Strahlendes Eis - Michael Lüders - E-Book

Strahlendes Eis E-Book

Michael Lüders

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Beschreibung

Ein Hubschrauber stürzt unweit von Reykjavik ab – Sabotage. Doch eine Zeugin überlebt. Der neue Fall für Sophie Schelling und ihre norwegische Geheimdiensteinheit E 39 führt bis nach Island und Grönland. Dort geraten die Agenten in einen gefährlichen Wettlauf der Großmächte um die Arktis und ihre Rohstoffe, ausgelöst durch den Klimawandel. Am Ende kämpfen sie um ihr Leben: Unter dem brüchigen Eis liegen die verdrängten Sünden der Vergangenheit und die unermesslichen Schätze der Zukunft eng beienander. Am 21. Januar 1968 stürzt ein amerikanischer B-52-Bomber an der Nordwestküste Grönlands ab. An Bord vier Wasserstoffbomben, deren Verbleib nie restlos geklärt wurde. Diese wahre historische Begebenheit bildet den Ausgangspunkt für Michael Lüders' neuen Thriller. Jahrzehnte später wollen dänische Arbeiter, die bei den Aufräumarbeiten verstrahlt wurden, reinen Tisch machen – bevor der Krebs sie dahinrafft. Ihr Plan: am Rande einer Arktis-Konferenz in Reykjavik vorzutragen, was damals wirklich geschah. Einflussreiche Kreise aber wissen zu verhindern, dass sich die Blicke der Öffentlichkeit ausgerechnet jetzt auf das noch immer strahlende Eis richten. In einem Gebiet, wo eine dubiose Firma gerade einen hochgeheimen Auftrag erfüllt. Als Sophie Schelling und ihr Team merken, was unter dem ewigen Eis lauert, geraten sie ins Fadenkreuz eines skrupellosen Gegners. Der zieht im Verborgenen die Fäden – eine rasante Jagd in der faszinierenden Welt der Arktis.

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MICHAEL LÜDERS

STRAHLENDES EIS

Thriller

C.H.Beck

Zum Buch

Am 21. Januar 1968 stürzt ein amerikanischer B-52-Bomber an der Nordwestküste Grönlands ab. An Bord vier Wasserstoffbomben, deren Verbleib nie restlos geklärt wurde. Diese wahre historische Begebenheit bildet den Ausgangspunkt für Michael Lüders’ neuen Thriller. Jahrzehnte später wollen dänische Arbeiter, die bei den Aufräumarbeiten verstrahlt wurden, reinen Tisch machen – bevor der Krebs sie dahinrafft. Ihr Plan: am Rande einer Arktis-Konferenz in Reykjavik vorzutragen, was damals wirklich geschah. Doch ihr Hubschrauber stürzt ab – Sabotage. Einflussreiche Kreise wollen verhindern, dass sich die Blicke der Öffentlichkeit ausgerechnet jetzt auf das noch immer strahlende Eis richten. In einem Gebiet, wo eine dubiose Firma gerade einen hochgeheimen Auftrag erfüllt. So beginnt der neue Fall für Sophie Schelling und ihre norwegische Geheimdiensteinheit E 39, der mitten hinein führt in den gefährlichen Wettlauf der Großmächte um die Arktis und ihre Rohstoffe, ausgelöst durch den Klimawandel – eine rasante Jagd in der faszinierenden Welt der Arktis.

Über den Autor

Michael Lüders ist bekannt als Autor erfolgreicher Romane und Sachbücher. In der Sophie-Schelling-Reihe erschienen bislang: «Never Say Anything» (52016) und «Die Spur der Schakale» (32022).

Inhalt

I.

II.

III.

Nachlese

Weitere Quellen (Auswahl):

Fußnoten

Für meinen Sohn Marlon Auch aus Steinen, die man dir in den Weg legt, kannst du etwas Schönes bauen

Die folgende Geschichte ist frei erfunden. Die historischen Bezüge allerdings sind es nicht.

Gibt es keinen Gott, ist alles erlaubt.

Dostojewski

I.

Gelbweiße Lichtbündel führten Koboldtänze entlang eines Seitenflügels der Hallgrimskirche auf, in kurzen Intervallen beiseitegeschoben von schneegleichen Cirruswolken, im Wettstreit mit der untergehenden Sonne. Unaufhörlich färbte sich der Horizont golden, tauchte die Stadt in die Farbe flammenden Honigs, während vor allem junge Menschen in die Basilika strömten. Sophie roch den Herbst, der in der Luft lag wie ein Versprechen. Dieser unaufhörliche Wechsel aus Licht und Schatten erschien ihr als ein Spiegelbild ihrer selbst. Der 73 Meter hohe Kirchturm, der über alle anderen Gebäude in Reykjavik hinausragte: ein steingewordener Gletscher. Die zahlreichen Betonpfeiler, die ihn wie auch das Kirchenschiff einfassten, waren Basaltsäulen nachempfunden, einem Wahrzeichen isländischer Natur. Weißgrau war die vorherrschende Farbe, Symbol für Schnee und Eis. Weitläufig und zerklüftet wirkte die Kathedrale, ähnlich der hiesigen Landschaft mit ihren Bergen und Gletschern, den großen, kargen Weiten.

Durch das Haupttor betrat Sophie das Gotteshaus, beide Flügelhälften des Tors waren verziert mit rot schimmernden Bleiverglasungen, an denen sich jetzt eine Vielzahl von Mänteln oder Funktionsjacken vorbeischoben. Doch gab es keinen Grund zur Eile, mehr als 1000 Besucher fasste die Kirche, deren Bankreihen hinlänglich Sitzplätze boten. Ein Sprachengewirr umgab sie, im Eingangsbereich sowie entlang der Seitengänge hatten zahlreiche Umweltgruppen ihre Stände aufgebaut. Ein Organist im Chorraum entlockte der meterhohen Orgel Stimmen und Geräusche, die an die Rufe von Walen oder Delfinen erinnerten. Parallel zu den Kirchenfenstern, die überwiegend aus unbemaltem Glas bestanden, wodurch das Tageslicht besser einfallen konnte, hingen teilweise meterlange Spruchbänder. Sie zeigten Motive aus der Arktis, darunter Eisbären und kalbende Gletscher, versehen mit politischen Statements. «Der Klimawandel tötet», las Sophie. «Die Weltmächte haben im Hohen Norden nichts verloren» oder «Keine Ölbohrungen im ewigen Eis».

