Stille Wasser sind fies - Gisa Pauly - E-Book
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Stille Wasser sind fies E-Book

Gisa Pauly

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Familie hält zusammen, egal was kommt!

Eva und Moritz Ellenhans machen wie jedes Jahr Urlaub auf Schloss Oberwerries – allerdings zum ersten Mal ohne die Familie. Ein wahrer Luxus! Bisher waren immer die inzwischen erwachsenen Kinder sowie Oma mit von der Partie. Doch es kommt alles anders als gedacht, denn im Schlosskeller machen die beiden eine entsetzliche Entdeckung: ein Skelett! Sie glauben sogar zu wissen, wer dort unten sein Leben ließ. Nur eines ist ihnen klar. Die Familie Ellenhans hängt tief in der Sache drin. Das Skelett muss also weg, ehe es jemand anderes findet! Allerdings ist es gar nicht so leicht, ein Skelett verschwinden zu lassen. Und so dauert es nicht lange, bis die gesamte Familie wieder auf dem Schloss vereint ist und alle tatkräftig mit anpacken …

Ein beschauliches Wasserschloss in Westfalen, eine Großfamilie mit Geheimnissen und ein Skelett, das einfach nicht verschwinden will

Gisa Pauly, die Meisterin humorvoller Familienstoffe, legt mit ihrem neuen Roman »Stille Wasser sind fies« eine turbulente Verwechslungskomödie vor. Im Zentrum stehen eine Großfamilie mit Konfliktpotenzial sowie ein Skelett, das im Laufe der Handlung so einiges mitmachen muss. Treue Leser:innen der Autorin werden den neuen Handlungsort vielleicht wiedererkennen, denn Gisa Pauly hält jedes Jahr die Premierenlesung für ihre Mamma-Carlotta-Reihe in wunderschönem Ambiente auf Schloss Oberwerries.

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: u1 berlin / Patrizia Di Stefano

Covermotiv: Alamy Stock Foto (Utterström Photography; ixstudio; Panther Media GmbH); mauritius images (Zoonar GmbH / Alamy / Alamy Stock Photos) und Shutterstock.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Stammbaum

»Natürlich, Mama! …

Sie fuhren auf …

Nachdem sie …

Die Fenster …

Sie verließen …

Moritz schien …

Über der …

Eva fühlte …

Am Abend …

Eva erwachte …

Eva angelte …

Die Sekretärin …

Sie machten …

Gegen Mittag …

Das Torbogenhaus …

Ein Rumoren …

Ein Morgen …

Eva ging …

Tippi erschien …

Alexandra und …

Bella hatte …

Was ihre …

Sie mussten …

Ingo war …

Alexandra und …

Eva ärgerte …

Mareike schien …

Am Ende …

Eva war …

Ich will …

Guten Tag …

Der Nachmittag …

Die Tische …

Eva stand …

Die fünf …

Tippi folgte …

Eva zog …

Der Ring …

Alex und …

Gegen Mittag …

Sie waren …

Unter Tippis …

Die Dachbox …

Die junge …

Ich kann …

Moritz sah …

Ingo begriff …

Evas Befürchtung …

Ingo stieß …

Ich habe …

Christoph und …

Für den …

Eva wurde …

Ingo schwieg …

Ingo las …

Als sie …

Eva stieg …

Eva merkte …

Moritz kehrte …

Hinnerk Schlewecke …

Ich will …

Eva blieb …

Graue Wolken …

Alle schreckten …

Eva merkte …

Es war …

Komische Leute …

Es wurde …

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Natürlich, Mama! Wir werden dich sicherlich sehr vermissen, aber …«, setzte Eva Ellenhans an.

Doch sie wurde von der aufgeregten Stimme ihrer Mutter Annelore unterbrochen, die sich lang und breit darüber ausließ, was sie von Kindern hielt, die ihre arme Mutter allein ließen.

»Du bist doch nicht allein …«

Aber auch diesen Satz brachte sie nicht zu Ende. Ob Eva etwa der Ansicht sei, dass die Aufsicht über eine verwöhnte Enkelin, die nicht ohne Grund den Beinamen Xanthippe trug, mit der Gesellschaft vernünftiger Erwachsener zu vergleichen sei? Wenn sie Ricarda, wie die Enkelin eigentlich hieß, zu Gesicht bekommen wolle, könne sie frühestens gegen Mittag bei ihr vorbeischauen und hoffen, dass sie dann schon aus dem Bett sei, oder aber zu einer Zeit, in der sich eine Großmutter, wenn sie auch noch so rüstig war, zu Bett begab. Dann erst bräche Ricarda zu irgendeiner Party oder in einen Club auf, und die Stunden davor habe sie mit stundenlangem Duschen und exzessivem Schminken verbracht.

»Das weiß ich, Mama! Aber du hättest ja die Seniorenreise …«

»Seniorenreise?« Dieses Reizwort hatte einen ähnlichen Effekt auf Annelore Quenzer wie der Vorschlag, den ihr Schwiegersohn leichtfertig gemacht hatte. Kurzzeitpflege! Danach war stundenlang von drohendem Herzanfall, Enterbung und lebenslanger Kontaktsperre die Rede gewesen. Jetzt schnappte Evas Mutter am anderen Ende der Leitung wieder hörbar nach Luft. »Ich bin zweiundachtzig und keine hundert.«

Diesmal war es Eva, die ihre Mutter unterbrach. »Du hättest dich auch selbst um eine Reise kümmern können. Wozu hast du den Internetkurs in der Volkshochschule gemacht? Das Netz ist voll von interessanten Angeboten für Senioren.«

»Das sagst du mir, nachdem ich seit Jahren mit euch nach Schloss Oberwerries fahre? Für die Kinderbetreuung im Urlaub war ich jahrzehntelang gut genug, aber jetzt, wo die Kinder erwachsen sind …«

