Storchenherzen - Fritzi Teichert - E-Book + Hörbuch

Storchenherzen Hörbuch

Fritzi Teichert

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Beschreibung

Die Störche fliegen tief: zwei Hebammen zwischen Chaos und Liebe Ein Roman über die Liebe, das Wunder des Lebens und eine außergewöhnliche (Hebammen-)Frauenfreundschaft - emotional, einfühlsam und oft herzzerreißend komisch. Helga betreibt zusammen mit Kollegin Monika eine kleine Hebammenpraxis. Zwar liebt Helga ihren Job, aber nicht alle werdenden Mütter können mit ihrer ruppigen Art etwas anfangen. Zum Glück taucht Madita auf: Sie ist seit Kurzem ausgebildete Hebamme, zwanzig Jahre jünger und strotzt vor Tatendrang. Helga ist entsetzt: Madita redet ohne Punkt und Komma, ist ekelhaft fröhlich und macht laufend esoterische Verbesserungsvorschläge. Zu allem Überfluss hat Helga eine handfeste Ehekrise. Auch für Madita ist der Start ruckelig: An ihrem ersten Tag verursacht sie beinahe einen Unfall: Doch statt der Versicherung tauchen plötzlich lästige Verliebtheitsschmetterlinge auf … Ein romantisch-chaotischer Wohlfühlroman für Mütter und alle, die es werden wollen. Für Leserinnen von Mina Teichert, Rosie Walsh und Meike Werkmeister.

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Zeit:16 Std. 13 min

Sprecher:Sandra VossAnne Sofie Schietzold
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Über das Buch

Katastrophenwindeln, jammernde Ehemänner und dauergestresste Insta-Mütter sind nur ein Teil des Alltags zweier Hebammen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Die quirlige Madita und die etwas spröde Helga sind neuerdings Kolleginnen in der kleinen Hebammenpraxis »Storchennest« und müssen sich bei der Arbeit zusammenraufen. Doch trotz anfänglicher Schwierigkeiten stellen die beiden bald fest, dass sie mehr gemeinsam haben als gedacht. Und natürlich kommt auch die Liebe nicht zu kurz: Helgas gut getakteter Alltag gerät plötzlich mächtig durcheinander und Madita hat einen folgenschweren (Herzens-) Unfall. Das Chaos ist perfekt.

Fritzi Teichert

Storchenherzen

Roman

Sechs Jahre zuvor

Madita

Erst dachte ich, Linda wolle mich veräppeln, als sie plötzlich zu brummen begann wie ein zu früh aus dem Winterschlaf geweckter Bär und sich am Kleiderschrank abstützte. Kurz zuvor hatten wir uns noch in die Haare bekommen, weil ich Altkleider, die sie aussortieren wollte, ihrer Meinung nach nicht schnell genug zu Bündeln zusammenfasste. Aber ganz ehrlich, ich konnte mir wirklich Spannenderes vorstellen, um mich ein wenig vom Abistress zu erholen, als Säcke mit alten Socken zu füllen. Oder mit Schlüpfern, die locker aus Omas Zeiten hätten stammen können.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich sie, weil sie nicht aufhörte zu umpfen und ihre vielberingten Hände auf den runden Kugelbauch legte.

»Bestens, alles toll. Fun, fun, fun.« Die Antwort hörte sich leicht angriffslustig an, was ich auf die Hormone schob, die in Linda bestimmt Samba tanzten. Zumindest behauptete das Johannes, ihr Mann, der seit Monaten propagierte, eine Schwangerschaft sei doch ein Spaziergang, wofür er den einen oder anderen Schlag zwischen die Rippen kassiert hatte.

Ich runzelte die Stirn, schaute mir Linda genauer an: geschwollene Beine, Hitzepickel im Dekolleté, Schweiß auf der Stirn. Joah, wenn ich es mir recht überlegte, könnte der liebe Gatte recht haben. Tatsächlich ein Spaziergang, ganz gemütlich in der Wüste, auf heißem Sand, mit einem Elefanten auf dem Rücken – pardon – im Uterus.

»Bestens, wirklich«, wiederholte Linda wie ein Mantra und lächelte gequält.

Wie jedes Mal, wenn meine Tante ein Baby erwartete, hatte der Nestbautrieb erst spät eingesetzt. Dann allerdings mit der Kraft eines Tornados, der durchs Haus fegte, um in kürzester Zeit alles perfekt zu machen. Und da meine Mutter mit einem Bänderriss zu Hause auf dem Sofa lag, hatte man mir den Kelch der braven, untertänigen Hilfsdienstmagd überreicht. Yeah!

»Uff«, machte Linda, und ich hob müde den Blick, während mein Kopf noch mit Aufgaben aus meinem letzten Mathekurs jonglierte. In den Händen hielt ich einen Stapel alter Jeans, die mir recht winzig für mein Tantchen erschienen. Nach zwei Kindern hatte sie zwar immer noch eine tolle Figur, aber eine 36 würde es wohl trotzdem nie wieder werden.

»Die können weg, oder?«, fragte ich.

Ihr Gesicht wurde puterrot. »Madita!«

Ooookay – wegen ein paar Jeans brüllte sie mich an?

»’tschuldigung«, hauchte ich und erstarrte im nächsten Augenblick.

Lindas blütenweiße Leggins färbte sich zwischen ihren Beinen dunkel. Nicht blutdunkel, aber ganz offensichtlich lief sie aus.

»Was ist das?« Saublöde Frage, ich war gut in Bio und anderen Naturwissenschaften, was man von Mathe nicht behaupten konnte, hatte aber durchaus schon etwas von Fruchtwasser und Blasensprung gehört und ahnte, dass das eben erreichte Level mindestens eines zu hoch für mich war.

»Das kann doch gar nicht sein«, sagte ich voller Überzeugung. Der errechnete Geburtstermin lag noch mehr als drei Wochen, zwei Zwischenprüfungen und einen Schlittschuhausflug mit Lotta in der Zukunft.

Linda wedelte hektisch mit der Hand. »Ruf Johannes an, der muss sofort kommen.«

Ich sprang auf, stolperte über eine nepalesische Klangschale, verknackste mir auf dem kurzen Weg zu meinem Handy den großen Zeh am Türrahmen und spürte es kaum, als der Nagel sich nach oben bog. Denn der Schrei, den Linda in diesem Moment ausstieß, sorgte dafür, dass sich wildes Adrenalin in meine Venen ergoss.

So weit, so Katastrophe. Johannes versprach, sich sofort auf den Weg zu machen, und ich verfrachtete meine Tante aufs Bett, setzte panisch die beiden Jungs, die bis dahin ein »Feuerwehr-Laser-Gefängnis« im Flur gebaut hatten, mit Dinkelkeksen vor die Flimmerkiste und überließ Spongebob Schwammkopf die Aufsicht. Zurück im Schlafzimmer versuchte ich, Linda mit Geschichten aus meinem Liebesleben abzulenken.

Sie soll lieber was zu lachen haben, als sich Sorgen machen, dachte ich. Gleichzeitig würde ich bestimmt auch selbst wieder ruhiger, wenn ich in meinem Herzschmerz schwelgte. Ansonsten bliebe höchstens noch der Griff zur Klangschale. Angeblich gibt es ja nichts, das sich nicht mit einem anständigen Om regeln ließe.

Draußen stürmte es wie schon seit Jahren nicht mehr, und ein Hagelschauer ging auf das kleine Haus am Waldrand nieder. Warum zum Geier hatte Linda sich unbedingt für so ein einsames Heim entscheiden müssen, um ihre Küken großzuziehen?

Unweigerlich musste ich an Ronja Räubertochter denken, die bei solch einem Unwetter zwischen Blitz und Donner auf die Welt gekommen war, und lächelte. Papa hatte meine Schwester Lotta und mich quasi bis zum Überlaufen mit Astrid Lindgren gefüttert, und ich fragte mich, was Pipilotta Viktualia Rollgardina Schokominza Efraimstochter Langstrumpf in meiner Situation tun würde. Irgendeine Meduzin anrühren vielleicht, ein Lied schmettern bestimmt.

»Was grinst du so?«, erkundigte sich Linda, während sie meine Hand drückte und ich spüren konnte, wie sich die Knöchel übereinanderschoben.

»Weißt du schon, wie ihr sie nennen wollt? Eure Tochter?« Ich wusste, dass es diesmal ein Mädchen war. Meine Frage ging in einem tiefen und langen Seufzer unter, und ich warf einen Blick auf die Uhr. Wieso bewegten sich die Zeiger eigentlich immer so langsam, wenn es drauf ankam? Johannes brauchte mindestens eine halbe Stunde aus der Stadt hierher.

»Ich finde ja Ronja ganz toll«, verriet ich meiner Tante zwischen zwei Wehen und tupfte ihr manisch die Stirn mit einem feuchten Tuch.

»O Gott, das geht alles viel zu schnell«, stöhnte sie, und ich ahnte Schreckliches, als sie sich die Leggins abstreifte. Das Wort Sturzgeburt ging mir durch den Sinn, davon hatte ich irgendwann mal gehört, und dass es gerade bei Frauen, die bereits Kinder haben, sehr, sehr schnell gehen kann.

Ich kniff mir in die Nasenwurzel und sah kurz Sterne. Viele kleine weiße Sterne. Gott, jetzt bloß nicht ohnmächtig werden!

»Guck mal, ob du was siehst«, presste Linda mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor.

Ich wollte protestieren, dass ich nicht mal mein Abi hatte und es doch außerdem Johannes’ Aufgabe war, meiner Tante bis ins Paradies zu schauen. Oder? Meine jedenfalls nicht.

»Nee, das geht nicht«, stammelte ich also. Und wo blieb mein Onkel, zum Donnerdrummel noch mal? Nahm der die Abkürzung über Taka-Tuka-Land?

