Krieg ohne Ende? - Michael Lüders - E-Book

Krieg ohne Ende? E-Book

Michael Lüders

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Beschreibung

Das Buch zum Krieg im Nahen Osten

Der Großangriff der islamistischen Hamas auf den Süden Israels am 7. Oktober 2023 hat einen neuen Krieg ausgelöst – mit verheerenden Folgen für die Menschen auf beiden Seiten, vor allem aber im Gazastreifen. Jederzeit kann die Gewalt die gesamte Region in Brand setzen, vom Jemen bis in den Iran. Die Folgen auch für Deutschland und Europa wären fatal. Die Instabilität in der Region bedroht jetzt schon die Wirtschaftsbeziehungen und verschärft die Konfrontation zwischen Ost und West.
Anschaulich und spannend erklärt der Nahostexperte und Bestsellerautor Michael Lüders die Hintergründe und Ursachen der Konfrontation zwischen Juden und Arabern, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Lüders erzählt von der Staatswerdung Israels 1948, der Vertreibung der Palästinenser, von Kriegen und enttäuschten Hoffnungen. Und er stellt die Haltung der Bundesregierung infrage, die sich auf Staatsräson beruft und den unkritischen Schulterschluss mit einer ultrarechten israelischen Regierung meint.
Wird der Nahe Osten je zur Ruhe kommen? Welche Zukunft haben Israelis und Palästinenser? Zum Schluss unternimmt der Autor den Versuch, Konturen einer Lösung zu skizzieren. Ist das Zwei-Staaten-Modell noch realistisch? Oder bedarf es eines gemeinsamen, ganz neuen Gebildes?

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Buch

Wird der Nahe Osten je zur Ruhe kommen? Der Großangriff der islamistischen Hamas auf den Süden Israels am 7. Oktober 2023 hat einen neuen Krieg ausgelöst – mit verheerenden Folgen für die Menschen auf beiden Seiten, vor allem aber im Gazastreifen. Jederzeit kann die Gewalt die gesamte Region in Brand setzen, vom Jemen über den Libanon bis in den Iran. Die Folgen auch für Deutschland und Europa wären fatal.

Anschaulich erklärt der Nahostexperte und Bestsellerautor Michael Lüders die Hintergründe und Ursachen der Konfrontation zwischen Juden und Arabern, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm. Lüders erzählt von der Staatswerdung Israels 1948, der Vertreibung der Palästinenser, von Kriegen und enttäuschten Hoffnungen. Und er kritisiert die Haltung der Bundesregierung, die sich auf »Staatsräson« beruft und den unkritischen Schulterschluss mit einer ultrarechten israelischen Regierung meint.

Autor

Michael Lüders studierte Politik- und Islamwissenschaften in Berlin und Damaskus und war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung DIEZEIT. Er war Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, in Nachfolge des verstorbenen Peter Scholl-Latour, und Mitglied im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags. Er hält Vorträge über das Spannungsverhältnis zwischen dem Westen und der arabisch-islamischen Welt und ist häufiger Gast in Hörfunk und Fernsehen. Auf YouTube äußert sich Michael Lüders regelmäßig zu aktuellen politischen Themen. Zuletzt erschienen von ihm die SPIEGEL-Bestseller Hybris am Hindukusch, Die scheinheilige Supermacht und zuletzt Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen bei Goldmann.

www.michael-lueders.de

YouTube: @michaelluders1787

Außerdem von Michael Lüders im ProgrammMoral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen

MICHAEL LÜDERS

KRIEG OHNE ENDE?

Warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe September 2024

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Peter Hammans

Karten: © Peter Palm

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

EB ∙ NB

ISBN 978-3-641-32363-9V001

www.goldmann-verlag.de

Für meinen Sohn MarlonDenke ohne Geländer!

»Ich glaube, dass die Erkenntnis der Wahrheit nicht in erster Linie eine Sache der Intelligenz, sondern des Charakters ist.«

Erich Fromm

»Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.«

André Gide

»Man darf die Mehrheit nicht mit der Wahrheit verwechseln.«

Jean Cocteau

»Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.«

Bertolt Brecht

INHALT

Trauer, Leid und Denkverbote: Zur Einführung

Die Suche nach Vergebung: Israel und die deutsche »Staatsräson«

»Agitation gegen Briten und Juden«: Palästina bis zum Zweiten Weltkrieg

Geschichte neu erzählen: Israel säubert seine Archive

»Brief aus Gaza«: Jassir Arafat und der Aufstieg der PLO

Das Land gehört uns: Kriege, Siedler und Sadats Reise nach Jerusalem

Gewalt statt Diplomatie: Neue Fronten von Beirut bis Teheran

»Rasenmähen«: Warum der Frieden in Israel/Palästina scheitern musste

Auf der Suche nach Daddy: Vom 7. Oktober zum Flächenbrand

Ausblick: Wie geht es weiter?

Kurz gefasst: Wichtige historische Daten

Literatur

Anmerkungen

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Trauer, Leid und Denkverbote: Zur Einführung

Fragen, die weite Teile der Gesellschaft bewegen, solche über Krieg und Frieden beispielsweise, erfordern in einer Demokratie den freien Meinungsaustausch – sollte man meinen. Doch dem ist nicht so. Es gibt Grenzen dessen, was öffentlich gesagt werden kann, ungeschriebene Gesetze, ja, Tabus. Wer sie missachtet oder übersieht, dem drohen die Rufschädigung oder der politisch-mediale Pranger, schlimmstenfalls auch juristische Konsequenzen. Verstärkt seit dem Gaza-Krieg, dessen jüngste Eskalation mit dem 7. Oktober 2023 begann – jenem mörderischen Tag, als die Hamas und andere Gruppen vom Gazastreifen aus Südisrael angriffen. Offiziellen Angaben zufolge sind dabei 846 israelische Zivilisten, 278 Soldaten und 44 Polizisten getötet worden, 264 Gefangene wurden in die Küstenenklave verschleppt. Diesen Akt des Terrors zu verurteilen und sein Mitgefühl gegenüber den Opfern oder deren Angehörigen zum Ausdruck zu bringen, war in Deutschland aus gutem Grund weitestgehend Konsens.

Schwieriger wird es, sobald die Frage nach den Hintergründen und Ursachen dieser Gewalttat im Raum steht. Nicht wenige glauben, etwas zu erklären bedeute, es zu rechtfertigen. Das aber ist ein Irrtum: Verstehen und Billigen sind zweierlei. Gleichzeitig riskiert, wer einzuordnen versucht, den Vorwurf der Relativierung. Der Horror spreche doch für sich, vom zugrunde liegenden Judenhass ganz zu schweigen. Und überhaupt: Auf welcher Seite stehst du eigentlich?

Auf Seiten derer, die unschuldig Opfer von Terror und Gewalt werden. Meine Anteilnahme, die des Autors, gilt jenen, die an diesem Schicksalstag in Israel getötet oder entführt wurden. Und sie gilt den Zehntausenden Toten im Gazastreifen, aber auch im Westjordanland und im Libanon, die seither den Preis für eine entfesselte Rachsucht zu zahlen haben. Was wiederum Südafrika veranlasste, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen Israel wegen Völkermordes, konkret des Verstoßes gegen die UN-Völkermordkonvention von 1948 einzureichen.

Politik und Medien hierzulande haben sich jedoch nicht etwa für einen sofortigen Waffenstillstand und eine Friedenslösung eingesetzt, sondern sich uneingeschränkt hinter Israel gestellt. Im Ergebnis lief das auf einen Schulterschluss mit der Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu hinaus, die als rechtsextrem zu bezeichnen fast schon eine Untertreibung ist. Die vielbeschworene »Staatsräson« und die irrige, aber wirkmächtige Annahme, Kritik an israelischen Positionen sei im Zweifel antisemitisch, hatten nicht allein in Deutschland zur Folge, dass die offenkundigen Kriegsverbrechen der israelischen Armee lange Zeit bestenfalls zur Kenntnis genommen wurden – mehr aber auch nicht. Was auch daran zu ermessen ist, dass sich die deutschen Rüstungsexporte in Richtung Israel 2023 verzehnfacht haben, wobei der Löwenanteil auf die Zeit nach dem 7. Oktober entfiel. Vor allem Artillerie- und Panzermunition aus hiesigen Beständen kam zuverlässig im Gazastreifen zum Einsatz. Darüber hinaus lieferte Berlin Schusswaffen verschiedenen Kalibers und allein in den ersten sechs Kriegsmonaten 500 000 Schuss Munition für Maschinengewehre. Wer also die richtigen Lektionen aus der jüngeren deutschen Geschichte gelernt zu haben glaubt, liefert Israel Waffen und Munition, die anschließend palästinensische Zivilisten töten?

Ins Visier gerieten auch Deutsche mit palästinensischen, arabischen oder muslimischen Wurzeln. Sie sahen sich dem Generalverdacht ausgesetzt, pro Hamas oder schlichtweg Antisemiten zu sein. (Obwohl, nebenbei bemerkt, auch Araber Semiten sind.) Entsprechend wurde ein Großteil der Demonstrationen gegen den Horror im Gazastreifen untersagt, oder aber ihre Teilnehmer sahen sich strengen Auflagen ausgesetzt. Schon Parolen wie »Free Palestine« oder »Stoppt den Genozid« waren strafbewehrt, weil sie angeblich Israel das, wie es heißt, Existenzrecht absprechen.

Parallel überrollte eine Welle der Zensur und der Denkverbote das Land. Vor allem im kulturellen Bereich kam es zu Hochgerichten der Inquisition, einer zunehmend McCarthy-haften Cancel Culture. Palästinensischer Herkunft zu sein oder als potenziell israelfeindlicher Verdachtsfall zu gelten, reichte bereits aus, um einen zugesprochenen Preis nicht oder erst im Nachklapp zu erhalten, von Veranstaltungen ausgeladen oder einem Gesinnungstest unterzogen zu werden. Es traf aber auch renommierte in- und ausländische Künstler oder Wissenschaftler, sofern sie sich im Verlauf ihres Berufslebens jemals kritisch über Israel geäußert oder etwa Texte verlinkt hatten, die den Rechtgläubigen als blasphemisch galten. Der anti-antisemitische Furor ereilte sogar deutsche wie nichtdeutsche Juden, die den Massenmord im Gazastreifen beim Namen nannten.

