3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €
Eine gefühlvolle Reise an die Nordsee mit jeder Menge Turbulenzen rund um Familie und Liebe
»Liebes, gönne dir ein bisschen Urlaub und entschuldige meine List. Du kannst mein Ferienhaus im Birkenweg nutzen. Der Schlüssel befindet sich unter der Fußmatte. Bitte stelle keine Fragen. Ich liebe dich über alles. Deine Mutti.«
Die Schriftstellerin Betty bekommt einen Riesenschreck, als sie ein nächtlicher Anruf ihrer aufgelösten Mutter erreicht. Ihre Mutter stammelt wirre Sätze, kurz darauf bricht die Verbindung zusammen. Besorgt macht Betty sich auf nach Sankt Peter-Ording, dem letzten bekannten Aufenthaltsort. Auf dem Weg lernt sie den sympathischen Nordfriesen Noah kennen, der ihr seine Unterstützung anbietet. Bei ihrer Ankunft findet sie jedoch nur das Auto ihrer Mutter samt einer Notiz auf der Windschutzscheibe. Zusammen mit Noah, der ihr Herz im Sturm erobert, beginnt für Betty eine turbulente Suche. Dabei lassen die beiden sich nicht nur den Seewind um die Nase wehen, sondern müssen sich auch mit ungeliebten Wahrheiten auseinandersetzen.
»Ein Liebesroman vor bezaubernder Nordseekulisse. Ein absolut lesenswerter Wohlfühlroman!!!« ((Leserstimme auf Netgalley))
»Das Buch ist wirklich wie ein Kurz Urlaub den ich gebraucht habe.« ((Leserstimme auf Netgalley))
»Ein herzerweichender Roman der unter die Haut geht. Konnte das Buch nicht aus der Hand legen. Konnte gar nicht aufhören zu lesen..« ((Leserstimme auf Netgalley))
»Ein Wohlfühlroman mit viel Nordseeflair,der einen schon Lust auf den Sommer macht.« ((Leserstimme auf Netgalley))
»Die Story lässt sich leicht und flüssig lesen, bleibt dabei abwechslungsreich sowie spannungsgeladen. Man darf mit Betty, Noah und Bettys Vater mitfiebern und die verschiedesten Emotionen erleben. Es gibt einiges zum schmunzeln bis herzhaft zu lachen, so manche mitfühlende wie auch brisante Momente und die ein oder andere Träne zu vergießen.
Ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, da ich wissen wollte, ob Bettys Mutter wieder auftauchte und ob es für Betty und Noah ein Happy End gab.« ((Leserstimme auf Netgalley))
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Strandgeflüster in St. Peter-Ording« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Piper Verlag GmbH, München 2023
Redaktion: Birgit Förster
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«
Covermotiv: deposipthotos.com (PantherMediaSeller; gdolgikh; lifeonwhite; Mvelishchuk); PNGTree
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Cover & Impressum
Notruf
Helfer in der Not
Kein Urlaubsfeeling
Paradies in SPO
In der Folterkammer
Schmetterlinge
Freundschaft
Papa
Skeptische Begegnung
Mode in SPO
Game over
Shoppen
In der Sander-Bäckerei
Der italienische Abend
Zurück zu dir
Regentag
Papa verlässt St. Peter-Ording
Erwischt
Blut im Schuh
Lebenszeichen
Auf Abwegen?
Verdacht
Schwiegertöchter
Lebenszeichen
Frühaufsteher
Familienbande
Sorgen um Mama
Ausgebremst
Unbeantwortet
Seite an Seite
Betty in Angst
Frauenpower
Die Polizei greift ein
Losgelöst
Paulas Reise ins Glück
Tschüss, Bremen
Unverhofft
Die Lesung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Schrill klingelte das Telefon neben mir auf dem Nachttisch. Mit geschlossenen Lidern tastete ich nach dem Störenfried und erkannte das Konterfei meiner Mutter. Was gab es so Wichtiges um 4 Uhr morgens? Widerwillig nahm ich das Gespräch an. Ich murmelte einen wenig euphorischen Gruß in den Hörer, der von meiner Mutter ignoriert wurde.