Eva wurde von einer sehr laut vorgebrachten und extrem deutlich artikulierten Frage abgelenkt: »Wo muss ich abbiegen? Links oder rechts?«

»Hast du gehört, Mama?« Eva warf ihrem Mann einen anerkennenden Blick zu, zeigte ihm den erhobenen Daumen und rief ebenso laut und vernehmlich ins Telefon: »Sorry, Mama! Ich muss Moritz helfen. Er weiß nicht weiter.«

Sie beendete das Telefonat, ehe ihre Mutter auf den Navigator hinweisen konnte, mit dem ihr Auto ausgestattet war, und steckte ihr Handy weg. »Puh! Mama ist immer noch stocksauer.«

Moritz blinkte links und entschloss sich zu einem so waghalsigen Überholmanöver, als wollte er in Wirklichkeit seiner Schwiegermutter zeigen, dass die Pferdestärken unter seiner Motorhaube mit der Kraft seiner Entschlossenheit zu vergleichen waren. »Ich finde, es ist unser gutes Recht, allein Urlaub zu machen. Seit unserer Hochzeitsreise das erste Mal!« Er tätschelte Evas linken Oberschenkel, was sie nicht besonders mochte, weil sie ihre Schenkel schon früh zur Problemzone erklärt hatte, die, wenn sie sich bequem auf den Beifahrersitz lümmelte, noch problematischer wurde. Sie warf einen neidischen Blick auf ihren Mann. Athletische Oberschenkel, flacher Bauch, trainierter Oberkörper, muskulöse Arme. Dass er täglich Sport machte, sah man ihm an. Und ihr sah man leider an, dass sie täglich am liebsten auf ihrem Bürostuhl und anschließend auf dem Sofa saß.

Mit einem Mal beschlich sie Sorge. Würde das gut gehen? Oder würde es zum ersten Mal ein Problem geben, weil sie nicht gern Sport trieb? Während ihrer bisherigen Urlaube hatte Moritz mit den drei Kindern die Kanu- und Paddeltouren unternommen, war mit ihnen vor dem Frühstück zwanzig Kilometer mit dem Rennrad gefahren oder durch die Lippe geschwommen. Würde er jetzt von ihr erwarten, dass sie Radfahrerhosen mit dem Sitzpolster anzog, das sich wie eine Inkontinenzeinlage anfühlte? Und würde sie mit ihm Ausflüge machen müssen, die Ähnlichkeit mit Survivaltraining hatten? In diesem Jahr würde sie sich nicht damit herausreden können, dass die Enkelkinder betreut werden mussten. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, dass sie immer versucht hatte, den Eindruck zu erwecken, sie opfere sich als Mutter und Großmutter bereitwillig auf. Womöglich hatte Moritz sich vorgenommen, nun endlich dafür zu sorgen, dass auch seine Frau zu dem kam, was ihr in seinen Augen zustand. Wie genau wusste er eigentlich, dass sie liebend gern den Radfahrern, Wanderern, Schwimmern und Kanuten nachwinkte und sich, sobald sie außer Sicht waren, einen guten Kaffee kochte, ein Stück Torte aus dem Kühlschrank nahm und den Kindern beim Spielen zusah?

Sie bogen von der A2 ab, und Eva wies wie jedes Jahr zu den hässlichen Schloten des Kraftwerks und sagte dabei wie jedes Jahr: »Schrecklich.« Und wie jedes Jahr nickte Moritz nur.

Aber bald schon ließen sie das Kraftwerk und seine wuchtigen Kühltürme hinter sich und hatten nur noch Augen für die behäbige westfälische Landschaft, die sie als Jugendliche langweilig genannt hatten, als nur das Ziel von Bedeutung gewesen war, das ebenso gut in der Antarktis wie in Westfalen liegen durfte. Hauptsache, dort gab es ein Bett, von dem die Eltern nichts wussten.

Ein Bett war es dann zwar nicht, aber immerhin eine Luftmatratze, die ihnen nicht weniger komfortabel erschien. Eva hatte damals schnell begriffen, dass sie Moritz, dem sie bis dahin nur von Weitem schöne Augen gemacht hatte, im Zeltlager von Schloss Oberwerries nahekommen konnte. Die beste Chance, wenn man sich in einen Sportler verguckt hatte! Dafür wurde sie Mitglied des Turnerbunds, obwohl sie jede Art von sportlicher Betätigung schon damals gehasst hatte, tat ihr Bestes, um sich vor Ballspielen, Kanu-Touren und Schwimmwettkämpfen in der Lippe zu drücken, und konzentrierte sich stattdessen darauf, den Sieg im Kampf um Moritz Ellenhans’ Gunst zu erringen. Dort gewann sie erheblich schneller und viel leichter als beim Speerwerfen auf der großen Spielwiese oder beim Tischtennisturnier in der Sporthalle.

Von der besagten Luftmatratze in einem Zelt auf der großen Wiese hinter Schloss Oberwerries hatten sie gelegentlich aufs Schloss geschaut und sich vorgestellt, irgendwann dort in einem Himmelbett zu übernachten. Und so war es ihnen folgerichtig erschienen, ihre Flitterwochen Jahre später genau dort zu verbringen. Sie hatten eben ihre Träume bis zum Tag ihrer Hochzeit nicht vergessen. Im folgenden Jahr war dann schon der kleine Ingo mit von der Partie gewesen, und wieder war ihre Wahl auf Schloss Oberwerries gefallen, als sie sich ausrechneten, ob sie sich einen Urlaub leisten konnten. Andere Familien fuhren an die Ost- oder Nordsee, flogen nach Italien oder Spanien, sahen sich als Pauschaltouristen die Welt an … die Familie Ellenhans blieb dabei, dass es auf Schloss Oberwerries am schönsten war.