Sie schritt den Kirchenraum entlang, entdeckte die zahlreichen gotischen Merkmale, darunter Kreuzrippengewölbe und Spitzbogenfenster, die beitrugen zu dem als expressionistisch gerühmten Ensemble. Ein wahrhaft außergewöhnlicher Ort, dachte Sophie. Klug gewählt vom Hauptredner des heutigen Abends, dem im Festland-Europa noch weitgehend unbekannten, in Alaska und Kanada aber unter Umweltschützern und Indigenen längst hochverehrten Shooting-Star auf der politischen Bühne Grönlands: Natan Hammond, die Stimme der Inuit, der Ureinwohner, geschätzt als glänzender Redner und sachkundiger Mahner inmitten der ungezügelt wachsenden Begehrlichkeiten, denen sich die Arktis mit jedem Jahr mehr ausgesetzt sah.

Sophie setzte sich auf eine nahezu leere Kirchenbank. Kurz darauf betraten der Pastor, unschwer zu erkennen am schwarzen Talar, der gezackten, weißen Halskrause, und sein Begleiter den Altarbereich durch einen Seiteneingang, begaben sich zügigen Schrittes zum Mikrofonständer in dessen Mitte. Einige Pfiffe und Jubelrufe erklangen, das Stimmengewirr verebbte, vereinzelt war Beifall zu vernehmen. Der Pastor klopfte auf das Mikrofon, das bereits eingeschaltet war, begrüßte die mehreren hundert Besucher auf Englisch und betonte, dieses Gotteshaus sei heute ein Forum der Natur, von Mensch und Umwelt, beide allergrößten Gefahren ausgesetzt, der Unvernunft und der Gier. Vor allem und verstärkt in der Arktis, der Erdregion rund um den Nordpol. Aber wer wüsste das besser als «mein lieber Freund aus Grönland», den er herzlich willkommen hieß und dem er nun das Mikrofon übergab.

Eine Lichtgestalt, dachte Sophie. Sie kannte Natan Hammond bislang nur von Fotos und wunderte sich einmal mehr über seine Ähnlichkeit mit Barack Obama. Auch das Charisma schien der Mittvierziger mit dem früheren US-Präsidenten zu teilen – seine Ausstrahlung beherrschte mühelos den gewaltigen Innenraum. Er sprach in ruhigen und klaren Worten, ebenfalls auf Englisch, und warnte, es sei nicht fünf vor, sondern bereits fünf nach zwölf. Das Eis Grönlands schmelze mittlerweile, «an einem einzigen Tag!», in einem Umfang, dass diese Wassermassen, flössen sie sämtlich nach Großbritannien, das gesamte Königreich im Verlauf eines Jahres knietief unter Wasser setzen würden.

Sophie zuckte zusammen. Als Agentin war sie gewohnt, ihre Umgebung sehr genau wahrzunehmen, meist aus den Augenwinkeln, ohne aufzufallen. Und doch hatte sie das Kommen dieses Mannes nicht bemerkt, der unversehens neben ihr saß, wie ein Geist. Wie konnte das sein, wie war ihm das gelungen? Leicht nach vorne geneigt stützte er beide Hände auf die Rückenlehne der Kirchenbank vor sich. Ein Mann unbestimmten Alters – er mochte 60 oder 70 Jahre alt sein. Sie spürte seine Blicke auf sich ruhen, obwohl er den Kopf nur leicht in ihre Richtung neigte. Ein Haarkranz säumte seine Glatze, das braunlederne Gesicht ließ auf ein Leben im Freien schließen, in der Natur. Er trug einen grauen Fellmantel – von welchem Tier, wusste Sophie nicht zu sagen – und zerschlissene Jeans. Unter dem geöffneten Mantel eine braun-weiß gescheckte Weste, ebenfalls aus Fell, auf der was genau befestigt oder eingenäht war? Muscheln? Kieselsteine? Amulette? Und wonach roch er? Fett? Öl? Lebertran? Ein überaus präsenter, prägnanter Geruch, doch ihr fremd, sehr fremd.

Dann wandte er sich ihr zu, mit einem Ruck. Die Blicke aus seinen meeresblauen Augen trafen sie wie Pfeile, hinter denen die übrige Umgebung erlosch. Er murmelte einige Worte, die sie nicht verstand, bewegte seinen Kopf erst nach rechts, dann nach links. Mit einem Griff, den Sophie nicht kommen sah, packte er sie am Handgelenk. Beugte sich vor, sprach, nur für sie bestimmt, in ihr rechtes Ohr. Wieder verstand sie seine Worte nicht. Diese Reihung kehliger Q-Laute kannte sie aus dem Arabischen, dies aber war kein Arabisch. Was dann? Grönländisch? Wieso ließ sie ihn gewähren, wenn sie sich doch normalerweise eine solche Annäherung verbitten würde? Von diesem Mann jedoch fühlte sie sich weder bedroht noch belästigt. Vielmehr erschien er beseelt von einer Mission. Die Q-Laute prasselten auf sie ein, als enthielten sie eine Botschaft.

Er hielt inne. Löste seinen Griff. Zog sein linkes Bein auf die Bank hoch, schob seinen Fuß unter das Gesäß. Er sah allein sie, sie allein ihn, so kam es Sophie vor. Der Kirchenraum um sie herum hatte sich vollends aufgelöst in gleißendem Licht. «Das Eis ist groß», sagte er auf Dänisch.

«Wie … Wie meinst du das?», erwiderte sie auf Norwegisch. Duzen war der Normalfall, beide Sprachen waren eng verwandt.

«Deine Augen sind die einer Jägerin.»

Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.

«75 Grad Nord», fuhr er fort.

Unvermittelt brauste stürmischer Applaus auf, aus sehr weiter Ferne hörte sie Natan Hammond etwas sagen, noch ist es nicht zu spät, wir müssen handeln, wie in Trance sprang sie auf, klatschte ihrerseits, schloss die Augen und öffnete sie erneut, als verscheuche sie ein Hirngespinst, und als sie wieder neben sich sah, saß da niemand mehr.

Sophies Kollege Harald kam ihr entgegen, er nahm sie am Hoteleingang in Empfang. «Gott, was für ein Irrenhaus», fluchte er. «Da drinnen brennt die Luft, das kann ich dir sagen. Keine Ahnung, ob Siv ihre Rede noch so halten kann wie geplant.» Siv Sandberg, die Premierministerin Norwegens. Es war die Zeit der Arctic-Circle-Konferenz, die jedes Jahr im Oktober stattfand, in Reykjavik. Hunderte Politiker, Geschäftsleute, Wissenschaftler, Umweltaktivisten, Indigene, Interessensvertreter aller Art nahmen daran teil, nicht allein aus den Ländern, die an die Arktis grenzten. Vereint waren sie im Kampf gegen die beschönigend so genannte Klimaerwärmung und das rapide schmelzende Eis in der Arktis.