»Betty, Liebes, gut, dass ich dich erreiche.«
Sie hatte die Taktik mit dem roten Faden aus ihrer Zeit der Akquise für die Versicherung, bei der sie gearbeitet hatte, nicht verlernt. Nur dass ich darauf nicht sonderlich ansprach.
»Sag schon, worum geht’s?« Mir stand nicht der Sinn nach langen Vorgesprächen.
Meine Mutter kicherte. »Hach, weißt du, ich bin in St. Peter-Ording …«
Ich richtete mich in meinem Bett auf und bekam einen Hustenanfall.
»Wo bist du?« Hatte ich mich verhört oder nur vergessen, dass meine Eltern im Urlaub waren?
»Du hast mich schon richtig verstanden, aber darum geht’s jetzt nicht. Ich hüte den Hund der Nachbarn, und der knurrt und bellt im Garten herum. Dabei macht er unheimliche und hektische Bewegungen, sogar die Nackenhaare stehen ihm bis zum Anschlag. Ich kann in der Dämmerung aber nichts Genaues erkennen.«
Ich zermarterte mir den Kopf, welche Rolle mir dabei zuteilwürde. Ich war zu Hause in Bremen und nicht auf die Jagd nach Ganoven vorbereitet. Ehrlich gesagt, war ich noch nie in einer solchen Situation gewesen und sehnte mich auch nicht danach, mein Leben damit zu bereichern. Dennoch sorgte ich mich um die Sicherheit meiner Mutter.
Diese kicherte unerschrocken weiter.
»Mama, geh sofort ins Haus, und verriegle die Türen«, kreischte ich aufgebracht. Von Schlaftrunkenheit keine Spur mehr.
»Ich kann doch den Hund nicht alleinlassen. Außerdem glaube ich nicht, dass da Einbrecher sind. Ich wollte nur sichergehen, dass jemand weiß, wo ich bin, und notfalls die Polizei ruft, wenn es kracht.«
Ob meiner Mutter klar war, wie viele Kilometer zwischen Bremen und St. Peter-Ording lagen? Langsam wurde ich unruhig. Mit feucht gewordenen Händen umklammerte ich das Telefon.
»Sofort ins Haus!«, rief ich in den Hörer.
»Pst … nicht so laut, du weckst ja alle auf.«
Typisch meine Mutter, sie hatte das Handy auf laut gestellt, sodass meine Stimme durch St. Peter-Ording schallte, ohne dass ich von meiner Mutter darüber informiert worden war. Vermutlich hatte ich die mutmaßlichen Täter bereits in die Flucht geschlagen. Ich wiederholte das Gesagte, nur dieses Mal zischte ich die Worte hervor.
Meine Mutter kicherte wieder. Genervt verdrehte ich die Augen.
»Ich bin drin«, krächzte sie.
Gott sei Dank.
»Ich sehe einen Schatten durch den Garten huschen und … hörst du? Der Hund bellt wie verrückt.«
»Sind alle Türen zu?« Mein Herz klopfte aufgeregter denn je. Würde ich etwa in wenigen Sekunden am Telefon Zeugin eines Verbrechens werden? Ich ermahnte mich zur Ruhe.
»Hach, ich sehe Gespenster, was sollte mir hier in St. Peter-Ording schon geschehen?«
Wobei die Frage erneut aufkam … warum war meine Mutter in Nordfriesland? Noch dazu, wie es nun den Anschein erweckte, ohne meinen Vater.
»Danke, mein Kind, du kannst weiterschlafen. Ich bin in Sicherheit«, flötete meine Mutter.
Ich holte empört Luft. Wie sollte ich denn jetzt noch ins Land der Träume gleiten können? Im gleichen Moment hörte ich am anderen Ende der Leitung etwas wie Glas splittern. Hatte meine Mutter ein Trinkglas fallen lassen?
»Mama? Mama? MAMA!!«
Die Leitung war tot. Meine Mutter auch? Panisch sprang ich aus dem Bett. Das Telefon presste ich immer noch ans Ohr und erwartete mir dadurch Nähe zu meiner Mutter. Doch die Leitung war unterbrochen. Hektisch wühlte ich mich in die Jeans vom Vortag, zog einen Pulli über und überlegte verzweifelt, was nun zu tun wäre. Die Polizei, dein Freund und Helfer? Ich war nicht einmal im Besitz einer genauen Adresse. Wie zum Teufel sollte ich erklären, wo meine Mutter sich gerade aufhielt? Ich entschied mich, es zumindest zu probieren. Eilig suchte ich die Telefonnummer der Polizeistation in St. Peter-Ording heraus. Mit zitternden Fingern wählte ich die Nummer in Nordfriesland.