Die Konsequenz war eine ungute Mischung aus Philosemitismus und Islamophobie, geboren aus Schuldgefühl und Eurozentrismus. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ermahnte alle »mit arabischen Wurzeln« in Deutschland, sich vom Hass auf Juden zu distanzieren und die Hamas zu verurteilen. Vizekanzler Robert Habeck ging sogar noch einen Schritt weiter. Er forderte die hier lebenden Muslime auf, sich »klipp und klar von Antisemitismus zu distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu verlieren«. Damit stellte der Minister eine klar umrissene Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht, verstärkt noch durch eine indirekte Drohung. Diese und ähnliche Botschaften, aufgegriffen und verstärkt in Politik und Medien, dürften nicht wenige, möglicherweise die meisten der hiesigen Muslime, immerhin 5,5 Millionen Menschen, der Mehrheitsgesellschaft entfremdet haben. Nicht weil sie Antisemiten wären, die es in ihren Reihen ebenso gibt wie im Rest der Gesellschaft, sondern weil ihnen die Aufteilung der Bevölkerung in »wir« und »ihr« nicht entgangen sein wird. Und weil es ihnen, anders als dem Mainstream, nicht gelungen ist, das fortwährende Massaker im Gazastreifen lediglich zur Kenntnis zu nehmen. Vielmehr zeigen sie sich darüber ebenso betroffen wie entsetzt. Von den 40 000 Deutsch-Palästinensern in Berlin, der größten palästinensischen Community in Europa, haben viele Verwandte im Gazastreifen.

Laut Bundesamt für Verfassungsschutz gehen 84 Prozent der antisemitischen Straftaten in Deutschland auf das Konto von Rechtsextremisten. Am Pranger stehen jedoch seit dem 7. Oktober 2023 verstärkt hiesige Muslime und Araber, ob mit oder ohne deutschen Pass. Selbst ein Hubert Aiwanger, bayerischer Bannerträger solider Bodenständigkeit, in der rechten Armbeuge nicht immer haltungssicher, reihte sich in den Chor derer ein, die den hiesigen Antisemitismus im Bereich der »unkontrollierten Einwanderung« verorten. Mithin ein importiertes Problem, den Deutschen wesensfremd. Wie gut, möchte man ergänzen, dass Hitler Araber war und der Hamas angehörte. Die Spaltung der Gesellschaft jedenfalls schreitet voran.

Fällt Kritik an Israel in die Kategorie des »israelbezogenen Antisemitismus«? Für die große Mehrheit der hiesigen Entscheider und Meinungsmacher ist das eindeutig der Fall. Den wiederum anzuprangern stellt sich ihnen als Ausdruck allerhöchster Moralität dar. Bestenfalls handelt es sich dabei allerdings um eine Scheinmoral, solange das Menschheitsverbrechen im Gazastreifen ungeahndet bleibt. Gleichwohl stellt der nahöstliche Krieg tief verwurzelte Glaubensgewissheiten und Rituale im Bereich der »Erinnerungskultur« infrage. Allein die weltweit immer lauter erhobene Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand enthält ja aus dieser Warte bereits eine Provokation: Sie unterstellt, dass die israelische Regierung, dass Israel mit einem Makel behaftet sein könnte. Was selbstverständlich nicht der Fall sein kann und darf, hat doch das stets in seiner Existenz bedrohte Land alles Recht der Welt, sich zu verteidigen. Warum also diese in Deutschland offiziös gesetzte Wahrheit nicht ebenfalls mit allen Mitteln, auch zutiefst undemokratischen, verteidigen?

Weil eine solche Haltung dem Denken und Handeln in einer freiheitlichen Gesellschaft zuwiderläuft. Was spricht denn dagegen, die Verbrechen der Hamas mit derselben Entschlossenheit zu verurteilen wie jene der israelischen Staatsführung? Warum sollte das eine das andere ausschließen? Weshalb nicht die Gewalt der israelischen Armee im Gazastreifen beim Namen nennen? Als da wären: unablässige Bombardements, großflächige Zerstörungen, darunter Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Gotteshäuser, Kulturgüter; mehrheitlich getötete Zivilisten, zu 70 Prozent Frauen und Kinder, Enteignung, Entrechtung, Folter in den Gefängnissen und, am perfidesten, der Entzug von Nahrung und Wasser als Waffe, das systematische Aushungern von 2,3 Millionen Menschen mit dem erklärten Ziel, sie möglichst in Richtung Sinai zu vertreiben. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist keine Region der Welt innerhalb nur weniger Wochen dermaßen umfassend und zielgerichtet dem Erdboden gleichgemacht worden wie der Gazastreifen. 80 Prozent der Häuser und Gebäude, allgemein der Infrastruktur wurden zerstört. Gemessen an der täglichen Todesrate ist der Gaza-Krieg 2023/24 der bislang tödlichste in diesem Jahrhundert. Alle zehn Minuten starb dort in den ersten sechs Monaten ein Kind.

Es geht nicht darum, die Gewalt der einen Seite gegen die der anderen aufzurechnen, wenngleich die Zahlen für sich sprechen. Das Vorgehen der Hamas ist und bleibt ein Verbrechen und muss als solches benannt werden. Doch ist dieses Verbrechen nicht in einem Vakuum entstanden, wie UN-Generalsekretär António Guterres zu Recht anmerkte. Der 7. Oktober hat eine Vorgeschichte, und die reicht zurück bis in die 1880er Jahre, bis zum Beginn der zionistischen Inbesitznahme Palästinas auf Kosten seiner ursprünglichen Bewohner. Getragen von einer siedlerkolonialen Bewegung, die seit ihren Anfängen glaubt, über ein biblisch begründetes, alleiniges Anrecht auf das gesamte Erez Israel zu verfügen: auf Palästina, das Land zwischen Mittelmeer und Jordanfluss. Allein historische Zusammenhänge aufzuzeigen kann vor diesem Hintergrund bereits zum Politikum werden – dann vor allem, wenn sie der allgemeinen Stimmungslage zuwiderlaufen oder gefühlten Wahrheiten entgegenstehen. Ohne Kenntnis dieser Zusammenhänge ist jedoch alles Reden nichts.

Und genau deswegen befasst sich das vorliegende Buch ausführlich mit der Vorgeschichte heutiger Konfliktlinien, zu der natürlich auch die israelische Staatswerdung 1947/48 gehört. Sie ging einher mit der gewaltsamen und vorsätzlichen Vertreibung von 750 000 Palästinensern, mehr als der Hälfte der damaligen arabischen Bevölkerung, im Arabischen als »Nakba« bezeichnet, als »Katastrophe«. Nach dem Sechstagekrieg 1967 wurden noch einmal 350 000 Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben. Seither hält Israel völkerrechtswidrig die syrischen Golanhöhen besetzt, das Westjordanland einschließlich Ostjerusalems sowie den Gazastreifen. Ungeachtet des israelischen Abzugs 2005 gilt dieser auch weiterhin, internationalem Recht zufolge, als besetzt – zu den Hintergründen später mehr. Für die Palästinenser bedeutet diese Entwicklung seit Jahrzehnten ein Leben in Ohnmacht und Entrechtung, ohne Hoffnung auf Veränderung. Unterbrochen nur von einem vermeintlichen »Friedensprozess«, der nie wirklich einer war, und in dessen Windschatten ein zunehmend messianisch aufgeladener Siedlungskolonialismus auf brutalste Weise Fakten schafft, straflos den Landraub auf Kosten der Palästinenser forciert.

Dergleichen Gegebenheiten aufzuzeigen oder auch nur zu benennen, mag Anhänger der »Staatsräson« empören. Das kann aber nicht der Maßstab sein. Der Horror des 7. Oktober 2023 ist einerseits singulär – und steht gleichzeitig stellvertretend für jenen Horror aus Unterwerfung und Gewalt, wie ihn Israel/Palästina seit Jahrzehnten erlebt. Ohne Gerechtigkeit und Ausgleich, ohne einen palästinensischen Staat wird die Region nicht zur Ruhe kommen. Der Anspruch Israels auf das gesamte Palästina und die angestrebte, dann dritte ethnische Säuberung sind Ausdruck einer gefährlichen Ideologie, die zu unterstützen es keinerlei Anlass gibt. Auch nicht für Deutschland. Dieser Konflikt ist ein territorialer, keineswegs ein religiöser – auch wenn er sich durchaus religiös artikulieren oder entladen kann.

Das historische Vermächtnis von Auschwitz, »Nie wieder«, kann nicht ernsthaft darin bestehen, eine falsche und verbrecherische Großisrael-Politik schönzureden oder gar zu fördern. Die Stimme dort zu erheben, wo Unrecht geschieht, insbesondere dann, wenn es epochales Ausmaß erreicht – darin liegt der Wert einer Erinnerungskultur, die diesen Begriff verdient. Umso mehr, als die Lage im Nahen Osten zunehmend außer Kontrolle gerät und der Krieg im Gazastreifen das Potenzial hat, einen Weltenbrand auszulösen: Hier der Westen, aufseiten Israels, dort Russland und China, aufseiten Irans.

Das vorliegende Buch sucht einen weiten Bogen zu schlagen, vom Gestern ins Heute. Als Autor stehe ich damit gleichwohl vor einem Dilemma. Zwar folge ich weitgehend der historischen Chronologie, doch Immanuel Kant zufolge ist nicht die Wirklichkeit an sich entscheidend, sondern deren Wahrnehmung. Und die ist in Deutschland in Sachen Israel/Palästina geprägt von moralischer Hybris und Realitätsverleugnung, oft genug auch von Philosemitismus, was in letzter Konsequenz auf eine Sakralisierung israelischer Politik hinausläuft.

Es empfiehlt sich daher, in einem ersten Schritt das vorherrschende Bewusstsein auf den Prüfstand zu stellen. Woher kommt diese Überidentifikation mit dem jüdischen Staat? Vordergründig erklärt sie sich mit dem Wunsch nach Absolution für die Verbrechen des Nationalsozialismus, für den Genozid an den Juden. Doch war dieser Wunsch stets eingebettet in übergeordnete Interessen, die selten offen angesprochen werden. Angefangen mit der Westorientierung der noch jungen Bundesrepublik unter Konrad Adenauer bis hin zum Wirken heutiger Antisemitismusbeauftragter.

Über einen Umweg ans Ziel gelangen, eine Zäsur setzen vor dem eigentlichen Akt – das ist ungewöhnlich und ein Hinweis darauf, dass ein Buch wie dieses zu schreiben oder zu verlegen alles andere als selbstverständlich ist. Keinen Denkverboten zu erliegen war dabei die entscheidende Herausforderung. Die Perspektive ist konsequent die der Ohnmächtigen und Vergessenen. Ich danke all jenen, die den Arbeitsprozess als anregende Gesprächspartner bereichert haben (und mehrheitlich ungenannt bleiben möchten). Für den Inhalt verantwortlich ist selbstverständlich der Autor allein. Aus dem Text parteipolitische oder ähnliche Rückschlüsse ziehen zu wollen wäre halt- und gegenstandslos.