«Der Innen- und der Finanzminister machen Siv die Hölle heiß», bemerkte Harald. Die Premierministerin sollte als Festrednerin den Eröffnungsvortrag halten. «Die beiden verlangen, dass sie ihre Rede ändert. Ihre Forderungen seien vollkommen unrealistisch und politisch naiv.» Sandberg plante, in ihrer morgigen Grundsatzrede für das Ende jeglicher Erdöl-Exploration in der Arktis einzutreten und dafür zu werben, die Suche nach Bodenschätzen dort einzustellen. Allerdings hatte sie allein im vorigen Monat sechs Lizenzen für Bohrungen im Nordmeer rund um Spitzbergen erteilt, und alle Versuche von Umweltverbänden, Norwegens Ausstieg aus der Erdöl-Exploration in der Arktis juristisch zu erzwingen, waren am Obersten Gerichtshof in Oslo gescheitert. Insoweit bewegte sich Sandberg in der Tat auf dünnem Eis. Doch wäre es Sophie nicht in den Sinn gekommen, ihr deswegen Vorhaltungen zu machen – ganz unabhängig davon, dass sie damit ihre Kompetenzen überschreiten würde. Auch und gerade eine Premierministerin war nicht frei von Sachzwängen, konnte etwa rechtsgültige Verträge nicht einfach aushebeln.

Harald rieb sich fröstelnd die Hände. Eine größere Gruppe von Rauchern hatte sich um den Hoteleingang versammelt, darunter Polizisten und Sicherheitsleute. Sophie dirigierte ihn weg von der Menge. Mittlerweile waren sie beide ein eingespieltes Team, Kollegen in der kleinen Geheimdiensteinheit E 39. Sie, die Deutsche, die sich vor der Spionagebehörde NSA von Berlin nach Oslo gerettet hatte, mit Hilfe ihrer Vertrauten und Vorgesetzten Berit Berglund. Und Harald Nansen, gebürtiger Pakistani, ein früherer Polizist. Er sei eben gut integriert, hatte er ihr einst mit schiefem Grinsen erklärt, als sie ihn fragte, wieso er seinen pakistanischen zugunsten eines norwegischen Namens abgelegt habe. Dieses fein geschnittene Gesicht, oval und ebenmäßig – kaum Falten, sofern sie nicht von seinem Dreitagebart verdeckt wurden. Schlank war er, groß gewachsen. Allein aufgrund seines Aussehens hielt er Sophies Erinnerungen lebendig. An ihre Erlebnisse in Marokko, die sie für immer mit dem Orient verbanden. Fast war er das kollegiale Bindeglied in ihre Vergangenheit, in ihr altes, verlorenes Leben.[1]

«Beide, der Innen- und erst recht der Finanzminister, sind recht einfach gestrickt», sagte Sophie. «Denen geht es nur um ihren eigenen Vorteil.»

«Na klar, die wollen Siv weghaben. Eine Regierungskrise herbeiführen, sie stürzen und dann selber an die Spitze. Weil sie ja die Wirtschaft und die Welt gegen Norwegen aufbringe, mit ihrem naiven Idealismus.»

«Das allein reicht aber nicht für einen Showdown.»

«Nein, aber die beiden haben maßgebliche Teile der Medien und der Regierung hinter sich. Die werden sich auf Siv einschießen.»

«Darauf haben wir keinen Einfluss, Harald.»

«Aber sie vertraut uns. Soweit das möglich ist, in ihrem Job. All diese Regierungsleute um sie herum, diese Ansammlung aus Lobbyisten und Karrieristen, das ist ja furchtbar. Ich würde wahnsinnig werden, wenn ich die jeden Tag ertragen müsste.»

Eine verschlüsselte Mitteilung erreichte beide auf ihren abhörsicheren Handys – jedenfalls galten sie als abhörsicher.

Die Premierministerin empfing sie in ihrer Hotelsuite. Die schneeweißen Vorhänge waren zugezogen, sie lief an der Fensterfront auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Sophie war sich nicht sicher, ob diese bevorzugte Behandlung, die Sandberg ihnen angedeihen ließ, eine gute Idee war. Offiziell waren Harald und sie Buchautoren, die eine Biografie über die Regierungschefin verfassten. In Wirklichkeit hatte Sandberg ihre Vertraute Berit Berglund gebeten, ihr die beiden Agenten «auszuleihen». Harald und Sophie hatten sich zuvor als «Geheimwaffe» bewährt, um die geplante feindliche Übernahme des norwegischen Pensionsfonds Nordic Invest durch die US-Schattenbank BlackHawk abzuwehren.[2] Die Premierministerin wusste um die politischen Risiken ihrer Reise. Nicht zuletzt hatte sie Sorge, von Natan Hammond auf offener Bühne vorgeführt zu werden. Und vielleicht sehnte sie sich nach Gesprächspartnern wie Harald und Sophie, mit denen sie sich gelegentlich austauschen konnte, jenseits aller Zwänge.

«Nun, Sophie – was ist Ihr Eindruck von diesem Grönländer?», fragte Sandberg.

«Natan Hammond hat Charisma, keine Frage. Die Besucher in der Kirche wusste er auf seiner Seite, so viel ist sicher», erwiderte Sophie. Ihre merkwürdige Begegnung mit dem alten Mann neben ihr auf der Kirchenbank mochte sie nicht erwähnen.

«Natürlich hat er Charisma!», konterte die Premierministerin. «Sonst würde er nicht gerade die grönländische Politik aufmischen und Kopenhagen wie auch Washington nervös machen. Vor allem möchte ich vermeiden, dass er mir nach meiner Rede in den Rücken fällt. Danach sitzen wir beide auf demselben Podium.»

«Ich glaube nicht, dass er das tut», sagte Harald. «Er ist Profi, genau wie Sie. Und Sie beide ziehen am selben Strang: keine wirtschaftliche Ausbeutung der Arktis.»

«Allerdings sind ihm nicht die Hände gebunden wie mir», stellte Sandberg fest.

«Er ist auch in der Opposition», kommentierte Sophie. «Er trägt keine Verantwortung, im Gegensatz zu Ihnen.»

«Der Mann ist gut. Ich wünschte, wir hätten solche Politiker.»

«Seine Rahmenbedingungen sind ganz andere als unsere in Norwegen», versuchte Harald sie zu beruhigen. «Er tritt ein für Grönlands Unabhängigkeit von Dänemark, sucht aber nicht den Schulterschluss mit Washington wie die meisten Politiker in Nuuk. Er will die Balance wahren.»

«Das dürfte ihm schwerfallen», befand Sandberg. «Wie auch immer – es gibt Warnungen, dass es während der Konferenz zu einem Attentat oder Anschlag kommen könnte.»

«Sagt wer?», fragte Harald.

«Die isländische Polizei, unter Berufung auf amerikanische Geheimdienste.»

Sophie seufzte.

«Meine Widersacher nehmen das zum Anlass, mir vom morgigen Auftritt abzuraten. Meiner Grundsatzrede. Aus Sicherheitsgründen, versteht sich.»

«Versteht sich», echote Harald. «Aber Sie werden Ihre Rede trotzdem halten?»