Das wurde Eva mal wieder bewiesen, als sie von der Heessener Straße abfuhren und in die Allee einbogen, die zum Schloss führte. Wie romantisch es hier doch immer war! Der Lärm der Straße blieb hinter ihnen zurück, der Drängler von vorhin war im selben Moment vergessen, alle riskanten Überholmanöver waren nicht mehr wichtig. Die Ruhe, die immer über dem Schloss lag, war schon auf diesen Metern deutlich zu spüren. Die Ruhe, die aus einer Zeit zu stammen schien, in der es noch keine Motoren gab. Jedes Mal dachte Eva, dass sie sich nicht wundern würde, wenn ihnen eine Pferdedroschke entgegenkam, darin zwei Damen mit Reifröcken und weißen Spitzenschirmen, die sie gegen die Sonne schützen sollten.

»Es spricht nicht gerade für unsere Flexibilität«, murmelte Moritz, »dass wir es nicht geschafft haben, Nägel mit Köpfen zu machen. Endlich mal Urlaub ohne Familie! Aber was machen wir? Wir fahren trotzdem wieder nach Schloss Oberwerries.«

»Weil es hier schön ist«, antwortete Eva schlicht.

Moritz bestätigte es prompt. »Diesmal können wir zu einer Radtour aufbrechen, ohne erst klären zu müssen, wer Lust hat, mitzukommen, wer ungern allein zurückbleibt, ob derjenige dennoch dazu bereit ist, oder ob wir eigentlich zum Babysitten eingeteilt waren.«

Ich, korrigierte Eva insgeheim, immer war ich es, die zum Babysitten eingeteilt worden war. Aber sie schwieg, um nicht darüber reden zu müssen, wie gern sie sich an die Tische auf der Terrasse gesetzt und den Kindern beim Spielen im Schlosshof zugesehen hatte.

»Und paddeln«, fuhr Moritz fort, »ohne erst zu besprechen, wie viele Boote wir brauchen, und dann zu verzichten, wenn der Verleih ein Boot zu wenig hat.« Wieder tätschelte er ihren Oberschenkel, und diesmal machte es ihr nichts aus. »Oberwerries ist für uns genau richtig.«

Sie fuhren auf den Parkplatz, auf dem zurzeit wenige Autos standen. Nur, wenn das Schlossrestaurant geöffnet war, füllte es sich dort. Gelegentlich wurden Hochzeiten auf dem Schloss gefeiert, es gab sogar einen Trausaal, sodass nicht nur die Feier hier stattfand, sondern auch die Zeremonie auf Oberwerries abgehalten werden konnte. Für Familienfeste wurde der herrliche alte Schlosssaal ebenfalls gern gebucht, dann wurden die Parkmöglichkeiten manchmal sogar knapp. Das kleine Hotel, das es im Torbogenhaus gab, hatte nur fünf Zimmer, für seine Gäste reichte der Parkplatz allemal.

Eva betrachtete die Fenster, die zur Gräfte hinausgingen. »Hoffentlich bekommen wir wieder unser Zimmer. Und hoffentlich sind die anderen Hotelgäste nett.«

Moritz lud sich so viel Gepäck wie möglich auf, solche Kavalierspflichten nahm er sehr ernst. Sie überquerten die kurze steinerne Brücke, die über den Schlossgraben führte, und stellten die Koffer ab, kaum dass sie das Schlossgelände betreten hatten. So machten sie es seit dreißig Jahren. Jedes Mal sahen sie sich nach ihrer Ankunft erst gründlich um, als erblickten sie alles zum ersten Mal. Dazu gehörten tiefes Durchatmen, als wären sie gerade nach langer Zeit des Eingeschlossenseins wieder ans Tageslicht gekommen, sowie das Lächeln, das sich Sonnenanbetern schon aufs Gesicht legte, kurz bevor sie sich zurücklehnten, die Augen schlossen und das Gesicht dem Licht hinhielten.

Moritz zog sein Smartphone aus der Tasche und filmte erst Eva, dann das Schloss mit seinen rot-weißen Fensterläden, die wie Prunkstücke auf dem dunklen Backstein leuchteten, die große steinerne Freitreppe, die in den Winkel der beiden Gebäudeschenkel führte, hinauf auf das Podest, wo es zwei schwere Holztüren gab, die ins Haupthaus und den südlichen Flügel des Gebäudes führten. Darunter duckten sich die Zugänge zum Schlosskeller.

Moritz rief die WhatsApp-Gruppe »Familie« auf, gab »Wir sind da!« ein und schickte das Video ab.

Evas Mutter war die Erste, die antwortete. Seit sie gelernt hatte, mit WhatsApp umzugehen, lauerte sie auf Nachrichten und antwortete umgehend, egal, ob sie gerade beim Friseur, beim Zahnarzt oder mit ihrer Freundin im Café Helene saß. Im letzten Fall besonders eifrig, weil ihre Freundin Doris ihr neidete, über WhatsApp ständig mit der gesamten Nachkommenschaft in Verbindung zu stehen. Dass es noch eine weitere WhatsApp-Gruppe gab, die »Ellenhans« hieß, in der sich nur Eva und Moritz mit ihren Kindern austauschten, ohne dass Annelore mit ihren Emojis ihre Gefühlslage dazumischte, wusste Evas Mutter nicht. Das wurde gehütet wie ein altes Familiengeheimnis. Dumm nur, dass sich Ingo, der älteste Sohn, gelegentlich vertat und sich im falschen Gruppen-Chat über Annelores Neugier oder ihre Bekanntschaft mit der Witwe eines vor vielen Jahren bekannten Schlagersängers lustig machte. So was führte schnell zu familiären Spannungen. Dann wurde er heftig von allen anderen in der Gruppe »Ellenhans« ausgeschimpft, weil er nicht gemerkt hatte, dass er in der Chat-Gruppe »Familie« behauptet hatte, der neue Nachbar sei scharf auf Oma, er habe die beiden gewissermaßen in flagranti ertappt, wie sie in der Vinoteca da Pasquale sehr dicht beieinandergesessen und am Rosé genippt hätten. Dass Oma davon kein Foto gemacht und in die Familien-Gruppe gestellt hatte, bewiese doch wohl die Zweideutigkeit dieser Angelegenheit. In der Gruppe »Ellenhans« war Ingo hastig aufgefordert worden, umgehend diesen Post zu löschen, aber meist war es zu spät, weil Oma Annelore sich von dem Eingehen einer WhatsApp-Nachricht mit einem so schrillen Pfeifton informieren ließ, dass sie immer die Erste war, die etwas las.