Inmitten der zahlreichen politischen und ideologischen Minenfelder nicht die Orientierung zu verlieren halfen mir last, but not least zwei israelische Historiker, vor deren persönlicher Integrität und intellektueller Redlichkeit ich mich verneige: Ilan Pappe und Avi Shlaim.

Die Suche nach Vergebung: Israel und die deutsche »Staatsräson«

Deutschlands kollektive Identität beruht wesentlich auf dem öffentlichen Erinnern an die Verbrechen des NS-Regimes, wobei der Holocaust im Vordergrund steht. Damit einher geht ein häufig heilsgeschichtlicher Tonfall, wenn etwa von der »Gnade der Versöhnung« oder dem »Wunder der Vergebung« zwischen Deutschen und Juden die Rede ist. Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur, die Schlüsselbegriffe des staatlich institutionalisierten Gedenkens, verleihen der Suche nach der rechten Form des Erinnerns eine stark moralisierende Färbung, wie sie spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung für die hiesige Politik insgesamt prägend ist. Im Vordergrund stehen dabei weniger klassische Tugenden wie Diplomatie oder die Suche nach Gemeinsamkeiten, als vielmehr die Festschreibung eigener Standpunkte, Weltbilder oder Überzeugungen auf der Ebene einer ultimativen und somit auch nicht infrage zu stellenden Wahrheit. Im verinnerlichten Wissen um das einzig Richtige und Machbare, destilliert aus einer absolut gesetzten Moralität, die sich als Widerpart der Monstrosität von Auschwitz versteht. Die Deutschen haben in jüngerer Vergangenheit so grundlegend auf der falschen Seite der Geschichte gestanden, dass sie nunmehr den kollektiven Wunsch verspüren, für alle Zeiten auf der richtigen zu stehen. Als Gute das Böse unwiderruflich zu tilgen.

Anders gesagt: Das kleine Israel spielt für das deutsche Selbstbild und die hiesige Identitätssetzung eine übergroße Rolle. In den Worten des Politologen Daniel Marwecki: »Während die deutsche Politik ihr Verhältnis zu Israel in seltener Einmütigkeit pflegt, wird der israelisch-palästinensische Konflikt in der deutschen Öffentlichkeit ohne Bandagen ausgetragen. Dabei geht es in den Zeitungen, auf Twitter oder in den Fachschaftsräten kaum um den Konflikt an sich. Vielmehr ist der seit dem frühen 20. Jahrhundert andauernde Konflikt zweier Nationen um ein entferntes Territorium eine willkommene Schablone für deutsche Identitätskämpfe.«[1] Zu den Ritualen der Selbstvergewisserung hiesiger Entscheider wie auch Meinungsmacher gehört die Beschwörung des Allerheiligsten, wofür an erster Stelle die deutsche »Staatsräson« wie auch das »Existenzrecht« Israels stehen. Als Mantra eingesetzt, sucht diese Ritualisierung die Dämonen der Vergangenheit zu bändigen. Gleichzeitig rührt sie an den Wesenskern einer staatlichen Identität, die sich angesichts einer fragwürdigen Traditionslinie – angefangen bei der Staatswerdung Deutschlands aus dem Geist des Militarismus 1871 in Versailles bis hin zur bedingungslosen Kapitulation 1945 – nicht ohne Weiteres auf die vermeintliche Großartigkeit der eigenen Nation berufen kann, im Gegensatz etwa zu Frankreich. Auch die Religion entfällt als Bezugsrahmen, wenngleich aus anderen Gründen.

Doch ungeachtet der Seligsprechung Israels in weiten Teilen der Öffentlichkeit als höchstem Ausdruck einer als makellos empfundenen Gesinnung seitens des Staates war das tatsächliche Verhalten (West-)Deutschlands im Zuge der »Wiedergutmachung« stets weniger von Moral, Wunder oder Versöhnung geprägt als vielmehr von Eigeninteressen. Die Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen passt in kein Gut/Böse-Schema, dafür ist sie zu widersprüchlich. Sie begann mit Konrad Adenauer, dem ersten Kanzler der Bundesrepublik (1949 – 1963). Seine Ägide stand im Zeichen des Kalten Krieges. Entsprechend ging es ihm in erster Linie um gute Beziehungen zu den USA, zu den westlichen Nachbarn in Europa und um die Wiederbewaffnung, konkret die Gründung der Bundeswehr und den Beitritt zur NATO, beides 1955 vollzogen. Der Schlüssel für die angestrebte Westintegration Bonns war das Verhältnis zu Israel.

1965 erklärte Adenauer im Gespräch mit dem Fernsehjournalisten Günter Gaus, rückblickend auf seine Zeit als Kanzler: »Wir hatten den Juden so viel Unrecht getan, wir hatten solche Verbrechen an ihnen begangen, dass sie irgendwie gesühnt werden mussten, wenn wir überhaupt wieder Ansehen unter den Völkern der Welt gewinnen wollten … Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, sollte man nicht unterschätzen.«[2]

Die Bundesrepublik wollte also so schnell wie möglich wieder in den Kreis der zivilisierten Nationen aufgenommen werden. Folglich galt es »irgendwie zu sühnen«. Der zweite Teil von Adenauers Ausführung entsprach dem damaligen Zeitgeist. Dabei galt es in Bonn nicht als Widerspruch, einerseits Entschädigungen an Israel zu zahlen und die »Wiedergutmachung« voranzutreiben, andererseits aber verbrecherischen Funktionseliten zu erlauben, ihre Kriegs- und Vorkriegskarrieren im Beamtenapparat, in Politik und Wirtschaft ungebrochen fortzusetzen. Am bekanntesten dürfte der Fall Hans Globke sein, Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze von 1935 (»Arier-Nachweis«, »Judenstern«), Adenauers graue Eminenz und neben ihm der mächtigste Mann im Staat. Globke, der zudem im Verdacht stand, für die Deportation von 20 000 griechischen Juden in die Vernichtungslager mitverantwortlich zu sein, kontrollierte insbesondere den Bundesnachrichtendienst BND und den Verfassungsschutz.

Dergleichen Widersprüche begünstigten das Entstehen eines demonstrativ zur Schau getragenen Philosemitismus, der sich weniger für die Realität jüdischen Lebens interessierte als vielmehr für Außenpolitik und Staatsräson im vordemokratischen Sinn – mit anderen Worten für dem Staatswohl untergeordnete Aktivitäten von nationaler Bedeutung.

Kurzum: (West-)Deutschland wurde nach Unterzeichnung des Luxemburger Abkommens von 1952, dem ersten Schritt zur »Versöhnung« mit Israel, zu dessen wichtigstem Handelspartner in Europa. Die vereinbarten Entschädigungszahlungen halfen bei der Transformation Israels von einer Agrarökonomie in einen Industriestaat. Gleichzeitig wurde die Bundesrepublik zum größten Waffenlieferanten des dortigen Militärs und blieb es bis etwa Mitte der 1960er Jahre, als die USA die Führung übernahmen. Paradoxerweise legte die von Judenfeindschaft geprägte Generation der Täter das Fundament für Israels Aufstieg zur regionalen Hegemonialmacht. Ungeachtet der Tatsache, dass Bonn und Tel Aviv erst 1965 diplomatische Beziehungen zueinander aufnahmen.

Seinem Biograf Hans-Peter Schwarz zufolge war Adenauer »ein Kolonialherr alter Schule«, der 1956 volles Verständnis für den Suezkrieg zeigte, den gemeinsamen Angriff von Großbritannien, Frankreich und Israel auf Ägypten, nachdem der dortige Staatschef, Gamal Abdel Nasser, den Suezkanal verstaatlicht hatte. Die Beziehungen zu Israel waren der Regierung Adenauer wichtiger als die zu den arabischen Staaten, als Vermittler in der Region mochte (West-)Deutschland nicht auftreten. Zumal die Hallstein-Doktrin von 1955 unter Sanktionsandrohung einen Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik formulierte, viele arabische Staaten aber infolge der westlichen Unterstützung Israels außenpolitisch der Sowjetunion zuneigten und sukzessive die DDR anerkannten.

»Juden – blond und blauäugig«

Theodor W. Adorno war überzeugt, dass es in der deutschen »Aufarbeitung der Vergangenheit« (so der Titel seines Essays von 1963) nicht darum gehe, sich ernsthaft mit Fragen von Schuld und Verstrickung zu befassen. Über Aufarbeitung zu reden bedeute nicht, sie auch zu betreiben. Die Auseinandersetzung mit dem, was war, könne auch von dem Wunsch geleitet sein, die Vergangenheit zu überwinden, die eigene Verantwortung zu relativieren oder schlicht vergessen zu machen.[3] Wie richtig Adorno mit dieser Einschätzung lag, zeigte sich auch im Eichmann-Prozess 1961. Israelische Agenten hatten Adolf Eichmann, den Cheforganisator der Verfolgung, Vertreibung und Deportation der europäischen Juden in die Vernichtungslager, im Mai 1960 in Argentinien aufgespürt und entführt. Von April bis Dezember 1961 stand er in Jerusalem vor Gericht, im Mai 1962 wurde er gehenkt.

Adenauer war über den Eichmann-Prozess regelrecht »verzweifelt«, da er um (West-)Deutschlands Ruf in der Welt fürchtete. Was so weit ging, dass der Kanzler die Waffen- und Finanzhilfen verzögerte, die er dem israelischen Premier David Ben-Gurion 1960 in New York zugesagt hatte, und Bonns weiteres Vorgehen vom Verlauf des Eichmann-Prozesses abhängig machte, wie der Politikwissenschaftler Daniel Marwecki nachweisen konnte. Tatsächlich kam Ben-Gurion der Bundesregierung entgegen, indem er auf das Verfahren einwirkte und Änderungen an der Eröffnungsrede des Chefanklägers Gideon Hausner vornahm. Dabei ging es insbesondere darum, »das Ansehen Westdeutschlands zu schützen und die Schuld des deutschen Volkes zu mindern« sowie die Schuld Hitlers zu betonen, »um Diskussionen über eine Kollektivschuldthese abzuschwächen«.[4]

Nicht zuletzt sorgte sich Adenauer, was Eichmann wohl über Globke aussagen mochte. Doch die neuen Verbündeten in Israel sorgten dafür, dass dessen federführende Rolle bei den antijüdischen Rassegesetzen vor Gericht nicht weiter thematisiert wurde. Auch nicht die Präsenz anderer Alt-Nazis an den Schaltstellen der Macht in der Bundesrepublik. Stattdessen nutzte die israelische Seite den Eichmann-Prozess, um eine vermeintliche historische wie ideologische Nähe zwischen dem Nationalsozialismus und dem Großmufti von Jerusalem in den 1930er- und 1940er-Jahren zu behaupten. Wider jede Faktenlage wurde der ranghöchste Vertreter der Palästinenser jener Zeit als Urheber und geistiger Vater der »Endlösung« präsentiert – dazu später mehr.