Sandberg warf ihm einen Blick zu, der Belustigung erkennen ließ. Die mittelgroße, vollschlanke Endvierzigerin hatte den Übergang von einer die erotische Phantasie anregenden zur mütterlichen Frau weitgehend vollzogen, registrierte Sophie nachdenklich. Nicht zuletzt der blonde Kurzhaarschnitt, der ihr kantiges Gesicht überbetonte, trug zu diesem Eindruck bei. Als Landesmutter war das kein Nachteil. Für eine Frau gleichwohl eine schmerzliche Erkenntnis, die der Mittdreißigerin Sophie früher oder später ebenfalls bevorstand, wie sie sehr wohl wusste.

«Was für Hinweise sind das genau?», fragte Sophie.

«Eher eine allgemeine Warnung. Militante Umweltgruppen, heißt es. Nichts Konkretes.» Sandberg fasste sich ans Kinn. «Aber da ist noch was», fuhr sie fort. «Ein Hubschrauber ist vor einer halben Stunde abgestürzt, unweit des Vulkans Hekla, rund 100 Kilometer östlich. An Bord waren eine Besuchergruppe aus Dänemark, ihre lokale Reiseführerin sowie die beiden isländischen Piloten. Sieben Leute insgesamt. Alle sind umgekommen, heißt es. Eine Person wird allerdings noch vermisst. Das hat es hier noch nie gegeben. Entsprechend aufgeregt sind die isländischen Behörden.»

«Die armen Schweine», murmelte Harald.

«Jedenfalls sollten wir wachsam sein», resümierte die Premierministerin. «Diese Konferenz – ich hoffe, es gibt da keine ernsthaften Probleme.»

***

Sie rannte über die heidebewachsene Hochebene, die durchzogen war von Hügeln und Bergen aus Geröll, hinter ihr der Vulkan, vor ihr ein Gebirgszug in der Gestalt eines überdimensionalen, gestrandeten Wals. Gelegentlich stieg blauweißer Dampf aus heißen Wasserquellen empor. Das rechte Bein machte ihr Probleme, jedes Auftreten schmerzte, darauf aber konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie lief, humpelte, stolperte, fand zurück in ihren Laufschritt. Aufmerksam lauschte sie in die Einsamkeit hinein, über ihr Keuchen hinweg. Die Orientierung fiel ihr schwer, sie hielt sich Richtung Süden, doch versperrten eiskalte Wasserläufe oder unwegsames Gelände wiederholt den Weg. Dann geschah, was sie befürchtet hatte – die Geräusche fließenden Wassers, langsam übertönt vom Klang der Rotoren, kreisenden Metallblättern, leise dröhnend zunächst, am Ende röhrend, aufbrausend. Selbst für den Fall, dass die Piloten des Hubschraubers die Gesuchte übersehen sollten, würde sie doch unweigerlich von der im Cockpit installierten Wärmebildkamera erfasst.

Sofern sie nicht rechtzeitig unter etwas Kaltem abtauchte. Sie entdeckte einen Bergspalt, hielt darauf zu, der Lärm kam stetig näher, sie hechtete unter einen unscheinbaren Hügel, eine Grasmatte bedeckt von Toteis, die sie vollständig verschluckte. Ohne es zu wagen, den Kopf aus der Deckung zu heben, erkannte sie gerade noch, dass der Helikopter im Tiefflug über das Vulkangestein donnerte, sich kurzzeitig entfernte, dann aber, bevor sie erleichtert aufatmen konnte, zurückkehrte, wohl direkt über ihr kreiste, fast glaubte sie, seine Kufen setzten auf. Vielleicht war sie noch immer als kleiner roter Punkt auf dem Wärmebild zu sehen, trotz des Eises über ihr. Bange Momente, dann aber drehte der Hubschrauber ab.

Was nicht bedeutete, dass sie außer Gefahr war. Es konnte eine Finte sein, um sie aus der Reserve zu locken. Andererseits konnte sie hier nicht bleiben. Bald würde es dunkel werden und kalt, sehr kalt. Sie befreite sich aus ihrem Unterstand und rannte in Richtung des ausladenden Felsvorsprungs, der den Bergspalt einfasste. Beinahe wurde dieser Spalt verdeckt von den darüberliegenden gewaltigen Eismassen, die unablässig tauten und einen meterbreiten Wasserstrom gebaren. Sie zwängte sich hindurch, keinen Augenblick zu früh, wieder ertönte das Motorengeräusch. Sie blickte sich um, entdeckte eine höhlenartige Kammer weiter hinten im Berg. Und dort lag ein verendeter Widder. Sie zögerte. Doch hatte sie eine Wahl? Sie packte und schulterte den Kadaver, wobei sie sich fast übergeben hätte – der Gestank war unerträglich. Noch immer kreisten die Rotoren in der Nähe. Sie zog ihre Tarnung durch den Spalt hindurch ins Freie, lief ein paar Meter, ließ sich ins Gras fallen unter dem mächtigen Tier, das sie nicht hätte tragen können, bestünde es aus mehr als nahezu ausschließlich Haut. Wieder erfassten die Piloten wohl das Wärmebild, kreisten zwei, drei Runden über dem Boden, so tief, dass sie wahrscheinlich die Kufen hätte packen können, schließlich entfernten sich die Geräusche, nachdem die Besatzung vermutlich zu dem Schluss gelangt war, das verendete Tier habe die Wärmebildkamera ausgelöst.

Allerdings war das Spiel noch nicht vorbei. Sie kannte die Tricks von Suchmannschaften und Heli-Führern. Also packte sie die Überreste des Widders an den Hörnern und zog sie hinter sich her, zur Küstenstraße hin. Die würde sie kaum erreichen, die Entfernung war zu groß, doch wusste sie, dass auf dem Weg dorthin einige einsame Weiler lagen, meist von Schafzüchtern. Mehr als eine halbe Stunde schleppte sie den Kadaver schon keuchend hinter sich her, es dämmerte bereits. Hinter einer weiteren der zahlreichen Anhöhen entdeckte sie einen Hubschrauber, der in größerer Entfernung landete. Der Wind stand günstig, die kläffenden Hunde der Suchmannschaft konnten sie nicht wittern. Die Mannschaft bestand aus vier, fünf Männern oder Frauen in orangefarbenen Signalanzügen. Wonach suchten sie? Nach ihr? In dem Fall hatte sie richtig entschieden, mit Hilfe des Kadavers ihre Spuren zu verwischen. Dessen Gestank lag über der Landschaft wie ein Leichentuch, unter dem sie für die Suchhunde verschwand, sich in Luft auflöste. Sie erreichte einen reißenden, gut zehn Meter breiten Fluss. Im Frühjahr, zur Zeit der Gletscherschmelze, wäre es lebensgefährlich, ihn zu überqueren. Auch jetzt noch war ihr Vorhaben riskant. Überall lauerten Untiefen, und geriete sie in die Gewalt der Stromschnellen, schlüge gar mit dem Kopf gegen einen Stein und würde ohnmächtig, wäre das ihr sicherer Tod.