»Ahhh, mach schon!«, brüllte Linda und verpasste mir einen heftigen Schlag auf den Oberarm, der mich animierte, ihrer Aufforderung Folge zu leisten. So wie damals, beim Zehnmeterturm, als sie mich einfach runterschubste, was sie bis heute leugnet.

Wenig später hockte ich zwischen Tantchens Beinen, die vor Anstrengung zitterten, und guckte auf ihre Vagina. Und ehrlich, ich habe ja selbst eine und weiß, wie so was aussieht. Aber das hier war ganz und gar kein schöner Anblick und tat allein vom Zuschauen weh.

»Was siehst du?«, wollte Linda wissen, und ich suchte nach den richtigen Worten.

»Ui«, fiel mir als Erstes ein, während ich noch auf das Szenario schaute, das mir verriet, dass da bald jemand Hallo sagen würde. »Ich denke, wir sollten ins Krankenhaus fahren.«

»Ich kann nicht fahren – aarrrrgh –, du etwa?«

Lindas Finger krallten sich in meinen Arm, und ich fiel gleich mal in ihren Schrei mit ein. Sie hatte recht, ich hatte gar keinen Führerschein und mein Wissen über Autos beschränkte sich auf: Das ist vorne und das ist hinten. Und das P auf der Gangschaltung beim Automatikfahrzeug steht für »Pinkelpause«!

Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.

»Ahhh!« Linda kreischte erneut, und mit der freien Hand wählte ich den Notruf.

»Ich will keine scheiß Hausgeburt!«, schnaufte Linda, nachdem die Wehe abgeebbt war.

Ich streichelte ihr den Arm, gab dem netten Herrn am anderen Ende der Leitung die Adresse durch und überlegte, ob ich um den Einsatz eines Rettungshubschraubers bitten sollte. Oder am besten gleich um ein Beam-Gerät. Ach bitte, lassen Sie das Scotty machen!

»Ich will meine PDAaaaaaarg«, krähte Linda in dem Moment, als Julius mit bunten Bauklötzen in den Händen um die Ecke getapst kam und panisch ins Schlafzimmer guckte.

»Alles gut, Juli«, sagte ich zu ihm und hob beschwichtigend die Hände. »Mamas Baby im Bauch will nur rauskommen. Ist ihm einfach zu eng da drin.« Ich deutete auf Lindas Medizinballbauch.

Der kleine Mann mit Vokuhila legte den Kopf schief und fragte dann. »Hat Mama aua?«

»Öhm, nur ein ganz bisschen.« Ich versuchte es mit einem beruhigenden Lächeln.

Linda, die längst aufs Bett gesunken war, hievte sich aus dem Kissen. »Mama schafft das, mein Spatz. Geh wieder zu deinem Bruder, ja, Mäussssschen«, japste sie.

Tatsächlich stolperte Julius, der sonst immer Antworten auf mindestens dreizehn Warum-Fragen benötigte, bevor er eine Anweisung befolgte, rückwärts aus dem Zimmer. Am liebsten wäre ich mitgegangen.

Draußen zuckte ein Blitz über den Wald, und gleich darauf rollte der Donner heran und krachte gegen das Fenster wie eine Nordseesturmwoge. Minuten vergingen, Linda stöhnte, schrie, jaulte, und ich hoffte, dass endlich Hilfe kommen würde, weil ich mir die Pausen zwischen den Wehen allmählich nur noch einbildete. Die Schmerzwellen zerschlugen die Zeit, nahmen jeden Raum ein, den es gab, und raubten nicht nur Linda den Atem.

»Tu doch waaaaas!«, forderte meine Tante irgendwann. Fast brach sie mir die Finger, während ich halb vor ihr, halb neben ihr lag und in die gleiche Schnappatmung verfiel wie sie. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen. Im nächsten Moment tauchte der Kopf der kleinen Räubertochter auf, und mir wurde komisch. Erneut tanzten Sterne vor meinen Augen. Viele Sterne. Vermutlich der Schock. Oder eine ernst zu nehmende Erkrankung; eine Netzhautablösung, verursacht durch Stress. Wer weiß.

Kurz darauf flutschte der Rest des Babys ins Freie und landete auf der Matratze.

»O mein Gott.« Linda schluchzte, versuchte sich aufzurichten, um zu sehen, was passiert war. Sie wirkte leicht weggetreten vom Schmerz und Adrenalin.

»Hoppla, das sieht doch gar nicht so schlimm aus«, ist nicht unbedingt das, was man sagen sollte in so einer Situation. Aber es war auch mein erstes Mal.

Prompt spürte ich Lindas Ellenbogen im Gesicht. »Was? Was sieht schlimm aus?«

»Alles wunderbar, ist alles dran«, beeilte ich mich zu verkünden. »Vier Beine, äh zwei, und Arme mit fünf Fingern, öh, warte kurz …« Ich zählte vorsichtshalber noch mal nach. »… ja, fünf. An jeder Hand. O Gott, wie niedlich und so klein!« Mein Herz schlug einen angenehm flatterigen Rhythmus, als ich meine Hände nach dem winzigen Kind ausstreckte und es vorsichtig aufnahm.

»Hallo, Baby«, hörte ich mich flüstern, ein Glücksgefühl in mir spürend, das an nichts heranreichte, was ich jemals empfunden hatte. Und obwohl ich sonst zu allem etwas zu sagen hatte, fiel mir in diesem Moment rein gar nichts ein. Ich schwieg und schaute nur.

Und dann begann das winzige Wesen zu weinen. Ganz leise und quäkend schickte es sein Hier bin ich in die Welt, während es in mir selbst ganz still wurde. Sacht legte ich das kleine Mädchen auf Lindas Bauch und betrachtete das Gesichtchen.

»Na? Schneller konnte die Reise wohl nicht gehen, was?«, fragte ich. Ein Lachen purzelte aus meinem Mund. Gleichzeitig heulte ich wie ein Schlosshund. Hätte nie gedacht, dass das überhaupt möglich ist.

Draußen übertönte das Martinshorn eines Krankenwagens das Gewitter, und ich wusste plötzlich, was ich mit meinem Leben anstellen wollte. Scheiß auf das geplante Archäologiestudium, ich würde Hebamme werden.

Stern(e)stunden

Helga

»›Fachlich 1a, aber die Schreckschraube, die unseren Sohn entbunden hat, hat das Einfühlungsvermögen eines Brecheisens. Da könnt ihr die Geburt eures Kindes gleich beim Metzger anmelden.‹«

Pause. Ein strenger Blick trifft mich über den Rand der halben Brille hinweg, Augenbrauen heben sich erwartungsvoll. Monika wartet auf meine Stellungnahme. Gut, dann sind wir schon zu zweit.

Ich zucke mit den Schultern, Monika seufzt, nimmt die Brille ab und reibt sich mit geschlossenen Augen die Nasenwurzel. Manchmal glaube ich, dass sie Gesten einstudiert, um sie im richtigen Moment einzusetzen. Es gibt Menschen, die können das. Ich schlage einfach nur die Beine übereinander.

Monikas Schreibtisch steht vor der runden Fensterfront des Zimmers, und ich blicke nach draußen in den kleinen feinen Garten, keine fünfzehn Quadratmeter groß, aber mit Kräuterbeet, Apfelbaum und zwei dürren Birken. Und natürlich der gelben Gartenbank, von der die Farbe abblättert und die schon dastand, bevor ich ins Storchennest kam. Von hier aus kann man die Kaffeeränder nicht sehen, die unzählige Tassen auf dem Lack hinterlassen haben, aber sie stehen mir vor Augen, und ich wünsche mir meinen Becher herbei. Dunkelbraun, Sprung im oberen Rand, der abgedroschene Vorschlag: Forget love, fall for coffee. Irgendein glückliches Paar hat mir den geschenkt, als Dank nach einer Geburt. In der Tat wäre Kaffee jetzt nicht schlecht.

»Was sagst du dazu?« Monika hat ihre Brille auf dem Schreibtisch abgelegt und blickt mich nun wieder an.

Wir kennen uns inzwischen so lange, dass ich mir sicher bin, wie dieses Gespräch verlaufen wird. Tatsächlich kommt es nicht selten vor, dass wir uns manchmal stundenlang stumm im selben Raum aufhalten und ich am Ende das Gefühl habe, eine erfüllende Unterhaltung geführt zu haben. Monika, seit 22 Jahren eine Größe in meinem Leben, seit fünfzehn Jahren direkte Kollegin, Kameradin und streng genommen Chefin.

»Wenn die einen Metzger bevorzugen – sollen sie«, sage ich. Und weil mir einfällt, dass Monika sich hin und wieder darüber beklagt, ich sei wortkarg, schiebe ich hinterher: »Wenn denen ›Darf’s noch ein bisschen mehr sein‹ tatsächlich lieber ist als kompetente Geburtshilfe.« Ich spüre, wie meine Schultern erneut zucken.

Monika wiederholt ihr Seufzen. Spart sich die Antwort, setzt die Brille zurück auf die Nase und liest von ihrem Tablet: »›So was habe ich echt noch nie erlebt! Der ET von unserem Flori ist erst in drei Wochen, und als ich vorgestern die Hebamme anrief, weil ich schon total krasse Wehen hatte, warf sie mir allen Ernstes vor, ich sei hysterisch und würde maßlos übertreiben. Ich soll mich erst melden, wenn’s losgeht. Hallo??? Eigentlich wollte ich unbedingt im Geburtshaus entbinden, aber jetzt gehe ich definitiv ins Krankenhaus. DIE holt unseren Flori nicht auf die Welt!!!!!!!‹«

Monika lässt das Tablet sinken. Jetzt bin ich es, die seufzt. »Das war Ines, oder?« Monika nickt weder, noch schüttelt sie den Kopf. »Schreibt sie auch, dass ich sie nach Intensität, Dauer und Häufigkeit der Wehen gefragt habe und nach meinem Ermessen kein Handlungsbedarf bestand? Dass sie erst am Morgen bei der Vorsorge war, bei der ich ihr erklärte, dass alles in Ordnung sei und sie sich auf Vorwehen einstellen solle? Du kennst sie. Sie hat fünfmal angerufen, weil sie innerhalb von drei Stunden zweimal ein kleines Ziehen gespürt hat.« Ich denke an das Kind in Ines’ Bauch und kann mich nicht entscheiden, was mich mehr beunruhigt. Dass der arme Junge mit einer überängstlichen Mutter wird klarkommen müssen oder dass sie ihn bereits vor seiner Geburt mit diesem fürchterlichen Spitznamen straft.