Während Ben-Gurion und die Seinigen Deutschland rhetorisch »entnazifizierten« und der Bonner Republik bescheinigten, sie verkörpere »ein neues Deutschland«, wurden spiegelbildlich die Araber nazifiziert, abzulesen auch an der steten Gleichsetzung des ägyptischen Präsidenten Nasser mit Hitler. So thematisierten israelische Medien etwa umfassend die Präsenz früherer Nazis in Ägypten, wo sie ergebnislos an einem daraufhin aufgegebenen Raketenprogramm arbeiteten. Die Causa des Luftfahrtingenieurs Wernher von Braun, der im Dritten Reich die »Wunderwaffe« V2 maßgeblich entwickelte und nach dem Krieg in den USA als Apollo-Mitkonstrukteur Karriere machte, erfuhr hingegen keine weitere Beachtung. Hannah Arendt notierte in ihrem berühmten Eichmann-Prozessbericht über »die Banalität des Bösen«, Globke und den Großmufti betreffend: »Auf jeden Fall dürfte der frühere Ministerialrat des Innern und Staatssekretär in Adenauers Bundeskanzleramt den Vorrang vor dem ehemaligen Mufti von Jerusalem haben, wenn man die Leidensgeschichte der Juden unter dem Naziregime gerichtsnotorisch machen wollte.«[5]

Der mentale Export von Antisemitismus und nationalsozialistischem Gedankengut in den arabischen Raum hat sich keineswegs überlebt. Unter veränderten Vorzeichen lebt er bis heute fort, indem Politik und Medien in Deutschland Abneigungen und Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft auf Migranten und Muslime projizieren, in deren Reihen sie »Judenhass« verorten. Obwohl, wie bereits erwähnt, mehr als vier Fünftel der antisemitischen Straftaten in Deutschland auf das Konto von germanisch gesinnten Rechtsextremisten gehen. Die darin enthaltene Traditionslinie speist sich aus Verdrängung, Exkulpierung und »Othering«. Gegenwärtige Formen von Rassismus gehen häufig einher mit Philosemitismus und erkennen die Wurzeln allen Übels im Islam, wahlweise unter nahöstlichen Migranten.

Doch hatte der Eichmann-Prozess noch eine ganz andere Wirkung: Er machte den Holocaust zur »Staatsräson« Israels. Bis dato hatte Auschwitz im öffentlichen Bewusstsein des jüdischen Staates eine eher untergeordnete Rolle gespielt, obwohl ein Drittel seiner Bewohner Überlebende des Genozids waren. Der israelische Historiker Tom Segev nennt dafür zwei Gründe. Zum einen hätten sich die Zionisten auch während des Zweiten Weltkrieges in erster Linie um den Aufbau ihres Staates in Palästina gekümmert, die Rettung der europäischen Juden sei für Ben-Gurion und seine Mitstreiter sekundär gewesen. Zum anderen wurden »die Holocaust-Überlebenden … zuweilen geradezu verachtet. Die in Palästina lebenden Juden, sonnengebräunt und an harte Pionierarbeit gewöhnt, konnten mit den ausgezehrten, kranken KZ-Überlebenden wenig anfangen, sprachen gar herablassend von ›unbrauchbarem Menschenmaterial‹.«[6]

Überdies sei der Holocaust lange ein dunkles Familiengeheimnis für die meisten Israelis gewesen. Bis zum Eichmann-Prozess. »Seither ist der Holocaust zu einem zentralen Element der israelischen Identität geworden«, wie es Segev ausführlich in seinem Standardwerk Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung (1995) beschreibt. Darin kritisiert der Autor ähnlich wie Hannah Arendt, dass die Auseinandersetzung mit dem Holocaust vielfach machtpolitisch und ideologisch missbraucht werde. So sei die israelische Armee 1982 im Libanon einmarschiert, um, mit den Worten von Israels Premierminister Menachem Begin, »Adolf Hitler zu fangen« – gemeint war PLO-Chef Jassir Arafat. Gleichzeitig gelte Auschwitz als Generalabsolution für das kompromisslose Vorgehen Israels gegenüber den Palästinensern, für deren systematische Entrechtung.

Davon unabhängig zeigte sich die bundesdeutsche Delegation wie elektrisiert, während sie den Eichmann-Prozess vor Ort verfolgte. Offenbar nahm sie Israel als jüdische Wiedergeburt arischer Fantasien wahr. Jedenfalls schloss deren Abschlussbericht mit den Worten: »Einer der stärksten Eindrücke, die auf den europäischen Besucher wirken, ist der neuartige und sehr vorteilhafte Typus der israelischen Jugend. Diese Jugend weist fast keine der Merkmale auf, die man gewohnt war, als jüdisch zu betrachten. Groß gewachsen, oft blond und blauäugig, frei und selbstbestimmt in ihren Bewegungen, mit klar umrissenen Gesichtern, die Nachkommen der deutsch-jüdischen Einwanderer stellen einen neuen Typus des Juden dar, der bisher unbekannt war.«[7]

Gnade! Der späten Geburt

Diese Haltung, sich mit den Überlebenden der eigenen Verbrechen zu identifizieren, den Gegensatz zwischen Tätern und Opfern aufzuheben und die Rolle der eigentlichen Nazis den Arabern zuzuweisen, sollte sich im Sechstagekrieg 1967 nicht nur fortsetzen, sondern noch einmal steigern. Israels Sieg führte in Politik und Medien zu wahren Begeisterungsstürmen: So erlebte Hitlers »Wüstenfuchs« Erwin Rommel seine Wiedergeburt als Moshe Dayan, damals israelischer Verteidigungsminister. »SIEG! Dayan – Der Rommel Israels«, titelte die Bild. Auch Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein zeigte sich euphorisch. Unter der Überschrift »Tötet, tötet« schrieb er am 11. Juni: »Sie rollten wie Rommel, siegten wie Patton (US-Weltkriegsgeneral, ML) und sangen noch dazu …« Nicht fehlen durften in dem Artikel Orientalismen in bester Kolonialmanier: »In 60 Stunden zerschlugen die gepanzerten Söhne Zions den arabischen Einkreisungsring um Israel, scheuchten sie die panarabischen Propheten aus ihren Großmachtträumen, stürzten sie Ägyptens Nasser in niltiefes Jammertal.«

Der Eichmann-Prozess »half jenes Narrativ zu verfestigen, das den Nahostkonflikt aus dem Kontext eines kolonialen Konfliktes über Territorium und Selbstbestimmung in den europäischen Geschichtsraum von Judenhass und Judenverfolgung verpflanzte«, formuliert es sehr treffend der deutsch-israelische Historiker Daniel Cil Brecher.[8] Gleichwohl fassten israelische Entscheider Kritik an ihrer auf Vorherrschaft ausgerichteten Politik zunehmend als existenzielles Problem auf. Bereits in den 1950er Jahren gingen sie dazu über, beginnend in den USA, diese Kritik mit einer sehr wirkmächtigen Waffe abzuwehren, auch gegenüber Juden: dem Antisemitismus-Vorwurf. Je weniger die brutalen Realitäten der Nakba und ihre Folgen mit den idealisierten westlichen und später insbesondere (west-)deutschen Wahrnehmungen Israels übereinstimmten, desto sorgfältiger galt es jene Grenzen einzuhegen, die Israels Selbstbild und dessen Bild in der Welt infrage stellen mochten.

Die Weitsicht, mit der man sich in Tel Aviv dieses Problems annahm, ist bemerkenswert. Denn noch spielten die Palästinenser im westlichen, allen voran im (west-)deutschen Bewusstsein kaum eine Rolle. Nach 1967 stand zunächst der Siegesjubel im Vordergrund, die Deutschen schienen mit sich selbst im Reinen: Wir umarmen unsere besten Freunde in Israel, nunmehr historisch entlastet. Diese wiederum sahen sich im Zuge der erneuten Vertreibung Hunderttausender Palästinenser im Gefolge des Sechstagekrieges veranlasst, »arabischer Propaganda« entgegenzuwirken und das »Existenzrecht« Israels in den Vordergrund zu rücken. In diesem Kontext wurden die »geläuterten« Deutschen zu Tel Avivs wichtigsten Verbündeten, gleich nach den USA. Dabei ging es aber weniger um die Auseinandersetzung mit Judenfeindschaft als vielmehr um die politisch-ideologische Verteidigung Großisraels: Israel, die besetzten palästinensischen Gebiete plus Sinai sowie die Golanhöhen. Wer den Expansionsdrang Israels kritisiert, ist Antisemit – so die bis heute fortwirkende Logik. Idealisierte deutsche Wunschbilder des jüdischen Staates trafen auf die Entschlossenheit der dortigen Machthaber, mit Gewalt geschaffene Fakten unumkehrbar zu machen.

Doch war die Haltung Bonns gegenüber Israel nach 1967 bis zur deutschen Wiedervereinigung 1990 in erster Linie geprägt von dem Wunsch nach einer Normalisierung der beiderseitigen Beziehungen – weg von den Hinterzimmer-Deals, wie sie zwischen Adenauer und Ben-Gurion prägend gewesen waren. Hauptsächlich aus zwei Gründen. Zum einen, um sich auch mit den arabischen Staaten ins Benehmen zu setzen, die im Verlauf des Oktoberkrieges 1973 Erdöl als ökonomische Waffe eingesetzt hatten. Die Palästinafrage war den Deutschen spätestens mit dem Terroranschlag auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München ins Bewusstsein gerückt. Die anhaltende Besatzungs- und Siedlungspolitik Israels stieß zunehmend auf Kritik, vornehmlich vonseiten der Europäer, weniger aus den USA. Äußerlich abzulesen an der Resolution von Venedig, in der sich die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG (Vorläufer der Europäischen Union) im Juni 1980 erstmals, wenngleich sehr vorsichtig, zum Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bekannte. Israel reagierte darauf mit der Annexion Ostjerusalems und erklärte Gesamt-Jerusalem zur Hauptstadt. Der Einmarsch Israels in den Libanon 1982 und die Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila warfen tiefe Schatten auch auf das deutsch-israelische Verhältnis. Umso mehr, als Kanzler Helmut Schmidt und Israels Premier Menachem Begin einander verachteten, wenn nicht verabscheuten.