Das verendete Tier ließ sie am Ufer liegen, tauchte ihren Kopf in eine kleine Blumeninsel lange verblühter Veilchen, atmete mehrfach tief und fest, um Lunge und Nase zu befreien. Dann wagte sie sich ins eiskalte Wasser, das ihr an der tiefsten Stelle bis zur Hüfte reichte. Irgendein Treibgut, das sie nicht kommen sah, traf sie seitlich, in der Mitte des Stroms, ein quertreibender Ast. Sie verlor den Halt, musste schwimmen, kurz geriet sie in Panik, dann hatte sie wieder Boden unter den Füßen, robbte an die gegenüberliegende Seite. Die Hunde und deren Begleitmannschaft war sie erst einmal los, doch der lähmenden Kälte wegen musste sie rennen und laufen, sie schlug sich gleichzeitig mit beiden Armen auf die Brust, den Bauch, Bewegung!, Tempo!, Stillstand bedeutete zu erfrieren. Sie war nass bis auf die Haut, bei Temperaturen um die fünf oder sechs Grad. Ihr normalerweise wärmender Pullover fühlte sich an wie brennendes Eis.

Ein kleiner Bauernhof. Sie hatte keine Wahl, hielt auf ihn zu. Weißes Haus, rotes Dach aus Blech, daneben eine Scheune oder ein Stall. Umgeben von zahlreichen Schafen entdeckte sie einen älteren Mann, vermutlich den Schäfer, der mit einer Forke Grassoden sortierte. Er bemerkte sie erst, als sie fast schon vor ihm stand, versunken in seine Arbeit und vielleicht vom Blöken der Schafe abgelenkt, das in seiner melodiösen Beharrlichkeit, inmitten wechselnder Tonhöhen, etwas Meditatives hatte.

«Es wäre toll, wenn du mir helfen könntest», sagte sie mit rauer Stimme.

«Und wer bist du?» Er sah sie an, rammte die Gabel in den Boden. Ein großgewachsener, stämmiger alter Mann mit Bauchansatz und Vollbart in verblichener, ursprünglich blau gewesener Latzhose. Seine braunen Koboldaugen funkelten.

«Ich bin Birgitta Arnósdóttir, und ich friere mir gerade den Arsch ab.»

«Die Umweltaktivistin? Die wiederholt dieser verdammten Dreckschleuder den Strom abgestellt haben soll? Die Leitungen zur größten Aluminium-Fabrik gesprengt hat?»

«Haben sie mir nie nachweisen können.»

«Aber das warst du?»

«Ja.»

In dem Moment sahen sie die Lichtkegel eines Geländewagens, der auf den Bauernhof zuhielt.

«Komm», sagte der Bauer und dirigierte sie in den Schafstall. «Leg dich da vorne in die Ecke, zu den Tieren. Da findet dich keiner.»

Lögreglan, las sie gerade noch auf der Motorhaube, Polizei, bevor sie untertauchte, im wahrsten Sinn, umgeben von Schafshufen. Sie konnte hören, was sie redeten, inmitten von Hundegebell. Ob er eine Frau gesehen habe, möglicherweise geistig verwirrt?

«Die letzte, auf die diese Beschreibung zutrifft, ist meine eigene, und die geht mir seit Jahren aus dem Weg. Ich ihr auch.»

«Es war niemand hier?», beharrte die Polizistin.

«Niemand. Was für eine Frau soll das denn sein?»

«Sie hat einen Absturz mit dem Hubschrauber überlebt. Es könnte sein, dass sie traumatisiert ist. Sie braucht Hilfe.»

«Verstehe. Ich rufe an, wenn sie hier vorbeikommt.»

«Danke. Dann auf Wiedersehen.»

«Gute Fahrt.»

Birgitta Arnósdóttir vernahm, wie der Wagen sich entfernte. Mittlerweile zitterte sie so sehr, dass sie es nicht mehr schaffte, aus eigener Kraft aufzustehen. Der Mann – «Snorri, ich bin Snorri Júlíusson, das kriegen wir hin» – hob sie mit beiden Armen hoch und trug sie nach draußen, eine kurze Strecke hin zu einer heißen Quelle, einem Geysir geschuldet, die mehrere große, steinerne Wasserbecken speiste. In eines warf er sie hinein.

Kurz nach Mitternacht waren alle Planungen hinfällig. Ein paar Telefonate, eine neue Agenda, die norwegische Delegation aufgescheucht wie ein Hühnerhaufen. Der Ablauf der Konferenz: «den veränderten Umständen angepasst», gemäß einer Regieanweisung von ganz oben. Nicht seitens der isländischen Regierung, dieser erstaunlichen Symbiose aus Bankrotteuren, Steuerhinterziehern und Idealisten, die einander kaum aus dem Weg gehen konnten, weil auf dieser Insel mehr oder weniger jeder mit jedem verwandt war. Vielmehr auf Veranlassung Washingtons, wo Außenministerin Jennifer Brookings in Kürze eine Regierungsmaschine besteigen würde, um rechtzeitig in Reykjavik einzutreffen. Sie hatte um das Privileg des ersten Aufschlags gebeten, des Eröffnungsvortrags, was ihr keiner verwehren mochte. Nichts weniger als eine Grundsatzrede hatte das State Department angekündigt. Das reichte, um Siv Sandberg auf die Plätze zu verweisen. Hektisch suchten Isländer und Norweger nach einer gesichtswahrenden Lösung, ohne bislang fündig geworden zu sein, soweit sich das aus dem Türenschlagen und den Rufen auf den Hotelkorridoren schließen ließ. Immerhin, überlegte Sophie, mussten sie nicht das Hotel räumen, die erste Adresse vor Ort. Andererseits hatte Brookings auch nicht die Absicht, länger als nötig zu bleiben. Das in dem Fall obligate Lunch mit der isländischen Premierministerin hatte sie unter Verweis auf Termingründe bereits abgesagt.

Noch nie hatte eine dermaßen hochkarätige US-Delegation die Arctic-Circle-Konferenz beehrt, ihrem Wesen nach ein Forum für Ideen. Was also führte Washington im Schilde? Sophie konnte nicht schlafen, zappte sich durch die Fernsehprogramme. Der isländische Sender RÚV English zeigte einen Bericht über den Absturz des Hubschraubers, von dem Sandberg berichtet hatte. Eine Frau, die Reiseführerin, habe möglicherweise überlebt, werde aber vermisst. Das sei Anlass zur Sorge, denn die Vermisste, die als militante Umweltaktivistin bekannte Lehrerin Birgitta Arnósdóttir, stehe seit längerem unter Beobachtung der Polizei. Der Beitrag erweckte verschüttete Erinnerungen zum Leben. Sophies Gedanken schweiften ab in Richtung Gourrama, nach Marokko, zum Angriff der Hubschrauber auf das Dorf, den sie als Einzige überlebt hatte.[3] Und sie dachte nach über den merkwürdigen Heiligen in der Kirche: «75 Grad Nord.» Darüber musste sie zu später Stunde eingeschlafen sein, bis Harald sie auf dem Hoteltelefon anrief und fragte, ob sie schon aufgestanden sei. Die Zeit dränge.