»Hast du sie wirklich hysterisch genannt?«

»Müssen wir wirklich darüber sprechen?«

Monikas Blick bohrt sich in meinen. Als sie heute Morgen anrief und mich zu einer »außerordentlichen Teambesprechung« bat, hatte ich keine Ahnung, um was es gehen könnte. Es sei wichtig, hatte sie lediglich gesagt. Außerdem sei Sonntag und mein Terminplan damit sicherlich nicht voll.

»Wir wissen beide, wie verweichlicht, verunsichert und wenig autark die werdenden Mütter heutzutage sind«, fahre ich fort, weil sie schweigt – wer ist hier wortkarg? »Sind wir nicht auch dazu da, ihnen das Vertrauen in ihre Intuition und ihren Körper zurückzugeben?«

»Indem wir sie hysterisch nennen?«

»Ines ist hysterisch.«

»Mag sein, aber es hilft ihr nicht, wenn du ihr das ins Gesicht sagst.«

»Es hilft ihr genauso wenig, wenn ich es ihr nicht sage.«

»›ACHTUNG, LASSTEUCHBLOSSNICHTIMSTORCHENNESTBETREUEN!!! Die Hebammen dort sind absolute Kotzbrocken!‹« Monika wischt mit dem Finger über ihr Tablet. »›Finger weg! Ich hab im Storchennest entbunden, und die Hebamme hat mich die ganze Zeit allein gelassen … unfreundlich … einfühlsam wie eine Kettensäge …‹« Sie lässt das Gerät sinken, legt die Brille darauf ab. »So geht es weiter. Unsere durchschnittliche Google-Bewertung liegt bei knapp drei Sternen. Tendenz fallend.«

»Du weißt, dass ich die Frauen nur dann allein lasse, wenn sie es gerade brauchen.« Über Monikas Schulter hinweg blicke ich wieder in den Garten. Die Stämme der beiden Birken leuchten weiß in der Vormittagssonne. Auf einem Ast hockt eine Amsel, der ein Wurm aus dem Schnabel baumelt. Ich überlege ernsthaft, mir einen Kaffee zu holen.

»Das Problem mit Google ist«, sage ich, »dass die Leute ihren Frust dort abladen, ungefiltert und ungeachtet des Zusammenhangs. Wenn das Baby pupst, ist die Hebamme schuld – und nicht nur eine, sondern natürlich alle.«

Ich spiele auf den Plural sind absoluteKotzbrocken an, denn es ist absurd, Monika als solchen zu bezeichnen. »Bei keiner dieser Schwangerschaften und Geburten ist etwas schiefgegangen. Alle Babys sind gesund und munter, allen Müttern geht es gut und es ist keine dabei, die nicht wie gewünscht stillen konnte. Nicht ein einziger Damm ist gerissen.« Draußen ist der Wurm im Schnabel der Amsel verschwunden, und ich reiße meinen Blick los, weil ich weiß, dass Monika es hasst, wenn ich sie nicht ansehe, während ich mit ihr spreche. Hans stört das nicht, fällt mir ein.

»Die sind müde und überfordert, weil sie sich nicht vorgestellt haben, wie anstrengend so ein Baby ist. Die dachten, sie atmen ein bisschen tief, entbinden mal eben und haben schwupps ein zuckersüßes Wonnepröppchen, das sie überall mit hinnehmen und herumzeigen können.«

Gestern habe ich einen neuen Beutel Kaffeebohnen im Küchenschrank des Storchennestes deponiert. Eine Aztekenmischung mit zehn Prozent gerösteten Criollo Kakaobohnen, handverlesen und gekauft bei einer kleinen Hamburger Rösterei und so frisch, dass die Tüte ein Einwegventil hat. Mittlerweile sollte der Reifeprozess weit genug gediehen sein, dass ich probieren kann. Seitdem das Päckchen angekommen ist, freue ich mich darauf.

Ich sage: »Die stehen drei Stunden nach der Geburt auf und wollen durch den Park joggen, um möglichst übermorgen ihre Figur zurückzuhaben. Die lesen zehn Ratgeber und brechen in Verzweiflung aus, weil ihr Neugeborenes trotz Tüteldü und Trallala weder durchschläft noch dauernd zufrieden gluckst.« Kaffee wäre jetzt wirklich gut. Der von heute Morgen steht zu Hause auf dem Küchentisch, kalt, elend, nicht zu Ende getrunken. Das hasse ich. »Die denken, Muttersein sei etwas, das man aus Büchern, Talkshows und Foren lernen kann. Monika, ernsthaft, die sind hysterisch. Und es ist nicht meine Schuld, dass das Leben sich nicht an die Kategorien aus dem Ratgeber hält und die Eltern deswegen am Rad drehen.« Ich deute mit dem Kinn auf ihr Tablet. »Wer glaubt, er muss im Krankenhaus entbinden oder beim Metzger, soll dahin fahren. Mir egal. Ich missioniere nicht.«

»Manchmal glaube ich, dass dir alles egal ist.«

Lustig, das Gleiche hat auch Hans mal zu mir gesagt. Wie üblich klang er sachlich dabei.

»Das stimmt nicht«, erwiderte ich damals. »Ich bin bloß unaufgeregt.«

»Vergiss Google«, schlage ich Monika vor. »Wir machen keine schlechtere Arbeit als früher. Seit wann interessiert dich dieser Bewertungskram überhaupt?«

Sie sieht müde aus.

»Ich gehe mir einen Kaffee kochen, willst du auch einen?« Ich stehe auf.

Sie schüttelt den Kopf. »Unsere Auftragszahlen sinken, Helga. Im Vergleich zum Vorjahr haben wir dreißig Prozent weniger Kundinnen. Dreißig.«

Halb auf dem Weg zur Tür bleibe ich stehen. Mir ist aufgefallen, dass wir weniger zu tun haben, sicher. Ich denke an den Ausflug, den Hans und ich vor einigen Wochen machen wollten, nachdem sich ausnahmsweise bei keiner meiner Frauen die Geburt ankündigte und es auch kein Geburtsvorbereitungsseminar zu halten gab. Zwei Nächte in einem Landgasthof mit Sauna und Whirlpool, Wanderwegen ringsum und Ausflugslokalen mit Biergarten. Über das Internet hatten wir eine unverbindliche Anfrage gestellt. Und sind dann doch nicht gefahren. Hans hatte Infomaterial aus dem Büro mit nach Hause gebracht, das er für einen Kunden aufbereiten wollte. Er entwickelt Verpackungskonzepte, in diesem Fall für Lebensmittelhersteller, und ist ganz versessen darauf, eine vor Kurzem erst patentierte Frischhaltelegierung auf dem Markt zu etablieren.

»Kein Problem«, sagte ich zu ihm, als er wenige Stunden vor Ablauf der Reservierungsfrist von dem Termin erzählte, zu dem eine interessierte Firma ihn und seinen Kollegen spontan eingeladen hatte.

»Wenn wir die überzeugen – wow, das wäre was.« Seine Augen hatten geradezu geglänzt, und mir war durch den Kopf gegangen, dass es lange her war, seit ihn irgendetwas so begeistert hatte.

»Wir können auch hierbleiben und ein anderes Mal fahren«, schlug ich vor. Noch während ich es aussprach, fühlte ich, wie sich etwas in mir löste, von dem ich nicht gewusst hatte, dass es da gewesen war, und ich stellte fest, dass ich gar keine Lust gehabt hatte, einen Koffer zu packen, loszufahren, im Auto zu sitzen, in einem fremden Zimmer anzukommen. »Dann kannst du alles in Ruhe vorbereiten.«

Hans blickte mich an, forschend, als versuchte er herauszufinden, ob stimmte, was ich sagte.

»Bist du sicher?«

Ich nickte. »Klar.« Meine Mundwinkel bogen sich zu einem Lächeln, als ich hinzufügte: »Dann kann ich auf dem Sofa liegen und ein gutes Buch lesen.«

Hans grinste zurück. »Das hast du ewig nicht gemacht, oder?«

»Eben.«

Manchmal wünschte ich, andere Menschen wären genauso unkompliziert wie mein Mann. Monika zum Beispiel. Dann könnte sie den ganzen Rezensionsblödsinn einfach sich selbst überlassen.

»Unser Job ist krisensicher«, sage ich zu ihr, als ich die Tür erreiche. »Kinder kommen immer auf die Welt.« Ich rechne mit einem matten, resignierten Lächeln. Ja, Monika ist müde. Ungeregelte Arbeitszeiten sind ungesund, und ihr merke ich den Alltag in ständiger Bereitschaft in diesem Moment deutlicher an als jemals zuvor. Mir fallen Falten in ihrem Gesicht auf, von denen ich nicht sagen kann, ob sie neu sind oder sich bloß tiefer eingegraben haben. Komisch, dass Menschen, die man täglich sieht, einen so überraschen können.

Das Lächeln bleibt aus.