Zum anderen war da die deutsche Seele. Der Wunsch vieler Deutscher nach einem positiven Selbstbild, nach einem Schlussstrich oder wenigstens doch einer Versöhnung mit der eigenen Geschichte, Israel hin oder her. Exemplarisch steht dafür das Diktum von Kanzler Helmut Kohl, der 1983 die »Gnade der späten Geburt« für sich in Anspruch nahm. Auch in seiner Rede vor dem israelischen Parlament, der Knesset, am 24. Januar 1984: »Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die Gnade der späten Geburt … gehabt hat.« Kohls Erinnerungspolitik bezog sich weniger auf den jüdischen Staat, vielmehr suchte er den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg im Osten in einen gesamtwestlichen Kampf gegen den Bolschewismus umzudeuten. Das war Geschichtsfälschung der übelsten Sorte, doch überaus wirksam, auch außenpolitisch. Jedenfalls besuchten Kohl und US-Präsident Ronald Reagan am 5. Mai 1985 den Soldatenfriedhof in Bitburg, wo amerikanische Soldaten ebenso ruhen wie deutsche, aber auch Mitglieder der Waffen-SS, die das Massaker im französischen Oradour-sur-Glane begingen. Das aber erschien zweitrangig angesichts der vermeintlich gemeinsamen Frontlinien, erst gegen den Bolschewismus, dann gegen die Sowjetunion.

So wie der Eichmann-Prozess in Israel eine kathartische Wirkung für den öffentlichen Umgang mit dem jüdischen Genozid hatte, galt das in (West-)Deutschland ähnlich für die 1979 in der ARD ausgestrahlte US-Fernsehserie »Holocaust«. Sie erzielte eine sensationelle Einschaltquote von bis zu 40 Prozent und schuf in nachfolgenden TV-Talkrunden und landesweiten Gesprächskreisen Foren, in denen sich Schock, Wut, Trauer und Fassungslosigkeit über die deutschen Verbrechen erstmals auf nationaler Ebene entfalteten. Offenkundig wurde, dass die Lebenslüge so vieler Deutscher – nur eine Minderheit habe im Dritten Reich Grauenvolles angerichtet, die Mehrheit habe davon nichts gewusst, im Zweifel nicht einmal der Führer – kaum länger aufrechtzuerhalten war. Das Offenkundige wurde ersichtlich: Die Verbrechen hatten in aller Öffentlichkeit stattgefunden. Dass es für diese Einsicht einer US-Fernsehserie bedurfte, die weitaus mehr erreichte als die Studentenrevolte im Jahrzehnt zuvor, ihrerseits nicht zuletzt eine Abrechnung mit dem Schweigen der Eltern, spricht für sich.

Das kollektive Schamgefühl griff Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmt gewordenen Ansprache zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 geschickt auf und setzte damit einen Kontrapunkt zur Kohl’schen »Gnade«. Von Weizsäcker machte den Deutschen ein Erinnerungs- und Versöhnungsangebot jenseits bestehender Weltanschauungen und politischer Orientierung. Die historische Schuld, so seine Empfehlung, möge nicht länger vergessen und verdrängt werden, sondern als Bekenntnis zur Erinnerung gelten: Sich an das, was geschehen ist, bewusst zu erinnern, darin liege die Erlösung. Angefangen damit, den 8. Mai als »Tag der Befreiung« zu würdigen und nicht länger als deutsche Kapitulation oder Niederlage anzusehen.

Die Rede des Bundespräsidenten stärkte das westdeutsche Ansehen in der Welt und war ein wichtiger Brückenschlag zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Dennoch gingen die gesellschaftlichen Debatten um Erinnerung und nationale Identität weiter – verstärkt nach der Wiedervereinigung 1990. Deutschland war damit auf bestem Weg zur europäischen Führungsmacht, politisch und wirtschaftlich. Woraus aber sollte die Identität dieses neuen Kraftzentrums bestehen, nachdem sich der »Antifaschismus« im Osten und die Beschwörung der »deutschen Einheit« im Westen als jeweils einigende Erzählungen überlebt hatten? Ein lediglich fahnenschwenkender Nationalismus war kaum die Alternative, die Religion noch weniger.

Was blieb, war die Verbindung zwischen einer positiv besetzten nationalen Identität mit Auschwitz. Von Weizsäcker hatte sie umfassend hergestellt, und die politische Klasse setzte diese Linie in der Folgezeit fort. Das Ergebnis war, die deutsche »Erinnerungskultur« mit dem Bekenntnis zum »Existenzrecht« Israels zu verbinden und schließlich in der »Staatsräson« aufgehen zu lassen.

»Staatsräson« und Holocaust

Begünstigt wurde diese Entwicklung nach der Jahrtausendwende durch das allmähliche Vordringen identitätspolitischer, hochgradig moralisierender Forderungen an Staat und Gesellschaft, für die in Deutschland allen voran die Grünen stehen. Dafür gibt es soziokulturelle wie ökonomische Gründe. An erster Stelle ist hier der Übergang von einer Industrie- in eine digitalisierte Dienstleistungsgesellschaft zu nennen, die ihrerseits einhergeht mit einer ausgeprägten Individualisierung vor allem urbaner Lebenswelten.[9] Diese gesellschaftliche Fragmentierung zerstört vielfach historisch gewachsene Formen sozialen Zusammenhaltes zugunsten (klein-)gruppenbezogener Identitäten. Um politisch Gehör zu finden, nehmen die entsprechenden Gruppen ihre jeweiligen Interessen vorzugsweise im Gewand »alternativloser« moralisierender Forderungen wahr. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die regelmäßigen Appelle von Außenministerin Baerbock an die »Schurkenstaaten« dieser Welt, denen sie unter Verwendung ihres Lieblings-Hilfsverbes »müssen« gerne erklärt, was sie zu tun und besser noch zu lassen haben. Ein übersteigerter Moralismus ist nicht per se etwas Neues, nun aber gilt er gewissermaßen als kodifiziert. Ist das einzig Gute und Wahre erst einmal verbindlich benannt, gilt jede abweichende Meinung im Zweifel als falsch oder gar als Bedrohung eigener Glaubensgewissheiten.

Diese Haltung setzt sich in den Medien fort. Der nächste Schritt, eine zunehmend von Framing geprägte öffentliche Meinung und die Dämonisierung Andersdenkender, ergibt sich dann wie von selbst. An diesem Punkt steht Deutschland längst auch in Sachen Israel/Palästina, verstärkt seit Beginn des Gaza-Krieges.

Doch der Reihe nach. Israels Sicherheit sei deutsche »Staatsräson«, erklärte Kanzlerin Angela Merkel 2008 in der Knesset. Was genau sie damit meinte, blieb offen. Der von ihr zum Ausdruck gebrachte Versöhnungswunsch lief allerdings hinaus auf eine an keinerlei Bedingungen, Vorbehalte oder Einschränkungen gebundene Sicherheitsgarantie für Israel. Das ist insoweit erstaunlich, als das Land die mit weitem Abstand stärkste Militärmacht in der Region ist, eine Nuklearmacht zudem. Auf die Unterstützung durch die Bundeswehr ist Israel schlichtweg nicht angewiesen. Auch mit Blick auf die Schutzmacht-Funktion der USA für ihren engen Verbündeten ist diese bis heute uneingeschränkt gültige, von vielen Politikern regelmäßig beschworene »Staatsräson« befremdlich. Sich anlasslos für Israels Sicherheit mitverantwortlich zu zeigen, sei eine »gefühlsmäßig verständliche, aber törichte Auffassung, die sehr ernste Konsequenzen haben könnte«, kommentierte damals Altkanzler Helmut Schmidt. Wenn es beispielsweise zum Krieg zwischen Israel und dem Iran käme, »dann hätten nach dieser Auffassung die deutschen Soldaten mitzukämpfen«.[10]

Die Fertigstellung des Holocaust-Mahnmals in Berlin 2005 und Merkels Rede unterstreichen jeweils, dass Auschwitz weiterhin eine zentrale Rolle im Kontext nationaler deutscher Identität spielen sollte. Vordergründig um die Leidensgeschichten von Millionen zu würdigen. Doch geht es um mehr, nicht zuletzt um die Legitimierung eigener Politik nach innen wie nach außen. Dazu gehört auch der Missbrauch geschichtlichen Gedenkens. Erinnert sei an den ersten Out-of-Area-Einsatz der Bundeswehr, der nichts mit Landesverteidigung oder der Unterstützung eines NATO-Bündnispartners zu tun hatte: der völkerrechtswidrige, durch kein UN-Mandat gedeckte Einsatz auch deutscher Soldaten im Kosovo 1999. Außenminister Joschka Fischer begründete ihn ausdrücklich mit einem vermeintlich drohenden Völkermord, den zu verhindern Deutschland verpflichtet sei: »Nie wieder Auschwitz«.

Diese diffuse Mischung aus »Gutmenschentum« und der gleichzeitigen politischen Instrumentalisierung jüngerer Geschichte vor dem Hintergrund westlicher, US-dominierter Interessenlagen ist für den Nahen Osten nicht minder prägend. Die deutsche »Erinnerungskultur«, bar jeder Bereitschaft, die komplexen Realitäten im Nahen Osten jenseits eines schlichten Gut/Böse-Schemas auch nur zur Kenntnis zu nehmen, ist im Grundsatz gleichbedeutend mit der faktischen Bejahung der völkerrechtswidrigen Siedlungs- und Besatzungspolitik Israels. Das Bekenntnis zur »Staatsräson« läuft daraus hinaus, die Causa Israel/Palästina allein oder doch vorrangig durch die Brille des Holocausts zu betrachten. Zugespitzt formuliert, wurden die Palästinenser dem politisch korrekten Erinnern geopfert, kaschiert durch deren finanzielle Unterstützung und die ebenso routinierte wie folgenlose Beschwörung einer »Zweistaatenlösung«.

Gleichzeitig machte man sich in Berlin parteiübergreifend die israelische und amerikanische Sichtweise bei regionalen Konflikten zu eigen, allen voran in der Konfrontation mit dem Iran. Mit der unmittelbaren Folge, dass die Waffenexporte Deutschlands nach Israel erneut beträchtlich zulegten. Als besonders kontrovers erwies sich dabei die Lieferung von zunächst sechs U-Booten in den 2010er Jahren, die auch nuklear bestückt werden können, was wahrscheinlich auch geschah. Die hiesigen Steuerzahler übernahmen einen Großteil der Kosten in Milliardenhöhe – insgesamt ein durchaus verengtes Verständnis von »Staatsräson« und Erinnerungskultur.

