach Hause zu meiner Tochter. Zu Luna.
»Die anderen sagen, du hättest einen Mann erstochen. War er dein Ehemann? Hat er dir was getan?« Die Alte nickt in Richtung meines Eherings.
Ich schaue auf meine rechte Hand. Mein Ehering ist breit. Gold. Mit winzigen Diamanten. Nicolai wollte keinen schmalen, bescheidenen Ring. Er bestand darauf, allen zu zeigen: Schaut her, sie ist vergeben, sie gehört mir.
»Ich bin vielen Mördern begegnet«, fährt sie fort. »Kriegsgeneration. Aber eine Frau war nicht dabei.« Sie schaut mich mit durchdringendem Blick an.
Ich halte den Atem an. Ich liege in der Psychiatrie, und die fremde Frau hält mich für eine Mörderin. Wie zum Teufel ist mein Leben so aus den Fugen geraten? Ich möchte wieder einschlafen und in meinem eigenen Bett aufwachen. Die Uhr zurückdrehen. Um ein paar Stunden. Um eine ganze Woche. Da war noch alles in Ordnung.
Klapsmühle. Endstation. Soll ich schreien? Ist das nicht der richtige Ort, um alle Hemmungen fallen zu lassen? Einmal im Leben auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Sich gehen lassen. Nein, ich kann mich nicht noch einmal gehen lassen. Das kann ich Luna nicht antun.
Ich muss zurück zu ihr. Koste es, was es wolle.
Warum habe ich gestern nicht an sie gedacht? Im Polizeipräsidium. Warum habe ich da nicht an meine Familie gedacht? Dann wäre ich heute nicht hier, oder?
Gestern.
Der schwärzeste Tag meines Lebens.
Es begann mit dem Alptraum. Dem Alptraum, aus dem ich nicht wieder aufgewacht bin. Es war derselbe wie heute Nacht.
Damit fing es an.
Alles, woran ich mich erinnere, verschwindet immer wieder im Nebel, nur einzelne Bruchstücke tauchen auf, nicht zu fassen, keinen Sinn ergebend. Wie ich gestern abrupt aufgeschreckt bin, mir die Bettdecke vom Körper reiße, die mich zu ersticken drohte. Nach Luft giere. Nicht weiß, was passiert ist.
Wie überrascht ich bin, in meinem Schlafzimmer zu sein. Der Radiowecker auf meinem Nachttisch piepst und zeigt sechs Uhr dreißig an. Zeit zum Aufstehen, ich komme zu mir und drücke ihn aus, endlich ist Ruhe. Mein Atem beruhigt sich langsam, meine Kehle ist trocken, als ich versuche zu schlucken.
Mein Mund brennt. Und ich schmecke Blut, ich habe mir auf die Zunge gebissen. Kein Wunder, bei diesem fürchterlichen Alptraum. So einen Traum hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht. Ich möchte den Schlaf abschütteln, den Horror, der mich umklammert hält.
Und da ist Luna. Mein Augenstern, meine Tochter, die sich an mir festkrallt. Ich mache mich vorsichtig von ihr los und schleiche barfuß ins Bad. Mein Nachthemd ist nass geschwitzt. Was für ein Traum, ich erinnere mich fast gar nicht, aber zittere noch immer vor Angst, die durch meinen Körper wabert.
Es war nur ein Traum, flüstere ich und muss fast lächeln über meinen Zustand.
Die Badezimmertür lässt sich lautlos ins Schloss drücken. Für einen Moment lehne ich mich von innen dagegen. Ich muss mich beruhigen und schließe die Augen. Sofort sehe ich den blutenden Bauch des Mannes und reiße die Augen wieder auf. Mit einem Satz bin ich bei der Toilette, ich würge gelbgrünlichen Gallensaft.
Ich atme tief in den Bauch. Ein und aus. Vorsichtshalber lasse ich die Augen auf und fixiere die blau-grünen Glas-Mosaikfliesen der Wand. Die Handtuchheizung. Den weißen hohen Badezimmerschrank, das Regal mit den blauen und grünen Handtüchern, den Bastkorb für die Schmutzwäsche. Die Dusch- und Shampooflaschen auf dem Badewannenrand. Ich stehe auf, öffne das Fenster, um die kühle Herbstluft hereinzulassen und stütze mich mit beiden Armen auf das Waschbecken. Der Blick in den Spiegel lässt mich erschauern. Ich habe es befürchtet. Mein Gesicht ist kalkweiß und bildet einen verstörenden Kontrast zu meinem schwarzen Haar. Krank sehe ich aus. Fahl und ungesund. Meine Augen glanzlos, und wenn ich den tiefen Augenringen glaube, bin ich über Nacht zehn Jahre gealtert.
Ich brauche Energie.
An diesem wichtigen Tag in meinem Leben.
Niemand weiß davon.
Es ist mein Geheimnis.
Jeder normale Mensch würde vor Freude zerspringen und auf der Straße wildfremden Menschen das Glück ins Gesicht rufen. Und was tue ich? Ich schweige, aus Sorge ausgelacht zu werden, schäme mich beinahe und lasse stattdessen Horrorfilme meine Nacht bestimmen. Ich wende meinen Blick vom Spiegel ab, lasse mir Wasser über die Hände laufen und klatsche mir eine ordentliche Ladung ins Gesicht.