»Ich will in den nächsten Wochen ein paar Fünf-Sterne-Rezensionen sehen, Helga.« Im Gegensatz zu ihrem Gesicht ist ihre Stimme kraftvoll. »Ich erwarte Nachsichtigkeit und Empathie von dir.«

Ich lege meine Hand auf die Klinke und öffne die Tür. Beinahe kann ich die Bohnen schon riechen, die ich gleich in die Mühle füllen werde, um sie klein zu mahlen mit diesem sanft knackenden Geräusch, das angenehmer ist als jedes Meeresrauschen. Ich frage mich, warum noch nie jemand auf die Idee gekommen ist, eine Entspannungs-CD mit Kaffeemahlmusik aufzunehmen.

Durch die zufallende Tür fliegt mir Monikas Stimme hinterher: »Wenn du nicht nett sein kannst, dann tu wenigstens so.«

Storch im Anflug

Madita

»Madita, bist du noch dran?«, kräht meine Schwester Lotta ins Telefon, und ich mache eine Vollbremsung an einer plötzlich roten Ampel. Mein Handy verabschiedet sich in den Fußraum, und mir schießt durch den Kopf, dass unser Vater mir neulich erst einen Vortrag zur Sicherheit im Straßenverkehr gehalten hat. Safety first, Madita. Immer den Helm auf und anschnallen nicht vergessen! Sicherheit. Was andere angeht, bin ich da ganz groß. Ich bedenke alle Risiken und Nebenwirkungen und packe die Lieben um mich herum in die sprichwörtliche Watte. Der Stoffstorch, den Papa mir zum Examen geschenkt hat und der den kreativen Namen Mister Storch trägt, sitzt zum Beispiel bombenfest und mit Panzertape gesichert auf einem Karton. Mein eigener Selbsterhaltungstrieb ist hingegen nicht sonderlich ausgeprägt.

»Hallo, was ist passiert?« Lotta klingt zugleich belustigt und beunruhigt, und ich bekomme das Telefon gerade in dem Moment in die Finger, als es hinter mir ungeduldig hupt. Entschuldigend hebe ich die Hand und fahre los, setze den Blinker und biege in eine ruhigere Straße ab. Das Handy fest in den Fingern. Memo an mich: Unbedingt die Freisprechanlage reparieren und Papa stolz machen.

»Huhu, Kapitänin an Schiffsbesatzung?«

Ich versuche, mich zu orientieren, hab keine Ahnung, wo ich bin, genauso wenig wie anscheinend mein Navi. Blödes Ding!

Eigentlich mag ich ja Umzüge. Es ist mein drittes Mal, und es fühlt sich immer ein bisschen an wie eine Geburt. Man drückt quasi auf reset und startet sein Leben neu. Nicht ganz, natürlich. Die Familie wird man nicht los, was gut ist, und richtige Freunde bleiben trotzdem an deiner Seite. Und Schwestern …

»Madita! Sag mal was!«

Himmel, Barsch und Zwirn! Ungelenk hebe ich das Telefon ans Ohr, klemme es zwischen Schulter und Wange ein.

»Jab«, hauche ich.

»Also, ich hab dir ja erzählt, dass ich Patrick gedatet habe, aber noch immer an Basti denken musste, und da …«

»Das hast du nicht getan«, unterbreche ich meine Schwester, weil ich genau weiß, was als Nächstes kommt. Sie ist die Queen of broken Hearts und kann sich nie zwischen Typen entscheiden. Ich kenne die Geschichten auswendig und habe aufgehört zu zählen, wie oft sie bereits zwei oder drei Eisen im Feuer hatte und einen Sport daraus machte, zu verhindern, dass besagte Männer voneinander erfuhren. Eine hohe Kunst. Die sie mittlerweile meisterhaft beherrscht.

»Natürlich«, antwortet sie. »Nächste Woche stechen wir wieder in See. Und ich wollte vorher wissen, wer sich als Mann im Hafen eher eignet. Auf wen ich mich freuen will, wenn ich in einem Monat zurückkomme.«

Das Handy rutscht mir in den Ausschnitt, weil ich lachen muss. Ich lasse einen Fußgänger über den Zebrastreifen vor mir und angle mein Telefon aus dem Dekolleté.

»Wie soll ich mich zwischen süßem und salzigem Popcorn entscheiden, wenn Saltet Caramel mein Leben ist?«, plappert sie einfach weiter, ohne überhaupt zu bemerken, dass es am anderen Ende der Leitung (dank des Dekolleté-Unfalls) still geworden ist.

Aber ich verstehe, was sie meint, nämlich, dass beide Herren der Schöpfung nur Teile des Gesamtpakets sind, das Lotta sich wünscht. Meine Schwester hat hohe Ansprüche und besteht auf bestimmten Punkten, die ein Mann mitbringen muss. Bei mir ist das anders. Ich verliebe mich Hals über Kopf in die unterschiedlichsten Typen, ganz ohne Kriterien, einfach so.

»Weiß nicht.« Ich fahre an, übersehe beinahe einen Radfahrer.

»Ich muss auflegen, es gibt sonst Tote – wir telefonieren später.« Mein Fiat 500 jault auf, als ich ihn zu doll trete, und ich kann es nicht fassen, dass Lotta noch mal anruft, nachdem ich das Handy Mister Storch an den Kopf geworfen habe.

Solange ich die Straßen dieser Kleinstadt noch nicht in- und auswendig kenne, sollte ich wirklich auf Smalltalk am Steuer verzichten. Besonders da mir Lotta manchmal den letzten Nerv raubt. Ich liebe meine Schwester, aber sie weiß grundsätzlich alles besser. Und mit Kritik hält sie nie lange hinterm Berg. Madita, findest du wirklich, dass Hebamme ein Beruf für die Zukunft ist? Über kurz oder lang kann doch kein Mensch bei gesundem Verstand noch Kinder in diese Welt setzen wollen.

Ich trete aufs Gas, überhole einen UPS-Fahrer, der einfach mal auf der Straße vor einem Frisörsalon parkt.

Madita, willst du nicht erst mal was von der Welt sehen, bevor du dich in deinem Leben festfährst? Du bist noch so jung.

Ich schiele aufs Navigationssystem und wundere mich, dass weder die ersehnte Hausnummer 33 noch die Lilienstraße auftauchen. Ich habe ein Zimmer in einer netten WG gemietet, die nur wenige Minuten von meinem neuen Arbeitsplatz im Storchennest in der Sonnenblumenallee entfernt ist. Ideale Lage also, auch wenn ich momentan aus unerfindlichen Gründen die Rosenstraße entlangrolle.

»Ui, wenigstens gibt’s hier ein hübsches Café«, freut sich der Schokoladenjunkie in mir, als ich ein einladendes Schild an einem hellblauen Altbau mit Türmchen sehe: Amore Belle.

Ich muss zugeben, die gesamte Straße ist wie aus dem Bilderbuch. Wunderschöne Gebäude reihen sich aneinander wie bunte Perlen an einer Schnur, beherbergen kleine Geschäfte und Restaurants und laden einen geradezu ein, es sich nach einem anstrengenden Arbeitstag so richtig gutgehen zu lassen.

Stumm grinse ich vor mich hin, Lotta gibt ihre Anrufattacke auf, und Mister Storch sieht sich entspannt die neue Nachbarschaft an – na ja, zumindest wirkt er so.

Nach drei Jahren Abenteuer der Geburtshilfe, lernen bis der Arzt kommt, schwitzen, heulen, lachen und Examenskreißsaal bin ich nun also hier, um Kurse zu geben, Hausbesuche zu machen und die Babys dieser Vorstadt auf die Welt zu holen. Ich kann es kaum erwarten!

Während im Radio Sister of Pearl von Baio läuft, parke ich mein Auto gekonnt und flott in einer winzigen Parklücke, weil mein Navi jetzt doch meint, dass wir das Ziel erreicht hätten.

Mein Herz pocht hart gegen den Stoff meines T-Shirts, als ich mich abschnalle und einen prüfenden Blick in den Spiegel werfe. Sollte ich den Kajal nachziehen? Er sieht ein wenig verwischt aus. Vielleicht noch ein bisschen Lipgloss? Ich verwerfe den Gedanken und fixiere mich im Rückspiegel.

»So, Madita. Jetzt kommt es auf dich an. Mach einen guten ersten Eindruck bei deinen neuen Mitbewohnern und nimm sie für dich ein«, fordere ich mich selbst auf und kneife mir in die Wangen, um Farbe in meine blasse Haut zu bringen. Ich freu mich immer, neue Leute kennenzulernen, bin aber auch jedes Mal nervös. Von den dreien, die mich in ihrer schnuckeligen WG aufnehmen wollen, habe ich bislang nur Niklas kennengelernt, und das bloß am Telefon. Ich bin so gespannt, wie Tonja und Marie sind.

Ungelenk drehe ich meine pastellrosa Haare zu einem Dutt. Dann zupfe ich zwei Strähnen wieder heraus, damit es lässiger aussieht, und atme tief durch.

»Na dann, volle Nuss voraus.« Ich ziehe den Karton zu mir herüber, befreie Mister Storch vom Panzertape und öffne die Autotür. Leider vergesse ich, dass es die Straßenseite ist. Bremsen eines Fahrrads quietschen, und mein Herz setzt einen Schlag aus, während mein hübsches Plüschmaskottchen vom Karton auf den Asphalt segelt.

»O Gott, es tut mir so leid!«, stammle ich sofort. Mann, ich bin hier, um Leben auf die Welt zu holen, nicht um welche zu beenden! Augenblicklich gehen mir alle lebenserhaltenden Sofortmaßnahmen durch den Kopf. Stabile Seitenlage, Herzdruckmasse, Mund zu … Hoppla.

»Ist ja nichts passiert«, knurrt eine raue Stimme. Graublaue Augen funkeln mich angriffslustig an. Zum Glück trägt der Typ einen Helm, wie vorbildlich. Papa wäre stolz auf ihn. Ich versuche zu lächeln, ohne dass es irre aussieht.