Die Palästinafrage, also einen politischen, territorialen Konflikt »in den europäischen Geschichtsraum von Judenhass und Judenverfolgung« zu übertragen (Daniel Cil Brecher), ist problematisch genug. Auch deswegen, weil die Annahme, Deutschland trüge eine besondere Verantwortung für Israels Sicherheit, in weiten Teilen der Bevölkerung zunehmend anders beurteilt wird als von den politischen Eliten. Nicht zuletzt sehen jüngere Menschen wenig Veranlassung, für die Taten ihrer Groß- oder Urgroßeltern in die Pflicht genommen zu werden.

Dieser Generationenwechsel, aber auch der israelische Anspruch auf das gesamte Palästina, geteilt von weiten Teilen der jüdischen Diaspora, standen nicht unwesentlich Pate bei dem erfolgreichen Bemühen, den Antisemitismus normativ neu zu verorten und ihn von der Ausrichtung auf Auschwitz zu lösen. Vor dem Hintergrund eskalierender Gewalt im Nahen Osten – zu nennen sind hier insbesondere die zweite Intifada und das Erstarken der Hisbollah im Libanon nach dem Jahr 2000 – wuchs das Interesse an einer neuen, im Ergebnis repressiven Antisemitismus-Definition. Die »Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (OSZE) formulierte es in ihrer »Berliner Erklärung« von 2004 so: Nach dem Holocaust trete der Antisemitismus nunmehr »unter neuen Erscheinungs- und Ausdrucksformen auf, die gemeinsam mit anderen Formen der Intoleranz eine Bedrohung der Demokratie, der Werte der Zivilisation und somit der Sicherheit« Europas bedeuteten. Folglich gelte es »vorbehaltlos alle Erscheinungsformen des Antisemitismus« zu verurteilen.

Diese und vergleichbare Aussagen auf höchster Ebene suggerieren, in den Worten des Antisemitismus-Forschers Michael Kohlstruck, »bei Antisemitismus handele es sich um eine überhistorische, in sich identische Substanz«.[11] Mit der Folge, dass der Antisemitismus nicht lediglich als eine von vielen Spielarten des Rassismus angesehen wird, sondern als das ahistorisch Böse schlechthin, angesiedelt außerhalb von Raum und Zeit. Vergleichbar einem genetischen Defekt beispielsweise. Die »Berliner Erklärung« ist ein Akt der Exekutive, der das öffentliche Bewusstsein neu zu formatieren sucht – was im nächsten Schritt auf eine Sakralisierung israelischer Belange und Interessen hinausläuft.

Antisemitismus richtig verstehen

Wie das? Die allermeisten dürften die folgende Formulierung schon einmal vernommen haben, wie sie öffentlich seither zum guten Ton gehört: »Wir verurteilen Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit.« In der Sache würde es genügen, jede Form von Rassismus zu verurteilen. Damit wäre alles gesagt. Denn Ausländerfeindlichkeit wie auch Antisemitismus sind ja per se Ausdruck einer rassistischen Gesinnung. Was aber die »Berliner Erklärung« ausdrücklich anders versteht. Sie weist den Antisemitismus als eine singuläre, sich selbst stetig neu generierende Form hasserfüllter Intoleranz aus, die alles bedrohe, was Europa ausmache. Ein hehres Verständnis, allerdings dermaßen allgemein gefasst, dass es zur politischen Instrumentalisierung geradezu einlädt.

Etwa in Gestalt der »Arbeitsdefinition« von Antisemitismus seitens der »International Holocaust Remembrance Alliance« (IHRA), einer zwischenstaatlichen Organisation, die 1998 in Stockholm gegründet wurde. An der ersten Ausarbeitung dieser Definition 2005 war die OSZE maßgeblich beteiligt. Ebenso mehrere jüdische Organisationen wie das »American Jewish Committee« (AJC), die als durchsetzungsstarke Lobbyisten Israels bekannt sind. Kohlstruck: »Bei ihnen bestand ein Interesse an einer Antisemitismusdefinition, mittels derer auch die aktuelle Kritik an der israelischen Besatzungspolitik neutralisiert werden konnte. Die meisten Beispiele, die in der ›Arbeitsdefinition‹ aufgeführt werden, beziehen sich dementsprechend auf den Nahost-Konflikt. Es überrascht nicht, dass diese Beispiele … im Nachhinein von einem AJC-Vertreter als ›die nützlichsten‹ bewertet wurden.«[12]

Die Antisemitismus-Definition der IHRA ist die bis heute wirkmächtigste in westlichen Staaten. Seit 2005 ist sie mehrfach überarbeitet und erweitert worden, vor allem 2016, vielfach auf nationaler Ebene. Obwohl es auch andere Definitionen gibt und die IHRA-Variante bislang nirgendwo Gesetzeskraft erlangt hat, dient sie de facto als Richtschnur in der politischen Beurteilung dessen, was legitimerweise und sanktionsfrei über Israel gesagt werden darf. Vor allem aber, was nicht. Das gilt auch und allen voran für Deutschland. Die »Arbeitsdefinition« ist wenig konkret, was ihren Einsatz als Diskurs- und Moralkeule sowie als »Einladung« zur Selbstzensur erleichtert.

Anhand von »Beispielen« sucht die IHRA das aus ihrer Sicht fatale Junktim aus Antisemitismus und Israelkritik zu belegen.

Die drei wichtigsten: »Das Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung infrage zu stellen« sei antisemitisch, »beispielsweise auf Grundlage der Behauptung, die Existenz des jüdischen Staates sei ein rassistisches Unterfangen«. Diese Formulierung erlaubt es, jeden Bezug auf die siedlerkolonialen Grundlagen Israels und die Forderung nach ihrer Überwindung antisemitisch zu verorten, ebenso jede Auseinandersetzung mit der Nakba. Demzufolge müssten auch die Schriften führender westlicher und palästinensischer Denker sowie von Theoretikern des Globalen Südens, die sich kritisch mit dem Zionismus auseinandergesetzt haben, als antisemitische Hetze gelten, etwa die von Hannah Arendt, Judith Butler, Angela Davis, Masha Gessen, Edward Said oder Achille Mbembe. Deswegen stehen sie ja auch, mit Ausnahme der bereits Verstorbenen, massiv am Pranger.

»Doppelte Standards anzulegen, die von Israel ein anderes Verhalten als von jeder anderen demokratischen Nation verlangen«, so ein weiteres IHRA-Dogma, sei antisemitisch. Diese Formulierung ist gewissermaßen ein schwarzer Schimmel, denn keine andere demokratische Nation betätigt sich seit Jahrzehnten völkerrechtswidrig als Besatzungsmacht. Mehr noch: Es stellt sich die Frage, ob ein Land, das dauerhaft eine Militärherrschaft in besetzten Gebieten ausübt und das unterworfene Volk systematisch entrechtet und kujoniert, tatsächlich eine Demokratie sein kann. Die wie selbstverständlich erfolgende Gleichsetzung von Israel und Demokratie ist in Wahrheit ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich selbst. Aus Sicht der Großisrael-Anhänger ist jedoch allein der Gedanke, der jüdische Staat könne infolge seiner ethnonationalen Ausrichtung keine Demokratie sein oder habe kein Anrecht auf die besetzten Gebiete, reinster Antisemitismus.

Und schließlich: »Vergleiche zwischen der gegenwärtigen Politik Israels mit jener der Nazis zu ziehen« sei antisemitisch. Solche Vergleiche sind in der Tat höchst fragwürdig und im Zweifel geschichtsklitternd – aber sind sie auch antisemitisch? Die Frage stellt sich umso mehr, als die israelische Seite den Nazi-Vergleich seit Jahrzehnten freigiebig auf nahöstliche Potentaten oder politische Bewegungen anwendet und seit dem 7. Oktober 2023 gegen Palästinenser generell einsetzt, obwohl sie selbst sich dagegen verwahrt.

Die drei genannten Beispiele illustrieren, dass es den Propagandisten der IHRA-Definition in erster Linie um das Weißwaschen des von Israel begangenen Unrechts geht. Antisemitismus, Auschwitz und die Apologetik Israels in einen Topf zu werfen ist pure Ideologie. Eine gefährliche zudem, weil sie den Holocaust profanisiert und die deutsche Erinnerungskultur reduziert auf einen außergerichtlichen Freispruch für Israels (angestrebte) Judaisierung aller besetzten Gebiete. Der eigentliche Antisemitismus, also ein gegen Juden gerichtetes Ressentiment, weil sie Juden sind, fällt dabei weitgehend unter den Tisch. Mehr noch: Die politisch gewollte Gleichsetzung von Judentum, Zionismus und Israel, insbesondere mit Blick auf das von Tel Aviv zu verantwortende Menschheitsverbrechen im Gazastreifen, dürfte dem Antisemitismus weltweit geradezu Vorschub leisten, bis hin zu Angriffen auf Juden oder jüdische Einrichtungen. Aufgrund ihrer Selbstermächtigung und Generalabsolution für das von Israel begangene Unrecht läuft die IHRA-Definition Gefahr, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden.

Wie spätestens die Demonstrationen im Zuge des Gaza-Krieges 2023/24 gezeigt haben, steht in Deutschland jede Kritik an Israel, und sei sie noch so sachlich oder faktenbasiert, potenziell unter Antisemitismusverdacht. Unbeschadet der Frage, ob die Demonstranten nun »Sympathieträger« sein mögen oder nicht. Diesen politisch gewollten State of Mind herbeigeführt zu haben, verdankt sich, über die IHRA-Definition hinaus, auch dem überaus erfolgreichen Wirken des 2006 in Israel neu entstandenen »Ministeriums für Strategische Angelegenheiten und Hasbara«, de facto ein Propagandaministerium. »Hasbara«, deutsch »Erklärung« oder »Öffentlichkeitsarbeit«, bezeichnet die Versuche der israelischen Regierung und ihrer Lautsprecher, international eine möglichst positive Berichterstattung über Israel zu erwirken und das zu bekämpfen, was die Großisrael-Verfechter als »Delegitimierung« Israels bezeichnen. Letztendlich geht es darum, das offizielle israelische Verständnis nahöstlicher Geschichte und Gegenwart durchzusetzen und dessen Kritiker oder Widersacher als Antisemiten oder Terroristen zu framen. Zu diesem Weltbild gehört, die entscheidende Verantwortung für den zugrunde liegenden Konflikt allein der palästinensischen Seite zuzuweisen.