Nachdem ich ein paar Schlucke davon getrunken habe, wage ich einen zweiten Blick in den Spiegel. Nicht viel besser. Ich ziehe mir eine bequeme Jogginghose, ein T-Shirt und meine warme Strickjacke über, die noch von gestern Abend über dem Badewannenrand hängen. Heiß duschen kann ich auch später noch, jetzt mache ich erst mal Frühstück für die Familie und plane den Tag, eins nach dem anderen. Heute werde ich mir etwas wirklich Schickes anziehen, ich werde mein Vorhaben in die Tat umsetzen, und danach … danach werde ich einkaufen, Luna von der Kita abholen und mit ihr auf den Spielplatz gehen und anschließend … mal sehen, worauf die kleine Maus Lust hat. Nicolai wird sicher lange arbeiten, und wenn Luna im Bett ist, habe ich Zeit, mich ans Klavier zu setzen. Und wenn er heimkommt, erzähle ich ihm, dass ich unterschrieben habe. Ja, das klingt nach einem Plan. Ich muss nur den heutigen Tag überstehen.
In dem gleichen Augenblick, in dem ich mir einzureden versuche, ein Ziel zu haben, schäme ich mich. Ich versuche, mich abzulenken. Durchschaubar und hilflos, das bin ich, ich mache mir etwas vor. Heute ist kein normaler Tag. Nach heute gibt es kein normales Leben mehr. Sosehr ich auch versuche, es mir einzureden. Wenn ich dieses Badezimmer verlasse, muss ich mich der Realität stellen. Ich muss mich entscheiden.
Als ich bemerke, dass ich wieder anfange zu zittern, binde ich mir die Haare mit meinem roten Haarband aus dem Gesicht. Meine Haare sind das Schönste an mir. Lang, tiefschwarz und seidig. Das Brummen der elektrischen Zahnbürste hat einen beruhigenden Klang für meine angespannten Nerven. Ich öffne den Badezimmerschrank, um doch noch nach einer Gesichtsmaske zu suchen. Meine Hand erstarrt mitten in der Bewegung. Ich lasse die surrende Zahnbürste sinken. Wieder kommt mein Atem aus dem Rhythmus.
Das kann nicht sein. Es ist unmöglich.
Ich schließe die Schranktür. Ruhig. Mechanisch.
Meine Finger umgreifen die Zahnbürste fest, und ich drücke auf den Aus-Knopf.
Das ist nicht wahr. Es war nur ein Traum. Ein verdammter Traum.
Mir steigen Tränen in die Augen. Träume sind keine Realität. Und dieser Traum schon gar nicht. Ich schüttele den Kopf. Ich werde die Tür nicht noch einmal öffnen. Es war nur ein Traum.
Ich erinnere mich jetzt, wie ich die Zahnpasta in das Waschbecken gespuckt, mir die Tränen aus dem Gesicht gewischt habe.
Zurück ins Schlafzimmer gegangen bin.
Zu meiner Familie.
In Sicherheit.
Denn im Badezimmerschrank lag unmöglich eine Schere.
Nicht diese Schere. Die mit dem blauen Griff.
Eine blutverschmierte Schere.
Die Schere aus meinem Traum.
Hier in diesem Krankenhausbett ist es plötzlich wieder da, dieses Zittern, mit dem ich in die Küche gegangen bin, Schüssel, Löffel, Cornflakes und Milch für Luna auf den Tisch gestellt habe. Wie ich wieder nach oben gegangen bin, in unser Schlafzimmer, in dem Nicolai vor dem Kleiderschrank stand, aus dem er ein frisches Hemd holte.
Sein Rücken breit und durchtrainiert. Ich fange an zu sprechen, auf der Türschwelle stehend, mich am Türrahmen festhaltend.
»Ich habe … heute Nacht … da liegt eine blutige Schere in … unserem Schrank. Das viele Blut …« Ich stottere unzusammenhängendes Zeug und merke, ich weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll.
Nicolai zieht fragend eine Augenbraue hoch.
Hilf mir, flehe ich innerlich. Ich ziehe ihn zurück ins Bad und vor den Badezimmerschrank.
Halte die Luft an. Mein Herz rast.
Ich öffne die Tür und trete einen Schritt zurück.
Nicolai reagiert nicht.
Ich schaue ihn an. Hoffe, in seinem Gesicht Antworten auf meine Fragen zu finden.
»Leila, beruhige dich. Du bist total hysterisch.«
Ich wage einen Blick in den Schrank.
Keine Schere.
Erst recht keine blutige Schere.
Nichts.
Mir wird schwindelig, ich halte mich an Nicolai fest.
Hat er die Schere verschwinden lassen?
Warum?
Ich liege in diesem weichen Krankenhausbett, und es tauchen immer mehr Bilder in meinem Kopf auf, sie dringen in mich ein, ich drohe zwischen ihnen unterzugehen, in ihnen zu ertrinken, ich kralle mich am Laken des Bettes fest, ich zwinge mich zu atmen, ich erinnere mich an diesen Morgen, daran, wie Maya und Dorian, Nicolais Bruder, Luna abholen, wie ich ihr über die Haare streiche.
Wie genervt Nicolai ist, warum sein Bruder Luna schon wieder abholt, wie er sich Sorgen macht.