»Wirklich nicht?« Meine Stimme versagt, ist nichts als ein Wispern im Wind, und der erste Mensch in dieser Stadt, mit dem ich ein Wort wechsle, verzieht seinen Mund zu einem Strich. Eine Mischung aus Spott und Belustigung spiegelt sich auf seiner Miene, während er sich bückt, um den Storch aufzuheben. Meine Knie sind weich, und ich steige Karton voraus aus meinem Wagen. Ein Auto weicht auf die andere Fahrbahnseite aus und hupt.

»Nein, aber das war reines Glück. Ich frag mich, wo du deinen Führerschein gemacht hast«, meint der gewitzte Typ und setzt mir Mister Storch zurück auf den Karton. Er zögert, als liege ihm noch etwas auf der Zunge, das er nur mühsam verschluckt, während er sein Rennrad näher an mein Auto heranschiebt, damit andere Verkehrsteilnehmer leichter an uns vorbeikommen.

Ich versuche, mein grenzdebiles Grinsen unter Kontrolle zu bringen, und balanciere olympiareif das Stofftier auf dem Karton.

»Den hab ich gewonnen, in einem Preisausschreiben in Kalkutta.« Mit der Hüfte kicke ich die Fahrertür zu. Ein Kleintransporter rauscht an uns vorbei, wirbelt trockene Blätter über die Straße, und meine Gedanken verhalten sich ähnlich wie das Laub. Sie strudeln und fliegen durcheinander. Der hübsche Fremde setzt den Fuß aufs Pedal, blickt sich nach allen Seiten um, bevor er sich auf den Sattel schiebt. Am liebsten möchte ich ihn aufhalten. Ihn fragen, was hier so los ist in der Stadt. Ihn als großes Sorry zu einem Kaffee einladen.

»Ich bin übrigens neu hier«, beeile ich mich ihm mitzuteilen. Vielleicht in der Hoffnung, dass er mir die Stadt zeigen will.

»Freut mich, Neu-hier, dann mach’s mal gut«, ist nicht das Schlusswort, das ich mir erhofft habe, und mein Grinsen verrutscht.

»Ich wünsche dir noch einen schönen Tag und pass auf dich auf!«, rufe ich ihm nach, als er nach erneutem Schulterblick in die Pedale tritt. »Es sind verdammt viele Verrückte unterwegs!«

Für eine halbe Sekunde schaut er zu mir zurück. »Pass das nächste Mal auf, wenn du aus deinem Auto steigst.«

»Klar! Man sollte eine Dummheit nie zweimal machen«, brülle ich, während er sich in sportlicher Geschwindigkeit von mir entfernt. »Es gibt so viel Auswahl.« Ich reiße mich vom Anblick seines Rückens los und eiere um den Fiat herum zum Fußgängerweg. Wenn der wüsste, wie oft ich Dummheiten wiederholen kann … Meinen Ex habe ich ganze dreimal zurückgenommen, obwohl er das Wort »Ignoranz« quasi erfunden hat. Er war verheiratet mit Call of Duty, einem Computerspiel, dem ich so gar nichts abgewinnen kann, und merkte nicht einmal, als ich entführt und ganze drei Tage von Verbrechern festgehalten wurde. Na gut, ich hatte mich bei Lotta verkrochen, um zu sehen, wann ihm auffällt, dass ich nicht mehr da bin. Genauso gut hätte ich meine Schwester auf ihr Schiff begleiten und ein Jahr Seeluft schnuppern können – es hätte ihn nicht gejuckt. Freunde versichern mir ständig, dass es nichts mit mir zu tun hatte, sondern ausschließlich mit ihm. Ich selbst bin mir da manchmal nicht so sicher, was nervig an meiner Seele zupft.

»Guck nicht so«, murmle ich Mister Storch auf dem Karton zu, der mit seinem Kopf im Takt meiner Schritte nickt. »Niemand ist perfekt.«

Ich drücke mit dem Ellenbogen auf die Klingel mit den drei Namen ganz oben rechts. Aus den Augenwinkeln nehme ich eine Mutter wahr, die einen Kinderwagen schiebt und sich gerade eine Zigarette anzündet. Ich unterdrücke den Impuls, ihr hinterherzulaufen, das Nikotinröhrchen aus dem Mund zu ziehen und stattdessen einen Powerriegel zu schenken.

Gedankenverloren blicke ich ihr nach und falle in den tristen Hausflur, als die Tür sich mit einem Surren öffnet. Fast stürzt mir Mister Storch ein weiteres Mal vom Karton. Memo an mich: Dem Storch einen Fallschirm nähen.

»Huhu!«, ruft es aus dem dritten Stock herunter, und mit Karton und Kuscheltier fliege ich die Treppe hinauf. Oben angekommen brauche ich ein Sauerstoffzelt, pfeife aus dem letzten Loch, freu mich aber über das strahlende Lächeln, das mich empfängt.

»Hallo, ich bin Madita«, keuche ich, und Mister Storch breitet seine Schwingen aus, um nun doch im Sturzflug vom Karton zu segeln.

»Ups«, sagt der Mann in der Tür, den ich an seiner weichen Stimme als Niklas erkenne. »Stürmischer Storch im Anflug.« Er sieht ganz anders aus, als ich mir den jungen Lehrer vorgestellt habe. »Ich bin Niklas, wir haben telefoniert.« Seine Brille ist ein Harry-Potter-Model und seine Haare auffällig unauffällig über Geheimratsecken gestylt. Er klemmt sich Mr. Storch unter den Arm und nimmt mir galant die Kiste ab.

Mein Rücken kracht, während ich mich aufrichte und einige Herzschläge hyperventilierend im Türrahmen abstütze. Memo an mich: Unbedingt wieder Sport treiben. Radfahren wäre schön.

»Oh, danke dir. Ich muss zugeben, die Fahrt war echt anstrengend.« Und das Ankommen tricky und mordsgefährlich, füge ich in Gedanken hinzu und lächle gequält.

»Komm erst mal rein.« Niklas winkt mich durch die Tür.

Die Wohnung ist hübsch, genau wie auf den Fotos. Hell, sauber und modern eingerichtet. Zwei Mädels, eine mit Kurzhaarfrisur, die andere mit Fischgrätenzopf und strahlend blauen Augen, sitzen in der Küche und winken mir zu.

»Hey, Madita. Herzlich willkommen, wir haben dir dein Zimmer schon hergerichtet«, zwitschern sie fröhlich und kommen auf mich zu. Wir schütteln uns die Hände, und die Kurzhaarfrisur führt mich zur zweiten Tür links, um mir das möblierte Reich zu zeigen, das ich gemietet habe.

»Oh, wow. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.« Gemeinsam treten wir ein. Alles ist weiß. Der Schrank, das Bett, der Nachttisch, der lasierte Holzboden, die Gardinen; ich möchte mir eine rosarote Brille aufsetzen, so geblendet bin ich.

»Den Bettüberwurf hab ich selbst genäht. Ich bin übrigens Tonja«, stellt sich der Grätenzopf vor und macht eine Tadaaa-Geste.

»Wow«, wiederhole ich. »Superschön. Fast so hübsch wie aus der Kaiserschneiderei.«

Unterdessen stellt Niklas meinen Karton vors Bett. Der Vorteil von mitgemietetem Mobiliar liegt auf der Hand: Es ist ein gemachtes Nest, in dem ich nur noch landen muss. Auch wenn’s nicht mein eigenes ist.

»Hahaha, Kaiserschneiderei! Das ist ein Hebammenwortspiel, oder?« Marie legt den Arm um Tonja und haucht ihr einen Kuss auf die Wange.

»Möchtest du was trinken? Du hast bestimmt eine lange Reise hinter dir«, vermutet Tonja und schenkt mir ein honigsüßes Lächeln, das allerdings knapp unterhalb ihrer Augen stoppt. Hoppla.

»O ja, gern.« Ich lächle zurück, bis in beide Pupillen hinein, und wische mir eine rosa Strähne aus dem Gesicht.

»Was magst du denn?«, fragt Tonja. »Also, wenn ich raten müsste, dann würde ich auf Früchtetee tippen.«

Einen Augenblick bin ich von Niklas abgelenkt, der mit Mister Storch herumspielt, als wäre der eine Handpuppe, und wünsche mir etwas mit bedeutend mehr Gehalt. Aber Früchte sind auch okay.

»Ja, gern«, antworte ich ein bisschen eingeschüchtert. Tonja erinnert mich fatal an meine Tante Hannelore. Und der widerspricht man nicht. Sie war einst Gymnasiallehrerin und vermisst die Zeiten, in denen man mit Rohrstock unterrichtete, schmerzlich.

Im Gänsemarsch erreichen wir die Küche, wo Tonja auf die Eckbank deutet, die sich um den wackeligen Esstisch schmiegt. »Mach’s dir ruhig gemütlich, ich setze mal Wasser auf.«

Marie holt Tassen aus einem weißen Hängeschrank, und ich sehe mich um. Mir fällt eine Fotokollage an der Wand neben der Tür auf, die meine drei neuen Mitbewohnenden an verschiedenen Orten zeigt. Am Meer, auf einer Party und in Blumenfeldern.

»Wir sind schon gespannt, dich kennenzulernen. Erzähl mal was von dir«, fordert Tonja mich auf, während Niklas ein Kissen in meinem Rücken zurechtklopft, bevor er mich sitzen lässt. Es ist aus weißer Spitze und porentief rein, was mich schmunzeln lässt, weil ich an mein Praktikum bei einer freiberuflichen Hebamme denken muss, die ich bei ihren Hausbesuchen begleiten durfte. Dabei habe ich so viele Paare kennengelernt, bei denen alles sauber und am rechten Fleck war, dass man neidisch werden konnte. Bis zur Geburt des ersten Kindes jedenfalls, und ich frage mich, ob das bei Niklas später auch so sein wird.