Auch in diesem Fall. Moritz Ellenhans hatte sein Smartphone noch nicht wieder zurückgesteckt, als seine Schwiegermutter mit einem weinenden Emoji kundtat, was sie davon hielt, allein in Recklinghausen zurückgeblieben zu sein.

Eine der Schlossangestellten kam über den Hof gelaufen. Lachend winkte sie mit den Schlüsseln, die sie in der Hand hielt. »Da sind Sie ja! Herzlich willkommen!«, begrüßte sie Eva und Moritz freundlich. »Die anderen reisen später an? Wie immer?«

Eva lachte sie an. »Wir machen in diesem Jahr allein Urlaub! Ohne Familie! Zum ersten Mal!«

Die junge Frau betrachtete die Schlüssel in ihrer Hand. »Mir wurde gesagt, dass ich alle Zimmer herrichten soll. Für die Familie Ellenhans. Wie jedes Jahr.« Ratlos betrachtete sie die fünf Schlüssel. »Das ganze Hotel ist für Sie reserviert.«

Nanu? Eva und Moritz sahen sich ratlos an. Sie hatten doch diesmal ganz sicher nur nach ihrem Lieblingszimmer gefragt.

Ein Telefongespräch, das die Schlossangestellte mit dem Büro der Stadtverwaltung in Hamm führte, sorgte schnell für Klarheit. Der gehörte nämlich das Schloss, und von dort war die richtige Information weitergegeben worden, an Ort und Stelle jedoch in der Rubrik »So wie immer« gelandet und somit falsch verarbeitet worden.

Moritz und Eva suchten sich den Schlüssel »ihres« Zimmers heraus. Seit dem Umbau vor einigen Jahren erstrahlten alle Zimmer in ihrem eigenen Stil, sie waren nun nach den Partnerstädten von Hamm benannt. Schon immer kamen Eva und Moritz am liebsten im Erdgeschoss unter, im »Chattanooga«. Die dunklen, modernen Massivholzmöbel strahlten viel Ruhe aus und sorgten dafür, dass Eva sich besonders wohlfühlte.

Schnell wurde klar, dass sie das Hotel nun die nächsten beiden Wochen für sich allein haben würden. So kurzfristig würden wohl keine neuen Gäste buchen.

»Ein herrlicher Gedanke«, schwärmte Moritz. Er zog seine Frau an seine Seite und ging mit ihr gemeinsam zur Eingangstür des Torbogenhauses. Davor gab es einen Terrassenbereich mit einigen kleinen Tischen und Stühlen, wo sie sich kurz niederließen, weil auch das zur Zeremonie auf Schloss Oberwerries gehörte. In den letzten Jahren hatten sie darauf geachtet, immer als Erste einzutreffen und eine kurze Weile die Ruhe zu genießen, die der Anblick des Schlosses dem Betrachter schenkte. Diese behäbige Ruhe, die von dem ehrwürdigen, dickwandigen, unerschütterlichen Bauwerk ausging, würden sie nun also wieder tagtäglich genießen können. Und das, ohne von der Frage aufgescheucht zu werden, wo um Himmels willen das Nackenstützkissen geblieben sei, ohne das Ingo nicht in den Schlaf und nicht ohne Verspannungen wieder herauskam, wer Omas Rosamunde-Pilcher-Roman versteckt oder wer den Hirsebrei aufgegessen habe, der für Mareikes Drillinge vorgesehen war. Eva schloss genüsslich die Augen. Niemand würde sie in den nächsten beiden Wochen mit Fragen und Forderungen, mit Wutgeschrei oder dem Lärm des Montessori-Musikinstrumenten-Sets bedrängen. Vorsichtshalber versicherte sie sich selbst, dass sie ihre Familie über alles liebte, ehe sie sich eingestand, dass sie dennoch froh war, für eine Weile weder ihre Mutter noch den Nachwuchs sehen und hören zu müssen. Der einzige Wermutstropfen, der ihre Vorfreude trübte, war die Tatsache, dass sie der alleinige Sportpartner ihres Mannes war. Sie würde sich nicht beklagen, wenn das Wetter nicht hielt, was es versprach, wenn es so viel regnete, dass sie nach Münster fahren mussten, zum Besuch des Landes- oder Picasso-Museums oder einfach zum Shoppen.

Eva blickte zum alten Marstall, der schräg gegenüber lag und in dem heute das Café untergebracht war. Davor, auf einer großen Rasenfläche, standen Tische und Stühle unter großen Sonnenschirmen. Oberwerries wurde häufig von Radfahrergruppen angesteuert, die sich dort gern niederließen. Gegenüber, direkt im Anschluss an das Torbogenhaus, war ein Neubau angefügt worden, den der Turnerbund benutzte, der auf Schloss Oberwerries Kurse abhielt. Dort war Moritz, nachdem sie das erste Mal die Luftmatratze in einem der Zelte geteilt hatten, vorstellig geworden, um eins der einfachen Zimmer für eine Nacht zu bekommen. »Dann können wir wenigstens nicht überrascht werden!«

Eva hatte gesehen, dass er heimlich sein Taschengeld zählte und dann wohl zu der Ansicht kam, dass es reichen musste. Doch er hatte vergeblich gezählt. Sämtliche Zimmer waren besetzt, und sie hatten weiterhin mit der Luftmatratze vorliebnehmen müssen. Später war Moritz mit den Kindern manchmal, wenn das Wetter zu schlecht zum Kanu- und Fahrradfahren war, hinübergegangen und hatte darum gebeten, beim Sport in der Turnhalle mitmachen zu dürfen. Das hatte ihnen so viel Spaß gemacht, dass sie sich auch oft an den Kursen beteiligt hatten, wenn sie bei gutem Wetter auf dem Rasen zwischen Marstall und Neubau abgehalten wurden.