Und plötzlich fällt es mir wieder ein: Er ist tot. Der Mann, der mein Leben verändert hat, mit dem ich so viel vorhatte, ist tot. Ich kralle mich noch tiefer in die Matratze, kann kaum noch atmen und spüre die Trauer in meinem Bauch, in meinem Kopf, in meinem Herzen immer größer werden. Ich drifte wieder ab in die Erinnerung an diesen Tag danach, als ich Nicolai fragte, ob er schon Neuigkeiten habe, und er antwortete, dass es keine neuen Hinweise gebe, er weiß von nichts, ich wollte es ihm sagen, aber ich konnte nicht, und dann war auf einmal alles ganz anders. Ich erinnere mich, wie ich um Fassung ringe an diesem Morgen, wie ich versuche, mich zu konzentrieren, die Kontrolle zu behalten über diesen Tag. Und wie ich auf einmal beschließe, mitten in unserer Küche, dass ich das tun will, was wir gemeinsam tun wollten.
Ich rede unverständliche Dinge, etwas von dem Termin, aber ich kann es Nicolai nicht sagen, unmöglich, nicht jetzt, nicht so kurz vor dem Ziel. Nicolai schaut mich fragend an, fragt, was das für ein Termin sein solle, hält mich wahrscheinlich einfach für zu durcheinander und sagt nur, gut, dann zieh ein hübsches Kleid an, schmink dich, und du wirst dich besser fühlen.
Er hört mir nicht zu. Aber ich tue ihm den Gefallen und bemühe mich auch um ein normales Gespräch, sage, er habe vielleicht recht und dass das rote Kleid vielleicht eine gute Idee sei. Und ich erinnere mich an seinen Blick. Er glaubt, ich bin durchgedreht. Er fragt mich, welches rote Kleid ich meine.
Es ist Donnerstagmorgen. Acht Uhr. Ich fühle mich nicht in der Lage, ein normales Gespräch mit meinem Mann zu führen.
Ich weiß nur, ich habe dreiunddreißig Stunden ohne ihn überlebt.
Dreiunddreißig Stunden vom Rest meines Lebens.
In meinem Gehirn geben Löcher in den Schwaden der Dunstwolken winzige Informationen preis.
Wie ich ihn das erste Mal traf.
How can I explain the unexplainable? Deep within, everything is clear.
Wie der Fremde neben mir das Lied plötzlich mitsummte.
Wie ich meinen Blick nicht mehr von seinem Mund wenden konnte, aus dem Bewunderung über meinen Gesang sprach.
Wie ich den Blick gesenkt hielt. Die Scham versteckend. Den Stolz. Die unausgesprochene Einladung, die ich annahm.
Wie er mir zusah, als ich das Mikro in die Hand nahm und sang. Wie er geheimnisvoll lächelte und sich meine Stimme in ungeahnte Höhen erhob.
Wie ich mich ans Klavier setzte und in eine neue Welt eintrat.
Ich erinnere, wie wir auf dem Terrassenboden lagen und Texte schrieben. Wein tranken und uns anschauten. Wie der Wind meine Haare zerzauste und die Zärtlichkeit, mit der er sie mir hinter das Ohr strich, mich erschauern ließ.
Die Panik, die ich spürte, als ich zum ersten Mal mit den Musikern im Tonstudio stand. Sein Blick, der mir Sicherheit gab. Meine Hände, die über die Klaviatur streichelten. Der Beifall der Musiker, der mich schwindlig machte.
Ich erinnere mich an den brennenden Wunsch, Sängerin zu werden.
An den Traum, der uns beide verband.
Wie er strahlte. In die Hände klatschte. Die Welt uns in diesem Moment zu Füßen lag.
Mein Leben eine neue Richtung nahm.
An den Traum, den wir lebten.
Ich erinnere mich.
Ich kann nicht mehr.
Ich will mich nicht erinnern.
Marius.
Komm zurück. Ich brauche dich.
Stattdessen kamen sie. Die Polizisten.
Als ich die Spülmaschine einräume, klingelt es, alles geht ganz schnell. Sie sind in der Wohnung, sie fragen, ich habe keine Antworten. Sie wollen den Schlüssel zu seiner Wohnung. Sie wollen alles durchsuchen. In unserem Haus. Sie wollen, dass Nicolai nach Hause kommt und den Safe öffnet. Und dann finden sie es. Mein rotes Kleid. Es ist voller Blut.
Ich drifte weg. Ins Rot.
Um mich herum ist überall Blut. Ein dunkler See umringt von einzelnen kleineren Tropfen, die wie Satelliten um die Lache kreisen. Die Pfütze ist frisch. Dabei ist die Flüssigkeit nicht hellrot. Eher schimmernd schwarz. Ich rieche das Blut. Es ist kein unangenehmer Geruch. Etwas süßlich. Metallisch.
Ich bin aus Versehen in den Blutsee geraten. Die Spuren verwischen sich, verlieren sich im Grau des Untergrundes.
Ich habe Blut an meinen Fingern.
Blute ich? Oder ist es sein Blut?
Ich schaue mir meinen Finger mit dem Blut genau an.
Ein Tropfen fällt darauf. Kein Blut diesmal. Eine Träne. Noch eine. Viele.
Meine Tränen vermischen sich mit seinem Blut.
Ich rieche an dem Finger. Riecht es nach ihm?
Es riecht nach Eisen. Warum rieche ich ihn nicht?
Ich atme hektisch und fühle nichts mehr.
Ich betrachte den See aus Blut auf dem Asphalt.
Verändert er seine Farbe? Es wäre logisch, dass sich mit dem Auseinanderlaufen des Blutes dessen Farbe ändert, oder? Der Geruch?
Ich höre einen Schrei.
Er kommt aus mir. Von tief drinnen. Rollt durch meinen Körper, aus dem Mund und bricht sich in der Nacht.
Hallt in mir wider.
Unvermittelt ist es vorbei.