Ich bemerke, dass alle drei mich anstarren, und sage hastig: »Oh, wo fang ich da an?« Das Lieblingskennenlernspiel meiner besten Freundin aus Schulzeiten fällt mir ein, sodass ich hinterherschiebe: »Wenn ich mich mit drei Adjektiven beschreiben müsste, wären es vermutlich: eine Frau für alle Fälle, für jeden Spaß zu haben und liebenswerte Chaotin.« Unsicher zupfe ich an meiner Unterlippe und lausche auf das Blubbern des Wasserkochers.

»Das sind zwar keine Adjektive, aber sonst hört sich’s nett an.« Tonja klingt gönnerhaft und tauscht einen langen Blick mit Niklas. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße, hab ich mal gehört und frage mich, ob dem Mann im Haus Ärger blüht, weil er sich als Hauptmieter für mich als neue Mitbewohnerin entschieden hat.

»Wir sind zusammen die Unschlagbaren Drei. Zielstrebig, sozial und ordnungsliebend«, wirft Marie in die entstandene Stille ein.

»Super, dann bin ich die Vierte im Bunde und muss mir nur noch ein passendes Adjektiv aussuchen?«, vermute ich, während Tonja den Tee aufgießt und Marie mir die Tasse mit einem Mango-Vanille-Beutel hinschiebt. Mein Blick bleibt am Kühlschrank mit dem Putzplan hängen, in dessen vierte Zeile mich freundlicherweise schon jemand eingetragen hat.

»Wie wäre es mit den Unschlagbaren Vier: zielstrebig, sozial, ordnungsliebend und niedlich?«, schlage ich vor. Als ich am Tee nippe, verbrenne ich mir die Zunge und huste. Ist das gerade mein fucking Ernst? Mir lagen die Eigenschaften unordentlich, gewitzt, überdreht und kreativ auf der Zunge, aber herausgekommen ist niedlich? Meine innere Richterin steht fassungslos daneben und möchte mir gern einen Tritt vors Schienbein geben.

Niklas lacht. »Das passt«, amüsiert er sich, während er Mister Storch würgt. Memo an mich: Den Plüschvogel in Sicherheit bringen, sobald es möglich ist!

»Jahaha, danke.«

»Gremlins sind auch niedlich«, fügt Tonja hinzu. Sie setzt sich neben mich und mustert mich mit ihrem Lehrerinnenblick. »Bis man sie nach Mitternacht füttert. Wie ist das mit dir, Madita? Darfst du nass werden und nach Mitternacht noch essen?«

»Na klar. Ich bin pflegeleicht und handzahm«, versichere ich und könnte ein Likörchen in meinem Früchtetee vertragen. Denn die Vorstellungsrunde, fürchte ich, geht jetzt erst richtig los.

Sandwiches

Helga

Nachdem ich meinen Kaffee im Storchennest getrunken habe – die Note der Criollo Kakaobohnen ist umwerfend –, fahre ich zu meinem einzigen Termin heute. Sonntags betreuen wir nur die Wöchnerinnen, die innerhalb der letzten sieben Tage entbunden haben. Und Notfälle natürlich. Oder Mütter wie Ines.

Während ich im Auto sitze, denke ich über das Wort nett nach. Solche Kategorien finde ich nutzlos. Monika scheinen sie wichtig zu sein. Seit Jahren entbinden Hebammen des Storchennests, Ende der Neunziger von Monika gegründet, Babys und betreuen deren Mütter vor, während und nach der Geburt. Früher waren wir zu dritt, zwei Jahre lang sogar zu viert, bis beide Kolleginnen zu festen Dienstplänen, Urlaubstagen und bezahlter Haftpflichtversicherung ins Krankenhaus wechselten. Danach bot Monika mehrmals ein sechsmonatiges Praktikum an, inzwischen sind wir nur noch zu zweit.

An unserer Arbeit hat sich nichts geändert, wie eh und je kümmern wir uns um werdende Mütter, um frischgebackene Mütter und, wenn Zeit ist, auch um aufgeregte, nervtötende oder übereifrige Väter. Und wir begleiten Geburten, mit jeder weiteren mit ein bisschen mehr Erfahrung. Es erscheint mir widersinnig, dass so etwas wie nett meine Arbeit bewertet. Ein Auto schafft es auch nicht durch den TÜV, bloß weil es blank poliert ist.

Ich parke meinen Wagen, steige aus und laufe bis zu dem Mehrfamilienhaus, in dem Judith lebt. Vor sechs Tagen ist sie Mutter eines dritten Kindes geworden und empfängt mich in dem Durcheinander, in dem sie seit jeher versinkt. Die Erstgeborene, Lara, ist sechs und kam im Krankenhaus zur Welt. Ihr Bruder Leon ist drei und ein Storchennest-Baby. Nummer drei habe ich in Judiths Wohnzimmer entbunden. Im Beisein von Lara und Leon, die mit Papa Sven im Türrahmen standen und sich nicht näher herantrauten.

»Schadet es ihnen, wenn sie dabei sind?«, hatte Judith im Vorfeld gefragt.

»Weiß man immer erst hinterher.«

Sie hatte mich angestarrt, ängstlich, mit Tendenz zum Unglauben und einer Spur Verärgerung.

»Na ja, jedes Kind ist anders«, erklärte ich, während meine Hände ihren prallen Bauch abtasteten. »Bestens, das Baby liegt genau richtig. Es ist bald so weit. Ich habe aber noch nie erlebt, dass ein Geschwisterkind, das der Geburt seines Brüderchens oder Schwesterchens beiwohnte, einen bleibenden Schaden davongetragen hat. Schlimmstenfalls erschrecken sie sich eben.«

Heute öffnet mir Judith im Trainingsanzug die Tür, dessen Oberteil Milchkotzeflecken sprenkeln. Ein Teil ihrer Haare steckt in einem wirren Zopf, der Rest hängt ihr strähnig ins Gesicht. Mir schlägt ein saurer Geruch entgegen. Irgendwo in der Wohnung scheppert es, Lara lässt die Welt wissen, dass ihr Bruder ein Arschgehirn ist, es kracht, und dann hören wir Leon weinen.

»Lara, wir sagen so was nicht«, ruft Judith über die Schulter, während sie zur Seite tritt, um mich einzulassen. Das Erfrischende an Müttern von mehr als zwei Kindern ist, dass sie sich nicht mehr entschuldigen. Es ärgert mich, wenn mir frischgebackene Zweitmütter versichern, dass Noah, Hannah, Pia ect. sonst immer lieb ist, obwohl wir beide wissen, dass das nicht stimmt. Niemand ist immer lieb. Und ich will keine Rechtfertigung dafür hören. Das ist, wie sich fürs Niesen zu entschuldigen oder dafür, dass man pupst. Was soll das? Genauso wenig interessiert es mich, dass die Wohnung nicht aufgeräumt, das Bett nicht gemacht oder die Wäsche nicht gewaschen ist. Es geht mich nichts an. Und es gibt Wichtigeres.

Über einen Gummistiefel-, Turnschuh- und Jackenparcours folge ich Judith durch den Flur ins Wohnzimmer, in dem sie sich mit Kissen und Decken auf dem Sofa eingerichtet hat. Eine Schale mit matschigen Cornflakes balanciert auf der Lehne, auf einem zum Beistelltisch umfunktionierten Stuhl steht ein Teeglas, halb leer, ein zerknautschter Beutel darin, ein angebissenes Salamibrot zur Gesellschaft daneben. Zwischen Couchtisch und Bücherregal spannen sich Schnüre, die mit Decken und Tüchern behängt sind, unten denen es dudelt.

»Lara, machst du bitte das Tablet aus? Du hast genug geschaut.«

Es dudelt weiter. Leon kommt ins Zimmer, dicke Buntstifte in den Händen, das Gesicht blau-grün verschmiert. Judith seufzt.

»Ich hab ihm gesagt, dass er kein Wasser nehmen soll. Mit denen kann man nämlich auch Aquarellieren.« Sie deutet auf die Stifte. »Schatz, gehst du dich bitte waschen?«

Leon schlurft davon. Ich warte ab, kann aber nirgends Wasser rauschen hören.

»Wo ist Leander?«, erkundige ich mich, nachdem ich mich im Zimmer umgeschaut habe und das Neugeborene nirgendwo entdecke.

»Schläft. Ich hab ihn ins Schlafzimmer gelegt, da ist es ruhiger.«

»Gut, dann schaue ich mir erst mal dich an.«

Judith lässt sich aufs Sofa und in die Kissen fallen, macht sich frei, wo es nötig ist, und ich begutachte zunächst die Brustwarzen, die noch röter sind als gestern und mittlerweile schorfig verkrustet. Ich deute darauf. »Du musst darauf achten, dass Leander beim Trinken nicht nur an der Warze saugt, sondern möglichst viel vom Brustwarzenvorhof in den Mund nimmt«, wiederhole ich, was ich Judith gestern bereits geraten habe und vorgestern und gleich beim ersten Anlegen unmittelbar nach der Geburt. Beim dritten Kind könnte sie es allmählich wissen.