»Polizeistation St. Peter-Ording«, meldete sich eine verschlafen klingende Stimme.
Ich konzentrierte mich auf meine Aussage.
»Bettina Sander am Apparat. Ich habe eben einen Notruf von meiner Mutter erhalten. Ich fürchte … sie ist einem Raubüberfall zum Opfer gefallen.«
Ein herzhaftes Gähnen war zunächst die Antwort. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann, wo befindet sich Ihre Mutter denn?«
»Na, bei Ihnen in St. Peter. Ich habe eben mit ihr gesprochen«, rief ich fassungslos über die Trägheit des Ordnungshüters.
»Bleiben Sie ruhig, die meisten Fälle klären sich nach einigen Stunden von allein auf.«
»Dann ist sie vielleicht nicht mehr am Leben!«, kreischte ich aufgebracht. »Schicken Sie einen Streifenwagen los«, forderte ich ärgerlich.
»Wie Sie meinen, wo soll ich ihn hinschicken?«
Der Beamte war nicht mehr um Freundlichkeit bemüht. Was mich zusätzlich auf die Palme brachte.
»Das ist es ja, ich weiß nicht, wo ihre Unterkunft ist.«
Der Polizist lachte freudlos. »Dann würde ich Ihnen vorschlagen, Sie warten auf ein Lebenszeichen Ihrer Mutter.«
Mir platzte der Kragen. »Wenn sie aber nicht mehr lebt? Dann ist die Chance auf ein Lebenszeichen eher schlecht. Das müssten selbst Sie in Ihrem Kuhdorf gelernt haben.«
Der Beamte räusperte sich. »Sie wissen schon, dass Sie gerade einen Polizisten beleidigt haben? Ich brauche Ihren Namen und Ihren derzeitigen Wohnsitz.«
Ich schnappte nach Luft. »Hören Sie, meine Mutter ist in Gefahr, und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als mir eine Anzeige zusenden zu wollen? Das ist lächerlich.«
»Frau Sander, ich kann Sie ja verstehen, aber …«
Dieses Gefasel hörte ich mir nicht länger an. Dann musste ich eben selbst nach Nordfriesland fahren. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo ich mit der Suche anfangen sollte. Wütend unterbrach ich die Verbindung. Ich überlegte, ob es sinnvoll wäre, meinen Vater aus dem Bett zu scheuchen. Vielleicht wusste er, wo seine Frau war? Ich zuckte zusammen, als mein Handy erneut schrillte.
»Mama?«
»Tut mir leid, ich bin es nur«, ertönte die ruhige Stimme des Polizisten. Die Anzeige also. »Wie lautet denn der Name Ihrer Mutter?«
»Paulchen … Paula Sander, sie ist fünfundfünfzig Jahre alt und sehr fit für ihr Alter«, stieß ich hervor.
Er wollte die genauen Umstände der Tat wissen und notierte offenbar alles, was ich ihm erzählte.
»Gut, ich versuche herauszufinden, wo Ihre Mutter sich aufhält. Ich kann aber nicht versprechen, dass wir sie, mit Ihren wenigen Hinweisen, finden. Von der Anzeige werde ich mal absehen, aber bitte kommen Sie in den nächsten Stunden vorbei, um das Protokoll zu unterschreiben.«
Ein Zischlaut entwich meinen Lippen. »Danke, das hätte ich ohnehin gemacht.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, sah ich mich in meiner Wohnung um. Ich beschloss, einige Sachen einzupacken, die ich in den nächsten Tagen benötigen würde. Einschließlich meines Laptops verfrachtete ich alles in meine alte Karre, die vor dem Haus parkte. Einmal mehr freute ich mich, dass ich den schönsten Beruf der Welt hatte, der es mir ermöglichte, an jedem Ort arbeiten zu können. Ich war Schriftstellerin von Liebesromanen und gar nicht so schlecht im Geschäft. Nur dass meine Lektorin mir im Nacken saß. Sie wollte ein neues Manuskript für den Verlag. Doch seit Wochen hockte ich vor einem leeren Blatt und brachte keine brauchbaren Worte zu Papier. Natürlich wusste ich, woran das lag. Einer Liebesromanautorin, deren Liebesleben auf Eis lag, fiel es eben schwer, Romanzen zu schreiben, die ihr selbst im wahren Leben versagt blieben. Auf Dauer genügten Fantasie und Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht mehr. Meine letzte Beziehung hatte ein unschönes Ende gefunden, weil mein Freund meinte das Abenteuer suchen zu müssen. Kurz darauf verschwand er aus meinem Leben.