Absolute Stille breitet sich aus.
Ich starre in die Neonröhre, bis mir die Augen wehtun. Ich will den Schmerz spüren, ich will, dass alles andere in mir ruhig ist, ich will vergessen, nichts mehr verstehen. Ich habe Angst. Denn ich kann mich nicht erinnern, was nach der Verabredung mit Marius am Abend seines Todes passiert ist. Ich war die Letzte, die ihn lebend gesehen hat. Das behauptet die Polizei. Ich weiß es nicht. Der Tag verschwindet im Nebel.
Alles, was ich habe, sind diese furchtbaren Alpträume. Mein Körper zittert. Ich traue mich nicht, den Gedanken wirklich zu fassen. Ich starre mit weit offenen Augen in das grelle Licht. Was, wenn es kein Alptraum ist? Was, wenn ich mich erinnere? Die Schere. Das Kleid. Ich habe solche Angst. Angst, die mich erdrückt, zerquetscht in der Stille der unbeantworteten Frage: Was habe ich getan?
Die letzten Stunden waren eine einzige Wolke aus Grübeleien, Fragen ohne Antworten und Selbstvorwürfen. Ich habe an mein Leben gedacht und an den Schaden, den ich angerichtet habe. Was habe ich in jener Nacht getan? Ich spüre wieder genau, wie der Kommissar mir nicht glaubt, dass ich mich nicht erinnere. An den Abend, an dem Marius starb.
An den Abend, an dem Marius getötet wurde.
An den Abend, an dem meine Träume zerbrachen.
Seither ist es still um mich herum. Als ob alle Töne mit ihm gestorben seien.
Was ist, wenn der Kommissar recht hat?
Was ist, wenn meine Erinnerung mir zeigt, dass ich eine Mörderin bin?
Marius und ich hatten keine Liebesbeziehung im eigentlichen Sinne. Wir waren verbunden durch die Musik. Und er hat mich gesehen, natürlich, das hat mich verändert.
Mit ihm fand ich meinen Traum vom Glück. Ich legte meine unerfüllten Wünsche und ungesagten Hoffnungen in ihn, in die Musik. Ausdruck all dessen, was mich beschäftigte. Es hätte alles perfekt sein können.
Nur Nicolai interessierte sich nicht für mein neues Leben. Ich war gekränkt. Für Nicolai war ich nur die Mutter seiner Tochter, sonst nichts. Ich bräuchte nicht arbeiten, sagte er. Das hätten wir nicht nötig. Ich sollte erneut schwanger werden. Er wünschte sich einen Jungen.
Ich träumte von einem anderen Leben. Nur traute ich mich nicht, das zu sagen. Und bis ich Marius kennenlernte, traute ich mich nicht, irgendetwas für meine Träume zu tun.
Ich habe mit dem Gedanken gespielt, einen Brief an Nicolai zu schreiben. Mir alles von der Seele zu schreiben. Mir hilft es, meine Gedanken auf diese Art zu äußern. Es kommen andere Worte dabei heraus, wenn man die Ansichten aus dem Kopf heraus und zu Papier zu bringen versucht. In meinen Songs ist es genauso. Ich habe eine Idee, eine Geschichte im Kopf. Wenn ich am Klavier sitze und die Melodie spiele, sprudeln andere Begriffe aus meinem Mund. Kraftvoller und eleganter. Ich wollte ihm alles erzählen. Davon, dass ich meinem Traum so nahe war, dass Marius und ich unser Demoband an eine Plattenfirma geschickt hatten. Dass ich es erst für einen Witz gehalten hatte, eine Art Mutprobe, die aber auf einmal Wirklichkeit geworden war: Wir hatten den Termin. Wir sollten an diesem Tag wirklich einen Plattenvertrag unterschreiben. Der wichtigste Tag in meinem Leben.
Zu dem Brief ist es nie gekommen. Ich habe versagt. Ich habe nicht mehr um sein Vertrauen gekämpft, nachdem Marius da war. Ich habe mich in der Musik verloren. In dem Gefühl der Freiheit. Ich liebte diese Welt. Sie berauschte mich.
Deshalb habe ich meinen Mann angelogen. Ich erzählte ihm weder von den Studioaufnahmen noch von einer Reise nach London. Ich sagte, ich sei mit den Müttern aus der Kita-Gruppe unterwegs. Ich erklärte mein Strahlen und die glückliche Erregung nach einem Tag im Tonstudio mit Shoppingerfolgen.
Absurd, lächerlich! Und sofort zu durchschauen.
Aber Nicolai merkte nichts.
Und ich wollte Marius und dieses Leben mit ihm nicht mehr aufgeben. Ich wollte glücklich sein.
Ich bin nicht stolz auf meine Lügen.
Ich schäme mich. Und ich bin wütend auf mich.
Aber hat mich das etwas tun lassen, was niemals jemand von mir gedacht hätte, am wenigsten ich selbst?