Moritz hatte in der Zwischenzeit die Fahrräder vom Autodach geholt und auf die Terrasse gestellt, jetzt bezogen sie endlich ihr Hotelzimmer. Der große Raum im Erdgeschoss bot sowohl ein Fenster zur Schlossgräfte als auch den Blick in den Schlosshof.

Nachdem sie die Koffer ausgepackt und alles eingeräumt hatten, ließ Eva sich aufs Bett fallen und streckte die Arme nach Moritz aus. Lächelnd ließ er sich an ihre Seite sinken. »Mit dir allein«, flüsterte Eva. »Zwei ganze Wochen.«

»Der Himmel auf Erden«, flüsterte Moritz zurück. »Wie in den Flitterwochen. Weißt du noch, was wir als Erstes gemacht haben, als wir hier ankamen?«

Das wusste Eva ganz genau, wenn sie auch so tat, als müsste man ihren Erinnerungen auf die Sprünge helfen. Aber gerade dieses schrittweise Auffrischen der Vergangenheit war einfach wunderbar, vor allem, als an seinem Ende eine reife Lust, die erwachsene Leidenschaft und das tiefe Gefühl füreinander standen, von dem ihr Honeymoon noch nichts hatte ahnen können. Natürlich waren sie damals ungestümer gewesen, vielleicht auch leidenschaftlicher, aber der warme, ruhige Fluss, auf dem ihre Liebe heute dahintrieb, war ebenso schön.

Anschließend lagen sie Hand in Hand da. Eva rekelte sich zufrieden. Sex war doch die einfachste und beste Art, sich gegenseitig der Zuneigung zu versichern. Sie genoss das Vertraute, das in dieser Umgebung dennoch anders war, und betrachtete Moritz mit einem neuen Blick, als er aufstand und das Zimmer verließ, um ins Bad zu gehen. Er warf ein Lächeln zurück, das ein warmes Gefühl in ihrem Unterleib erzeugte. Ach, Moritz! Sie liebte ihn. Immer noch.

Sie zog die Decke über ihren Körper und legte sich auf die Seite. Wie jung sie gewesen waren, als sie geglaubt hatten, das Zeltlager auf Schloss Oberwerries könne sie erwachsen machen! Beinahe noch Kinder. Zwei Jahre war Moritz ihr vorausgewesen, hatte schon sein Architekturstudium begonnen, als sie das Abitur bestand. Direkt nach dem Abiball hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Und dann hatten sie zum Entsetzen ihrer Eltern beschlossen, dass Eva kein Studium brauchte, dass sie bald heiraten und Kinder bekommen wollten. Evas Vater hatte getobt und ihre Mutter beinahe täglich neue Herz- und Migräneanfälle simuliert, aber Eva war dabei geblieben: kein Studium. Sie machte eine Ausbildung zur Bürokauffrau, um Moritz, wenn er sich als Architekt selbstständig machen würde, in der Organisation seiner Firma zu unterstützen. Ihr Vater, Professor Dr. Georg Quenzer, hatte seine Tochter blauäugig genannt, am Ende sogar dumm und naiv, Annelore hatte ihr ein frühes Scheitern ihrer Liebe zu Moritz prophezeit, aber Eva hatte eisern an ihren Plänen festgehalten. Und sie hatte es nie bereut.

Als Moritz zu ihr zurückkam, frisch geduscht, mit duftender Haut und feuchten Haaren, wäre sie gerne liegen geblieben, hätte gerne einzuschlafen versucht, später dem Himmel durchs Fenster dabei zugesehen, wie er grau und wolkig wurde, aber Moritz wurde von Tatendrang gepackt. Das geschah leider häufig, viel häufiger als bei ihr. Bei Eva eigentlich so gut wie nie.

»Lass uns einen Spaziergang machen.«

Auch das gehörte zu den Gewohnheiten, wenn sie auf Schloss Oberwerries angekommen waren. Ein Spaziergang nach der Ankunft, wenn alle eingetrudelt waren, wenn ein Kaffee getrunken und der Kuchen gegessen worden war, den Eva jedes Mal von Recklinghausen nach Oberwerries exportierte. Darauf hatte sie diesmal verzichtet. Moritz behauptete zwar, er vermisse ihn sehr, gab sich dann aber schnell mit dem Marzipan zufrieden, das Eva stattdessen mitgebracht hatte.