Wie ein Juwel leuchtete das Konzert- und Konferenzzentrum Harpa, direkt am alten Hafen gelegen, im Morgenlicht. Zwei leicht gegeneinander versetzte, quaderförmige Gebäudeteile mit jeweils gegenläufig angewinkelten Fassaden, umhüllt von Farbeffektglas in kleinteiliger Wabenform. Je nach Wetter und Tageszeit filterte dieses Glas das einfallende Tageslicht in einem Farbspektrum, das etwa die steil aufragende Empfangshalle, 43 Meter hoch, wechselnden Lichtspielen aussetzte, teilweise im Minutentakt. Nordlichter in Regenbogenfarben, so kam es Sophie vor. In Erwartung des hohen Staatsgastes durften sich nur noch wenige Besucher im Eingangsbereich und in den Gängen aufhalten. Alle anderen waren ebenso höflich wie bestimmt ins vollbesetzte Auditorium dirigiert worden, wo sich inzwischen wohl die Mehrzahl der registrierten Konferenzteilnehmer eingefunden hatte.

Schließlich traf sie ein, die US-Außenministerin, begleitet von einem Tross Sicherheitsbeamter mit den obligaten Knöpfen im Ohr. Die isländische Ministerpräsidentin Katrin Jakobsdóttir nahm sie in Empfang.

«Findest du nicht, dass sie der Sängerin Björk sehr ähnlich sieht?», fragte Harald.

«Was hast du denn erwartet? Bei gerade mal 260.000 ​Einwohnern? Irgendwann ist der Genpool durch», antwortete Sophie.

«Dann verstehe ich nicht, warum mich keine der hiesigen Blondinen anhimmelt. Ich meine, gerade ich, mit meiner wertvollen Himalaya-DNA …»

Gemeinsam betraten die beiden Politikerinnen das Auditorium, Harald und Sophie gehörten mit zu den Letzten, die den bemerkenswert steil abfallenden Saal betraten. In den vorderen Reihen saß die in- und ausländische Polit-Prominenz, auch Premierministerin Sandberg, die keine andere Wahl hatte, als sich dem Lauf der Dinge zu fügen. Nach kurzer Vorstellung durch die Gastgeberin trat Jennifer Brookings ans Mikrofon, die erste dunkelhäutige US-Außenministerin. Charmant im Tonfall bedankte sie sich für die freundliche Einladung und den nicht minder herzlichen Empfang durch die isländische Regierung. Den Teilnehmern dieser «so wertvollen und wichtigen Konferenz» bescheinigte sie, früher als andere die strategische, wirtschaftliche und politische Bedeutung der Arktis-Region erkannt zu haben. Sie fühle sich daher geehrt, mit diesem herausragenden Publikum das Gespräch suchen zu können: «Möge der heutige Tag eine Wegmarke sein – mit dem Ziel, Kompetenz und Entschlossenheit zu bündeln. Um der Welt zu zeigen, dass wir den Klimawandel ebenso ernst nehmen wie die Herausforderungen, die damit einhergehen.»

Sie machte eine rhetorische Pause, lächelte in den Saal, während der erste Beifall erklang. Eine Großbild-Leinwand sorgte dafür, dass die Außenministerin auch in den hinteren Reihen noch gut zu sehen war.

«Ist ’ne gute Schauspielerin», bescheinigte ihr Harald. Er stand neben Sophie an der Eingangstür, umgeben von Security. Allesamt Amerikaner, kein einziger Isländer.

«Vor allem ist sie eine taffe Karrierefrau. Hast du dir mal ihre Biografie angesehen?»

«Politologie und Wirtschaftswissenschaften in Harvard, anschließend Jura-Studium in Berkeley. Parallel Aufstieg bei den Demokraten. Zunächst als Bezirksstaatsanwältin in San Francisco, später dann als Generalstaatsanwältin in Kalifornien. Gilt als Verfechterin von Law und Order. Seit 2016 saß sie für Kalifornien im Senat, der alte Herr machte sie zur Außenministerin.»

«Sie engagiert sich für Menschenrechte und befürwortet Amerikas ordnende Hand in der Welt.»

«Ich sag dir: Alles wird gut. Sie ist Frau, sie ist schwarz – was sollte da noch schiefgehen?»

Der Beifall ebbte ab, Brookings setzte ihre Ausführungen fort: «Meine Damen und Herren, das Eis in der Arktis schmilzt, und zwar dramatisch. In Anchorage, Alaska, hatten wir im Juli tagelang Temperaturen knapp unter 30 Grad. Die Masse des Wintereises, das im Arktischen Ozean driftet und vor mehr als 100 Jahren die Titanic versenkte, hat sich in den letzten 40 Jahren um sage und schreibe die Hälfte verringert, ebenso die Ausbreitung driftenden Eises im Sommer. Nicht wenige Experten befürchten, dass selbst der Nordpol schon Mitte des Jahrhunderts weitgehend eisfrei sein könnte. Mit anderen Worten: Es entsteht nichts Geringeres als ein neuer Ozean.»

Einige zustimmende Zwischenrufe waren zu vernehmen, die Brookings mit freundlicher Geste auffing. «Ich weiß natürlich, dass ich bei Ihnen offene Türen einrenne. Umso dankbarer bin ich für Ihr Verständnis, denn die Lage ist ernst, und sie verlangt nach entschlossenem Handeln.»

«Na, da bin ich ja gespannt», sagte Harald leise.

«Diese Entwicklungen, so dramatisch sie sind, bieten gleichermaßen Chancen und Risiken», betonte die Außenministerin, deren perfekt frisiertes Haar Harald an einen Helm erinnerte. Zwei Reihen geweißter Zähne standen makellos nebeneinander, eine Phalanx wie aus gemeißeltem Eis. Ihre gewinnende Ausstrahlung kontrastierte mit leer anmutenden Augen, die in eine unbestimmte Ferne schweiften. «Gebiete und Regionen, die bislang kaum zu erreichen sind, werden sehr bald schon wirtschaftlicher Nutzung zugänglich sein – dem Handel ebenso wie der Förderung von Bodenschätzen», fuhr sie fort. «Mit großer Sorge sehen wir, dass vor allem Russland und China eine aggressive Expansionspolitik rund um den Nordpol betreiben, zum Nachteil der freien Welt. Die NATO ist entschlossen, dieser Herausforderung konsequent zu begegnen und die Freiheit der Weltmeere weiterhin zu gewährleisten, auch im Hohen Norden.» Aus diesem Grund hätten die USA den Bau mehrerer Eisbrecher in Auftrag gegeben und planten, gemeinsam mit ihren Verbündeten eine eigene Arktisflotte aufzustellen, zum Einsatz entlang «der neuen Autobahn im Schiffsverkehr zwischen Nordamerika, dem Fernen Osten und Europa. Der neue Ozean wird kommen, daran ist nichts mehr zu ändern. Meine Damen und Herren: Die Zeit drängt. Packen wir’s an, bevor andere Fakten schaffen, die unsere Freiheit bedrohen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.»