Inzwischen hat sich das Licht im Zimmer verändert. Die Rollos sind halb nach unten gefahren, der Baulärm ist gerade nicht zu hören. Hanne liegt reglos auf ihrem Bett. Ich muss eingeschlafen sein. Ich bin so unendlich müde und erschöpft. Ich vermisse Luna, mein kleines Baby, ich sehne mich danach, an ihren Haaren zu riechen, sie im Arm zu halten. Sofort laufen mir Tränen über das Gesicht. Was hat Nicolai ihr erzählt? Was hat sie von all dem mitbekommen? Sie war mit ihrer Tante und ihrem Onkel im Tierpark, als die Polizei da war. Und als sie mich mitgenommen haben. Ich kriege das Kleid nicht aus meinem Kopf. Das Blut. Ich erinnere mich an das Büro des Polizisten. Keine Zelle, kein dunkler Verhörraum, einfach ein ganz normales Büro, zwei Computer auf Schreibtischen voller Akten stehen sich gegenüber. Jetzt fällt mir auch sein Name wieder ein: Thomsen. Ich sehe ihn vor mir, wie er eine Stehlampe auf einen sanften Lichtschein herunterdimmt, so dass es beinahe behaglich wird. Er bedeutet mit der Hand, dass ich mich an den Tisch setzen soll. Ungefragt schenkt er zwei Gläser mit Wasser ein und schiebt mir eines herüber. Ich bin nicht durstig. Ich bin schwer. Die Last, die ich auf mir spüre, erdrückt mich. Die Schmerzen wüten in meinem Kopf.
Auf dem Gang sind streitende Stimmen zu hören. Ich ertrage die Geräusche dieser Welt nicht länger. Thomsen steht auf und schließt die Tür. Wohltuende Ruhe setzt ein. Ich atme angestrengt ein und aus.
Er sagt mir, er vernehme mich als Zeugin, müsse ein paar Dinge verstehen, sagt mir aber auch, dass es nicht gut für mich aussehe, sollte das Blut auf meinem Kleid von Marius sein.
Er greift nach einem Aktendeckel und einem Diktiergerät und legt beides auf den Tisch zwischen uns. Er mustert mich.
Er startet die Aufnahme und nennt das Datum, Uhrzeit und unsere beiden Namen. Es ist wie in einem Film.
»Warum, glauben Sie, musste Marius Hofer sterben?«, fragt er. »Ich werde Ihnen zeigen, was mit Marius Hofer passiert ist. Ich möchte, dass Sie verstehen, warum ich Sie nicht in Ruhe lassen kann. Ich bin ihm verpflichtet. Ich werde herausfinden, wer ihm das angetan hat. Und ich möchte verstehen, wie es dazu kommen konnte. Können Sie mir helfen?«
Ich weiß es nicht. Ich bin benommen. Ich will nicht mehr.
»Frau Galayan, wir haben bislang nicht gefunden, was wir bei Ihnen gesucht haben. Keine Tatwaffe, kein Handy, keinen Schlüssel zu seiner Wohnung. Dafür ein blutbeflecktes Kleid.«
Er lässt mir Zeit.
»Die Tat ist außergewöhnlich brutal gewesen. Die Tötungsart spricht aus meiner Erfahrung nicht unbedingt für eine Frau als Täterin. Andererseits können Frauen, die in die Enge getrieben werden, gnadenlos sein. Sie hatten eine Affäre mit dem Opfer, und Sie haben kein Alibi. Hatten Sie Streit?«
Er wartet.
»Sie müssen verstehen, dass ich mir von Ihnen Antworten erhoffe.«
Was soll ich sagen?
»Wie viele Schlüssel hatte Herr Hofer zu seiner Wohnung?«
Ich kneife die Lippen zusammen. Ich weiß es nicht.
»Die Wohnung von Herrn Hofer war nicht aufgebrochen. Der Täter muss einen Schlüssel gehabt haben. Nach Auskunft des Vermieters hatte Herr Hofer zwei Schlüssel. Seine Tür ist mit einem Sicherheitsschloss versehen, so dass er die Schlüsselkarte vom Vermieter hätte anfordern müssen, hätte er sich weitere Schlüssel nachmachen lassen wollen. Einen Schlüssel haben wir in der Wohnung an seinem Schlüsselbund gefunden. Herr Hofer hatte nach Auskunft der Nachbarn keine Putzfrau. Es ist außer Ihnen nie jemand mit ihm in der Wohnung gesehen worden. Ich vermute, dass Sie den anderen Schlüssel haben. An Ihrem Schlüsselbund war er nicht. Bei der Hausdurchsuchung haben wir ihn bisher nicht gefunden, aber die Kollegen sind noch nicht fertig. Wo ist der Schlüssel?«
Ich höre die Ungeduld in seiner Stimme. Er möchte, dass ich ihm Antworten gebe. Ihm erkläre, was in der Tatnacht geschehen ist. Aber wie könnte ich das? Ich kann ihm nicht helfen. Ich kann mir nicht einmal selbst helfen.
»Wenn wir den Schlüssel in Ihrem Haus finden … Sind Sie zu ihm gefahren?«
Ich weiß es nicht.
»Die Wohnung war spartanisch eingerichtet, als ob er noch nicht lange dort wohnen würde. Wann ist er dort eingezogen?«
Das weiß ich nicht. Ich kenne ihn doch erst seit einem Jahr. War schon ein Jahr vergangen?
Jemand hat ihn getötet. Dort, wo er sich sicher gefühlt hat. Wo niemand hereinkommen konnte … außer mir?
»Woher stammt das Blut auf Ihrem Kleid?«
Er bringt mich mit seinen sprunghaften Fragen ganz durcheinander. Ich weiß nichts. Ich erinnere mich nicht. Er macht mir Angst.
Ich erschrecke, als ich Thomsens Hand auf meinem Arm fühle.
»Wo sind Sie mit Ihren Gedanken? Hören Sie mir zu?«
Nein, ich habe nicht zugehört.
»Beschreiben Sie mir Ihre Beziehung zu Herrn Hofer.« Er seufzt.