Der Schlosshof lag still und ruhig da. Sie lehnten sich über die Mauer, blickten in das Wasser, das das Schloss umgab, und folgten den beiden Schwänen mit den Augen, die lautlos auf dem Wasser trieben. Kein Zanken, weil jeder der Drillinge an Omas Hand gehen wollte und einer dabei notgedrungen auf der Strecke blieb, kein Gemaule von Ricarda, die in jeder Suppe ein Haar fand, und keine exzessive Fürsorge von Annelore, die mit dem Verteilen von Süßigkeiten, die keiner mochte, und Küssen, die keiner wollte, zu beweisen versuchte, dass die Familie ohne sie schlecht dran war. Und kein Streit zwischen Ingo und seiner Frau, die in den letzten Jahren stets keifend und schimpfend auf Schloss Oberwerries erschienen waren. Die Gründe waren immer gleich gewesen. Bella hatte mal wieder erst im allerletzten Moment die Koffer gepackt und alles vergessen, was ihrem Mann wichtig war, und Ingo hatte während der gesamten Fahrt mit seiner Dienststelle telefoniert. Bei der Ankunft waren die beiden dann immer noch mitten in der Auseinandersetzung, ob Ingo sich zu wichtig nähme und allen Ernstes glaube, dass das Polizeipräsidium von Recklinghausen unmöglich zwei Wochen ohne seinen Pressesprecher auskommen könne. Im letzten Jahr dann das letzte Mal! Kurz vor der Rückkehr hatten die beiden ihre Beziehung in einem fulminanten Ehekrach, der die ganze Familie miteinbezogen und ihnen allen den Urlaub vermiest hatte, beendet und waren getrennt nach Hause gefahren, Ingo im Auto seiner Eltern, Bella mit den beiden Kindern in der Familienkutsche. Als Ingo sich Anfang des Jahres frisch verliebte, war schnell klar geworden, dass er mit seiner neuen Freundin allein Urlaub machen wollte. Daraufhin hatte Mareikes Ehemann einen ähnlichen Wunsch geäußert, und Ricarda fand den Gedanken an zwei Wochen sturmfreie Bude sehr anregend. So war Annelore die Einzige geblieben, die am Familienurlaub festhalten wollte, sie hatte aber den Kürzeren gezogen. Es war an der Zeit, dass Eva und Moritz ungestört Urlaub zu zweit machten!

Die Fenster der Schlossküche waren geöffnet, das Klappern von Töpfen und Pfannen drang heraus, gelegentlich waren Stimmen zu hören, die in die Stille über dem Schloss fielen wie Murmeln in eine Holzschachtel.

Eva drehte sich um und sah zu den geöffneten Fenstern. »Ich glaube, Tippi ist auch deswegen gern zu Hause geblieben, damit sie dem Koch nicht begegnen muss.«

»Das könnte ja bedeuten«, antwortete Moritz nachdenklich und grinste schief, »dass sie sich schämt. Also haben wir in ihrer Erziehung doch nicht alles falsch gemacht?«

Ihre Jüngste schämte sich eigentlich für gar nichts, fühlte sich immer im Recht und beanspruchte Sonderbehandlungen mit einer Selbstverständlichkeit, die ihre Eltern immer wieder daran zweifeln ließ, dass sie ihre Kleine in ihrer frühkindlichen Entwicklung richtig und ausreichend unterstützt hatten.

»Wir hätten sie nicht so verwöhnen dürfen«, seufzte Eva, der sich immer, wenn sie an die Zukunft ihrer Jüngsten dachte, eine Last auf die Brust legte, die ihr das Atmen schwer machte. Die Erinnerung an den Tag, an dem ihr der Frauenarzt zur dritten Schwangerschaft gratulierte, war nach wie vor hellwach. Zu jener Zeit war ihr Leben prall gefüllt gewesen, mit zwei Grundschulkindern, mit dem Architekturbüro, das gerade einen Wettbewerb gewonnen hatte und dessen Auftragslage zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Die anfänglichen Sorgen, die mit der Firmengründung einhergegangen waren, verflüchtigten sich allmählich, die Angst, am nächsten Ersten die Angestellten nicht bezahlen zu können, hatte sich soeben in Luft aufgelöst … da stellte sich heraus, dass Eva ein drittes Mal und diesmal völlig ungeplant schwanger geworden war.

Freuen konnten sie sich beide erst einmal nicht. Eva hatte tagelang geweint, Moritz hatte nachgerechnet, wie eine Bürokraft zu bezahlen war, wenn Eva demnächst ausfiel, und kurz vor Ricardas Geburt redete Eva noch immer nicht gern von der Zukunft mit einem dritten Kind. Damals waren weder das Kinderzimmer eingerichtet noch irgendwelche Vorbereitungen für den neuen Erdenbürger getroffen worden.

Annelore hatte es einmal beim Namen genannt: »Meint ihr wirklich, dass sich euer Problem löst, wenn ihr die Schwangerschaft so lange wie möglich ignoriert?«

Die Wehen hatten schon eingesetzt, als Moritz endlich bei einem Möbelhändler telefonisch ein Babybett bestellte und zusätzlich um die Lieferung einer Grundausstattung bat. Nichts davon hatten sie selbst ausgesucht, schon gar nicht liebevoll und mit dem verklärten Blick, den andere Eltern aufsetzten, wenn sie über die Entscheidung nachdachten, ob zusätzlich zum Kinderwagen die Anschaffung eines Tragetuchs sinnvoll war und ob man sich mit dem Kauf einer Babyschale für den Transport im Auto Zeit lassen könne. Moritz hatte einfach alles bestellt und kurz nach Ricardas Geburt das Kinderzimmer eingerichtet, hastig und lieblos. Dass die Babywäsche vorm ersten Anziehen gewaschen werden sollte, fiel ihm erst auf, als seine Jüngste schon zu Hause eingezogen war.

Von da an allerdings änderte sich alles. Als Eva das Neugeborene in den Arm gelegt wurde, unterschied sich ihr Glück kein bisschen von dem tiefen Gefühl, das sie nach Ingos und Mareikes Geburt ergriffen hatte. Alle Fragen, Bedenken und Sorgen waren mit einem Mal verschwunden, übrig geblieben war die Liebe zu diesem Kind. Allerdings auch das schwere Schuldgefühl, weil es in diesem Fall keine freudige Erwartung gegeben hatte. Eine Belastung, die Eva nie wieder losgeworden war.

Ricarda war ein entzückendes Baby, niemand hätte es nach der Geburt für möglich gehalten, dass man ihr später den Spitznamen Xanthippe geben würde, weil sie mit Beginn der Pubertät ausgesprochen schwierig wurde und leider auch blieb. Natürlich hatten auch Ingo und Mareike während der Pubertät rebelliert, allerlei Ärger gemacht und die Geduld ihrer Eltern mit Freuden strapaziert. Aber während die beiden Ältesten sehr bald den Weg von der Kindheit ins Erwachsenenalter zurückgelegt hatten, war Tippi bis heute irgendwo dazwischen stecken geblieben. Als Ingo sie irgendwann Xanthippe nannte, war Eva empört gewesen, Mareike und Moritz hatten jedoch gelacht und den Namen übernommen. Aus Xanthippe war Tippi geworden, die trotz dieses fiesen Spitznamens von allen geliebt und gehätschelt wurde, wenn auch fast täglich irgendein Familienmitglied die Augen verdrehte, weil Tippi sich mal wieder Sachen rausgenommen hatte, auf die die beiden älteren Geschwister nie gekommen wären.