»Ich versuche es.« Sie gähnt. »Aber nachts denke ich nicht immer dran. Und es tut höllisch weh.«

»Natürlich tut es weh. Das ist eine saubere Entzündung.« Ich öffne meine Tasche und hole eine Tube Wollwachscreme heraus, mit der ich Judiths Brustwarzen behandle. »Ein bisschen Mühe musst du dir schon geben.«

Das Gedudel unter dem Zelt wird lauter. Es ist meine Freundin Conni, bei der jeden Tag etwas los ist. Neben Schwimmen und Reiten lernt sie auch noch Tanzen und die Uhr verstehen. Na, wunderbar. Endlich mal ein Kind, das sich nicht den ganzen Tag langweilen muss …

»Süße, machst du mal leiser?«

»Frag sie nicht immer.«

»Was?«

»Du stellst deinen Kindern permanent Fragen: ›Hört ihr auf zu streiten, machst du das Tablet aus, gehst du dich waschen‹ – wenn du deine Kinder fragst, darfst du dich nicht wundern, wenn sie es nicht machen.«

Judiths Brauen kriechen aufeinander zu. Jetzt sieht sie weniger müde als unwillig aus. »Aber sie wissen doch, was ich meine. Solche Details verstehen die überhaupt nicht.«

»Na, wenn dusie schon nicht verstehst, verstehen sie deine Kinder natürlich auch nicht«, sage ich und kann nicht verhindern, dass mir Monikas bohrender Blick in den Sinn kommt. War das nett? Es war nötig, finde ich, schraube den Deckel auf die Tube und reiche sie Judith. »Hier, die kannst du behalten. Behandle deine Brustwarzen nach jedem Stillen damit und achte endlich darauf, dass Leander richtig andockt. Soll ich dir noch mal zeigen wie?«

Judith schüttelt den Kopf. »Das kriege ich schon hin.«

»Trinkt er denn genug?«

Sie nickt. »Glaub schon.«

»Ich wiege ihn, dann wissen wir, ob er zugenommen hat. Und morgen bringe ich dir Kühlpacks mit.« Auch das ist nicht nett, sondern selbstverständlich. Warum schreibt das niemand auf Google? Die Hebamme hat mir Kühlpacks für meine Brustwarzen mitgebracht, nachdem sie sich entzündet haben, weil ich die Ratschläge der Fachfrau ignoriere. Ich fische nach meinen feuchten Tüchern und wische mir die Finger sauber. Anschließend taste ich Judiths Unterleib ab und bin mit dem Ergebnis zufrieden. »Sonst noch irgendwelche Beschwerden?«

Judith schüttelt den Kopf. »Nein, alles gut.« Sie gähnt.

»Dann lass mich nach Leander sehen«, sage ich, während ich Judiths Zustand in Stichworten auf einer Karteikarte dokumentiere.

Judith stemmt sich vom Sofa hoch, ich sehe ihr an, dass sie lieber liegen bleiben würde. Unter dem Tuch sieht Conni gerade ein, dass sie ihren Bruder nicht anmeckern darf, weil der noch viel zu klein ist, um zu verstehen, dass sie traurig ist, wenn er ihre Bauklotztürme umwirft.

»Nimm dir mal ein Beispiel an Conni«, murmelt Judith, während sie im Vorübergehen die Koppel der Playmobilpferde zerstört, die sich bis eben im Zelteingang befunden hat.

»Mama!«, schreit es unter den Decken. »Mann, das war voll schwer, das aufzubauen.«

Judith sieht aus, als hätte sie keine Ahnung, worum es geht, und schlurft durch die Diele zum Schlafzimmer. Im Bad höre ich Wasser laufen und laufen und laufen. Vielleicht wäscht sich Leon ja doch.

Die Gardinen im Schlafzimmer sind zugezogen, vor dem Bett türmt sich ein Haufen Wäsche. Soweit ich erkennen kann, eine Kombination aus gebrauchter und frischer. Der Windeleimer, der neben dem Wickeltisch steht, quillt über und verströmt entsprechenden Gestank.

»Wo ist Sven?«, frage ich Judith, die auf das Ehebett zusteuert, auf dem in einem Hufeisen aus einer Decke und einem Stillkissen Leander liegt, das Köpfchen zur Seite gedreht, die geballten Fäustchen links und rechts daneben.

Ein Lächeln erscheint auf Judiths abgespanntem Gesicht. »Der ist kurz ins Büro, ein paar Sachen erledigen.«

Meine Brauen schnellen in die Höhe. »Er hat sich doch Urlaub genommen.«

Judith kriecht aufs Bett, robbt zum Hufeisen hin und legt sich dazu. Sie streckt einen Arm aus, streichelt ihrem Baby mit dem Zeigefinger sanft über den Bauch. »Er brauchte mal eine Pause, die Kinder haben ihn total gestresst.«

Ich krame in meiner Tasche und ziehe das Handy heraus, scrolle mich durchs Adressbuch.

»Was machst du?« Judiths Blick huscht zu mir, bevor er zu Leander zurückkehrt und sich auf dem kleinen Gesichtchen festsaugt. Rote Pünktchen von Neugeborenenakne sprenkeln seine Haut, und mit seinen langen Fingernägeln hat sich das Baby selbst ein paar Kratzer zugefügt. Judith hatte sie schneiden wollen, bevor ich sie daran erinnerte, dass Nägel von Neugeborenen weich sind und in der Regel von selbst abfallen. Wahrscheinlich habe ich Das könntest du inzwischen eigentlich wissen zu Judith gesagt. Was wahr ist.

»Ich sage Sven, dass er herkommen und sich um Lara und Leon kümmern soll. Und dir eine Suppe kochen.« Ich wähle seine Nummer aus und will darauftippen.

Judith unterbricht mich: »Mach das nicht, bitte.«

Für einen Moment bin ich angetan davon, dass sie nicht gefragt hat: »Machst du das bitte nicht?«, bevor ich sage: »Es geht nicht, dass er dich hier mit allem allein lässt.«

Judith legt den Kopf auf dem Hufeisen ab und schließt die Augen. »Besser so, als wenn er die Kinder anschreit.«

Im Bad rauscht noch immer das Wasser. Ich höre Füße durch den Flur tapsen. Kurz darauf entbrennt ein Streit im Wohnzimmer. Judith macht ein Na-siehst-du-Gesicht, atmet zweimal tief ein und aus. »Ich komme klar.«

Ich zögere. Stecke das Handy schließlich ein. »Du solltest einmal am Tag eine warme Mahlzeit zu dir nehmen, besser zweimal. Und Tiefkühlpizza zählt nicht.« Judith grunzt. Ich bücke mich zu meiner Tasche und hole die Tuchwaage heraus, trete ans Bett heran.

Das Neugeborene hat runde Wangen, erstaunlich dichtes Haar bedeckt das Köpfchen. Ich erinnere mich daran, als Erstes diesen Schopf gefühlt zu haben, als der Kopf in meine Hände glitt, begleitet von Judiths Knurren und Ächzen. Sie hat sich zurückgehalten, um die zuschauenden Geschwister nicht durch Gebrüll zu erschrecken. Damals, als sie Leon auf die Welt kreischte, wartete ich jeden Moment darauf, dass die Polizei klingelte, um das mit der Ruhestörung zu regeln. Dabei ist das Storchennest ein freistehendes Haus.

Leanders Fäustchen öffnen sich, er atmet tief. Ich lege die Waage vor dem Hufeisen ab und schiebe das Tuch auseinander.

»Ich hebe dich jetzt hoch, um dich zu wiegen«, flüstere ich dem Baby zu, bevor ich eine Hand unter seinen Nacken schiebe, die andere unter Rücken und Po. Es schmatzt, als ich es hochhebe und ins Tuch lege, wacht aber nicht auf. Ich packe die Griffe der Waage und halte sie und den Säugling darin in die Höhe. 3.350 Gramm, das passt.

Von schräg unten ertönt leises Schnarchen; Judith hängt halb über dem Stillkissen, die strähnigen Haare über den Augen.

»Schlaf du auch noch ein bisschen«, fordere ich Leander auf. »Deine Mutter muss sich ausruhen.« Ich lege Baby und Waage ab, schäle das Kind aus den Tuchbahnen und lege es in sein Hufeisen zurück. Der Kopf kullert auf die andere Seite als vorhin, ein gutes Zeichen, keine Verspannungen.

Ich packe meine Sachen zusammen und schließe die Tür hinter mir. Auf dem Weg am Wohnzimmer vorbei erhasche ich einen Blick auf zwei Paar Füße, die nebeneinander aus dem Eingang der Höhle ragen. Ich erfahre, dass Shaun das Schaf Shaun das Schaf ist, stelle im Bad den Wasserhahn aus und möchte mich auf den Heimweg machen.

An der Wohnungstür bleibe ich stehen. Zögere. Mit einem Seufzer lasse ich meine Tasche zu Boden gleiten und steuere die Küche an. Mit ein paar Handgriffen habe ich die Spülmaschine beladen und die Reste vom Frühstück im Kühlschrank verstaut. Judith und Sven haben einen grottenschlechten Geschmack, was Kaffee betrifft, aber immerhin besitzen sie einen Automaten, der ganze Bohnen verarbeitet. Während das Schreddern das Gedudel aus dem Wohnzimmer übertönt und sich ein angenehmer Duft ausbreitet, schnipple ich einen Apfel und eine Banane klein. Zwischen den Kräutertöpfen auf dem Fensterbrett entdecke ich eine Packung Kekse und spendiere zwei.

Als ich ins Wohnzimmer komme und den Obstteller ins Zelt reiche, kräht ein doppeltes »Danke, Helga!« zurück, und mit einer dampfenden Tasse lasse ich mich aufs Sofa sinken. Für Kaffee ist immer Zeit.

*

Zu Hause stelle ich meine Tasche auf ihren Platz neben der Tür. Es ist wichtig, dass sie immer am selben Ort steht, damit ich sie auch im Halbschlaf erwische. Kurz nachdem ich meine Ausbildung beendet hatte und ein halbes Jahr lang eine freiberufliche Hebamme begleitete, wäre ich einmal beinahe mit Hans’ Unitasche zu einer nächtlichen Geburt aufgebrochen, weil er sie neben meiner Ausrüstung abgestellt hatte. Ich bemerkte es erst im Auto und musste noch einmal zurücklaufen. Seitdem haben Taschen, Rücksäcke und überhaupt Gepäckstücke aller Art Flurverbot. Nicht dass es auf Google am Ende noch heißt: Unmöglich, im Storchennest messen sie die Herztöne mit Lineal und Zirkel!