Marius war ein sanfter Mensch. Ein Mann voller Fantasie, Ideen und Träume. Er war … Es stimmt, ich hatte eine Beziehung zu Marius. Er war mein Musikproduzent. Mein Mentor. Mein Freund. Nicht mein Feind. Warum sollte ich ihn töten?
»Auf dem hinteren Parkplatz gibt es zwei Ausgänge. Welchen Ausgang nehmen Sie normalerweise? Den Seiteneingang Richtung Hauptstraße oder den Richtung Kirche? Und Dienstagnacht? Wo haben Sie geparkt?«
Habe ich meinen Freund im Streit getötet? Und erinnere mich nicht daran? Oder will ich mich nicht erinnern? Gibt es so etwas?
Das ist Unsinn. Flucht. Vermeidung. Verdrängung.
Ich war nicht da.
Erstmals ließ ich einen anderen Gedanken zu.
Ich war nicht da.
Aber ich habe ihn getötet.
Kommissar Thomsen tritt an die Kaffeemaschine, und ich stehe auf. Ich kann nicht still sitzen. Eine innere Unruhe treibt mich an. Ich stelle mich an seinen Schreibtisch und bemerke dort Fotos, die von ein paar Zetteln nur halb verdeckt werden. Marius. Es trifft mich wie ein elektrischer Schlag. Ich drehe mich zu Thomsen um. Er beobachtet mich. Registriert jede meiner Bewegungen. Aber er hält mich nicht zurück. Er steht da mit den zwei Espressotassen in der Hand und wartet.
Ich schiebe die Papiere zur Seite. Ich blicke nicht auf die Fotos. Ich fixiere Thomsen. Ich kann nicht lesen, was mir seine Augen sagen wollen, aber ich nehme sein Schweigen als Erlaubnis, mir die Fotos ansehen zu dürfen.
Ich hole Luft und senke meinen Kopf. Blicke auf die Abzüge.
Marius.
Ich nehme die Fotos in die Hand. Eine Ganzkörperaufnahme und eine Detailaufnahme seines Kopfes. Mein Körper reagiert. Die Schwäche kriecht meine Beine hinauf, und ich habe einen bitteren Geschmack im Mund.
Marius liegt in einer obszön großen Blutlache. Seine Arme dicht am Körper. Er hat aufgegeben. Er hatte keine Kraft mehr zu kämpfen, als er in seinem Schlafanzug im Hinterhof ankam. Was hat er in dem Hinterhof gemacht? Warum haben ihm die Nachbarn nicht geholfen?
In meinem Kopf explodiert der Schmerz. Oder ist es Marius’ Schmerz?
Das rote Kleid. Die Schere. Die Taube. Ich kann nicht mehr. Mir wird so schwindlig, dass ich mich an der Tischkante festhalten muss. Ich weine.
Thomsen stellt klirrend die Espressotassen ab.
Es ist alles wie in meinem Traum, es ist erschreckend.
Habe ich meine Tat geträumt? Ich halte es nicht mehr aus, die Welt bricht über mir zusammen, ich schreie.
Thomsen kommt um den Tisch herum.
Ich lasse die Fotos fallen und greife zu. Brülle immer weiter. Den ganzen Schmerz aus mir heraus. Die Angst. Alles.
Thomsen ruft. Packt mich von hinten. Krallt sich in meine Arme.
»Oh Gott, was tun Sie?«
Der Brieföffner in meiner rechten Hand lässt sich nicht mehr bewegen. Thomsen umklammert meine Hand mit Gewalt.
Ich hätte den Brieföffner gerne tiefer in meinen Bauch gestoßen.
Urplötzlich setzt der Schmerz ein. Einen solchen Schmerz habe ich noch nie erlebt. Er dringt mir bis in die Knochen. Höhlt sie aus. Schabt sie auf. Ich schreie. Diesmal sind es Schmerzensschreie.
Die Tür fliegt auf. Menschen rufen. Thomsen ächzt.
Der Schmerz ist infernalisch. Als ob der Brieföffner aus glühend heißem Stahl wäre und Thomsen ihn nicht festhielte, sondern in meinem Bauch herumdrehte.
Und doch ist er gut. Denn er überschreibt alles andere.
Meine Knie knicken ein, ich beuge mich vornüber, was die Schmerzen verstärkt. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass es einen solch wellenartigen Schmerz gibt. Blut rinnt durch meine und Thomsens Hände. Ich erkenne nicht, ob das Blut bis auf den Boden tropft, denn mir wird schwarz vor Augen, eine dunkle Wand rast von beiden Seiten meines Sichtfeldes auf mich zu.
Die Töne werden leiser. Es wird dunkel.
Ich lasse los. Und plötzlich bin ich Marius wieder ganz nah.
Meine Glieder sind schwer, und mein Bauch schmerzt. Es ist dieser Schmerz, der mir die Erkenntnis gebracht hat.
Ich habe es nicht geschafft. Der Kommissar hat mich umklammert, bis die Rettungssanitäter kamen. Ich lebe. Mein Versuch, dem unfassbaren Schrecken zu entkommen, ist gescheitert.
Marius ist tot. Ermordet. Die Schere im Badezimmerschrank. Mein blutiges Kleid. Die Hausdurchsuchung. Das Polizeipräsidium.
Resigniert lasse ich meine Augen geschlossen. Ich habe etwas schrecklich Dummes getan. Gänsehaut überzieht meine Arme bei dem Gedanken an die Konsequenzen, die nun auf mich zukommen. Was ist mit Luna? Was wird aus meiner Familie? Was bin ich für eine Mutter? Meine Tochter. Was denkt sie von mir?