»Tippi ist eben Tippi!« Dieser Satz wurde in der Familie Ellenhans sehr häufig geseufzt.

Mit sehr schlechtem Gewissen hatten sich Eva und Moritz an die Aufzucht ihres Nachkömmlings gemacht und verzogen das Kind nach Kräften, damit ihm niemals der böse Verdacht kam, nicht erwünscht gewesen zu sein. Zum Glück schien Ricarda weit von dieser Erkenntnis entfernt zu sein. Dass es jemanden geben könnte, der sie nicht um sich haben wollte, übertraf ihre Vorstellungskraft.

Eva starrte noch immer das geöffnete Fenster der Schlossküche an. »Hoffentlich ist der Koch nicht mehr wütend auf Tippi.«

»Mir egal.« Moritz tat so, als interessierten ihn die Gefühle des Kochs nicht. »Solange er uns kein Rizinusöl ins Essen mischt …«

Eva war empört. »Wir konnten doch nichts dafür!«

Moritz’ Gesicht wurde ernst. »Vielleicht doch? Dass Tippi immer so wütend reagiert, wenn es mal nicht nach ihrem Kopf geht, ist natürlich auch unsere Schuld.«

Eva drehte dem Fenster den Rücken zu. »Wir haben ihr immer alles durchgehen lassen«, flüsterte sie. »Das war ein Fehler.«

Moritz’ Miene wurde immer unglücklicher. »Ich habe aber schon bei der Anmeldung einen Tisch für heute Abend reservieren lassen«, murmelte er und sah aus, als wollte er vorschlagen, die Reservierung rückgängig zu machen und stattdessen im Torino in Hamm zu essen. Das war die Pizzeria am Marktplatz, direkt gegenüber der Pauluskirche, in der man mit kleinen Kindern gut essen konnte, weil Italiener ja bekanntlich alle Bambini liebten und ihnen Schmiererei und lautes Geschrei nachsahen.

Eva schüttelte den Kopf. »Wir können nicht vor ihm davonlaufen. Und überhaupt …« Sie stieß sich von der Mauer ab und richtete sich auf. »Eigentlich haben wir nichts damit zu tun. Tippi ist erwachsen, was sie getan hat, muss sie selbst verantworten.« Sie versuchte zu grinsen. »Es war ja auch nur ein Scherz. Seine Reaktion beweist, wie humorlos er ist.«

Das hatte Tippi mehrmals betont, während sie nach Recklinghausen zurückgefahren waren. Dass Hinnerk nicht zum Abschied auf dem Schlosshof erschienen war und sie danach nichts mehr von ihm gehört hatte, sprach nur dafür, dass er keinen Spaß verstehen konnte. Und so jemand interessierte sie nicht. So jemand passte auch nicht zu ihr, da war sich die Familie einig. Mit Ricarda Ellenhans, genannt Xanthippe oder auch Tippi, kam man nur aus, wenn man besonders großzügig und humorvoll war, gute Nerven hatte und nicht überempfindlich war. Hinnerk Schlewecke, Koch auf Schloss Oberwerries, hatte bewiesen, dass er nichts von alledem war, nicht großzügig und nicht humorvoll, sondern mit schwachen Nerven ausgestattet und augenscheinlich überempfindlich. Sonst hätte er Ricarda ihren Scherz verziehen, wenn es auch ein schlechter gewesen war …

Sie verließen das Schlossgelände in Richtung Lippe. Sie floss ruhig dahin, kein klares Gewässer, jedenfalls nicht an diesem Tag. Die Lippe sah aus, als wäre sie oberhalb dieser Stelle aufgewühlt worden und brauche noch eine Weile, um zu einer schönen Farbe zurückzufinden.

Eva kicherte leise. »Weißt du noch? Während des Zeltlagers hat Bärbel den größten Angeber des Turnerbunds ins Wasser geschubst. Der hat sich so sehr erschrocken, dass er beinahe ertrunken wäre.«

Moritz lachte mit. »Danach war Schluss mit der Angeberei.«

»Das stimmt zwar. Aber als wir dann für unsere Flitterwochen hier waren, sind sie uns begegnet, Bärbel und Harry. Erinnerst du dich? Auf dem Spaziergang durch die Lippe-Auen.«

Jetzt fiel es Moritz wieder ein. »Stimmt! Das konnte man damals echt nicht vermuten, dass aus den beiden mal ein Paar würde. Harry war ja dermaßen sauer auf Bärbel …«

Sie hockten sich auf einen Baumstumpf, und Moritz zog Eva dicht an seine Seite. Sie blickten aufs Wasser und schwiegen. Die Jugendlichen, die hier oft ihre Tage verbrachten, grillten, Musik hörten, ihre Boote zu Wasser ließen und schwimmen gingen, waren schon wieder aufgebrochen, es war Ruhe eingekehrt. Eva und Moritz gehörten nicht zu denen, die sich von Lärm, Gelächter und übermütigem Gekreische stören ließen, aber dass es nun still war, gefiel beiden. In der Ferne war ein Trecker zu hören, der über ein Feld tuckerte, ansonsten herrschte Lautlosigkeit. Die Straße war weit genug entfernt, Motorengeräusche waren nicht zu hören. Ihre Gedanken kehrten aus der Erinnerung in die Gegenwart zurück.