Erneut lächelte sie ins Publikum, winkte einzelnen Anwesenden zu und verließ die Bühne, während sich das Auditorium offenbar in zwei Hälften teilte: verhaltener Beifall hier, ungläubiges Geraune dort.

***

Birgitta Arnósdóttir mochte diese verschlafen wirkende Polizeiwache im Viertel Laugardalur, einer bevorzugten Wohngegend Reykjaviks, bekannt für ihre zahlreichen heißen Quellen. Aus Gründen, die sie nicht kannte, liefen hier die Fäden der polizeilichen Ermittlungen gegen sie zusammen, seit geraumer Zeit schon, ohne dass man ihr strafbare Handlungen nachweisen konnte. Die heimelige Atmosphäre in der früheren Jugendstil-Villa eines durch Walfang reich gewordenen Großhändlers, verstorben in den 1950er Jahren, ohne Kinder oder Erben – oft schon hatte sie sich gefragt, wie er das geschafft haben mochte. Vermutlich hatte er außerehelich Wurzeln geschlagen, wollte aber niemanden in Verlegenheit bringen. Eine andere Erklärung konnte es kaum geben, jedenfalls war ihr kein weiterer Isländer ohne Verwandtschaft bekannt. Fast war die Villa verfallen, als die Polizei sie vor einigen Jahren für ihre Zwecke entdeckt hatte und neu herrichten ließ. Wiederholt schon war sie in diesen Verhörraum geführt worden, von wo aus der Blick in die gepflegten Gärten der Nachbarschaft führte. Das Fenster war nicht vergittert. Die Sitzordnung rund um den schlichten Holztisch änderte sich nie. Die vernehmenden Beamten saßen mit dem Rücken zur Tür, die zu Verhörenden ihnen gegenüber. Ungeachtet der Umstände erschien die Atmosphäre keineswegs bedrohlich, nicht einmal unangenehm. Wer hier vernommen wurde, galt vordergründig zunächst eher als Gesprächspartner denn als Verdächtiger. Sogar eine Kaffeekanne stand auf dem Tisch, umgeben von Plastikbechern. Doch war der von Polizeiseite angebotene Kaffee von derart schlechter Qualität, dass Birgitta frisch gebrühten in ihrer Thermoskanne mitführte und auch den beiden Ordnungshütern davon einschenkte.

«Oh, danke, dein Kaffee ist wirklich gut», versicherte Sylvia Björnsdóttir und beugte sich umständlich nach vorne, entfernte die Alufolie von ihrem selbstgebackenen Butterkuchen. «Ich hoffe, dass der genauso gut schmeckt», sagte sie.

Birgitta langte zu und fragte: «Wann ist es denn so weit?»

«Oh, ich denke … Keine vier Wochen mehr.» Sie fuhr mit der Hand über ihren Kugelbauch. Sylvia konnte auf entwaffnende Weise freundlich und zugewandt sein. Hinter ihrem bodenständigen, beinahe naiv anmutenden Auftreten verbarg sich eine nicht zu unterschätzende Mischung aus Klugheit, Kombinationsgabe und Menschenkenntnis, die schon so manchem zum Verhängnis geworden war. Wer nicht aufpasste, zeigte sich redseliger, als es einem möglichen Delinquenten recht sein durfte.

«Was machst du dann noch hier? Gehörst du nicht in den Mutterschutz?» Dabei warf Birgitta dem zweiten Polizisten einen vorwurfsvollen Blick zu. Der grimmig auf die Welt blickende Mittsechziger, den, wie es hieß, noch nie jemand hatte lächeln sehen, erinnerte an eine der tragischen Bauernfiguren aus den Romanen von Halldór Laxness. Ein Leben lang kämpften sie gegen das Wetter und das Schicksal, bis sie am Ende erkannten, im Grassodenhaus dem Selbstgebrannten zusprechend, dass es einen Sinn ihres Daseins nicht gab.

«Oh», kam ihm Sylvia zu Hilfe, «ist doch egal, ob ich nun hier sitze oder zu Hause. Und ich bin nun mal gerne unter Menschen.»

Der an einen Schrat erinnernde Kommissar Olafur Erlingsson mit dem pockennarbigen Gesicht, dessen Nase größer und breiter war, als es beide Hände des Neugeborenen von Kommissarin Björnsdóttir zusammengenommen sein würden, nickte zufrieden. Erlingssons äußere Erscheinung konnte Kinder bewegen, in die Arme ihrer Mütter zu flüchten. Allerdings hatte er mehr Verbrechen aufgeklärt als je ein Polizist vor ihm in diesem Land – seit Erik dem Roten, wie wohlmeinende Kollegen glaubten.

«Was ist mit dir, David? Magst du keinen Kuchen?», fragte Sylvia mit ausladender Handbewegung in Richtung von Birgittas Anwalt, David Baldvinsson. Der hatte Birgitta einmal erzählt, dass allein Glück und Zufall ihn zu dem gemacht hätten, was er heute war, einer der erfolgreichsten und teuersten Anwälte Islands. Genauso gut aber hätte er auch in einer Zelle enden können, hatte er eingeräumt, was sie keinen Moment ernsthaft bezweifelte. Der smarte Endvierziger, der stets maßgeschneiderte Anzüge und Krawatte trug und sich einmal im Jahr in Mailand neu einkleiden ließ, hatte das Management der 2008 im Zuge der weltweiten Finanzkrise in den Ruin getriebenen Kaupthing Bank derart erfolgreich verteidigt, dass die Verantwortlichen entweder mit symbolischen Bewährungsstrafen davongekommen oder aber freigesprochen worden waren. Birgitta hatte ihrem einstigen Studienkollegen daraufhin vorgehalten, er sei als Trotzkist gestartet und als Bettvorleger der Wall Street gelandet. Als Baldvinsson einige Zeit danach erstmals für sie tätig wurde, zunächst kostenlos und heute zu Vorzugsbedingungen, die selbst mit ihren bescheidenen Einkünften noch zu erfüllen waren, hatte er sich revanchiert: «Sei froh, dass da noch ein Rest von Trotzki in mir ist. Warum sonst sollte ich für jemanden eintreten, der Stromleitungen kappt? Wer macht denn noch so was, im 21. Jahrhundert?»