Wie konnte das alles passieren?
Ein Wecker tickt und dieses schwere Atmen. Ich harre bewegungslos, um noch ein paar Sekunden mit mir zu haben, bevor das Leben und die Menschen mich wieder in den Würgegriff nehmen. Einen kurzen Moment, damit ich mir überlegen kann, was ich tun soll.
Ich will hier nicht bleiben. Ich muss nach Hause.
Ich öffne die Augen. Ich schaue Hanne an, sie sieht mich an. Wir sagen kein Wort.
Energisches Klopfen an der Tür unterbricht uns. Sie wird aufgerissen, und ein Mann mit kurzen grauen Haaren und weißem Kittel tritt ein, er strahlt mich an. Ihm folgen weitere Ärzte und eine Krankenschwester. Visite.
»Frau Galayan, guten Morgen.«
Er setzt sich auf mein Bett. Er ist mir unangenehm nah, und ich ziehe die Knie etwas an. Meine Bauchwunde tut höllisch weh, aber das ist egal. Ich fixiere den Blick des Arztes.
»Ich bin Professor Langara, der Chefarzt der psychiatrischen Klinik. Sie sind hier in der geschlossenen Akutstation. Haben Sie schlafen können?«
Er ist mir von der ersten Sekunde an unsympathisch. Sein Kittel hat goldene Knöpfe, er trägt eine dicke Armbanduhr. Seine Haare sind etwas zu lang und seine Zähne etwas zu weiß für sein Alter. Ich schätze ihn auf knapp sechzig. Seine Stimme klingt nasal mit einem seltsam hölzernen Klang. Ich weiß nicht, wie dieser Mann mir helfen soll.
Offenbar erwartet er keine Antwort von mir, denn er nickt einem der Ärzte zu. Der schaut auf sein Klemmbrett und referiert: »Leila Galayan ist die erste Aufnahme im Haus und insgesamt. Der Rettungswagen brachte sie gestern in Begleitung der Kriminalpolizei in die Notaufnahme. Frau Galayan hat sich im Polizeipräsidium während einer Befragung in suizidaler Absicht einen spitzen Gegenstand in den Bauchraum gestoßen. Die chirurgische Versorgung der Wunde verlief komplikationslos. Eine Operation war nicht nötig, es handelt sich um eine tiefe Fleischwunde ohne Organbeteiligung. Frau Galayan ist anschließend zu uns verlegt worden, da sie in einer ersten Kontaktaufnahme das Sprechen verweigert hat und sich deshalb nicht glaubhaft von Suizidwünschen distanzieren konnte. Die aufnehmende Ärztin hat einen Unterbringungsbeschluss nach dem Hamburger PsychKG erwirkt. Von einer Untersuchungshaft nimmt die Staatsanwaltschaft Abstand, solange Frau Galayan bei uns geschlossen untergebracht ist. Wir denken zunächst an eine Behandlung mit 50 mg Quetiapin zur Nacht.«
Der Ärztetross starrt mich an wie ein ekelhaftes Insekt. Gewalttätig, renitent und ein Fall für das Gefängnis. Nur die einzige Frau in der Entourage des Chefarztes beäugt konsequent den Linoleumboden.
Warum helfen sie mir nicht?
»Frau Galayan, Sie sind Hauptverdächtige in einem Tötungsdelikt«, sagt der Chefarzt. »Das ist eine dramatische Situation. Sie brauchen Ruhe, um sich von Ihren Suizidgedanken zu distanzieren. Die Schwester wird Ihnen gleich ein Schmerzmedikament bringen, was Ihnen guttun wird.«
Ich brauche keine Ruhe. Ich brauche ein neues Leben.
»Der richterliche Unterbringungsbeschluss gilt für mindestens eine Woche. Diese Woche sollten Sie nutzen. Sie werden sofort mit Gesprächen bei Frau Dr. Freytag beginnen«, sagt er.
Diese Hiobsbotschaft lässt mich nach Luft schnappen. Ich darf nicht nach Hause? Und sein Grinsen stört mich. Die Ärztin meldet sich zu Wort. »Warten Sie, Herr Professor … das ist keine gute Idee. Die Patientin ist noch nicht in der Verfassung für diese Art der Auseinandersetzung mit der Tat. Sie ist verletzt und …«
»Sprechen Sie täglich miteinander«, unterbricht er. »Das wird schon. Es ist ihr erster Tag heute, Frau Dr. Freytag, und ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Patientin in unserem Hause. Frau Galayan braucht eine Chance. Sie sind ihre Chance.« Dabei springt er auf und strahlt in die Runde, als hätte er einen Hauptgewinn verteilt. Niemand klatscht Beifall.
Ich bin die erste Patientin der Frau? Wie kann das sein? Ich brauche gar keine Therapie, ich möchte nur nach Hause.
Die angesprochene Therapeutin verzieht keine Miene. Sie wendet sich an eine Krankenschwester. »Bringen Sie Frau Galayan nach der Visite in mein Büro.«
»Aber … sie ist verletzt …«, widerspricht die Schwester zaghaft, »vielleicht besser am Bett …?«
»Frau Galayan wird ein paar Meter gehen können«, erwidert die Ärztin.
Mir verschlägt es die Sprache. Was hat die Frau gegen mich?
»Na prima, läuft doch«, sagt der Chefarzt und eilt aus dem Zimmer.