»Irgendwie kann ich diesen Hinnerk schon verstehen«, sagte Eva leise. »In einem Kellerverlies eingesperrt zu werden, ist ein übler Scherz.«

Aber Moritz wollte davon nichts hören. »Tippi hat gesagt, er wusste, wie er sich befreien konnte. Er kennt sich auf dem Schloss aus, er musste nicht erst um Hilfe rufen.«

Eva schüttelte den Kopf. »Eine verrückte Idee, sich da unten ein Liebesnest einzurichten.«

»Du kennst unsere Tochter. So was findet sie spannend.«

Sie schwiegen nun beide, und Eva wusste, dass Moritz das Gleiche dachte wie sie selbst. Während des letzten Zeltlagers als Jugendliche hatte Moritz sie zu überreden versucht, sich mit ihm in den Schlosskeller zu schleichen. Schon oft war vom Schlossgespenst die Rede gewesen, das dort angeblich residierte. Das glaubte natürlich niemand, trotzdem hatte es kein Mitglied des Turnerbunds je gewagt, den Beweis dafür zu erbringen, dass das Schloss kein eigenes Gespenst hatte, wie es sich eigentlich für ein altehrwürdiges westfälisches Wasserschloss gehörte. Man wusste ja nie!

»Es ist wirklich absolut typisch, dass Tippi keine Angst hatte«, murmelte Moritz. »Du hast dich damals nicht getraut, nicht einmal zusammen mit mir. Und Tippi? Die folgt ohne Zögern einem Mann in den Schlosskeller, den sie kaum kennt.«

Moritz wollte wohl so aussehen, als zollte er seiner Jüngsten Bewunderung, aber Eva sah die Sorgenfalten auf seiner Stirn. Tippi war leider nicht nur mutig, sondern vor allem auch leichtsinnig. Seit sie als Pubertierende anfing, sich aus der Obhut ihrer Eltern zu befreien, waren die beiden in Angst, dass sie sich zu viel zutraute und irgendwann zum Opfer ihrer Abenteuerlust wurde.

Annelore war im Vorjahr außer sich gewesen, als auch an ihre Ohren gedrungen war, wo ihre jüngste Enkelin sich herumgetrieben hatte. Sie hatte geglaubt, Tippi unternähme harmlose Spaziergänge mit dem Koch, wenn er freihatte, ein junger Mann, der Annelore gefiel, attraktiv, mit guten Manieren und einem bemerkenswerten Talent, Gerichte auf die Teller zu zaubern, die allen schmeckten. Dass ihre Enkelin dazu verführt worden war, in einem finsteren Kellerverlies etwas zu tun, das Ricarda selbst vermutlich romantisch genannt hätte, brachte ihr Weltbild ins Wanken. Zwar gab sie zu, dass so etwas auch zu ihrer Zeit schon vorgekommen war, wenn auch auf keinen Fall in einem einsamen Schlosskeller, aber damals hatte man wenigstens geschwiegen und so getan, als ginge alles seinen tugendhaften Gang.

Auch Eva hatte schlucken müssen, als sie davon erfuhr, nur Ingo, Mareike und ihr Mann hatten gelacht. Moritz hatte eine Weile zwischen Empörung und Belustigung geschwankt und sich dann entschieden, seine Reaktionen immer der jeweiligen Stimmungslage anzupassen. In Gegenwart seiner Schwiegermutter hielt er es mit Empörung, wenn er mit Eva sprach, teilte er ihre Besorgnis, und wenn er mit Sohn und Schwiegersohn allein war, lachte er über die Fantasie des jungen Kochs. Der schlief in einem winzigen Zimmer über dem Marstall, ein Durchgangszimmer, in dem er nie Ruhe hatte. Tippi hatte ihn dem Vernehmen nach in ihr Hotelzimmer eingeladen, aber das hatte Hinnerk strikt abgelehnt. Unter den Augen der Familie hatte er nicht zeigen wollen, dass er in Tippi verliebt war und Pläne hatte, die Oma Annelore noch immer unehrenhaft nannte. Erst auf dem Rückweg nach Recklinghausen hatte Tippi verraten, dass Hinnerk ein kleines romantisches Liebesnest in einem der Schlosskeller eingerichtet hatte, um ungestört mit ihr allein sein zu können. Angeblich in einem Teil des Kellers, der nicht mehr benutzt wurde, der mittlerweile vergessen worden war, den niemand mehr betrat.

Eva und Moritz gingen über die große Wiese, auf der im Sommer der Turnerbund sein Zeltlager aufschlug. Immer noch! Wie zu jener Zeit, als sie noch jung waren. Eine lange Holzbrücke führte sie anschließend in den Schlosshof zurück.

Eva zeigte nach links. »Schau mal, da muss es in den Keller gehen.«

Moritz besah sich stirnrunzelnd die drei Türen, die unter der schönen Freitreppe kaum in Erscheinung traten. Nur die weiße, auffällig gestaltete Tür auf der rechten Seite sprang sofort ins Auge. In der Mitte duckte sich eine niedrigere Tür unter einem halbrunden Gewölbe, links daneben lag ein schlichter rechteckiger Durchlass, der scheinbar schon lange nicht mehr benutzt worden war.

Am Ende des linken Gebäudeflügels führten zwei Stufen zu einer weiteren Tür hinab. Auf ihr prangte die Zahl 1976 – das Jahr, in dem die dahinter befindliche Kellerbar ausgebaut worden war. Eine schwere hölzerne Tür mit einem Rundbogen aus satiniertem Glas.

»Was meinst du, hinter welcher Tür Ricarda mit ihrem Liebhaber verschwunden ist?«, fragte Moritz und lockte Eva von der Tür zur Kellerbar fort. Nein, die kam nicht infrage.

Eva zögerte. »Ich bin nicht sicher …« Sie kicherte. »Komm, lass uns nachsehen. Nun bin ich schon so lange mit dir verheiratet, heute kann ich es wagen, dir in einen Schlosskeller zu folgen.«