Unmittelbarer Anstoß für die Gründung des Ministeriums war die 2005 von Palästinensern begründete, zivilgesellschaftliche Bewegung BDS: »Boycott, Divestment and Sanctions«. Ziel dieser Bewegung ist es, Israel durch Boykottmaßnahmen im akademischen und kulturellen Bereich, aber auch durch den Boykott israelischer Waren, den Stopp von Investitionen sowie Wirtschaftssanktionen zu veranlassen, internationale Rechtsnormen zu befolgen. Denn weder der palästinensische Widerstand der ersten (1987–1993) noch der zweiten Intifada (2000–2005) und auch nicht der vermeintliche Friedensprozess von Oslo nach 1993 hatten das Ende der brutalen israelischen Besatzung eingeläutet. Ebenso wenig die Anrufung des Internationalen Gerichtshofes oder des Internationalen Strafgerichtshofes, beide in Den Haag ansässig. Deren Urteile oder Empfehlungen interessieren israelische Entscheider gestern wie heute nicht. Daher, inspiriert von der Antiapartheidbewegung in Südafrika, nun also ein neues Konzept: Durch gewaltfreie Maßnahmen soll international Druck auf Israel ausgeübt werden, um die Besatzung zu beenden. Darüber hinaus sollen die Palästinenser mit israelischem Pass, vielfach Bürger zweiter Klasse, den jüdischen Israelis gleichgestellt und das Rückkehrrecht der 1948 vertriebenen Palästinenser anerkannt werden.

Die Politologin Muriel Asseburg schreibt zutreffend: »Das nationale BDS-Komitee mit Sitz in Ramallah legt die grundsätzliche Ausrichtung fest und stößt anlassbezogene Kampagnen an. Es wird in der ganz überwiegenden Mehrheit von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien in den palästinensischen Gebieten getragen. Die globale Bewegung setzt sich aus einer Vielzahl von lokalen und nationalen Gruppierungen zusammen, die eigene Webauftritte haben und eigenständig Kampagnen und Veranstaltungen durchführen. Sie hat keine hierarchische Struktur; das nationale BDS-Komitee verfügt über keine Sanktions- oder Disziplinargewalt gegenüber den einzelnen Gruppierungen. Entsprechend variieren auch die konkreten Forderungen und Verlautbarungen einzelner Gruppen. International hat die Bewegung mittlerweile einen breiten und diversen Unterstützerkreis gefunden – von herausragenden Persönlichkeiten wie Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu über britische Gewerkschaften, Stadtverwaltungen in Spanien, die American Studies Association bis hin zu jüdischen Gruppierungen und Einzelpersonen inner- wie außerhalb Israels.«[13]

Coole Preise

Die Großisrael-Verfechter wissen nur zu gut, dass die Durchsetzung und Beibehaltung ihrer Ansprüche auf zwei Säulen beruht: der uneingeschränkten Unterstützung durch die USA und (an zweiter Stelle) Deutschland sowie der Notwendigkeit, jeden politischen Ansatz zu unterlaufen, der Israel »delegitimieren«, sprich: zu Kompromissen zwingen könnte. Wenden Palästinenser Gewalt an, um ihre Ziele zu erreichen, ist es ein Leichtes, sie als Terroristen zu brandmarken. Damit entfallen sie als Gesprächs- und Verhandlungspartner. Sind sie bereit zu Kompromissen, wie die Palästinensische Nationalbehörde erst unter Jassir Arafat, dann unter Mahmud Abbas, lässt man sie ins Leere laufen. Setzen sich Palästinenser aber gewaltfrei für ein Ende der Besatzung ein, wird es gefährlich. Keine Gewalt im Streben nach Unabhängigkeit, dafür gibt es weltweit anerkannte Vorbilder, bis hin zu Mahatma Gandhi oder Nelson Mandela. Das bedeutet eine möglicherweise positive palästinensische Außenwirkung und im nächsten Schritt politischen oder diplomatischen Druck. Es gilt folglich Gefahrenstufe rot, auch mit Blick auf kulturelle Boykottmaßnahmen. Sie könnten das Dogma der Singularität des Holocaust und somit den westlichen Freibrief für Israels Gewaltanwendung und seinen Anspruch auf das gesamte Palästina infrage stellen. Von Sanktionen oder »Divestment« im Bereich der Wirtschaft ganz zu schweigen, die beide Israel sehr schnell zusetzen würden, anders als etwa Russland.

Folglich war die BDS-Bewegung ein Weck- und Alarmruf für Tel Aviv: Wehret den Anfängen. Die Antwort erfolgte in Gestalt des Hasbara-Ministeriums. Dabei ging es weniger um die palästinensische Ebene der BDS-Bekämpfung – dafür reicht die israelische Armee. Die eigentliche Gefahr lag und liegt im Ausland. Was, wenn die BDS-Bewegung in westlichen Staaten an Zulauf und Einfluss gewinnt?

Das zu verhindern hilft die IHRA-Definition von Antisemitismus, flankiert von Hasbara und einer in ihrer Wirkmacht nicht zu unterschätzenden Lobbyarbeit proisraelischer Verbände – zu denen selbstverständlich auch die Botschaften gehören. Der britische Investigativjournalist Asa Winstanley hat detailliert aufgezeigt, wie die Israelische Botschaft in London, Israel zugeneigte Aktivisten innerhalb der Labour-Partei und insbesondere das Hasbara-Ministerium jahrelang darauf hingewirkt haben, den linksliberalen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn, der 2015 ins Amt kam, zu Fall zu bringen. Europaweit war er einer der einflussreichsten und schärfsten Kritiker israelischer Politik. Winstanley zufolge war es maßgeblich besagtes Ministerium, das 2018 die IHRA-Definition von Antisemitismus innerhalb der Labour-Partei durchzusetzen half. Israel habe »eine mit mehreren Millionen Dollar ausgestattete Troll-Armee mobilisiert, die Corbyn in den sozialen Medien als ›Antisemiten‹ attackierte und seine Stellung zu unterminieren suchte«. Zwischenzeitlich habe die weltweit agierende israelische Anti-BDS-Kampagne Büros »in drei Ländern« eingerichtet und Online-Heerscharen mit mehr als 15 000 virtuellen Fußsoldaten aufgestellt. Gemeint sind Großbritannien, die USA und Deutschland. »Ihr erklärtes Ziel war es, die BDS-Bewegung zu ›bekämpfen‹ und ›die ausländische Öffentlichkeit‹ zu beeinflussen.« Über eine App habe die Kampagne, finanziert und ausgestattet vom Ministerium für Strategische Angelegenheiten und Hasbara, sogenannte »Missionen« auf den Weg gebracht. Um beispielsweise dafür zu sorgen, dass Teilnehmer bei Online-Abstimmungen mehrfach votierten oder in den (sozialen) Medien die Kommentarspalten fluteten. Im Gegenzug erhielten die glücklicheren unter den Internet-Kriegern Stipendien für ein Hochschulstudium und andere »coole Preise«.[14]

Am Ende stand ein parteiinterner Coup gegen Corbyn, dessen Nachfolger als Parteiführer von Labour 2020 Sir Keir Starmer wurde. Die Israel-Lobby war überglücklich. Starmer gehört dem rechten Parteiflügel an, vertritt das britische Establishment und ist Israel nicht weniger ergeben als etwa die politische Führungsriege in Berlin. Und seit Juli 2024 ist er Premierminister in Downing Street – ein Erfolg auch der Hasbara. Im Rahmen einer Undercover-Recherche hat der arabische Nachrichtensender Al Jazeera mit Sitz in Katar 2017 einen vierteiligen Dokumentarfilm erstellt, der detailliert den parteiinternen Aufstand gegen Corbyn schildert. Und vor allem aufzeigt, wer dabei die Strippen gezogen hat. Nicht ohne Grund trägt der Film den Titel »The Lobby«. Eine ähnlich gelagerte Serie über die proisraelische Lobby in den USA und deren Aktivitäten, unter anderem zur Dämonisierung der BDS-Bewegung, hat Al Jazeera ebenfalls produziert. Im Februar 2018 sah sich die katarische Regierung jedoch veranlasst, maßgebliche jüdisch-amerikanische Organisationen über die geplante Ausstrahlung zu informieren. Nach heftigen politischen Reaktionen und offenbar aus Sorge, die bilateralen Beziehungen zwischen Katar und den USA könnten Schaden nehmen, erhielt Al Jazeera augenscheinlich Order, die Dokumentation aus dem Programm zu nehmen. Stattdessen stellte die Electronic Intifada im November 2018 eine Raubkopie der vier Folgen von »The Lobby – USA« ins Netz.[15]

Wie die in Tel Aviv verlegte Zeitung Haaretz im Juni 2024 berichtete, hat das israelische »Ministerium für Diaspora-Angelegenheiten und zur Bekämpfung von Antisemitismus« nach dem 7. Oktober 2023 eine umfassende Propaganda-Offensive gestartet, um dem Imageverlust Israels in weiten Teilen der westlichen Öffentlichkeit entgegenzuwirken. Die primäre Zielgruppe aber waren und sind afroamerikanische Abgeordnete, die an Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, und junge, progressive Politiker und Meinungsmacher in den USA und Kanada. Zu den eingesetzten Propagandamitteln gehören fake accounts in den sozialen Medien im großen Stil sowie Internetseiten, die islamophobe und islamfeindliche Inhalte verbreiten und den Gaza-Krieg aus einer beschönigenden israelischen Perspektive darstellen.[16]

Der Irrtum der deutschen Erinnerungskultur

Die deutsche »Staatsräson« und die damit einhergehende Erinnerungskultur kranken an ihrer begrifflichen Unschärfe. Der zugrunde liegende Irrtum beruht auf der Gleichsetzung von Judentum, Zionismus und Israel. Der deutsch-israelische Soziologe Moshe Zuckermann sieht es so: »Juden, Zionisten und Israel sind mitnichten identische Kategorien … Nicht alle Juden sind Zionisten, nicht alle Zionisten Israelis und nicht alle Israelis Juden. Und weil Juden, Zionisten und Israel nicht gleichzusetzen sind, sind auch, negativ gewendet, Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik voneinander zu unterscheiden. Man kann Zionist sein und dennoch Israel kritisieren. Man kann Jude sein, ohne dem Zionismus anzuhängen. Man muss nicht antisemitisch sein, um sich gegen den Zionismus zu stellen und Israel für seine Politik zu kritisieren … ›Israelbezogener Antisemitismus‹ ist primär ein Slogan, um legitime und notwendige Israelkritik zu verhindern, nicht um Antisemitismus zu bekämpfen.«[17]

Solche Einlassungen allerdings bekümmern die Rechtgläubigen hierzulande nicht im Geringsten. Auch daran zu ermessen, das selbst der Jude Moshe Zuckermann als Judenfeind gilt: »Ich darf mich rühmen, von der Bundesregierung offiziell als Antisemit eingestuft worden zu sein«, nämlich vom Büro des Antisemitismusbeauftragten.[18] Dieser verinnerlichte Glaube an die eigene, alles überragende Moralität, geboren aus der Überzeugung, die richtigen Lehren aus der jüngeren deutschen Geschichte habe gezogen, wer sich ohne Wenn und Aber hinter Israel stelle, kann nur in einem Desaster enden. Moralisch wie politisch.