Als habe der Anwalt auf die Ermunterung der Kommissarin gewartet, nahm er sich gleich zwei Stücke: «Dein Kuchen ist einfach großartig. Allein deswegen bin ich immer wieder gerne hier.»

«Oh, das freut mich aber», erwiderte die werdende Mutter mit einem Lächeln, das ihr Sommersprossengesicht erstrahlen ließ. Vorsichtig drehte sie das Tablett in Richtung des Anwalts, eine Hand auf dem Bauch, damit der Kleine sich nicht am Tisch stieß. «Na, hör mal! Du kannst ja ganz schön treten mit deinen Beinchen!» Sie blickte in die Runde, während sie verschmitzt eine Locke hinter ihr linkes Ohr schob: «So ein kleiner Zappelphilipp …»

«Tja, also, wenn ihr dann so weit fertig seid mit diesem Teil, sollten wir vielleicht mal sehen, dass wir vorankommen», ließ Erlingsson seinen Bass erklingen.

«Sehr gerne, mein Guter», erwiderte Baldvinsson jovial. «Dann will ich mal erzählen, vom Absturz mit dem Hubschrauber.»

«Oh, wir hatten eigentlich gehofft, das von deiner Begleiterin zu erfahren. Sie war ja dabei, sie hat es erlebt, im Gegensatz zu dir. Nicht wahr, Birgitta?»

Die Angesprochene nickte. «Wir waren gerade westlich am Vulkan vorbeigeflogen, als es eine Art dumpfen Knall gab. Fast hätte man ihn wegen der Motorengeräusche überhören können, aber auf einmal verdunkelte schwarzer Rauch die Kabine. Der Hubschrauber sackte ab, wir sind glücklicherweise nicht sehr hoch geflogen, keine 100 Meter. Die Dänen wollten ja fotografieren. Ich vermute, dass dieser Knall, diese Explosion, vom Motor herrührte, jedenfalls kam von dort der Rauch. Die Apparaturen spielten verrückt, aus dem Cockpit hörten wir ein metallisches Kreischen. Die Piloten konnten kaum noch was sehen, wir hinten auch nicht. Alles war eingenebelt. Der Hubschrauber reagierte wohl auch nicht mehr auf das, was die beiden da vorne taten. Er kam ins Trudeln, und es ging steil abwärts. Der Aufprall war ziemlich hart. Ich saß direkt neben der Tür, die dabei aufsprang. Der Hubschrauber landete mit einer scharfen Neigung nach rechts, auf einer Kufe, was mir wohl das Leben gerettet hat. Ich wurde hinausgeschleudert. Er kam aber nicht zum Stehen, prallte vom felsigen Grund ab, machte einen Satz, Gott sei Dank in die andere Richtung, dann berührten die Rotorblätter den Fels. Metallteile flogen durch die Luft, der Hubschrauber krachte zu Boden, schlug seitwärts auf. Ich hörte Schreie und Hilferufe, war anfangs wie betäubt. Als ich mich aufraffen konnte, wieder auf den Beinen stand, gab es eine Explosion, und er ging in Flammen auf. Zwei Dänen aber hatten es gerade noch ins Freie geschafft. Für alle anderen kam jede Hilfe zu spät.»

Betroffen starrten die beiden Polizisten auf den Tisch vor ihnen.

«Und was hast du dann gemacht?», fragte Erlingsson.

«Ich habe versucht, ihnen zu helfen. Die Kleidung eines der beiden brannte, die habe ich als Erstes gelöscht.»

«Womit?», erkundigte sich der Kommissar.

«Mit Moos. Ich habe ihn zu Boden geworfen und darin ein paarmal hin- und hergewälzt. Der andere Mann stand unter Schock, er wollte weglaufen. Ich rannte ihm nach, damit er nicht versehentlich in eine Bergspalte stürzt. Holte ihn zurück, setzte ihn neben seinen Landsmann. Beide sahen nicht gut aus. Schwere Verbrennungen, einer hatte sichtbare Knochenbrüche an den Armen, der andere spuckte Blut. Mir war klar, dass sie dringend ärztliche Hilfe brauchten. Aber es gibt da draußen keinen Handyempfang.»

«Und dann bist du – geflüchtet?» Es war eher eine Feststellung Erlingssons als eine Frage.

«Ich wollte Hilfe holen. War schon ein gutes Stück entfernt, da tauchte auf einmal ein Hubschrauber auf. Landete an der Unglücksstelle. Vier Männer sprangen heraus. Bewaffnete Männer. Sie trugen längliche Waffen, Schnellfeuergewehre, wenn ich mich nicht irre. Ich war – schockiert. Ging instinktiv erst einmal in Deckung. Hab die beobachtet. Und was machten die Kerle? Inspizierten das Gelände, vor allem aber den brennenden Helikopter. Sahen sich um. Taten aber nichts, um den beiden Überlebenden zu helfen. Dann muss mich einer der Männer wohl entdeckt haben, jedenfalls zeigte er in meine Richtung. Daraufhin sprangen die vier wieder in den Hubschrauber und der hob ab. Ich konnte gerade noch erkennen, dass sie die beiden Verletzten nicht mitgenommen haben. Danach bin ich nur noch gerannt, gerannt, gerannt.»

Erlingsson sah sie mit durchdringendem Blick an und massierte seine gewaltige Nase. «Kannst du ungefähr die Uhrzeit sagen, wann das geschehen ist?»

«13:37 Uhr. Hier.» Birgitta zeigte ihm ihre Armbanduhr, die durch die Wucht des Aufpralls stehengeblieben war.

«Der Rettungshubschrauber ist erst eine Stunde später an der Absturzstelle eingetroffen. Da waren die beiden Dänen tot.»

«Wundert dich das?», fragte Birgitta. «Mit solchen Verletzungen? In der Kälte?»

«Die Frage ist doch: Wer waren diese bewaffneten Männer? Und warum haben sie nicht Erste Hilfe geleistet, die Verletzten ins Krankenhaus geflogen?», meldete sich ihr Anwalt zu Wort.

Der Kommissar pochte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Sachte, als suche er eine Schadstelle.

«Die Polizei hat eine Suchmannschaft losgeschickt», hakte Baldvinsson nach. «Um Birgitta aufzuspüren. Warum?»

«Wir konnten nichts ausschließen», sagte Erlingsson, und Birgitta meinte, den leisen Anflug einer Entschuldigung herauszuhören.

«Seid ihr ernsthaft auf die Idee gekommen, ihr eine terroristische Tat anzuhängen?»

«Eine reine Vorsichtsmaßnahme, mehr nicht. Sie hätte ja auch verletzt irgendwo auf Hilfe warten können.» Der Kommissar schenkte sich von Birgittas Kaffee ein.

«Was wisst ihr über den Hubschrauber und die bewaffneten Männer da oben?», hakte der Anwalt nach.