So schnell, wie sie gekommen sind und mein Leben noch komplizierter gemacht haben, so schnell sind sie wieder verschwunden.
Hanne liegt auf ihrem Bett und starrt Löcher in die Luft. Sie hat sich die ganze Zeit über nicht gerührt. Und die Ärzte haben sich keine Sekunde mit ihr beschäftigt. Keine einzige Frage gestellt. Warum nicht?
Ich seufze und strecke mich wieder aus. Etwas knistert auf meiner Decke. Ich ertaste einen zusammengefalteten Zettel. Wo kommt der her? Hat der Arzt ihn vergessen?
Neugierig falte ich das Blatt auseinander.
Ich weiß, was du getan hast. Ich werde dich bestrafen.
Ich kann einen Aufschrei nicht unterdrücken. Die Feindseligkeit, die die Worte ausstoßen, spüre ich im ganzen Körper.
Hanne richtet sich im Bett auf und guckt mich aus schreckgeweiteten Augen an. Fast so, als ob sie mich jetzt erst wahrnimmt.
»Wer sind Sie?«, schreit sie. »Was machen Sie in meinem Zimmer?«
Ich halte den verdammten Zettel in Händen und lese ihn immer wieder. Als ob seine Worte eine neue Bedeutung geben könnten, wenn ich nur lange genug darauf starre. Ich schaffe das nicht. Ich will endlich aus dem Alptraum aufwachen, der mein Leben ist. Hanne ist aus dem Zimmer verschwunden.
Ich weiß, was du getan hast. Ich werde dich bestrafen.
Ich bemerke, wie ich mich mit jeder Stunde, die verstreicht, weiter auflöse. Mein Selbst zerfällt. Ich bin nicht der Mensch, für den ich mich immer gehalten habe. Ich weiß plötzlich nicht mehr, wer ich bin. Das hier, das darf doch alles nicht wahr sein …
Ich sitze auf dem roten Sessel, starre aus dem Fenster und versuche mir zu überlegen, wie es weitergeht. Ich muss auf das Gespräch mit der Ärztin warten, um zu fragen, wann ich hier rausdarf.
Die Sirene eines Rettungswagens durchschneidet meinen Gedanken, und ich gehe zum Fenster, um zu sehen, wohin er fährt. Ich kann von hier aus nur die Baustelle sehen. Vermutlich entsteht hier ein neues Klinikgebäude. Die grauen Betonwände und die Stahlträger wirken im Nieselregen deprimierend. Inzwischen sind eine ganze Menge Bauarbeiter auf dem Gelände, doch vor allem eine Person fällt mir ins Auge. Es ist eine Frau mit langen blonden Haaren, die unter dem Schutzhelm herausfließen. Die Frau steht dicht neben einem Anzugträger mit gelbem Helm. Wenn sie nicht einen riesigen Plan in der Hand halten würden, könnte man denken, sie flüsterten miteinander. Doch sie beugen nur ihre Köpfe über den Bauplan.
Ich fühle mich genauso, wie diese Baustelle aussieht. Nur dass ich niemanden habe, mit dem ich mich beraten könnte. Und ich habe auch keinen Plan. Gott sei Dank kann ich mein Gesicht in der Fensterscheibe nur schemenhaft erkennen. Es sieht trotzdem erbärmlich aus. Wie konnte es passieren, dass ich von heute auf morgen in einer Psychiatrie gefangen bin?
Ich war noch nie an so einem Ort. Nicht einmal, um jemanden zu besuchen. Ich habe nur Klischees im Kopf. Ich habe Angst, mein Zimmer zu verlassen und herauszufinden, was von diesen Vorurteilen stimmt. Geschlossene Station. Was bedeutet das? Wie ein Gefängnis? Komme ich nicht mehr heraus, wenn ich es will? Ich bin selbst schuld. Aber ich will mir nicht mehr das Leben nehmen. Das werde ich der Ärztin sagen. Ich werde ihr versprechen, mir nichts anzutun. Ich bin nicht durchgedreht. Ich gehöre nicht hierher.
Meine Gedanken werden durch ein Klopfen unterbrochen. Eine Krankenschwester trägt ein Tablett mit einer Tasse Kaffee und zwei Brötchenhälften mit Marmelade herein. Frühstück.
»Das ist eine Ausnahme«, sagt sie. »Die Patienten essen im Aufenthaltsraum. Aber Sie sollen gleich zur Frau Doktor kommen.« Sie zögert. »Ihre Kleidung ist in einer Plastiktüte aus der Chirurgie gekommen.« Sie zeigt auf den Kleiderschrank. »Es ist alles blutig, das können Sie nicht mehr anziehen.« Sie öffnet eine Schranktür und inspiziert den Inhalt. »Vielleicht können Sie sich Hannes Bademantel leihen, bis Ihr Mann Ihnen Sachen bringt? Wir müssen ein wenig durch das Gebäude laufen, um zu Frau Dr. Freytag zu kommen. Es ist aber nicht weit.«
Kleidung interessiert mich nicht, aber ich brauche mein Handy, um Maya anzurufen. Hoffentlich ist es in der Plastiktüte.
»Ehe ich es vergesse: Die Tablette in der Box ist ein Schmerzmittel. Das haben die Chirurgen empfohlen. Nehmen Sie es.« Sie zeigt mit dem Finger auf das Tablett.
Ich folge ihrem Blick und starre auf die Tablettenbox.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie.
Nein. Nichts ist in Ordnung. Was für eine Frage an diesem Ort.