Der Zionismus ist auch und vor allem eine siedlerkoloniale Bewegung, wie die folgenden Kapitel umfassend aufzeigen. Wer diese Ebene ausblendet, wird zwangsläufig von der Wirklichkeit überrollt. Eine stetig wachsende Zahl politischer Entscheider bezeichnet das, was im Gazastreifen geschieht, als Völkermord. Auf jeden Fall war und ist es das erste im Livestream übertragene Menschheitsverbrechen. Angesichts des damit einhergehenden moralischen Bankrotts auch der westlichen Unterstützer Israels wirken Bekenntnisse rund um »Staatsräson«, Erinnerungskultur oder das »Existenzrecht« Israels zunehmend hohl. Sie trotzdem aufrechtzuerhalten, setzt nahezu zwingend die Anwendung repressiver Maßnahmen voraus – denjenigen gegenüber, die ungeachtet all der prächtigen Kleider ausrufen: »Aber der Kaiser ist ja nackt!«

Bis 2020 hatten bereits 56 Staaten, zahlreiche Regierungsorganisationen und NGOs die jeweils aktuellste Fassung der IHRA-Definition übernommen, darunter die EU-Staaten. 2021 schlossen sich die USA an. Ein bemerkenswerter Erfolg, der sich wesentlich dem Hasbara-Ministerium und der Entschlossenheit proisraelischer Lobbygruppen verdankt, die BDS-Kampagne um jeden Preis zu bekämpfen. Damit einher ging allerdings ein wachsendes Unbehagen zivilgesellschaftlicher Bewegungen hinsichtlich der IHRA-Definition, weil sie allzu verkürzt Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichsetzt und mehr und mehr der Gedankenkontrolle dient. Das veranlasste eine Gruppe liberal gesinnter Akademiker, Juden wie Nichtjuden, im März 2021 die »Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus« (JDA in der englischen Abkürzung) vorzulegen. Sie definiert Antisemitismus als »Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder jüdische Institutionen als solche)« und zeigt anhand von Beispielen den Unterschied zwischen israelkritischen und antisemitischen Aussagen auf. Obwohl führende Holocaust-Forscher die Erklärung mitverfasst haben, spielt sie im Kontext westlicher Politik keine Rolle. Zu wirkmächtig sind die anderweitigen Akteure.

Wer ist der bessere Philosemit?

2021 veröffentlichte die EU-Ratspräsidentschaft ein Handbuch zur »praktischen Anwendung« der IHRA-Definition. Dazu gehört, unter anderem, die Schulung von Behördenvertretern und Rechtspflegern, damit sie »Hassverbrechen« rechtzeitig erkennen und ahnden. Ebenso wird empfohlen, eine eigens für Antisemitismus zuständige Staatsanwaltschaft einzurichten und staatliche Beauftragte zu dessen Bekämpfung zu ernennen.

In Deutschland war Letzteres bereits geschehen: Das »Amt des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus« wurde 2018 eingerichtet, Beauftragter ist der Jurist und Diplomat Felix Klein. Seither ist eine wahre Explosion an Antisemitismusbeauftragten zu verzeichnen. Jedes Bundesland, mit Ausnahme Bremens, hat mittlerweile einen solchen. Zahlreiche Behörden und Stadtverwaltungen, ja, selbst Fußballvereine leisten sich diesen Ausweis politisch korrekter Gesinnung – denn darum geht es in erster Linie. Auf Bundes- und Landesebene ist nur ein einziger Antisemitismusbeauftragter Jude; er konvertierte nach seiner Ernennung. Was unter anderem dazu führt, dass verbeamtete deutsche Nichtjuden (deutschen) Juden erklären, was Antisemitismus sei, und ihnen nötigenfalls bescheinigen, Antisemiten zu sein – weil sie etwa das israelische Vorgehen im Gazastreifen anprangern.

»Die Meldungen über die Zunahme und das Auftauchen neuer Antisemitismen in Bezug auf Israel stehen im Gegensatz zu den Aussagen der Sozialforschung, die seit Jahrzehnten die Haltung von Bürgern gegenüber Juden ermittelt und keine starke Zunahme der Vorurteile in der Gesellschaft erkennen lässt. Eine gezielte Umfrage zum Thema ›Israelkritik‹ 2010–2012 ergab zudem, dass die Schnittmenge zwischen antisemitischem Denken und Kritik an Israel in der Bundesrepublik klein ist. Bei einer Mehrheit der Deutschen erscheine diese Kritik gerade mit einer deutlichen Ablehnung von antisemitischen Stereotypen gepaart …«, so der israelische Historiker und Publizist Daniel Cil Brecher.[19] Dessen ungeachtet vermelden Behörden und Medien stetig anwachsende Zahlen antisemitischer Straftaten, bei denen es sich aber, schaut man sich die Statistiken genauer an, überwiegend um verbale Übergriffe oder Entgleisungen handelt. Eine öffentliche Äußerung wie »Kindermörder Israel« gilt im Kontext der IHRA-Definition als antisemitisch. Dergleichen vermeintliche oder tatsächliche Meinungsdelikte wiederum werden behördlich erfasst und treiben die Fallzahlen antisemitischer Vorfälle entsprechend nach oben. Ganz im Geist der Welt-Schlagzeile: »Free Palestine ist das neue Heil Hitler«.[20] Antijüdische Gewalttaten – am schwerwiegendsten war in den letzten Jahren die Schießerei im Umfeld der Synagoge von Halle 2019, bei der zwei Passanten getötet wurden – lassen sich in den seltensten Fällen auf »israelbezogenen Antisemitismus« zurückführen.

Der Alarmismus nach dem Einzug der AfD in den Bundestag 2017 veranlasste die Bundesregierung, in den Augen von Susan Neiman, US-Philosophin und Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam, zu »einer Reihe von Fehlentscheidungen«. Angefangen mit der Ernennung von Antisemitismusbeauftragten, die in der Regel, wenn überhaupt, nur über geringes Wissen und wenig Verständnis für die Pluralität jüdischen Geisteslebens oder jüdischer Traditionen verfügten. »Die Beauftragten verlassen sich auf zwei Quellen, um sich über Juden, Israelis und Palästinenser zu informieren: die Israelische Botschaft und den Zentralrat der Juden in Deutschland, eine der am meisten rechtsorientierten jüdischen Organisationen weltweit.« Darüber hinaus würden sie, so Neiman, alle jüdischen Themen »durch das Prisma deutscher Schuld betrachten«. Das mache die Beauftragten anfällig für Manipulationen und Kurzschlusshandlungen.[21]

Rechtsautoritären Parteien in Ungarn, Polen oder den USA folgend, entschied sich auch die AfD für einen offensiv proisraelischen Kurs, der sie des Verdachtes entheben soll, antisemitisch oder neonazistisch zu sein und entsprechenden Strömungen Vorschub zu leisten. Unabhängig davon, dass diese Parteien aufgrund ihrer jeweils eigenen antiislamischen Agenda meist große Befürworter des israelischen Vorgehens gegenüber den Palästinensern sind: Bei Kameltreibern oder »Musels« Härte zu zeigen, das gefällt. Im Fall der AfD kommt hinzu, dass ihre proisraelische Haltung mühelos in die hiesige Erinnerungskultur passt. Umgekehrt hatte Israels Premier Netanjahu nie Berührungsängste gegenüber ultrarechten Regierungen, mochten sie auch, wie in Polen, den Antisemitismus im eigenen Land zur Zeit der NS-Besatzung leugnen und gegenteilige Hinweise unter Strafe stellen. Netanjahu und seinesgleichen sind Antisemiten oder Neonazis egal, solange sie nur ihren großisraelischen Kurs unterstützen. Das mag erklären, warum Jair Netanjahu, der Sohn des Premiers, 2020 als Posterboy auf AfD-Plakaten gegen die EU polemisierte: Europa werde wieder frei, demokratisch und christlich sein, wenn die AfD Erfolg habe. Dito die bezeichnende Intervention von Amichai Chikli, des israelischen Ministers für Diaspora-Angelegenheiten und zur Bekämpfung von Antisemitismus. Im Juli 2024 erklärte er inmitten des französischen Wahlkampfes, er hoffe auf einen Wahlsieg des ultrarechten Rassemblement National unter Führung von Marine Le Pen.

Im Mai 2019 stellte die AfD im Bundestag den Antrag, die BDS-Bewegung in Deutschland zu verbieten. Damit hatte sie die übrigen Parteien kalt erwischt. Sie konnten dem Antrag selbstverständlich nicht zustimmen, ihn aber auch nicht einfach unbeachtet lassen, lag er doch ganz auf Linie – nicht zuletzt der IHRA-Definition. Also wurde der AfD-Vorstoß zunächst zurückgewiesen. Stattdessen folgte noch im selben Monat eine eigene Resolution, Regierung und Opposition in seltener Eintracht: »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen«. Ein halbes Jahr später, im November 2019 machte sich auch die Hochschulrektorenkonferenz die IHRA-Definition in der Fassung der Bundesregierung zu eigen, einschließlich der BDS-Resolution selbstverständlich. Ebenso mehrere Vereine der Fußballbundesliga. Über die politische Arena hinaus schränken dergleichen Maßnahmen und Bestimmungen, die laufend erneuert und erweitert werden, den öffentlichen Diskursraum erheblich ein, vor allem im wissenschaftlichen und kulturellen Bereich. Umso mehr, als fast alle Museen, Ausstellungen, Konferenzen, Vorträge, Festivals in Deutschland finanzielle Unterstützung von der jeweiligen Landesregierung oder vom Bund erhalten, mindestens aber Steuerbegünstigungen in Anspruch nehmen können. Der BDS-Beschluss hält ausdrücklich fest, dass Geldmittel entzogen werden (können), sofern der Eindruck entstehe, Sanktionen gegen Israel würden unterstützt.

Hinreichend, gewichtig und tatsächlich

Die BDS