Ich schlüpfe aus den Schuhen und hänge meine Jacke an die Garderobe. Es ist halb drei, ich könnte mir etwas zu essen machen. Weil die Fenster nach Süden rausgehen, ist es schattig, als ich die Küche betrete. Sie ist altmodisch eingerichtet, mit eckig umlaufend angeordneten Arbeitsflächen, einem Vorrats-, einem Geschirr- und einem Schrank für Töpfe, Pfannen und Schüsseln, die wir nie benutzen, weil weder Hans noch ich gern kochen. Immerhin kann er es wenigstens.

Ich öffne den Vorratsschrank und überlege, auf was ich Appetit habe. Eine schnelle Kraftbrühe, wie ich sie besonders angeschlagenen Müttern hin und wieder koche, kommt mir zu beruflich vor. Reis gelingt mir nicht, Nudelsoßen finde ich kompliziert und Kartoffeln dauern mir zu lang. Außerdem, was isst man zu Kartoffeln?

Im Kühlschrank finde ich ein wenig Gemüse, drei große Tomaten, eine halbe Gurke, eine Möhre. Kein Quark, keine Kräuter. Stimmt, ich wollte einkaufen gehen, am Freitag schon, aber dann hat mich, als ich ihrer Mama zeigen wollte, wie man ein Neugeborenes sachgemäß badet und dass man dazu mitnichten einen zwanzig Euro teuren Baby-Eimer braucht, weil es ein Zwei-Euro-fünfzig-Wäschekorb genauso tut, die zehn Tage alte Karla vollgeschissen. Quer über den Pullover, und ich bin nach Hause gefahren statt in den Supermarkt. Später muss ich es vergessen haben. Auch Hans hatte offensichtlich anderes im Kopf.

Ich beschließe, Sandwiches zu machen, und hole Toast aus dem Brotkasten, die Gemüseauswahl sowie Aufschnitt aus dem Kühlschrank und freue mich, als ich hinter dem Reis ein Glas Petersilienpesto im Vorratsschrank finde. Ich trage meine Ausbeute zum Esstisch im Wohnzimmer hinüber und stelle den Sandwichmaker auf.

»Hans?« Als es still bleibt in der Wohnung, trete ich einen Schritt in den Flur. Kein Tastenklappern aus Richtung des Arbeitszimmers. Vermutlich ist er im Büro; sonntags ist er dort ungestört und kann nach Herzenslust im Labor herumexperimentieren. Irgendeinen Test gibt es immer zu machen. Hans liebt Erhebungen.

Zehn Minuten später brutzelt der Sandwichmaker, presst Weißbrot, Schinken, Käse, Tomaten, Gurke und Petersilienpesto zu einem knusprigen Erlebnis zusammen, als sich Hans’ Schlüssel im Schloss dreht. Kurz darauf betritt er das Wohnzimmer und schnuppert. »Hier riecht’s gut.«

»Du kannst mitessen, es ist genug da.« Ich schiebe ihm die Platte mit den bereits fertigen Sandwiches hin.

Er verschwindet in der Küche, kehrt mit einem Teller und Besteck zurück, setzt sich zu mir an den Tisch und nimmt sich eins. »Danke.«

Ich nicke, bediene mich ebenfalls. »Was Neues von Berger?« Ich halte meinen Toastbrotdoppeldecker in beiden Händen, stütze mich auf den Ellenbogen ab und beiße hinein.

Im Gegensatz zu mir verabscheut Hans es, mit Fingern zu essen. Mit Messer und Gabel schneidet er eine Ecke seines Sandwiches ab. »Es läuft gut. Der Test hat ihre Erwartungen übertroffen, und jetzt wollen sie die Legierung an allen drei Standorten einführen.«

»Schön.«

Hans nickt. Dann macht er ein ernstes Gesicht, das wenig zu dem Erfolg passt, über den wir gerade sprechen. Das Lämpchen am Sandwichmaker leuchtet auf, und ich hebe den Deckel und hole einen weiteren Doppeldecker heraus. Drei ungegarte liegen noch bereit, einen davon setze ich zwischen die Eisen und presse ihn zusammen.

»Ich muss mit dir reden, Helga.« Hans legt sein Besteck zur Seite. Kaum drei Bissen hat er bisher genommen. »Das heißt, ich möchte mit dir reden.«

Ich nehme mein Sandwich wieder auf, beiße ab und kaue. »Nur zu.«

Er holt tief Luft, steht noch mal auf, um sich ein Glas Wasser zu füllen, und trinkt es halb leer, bevor er sich wieder setzt. Dann rutscht er nervös auf seinem Stuhl herum, räuspert sich und sieht mich schließlich an. »Ich finde, wir sollten uns trennen.«

Ich halte im Kauen inne, schmecke Teigbrei und Käse auf der Zunge. Starre ihn an. Das ovale Gesicht mit dem dunklen Haar, das mit den Jahren weder Farbe noch Dichte eingebüßt hat. Die Augen, die sich nie entschieden haben, ob sie blau oder grau sein wollen, die große, runde Nase, die beim Niesen durch die Wände dröhnt. Hans, mein Mann, den ich kenne, seit ich in der achten Klasse aufs Gymnasium wechselte; mit dem ich ging, nachdem wir in der Elften auf dem Schulklo geknutscht hatten; und den ich heiratete, weil er mir nach Vollendung der Ausbildung vor 22 Jahren einen Antrag machte. Hans und Helga, das große Ha-Ha, wie sie uns nannten, das Traumpaar der Stufe. Hat er gerade gesagt, er finde, dass wir uns trennen sollen?

»Warum?«

Er lässt die Arme sinken. Ich beobachte, wie sein Blick hin- und herhuscht bei dem Versuch, mir in beide Augen gleichzeitig zu blicken, was bei niemandem funktioniert. Er entscheidet sich schließlich für das rechte. »Wir teilen uns eine gemeinsame Wohnung, Helga. Aber wir leben nicht miteinander. Nicht mehr.«

Ich lege mein Sandwich auf dem Teller ab, schlucke. Es ist still. In der Wohnung. Oder in mir. Ich warte auf meine eigene Reaktion, die ausbleibt, obwohl sie kommen müsste. Mit Schmerz und Wumms oder Getöse. Unterdessen denke ich über Hans’ Worte nach. Senke den Kopf und betrachte das Muster auf der Tischdecke. Schlangenlinien in verschiedenen Blautönen, zu zwei Gruppen von je sieben gebündelt. Wie zwei Zöpfe aus Meereswellen.

Es stimmt. Jeder kommt und geht, wann er möchte, kauft ein, worauf er Lust hat (oder vergisst, daran zu denken), isst, wenn es in seinen Tag passt. Als Hans vor ein paar Jahren wegen einer schweren Bronchitis nächtelang hustete, bin ich vom Schlaf- ins Gästezimmer umgezogen, um wenigstens in den Nächten ohne Anrufe oder Einsatz ungestört zu schlafen. Nach dem Abklingen des Hustens wartete ich noch eine Weile mit der Rückkehr, um Hans Zeit zur Erholung zu geben, ohne dass er jedes Mal geweckt würde, wenn mein Telefon klingelte oder ich plötzlich aufbrechen musste. Aus der Weile wurde Alltag, und tatsächlich schlafen wir bis heute getrennt, obwohl Hans die nächtlichen Anrufe nie gestört haben. Nicht ein einziges Mal hat er sich über die Umstände, die mein Beruf mit sich bringt, beklagt.

»Hebammentelefone haben Vorfahrt«, pflegte er zu sagen, sein Lächeln für charmante Augenblicke im Gesicht, wenn ich mich auf Partys oder bei anderen Gelegenheiten mit dem bimmelnden Ding in der Hand zurückzog, um frühzeitig einsetzende Wehen zu diagnostizieren, einen Blasensprung oder Neugeborenenblähungen. Wie lange sind sie eigentlich her, diese anderen Gelegenheiten? Oder Partys, auf denen wir gemeinsam feierten?

»Hast du eine andere Frau?«, höre ich mich fragen, und er schüttelt den Kopf.

»Nein. Das hätte ich dir gesagt. Früher, meine ich, sobald ich gemerkt hätte, dass da etwas passiert.«

Ja, das hätte er. Dessen bin ich mir sicher. Du, Helga, ich habe jemanden kennengelernt. Sachlich, unaufgeregt. Eventuell hätte er mich sogar um Erlaubnis oder zumindest meine Meinung gefragt.

»Also warum jetzt?«

Er zuckt die Achseln. »Es wäre konsequent.«

»Konsequent?«

»Ja.« Er dreht die Handflächen nach oben, betrachtet sie, als enthüllten sie ein Geheimnis, und dreht sie wieder um. Er hebt den Kopf, und weil ich ihn mittlerweile ansehe, treffen sich unsere Blicke. Ich bevorzuge sein linkes Auge. »Es wäre etwas Neues. Und ich glaube, ich habe Lust auf Veränderung. Außerdem …« Er räuspert sich, und ich ahne, es kommt noch mehr. Wobei – was soll jetzt noch kommen? Womit ließe sich dieses Gespräch krönen?

»Der Deal mit Berger hat uns eine ordentliche Prämie eingebracht, Karsten und mir.«

Karsten ist Hans’ Sparringpartner in der Firma, der Kollege, an dem er sich reibt, um Ideen zu entwickeln. Sie sind ein hervorragendes Team, wissen es und wissen ebenso, dass die Geschäftsführung weiß, dass sie es wissen, sodass sie alles daransetzt, die beiden bei Laune zu halten.