Ich raufte meinen kurzen dunklen Haarschopf. Mit meinen hellblauen Augen hatte ich so manchen Mann um den Finger gewickelt, doch meine Beziehungen waren meist nicht von Dauer gewesen. Meine Mutter wurde unterdessen nicht müde, mir potenzielle Schwiegersöhne vorzustellen. Doch lagen unsere Vorstellungen von einem perfekten Mann weit auseinander. Männer in Norwegerpullover oder Poloshirt wirkten auf mich wenig interessant. Mir lagen die sportlichen, muskulösen Männer in Bluejeans und weißen Shirts eher. Nicht unwesentlich war für mich, mit einem Mann auf gleicher Augenhöhe zu stehen. Was bei meinen ein Meter achtzig Körperlänge nicht so leicht war. Aber auch wenn ich oft versucht war, meinen Traummann als unerreichbar abzutun, gab ich dennoch die Hoffnung nicht wirklich auf.
»Ach, Mama, wo steckst du?«
Bevor ich mich in Richtung Norden aufmachte, klingelte ich meinen Vater aus dem Bett. Auf Zehenspitzen betrat ich den gepflegten Vorgarten meiner Eltern. Dieses kleine Stückchen Erde war die Leidenschaft meiner Mutter. Ich hegte die leise Hoffnung, dass Papa vielleicht wusste, wo in St. Peter-Ording meine Mutter abgestiegen war. Ich legte mir schonende Worte zurecht, um ihn nicht gänzlich aus der Fassung zu bringen. Meinen Vater mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus zu befördern war in dieser Situation nicht unbedingt hilfreich und würde zusätzlichen Stress bedeuten. Am Ende wäre ich dann Vollwaise. Doch wie sollte ich ihm schonend beibringen, dass seine Frau vermutlich einem Raubüberfall zum Opfer gefallen war? Gab es da einen Mittelweg? Ich wollte es zumindest versuchen.
Die Herausforderung lag erst mal darin, ihn aus dem Bett zu klingeln. Solange ich an der Tür wartete, hob ich einen sorgenvollen Blick gen Himmel. Es dämmerte schon, und dunkle Wolken zogen von Osten her auf. Das fehlte noch, dass ich hier einen Regenguss abbekam, bevor mein Vater die Tür öffnete. Ich hätte einen eigenen Haustürschlüssel benutzen können, doch wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass er vor lauter Schreck wahrhaftig einen Herzstillstand erlitt, wenn ich unverhofft in der Wohnung rumgeisterte. Meine Eltern waren da beide aufs Äußerste schreckhaft.
Ich betätigte erneut den goldenen Klingelknopf. Dieses Mal wiederholte ich den Vorgang drei Mal. Na endlich, im Schlafzimmer brannte jetzt Licht. Anschließend im Flur des Obergeschosses. Es dauerte ewig, bis mein Vater die Treppen überwand und auch das Flurlicht im Erdgeschoss aufflammte. Schlüsselrasseln, und die Tür flog auf. Lediglich in Boxershorts gekleidet, sah er mich verwirrt an. Meinen Papa nur in Unterhosen anzutreffen war nicht ungewöhnlich. Seit er Rentner war, lief er auch tagsüber damit herum. Nur dass er dann ein T-Shirt dazu anhatte. Einzig zum Treffen der Kleingärtner, deren Vorsitz er innehatte, quälte er sich in eine Jeans. Ich beeilte mich, ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Wich dann jedoch schnell wieder zurück. Er roch nicht unbedingt nach Veilchen, und der Dreitagebart kratzte mich im Gesicht.
Du musst es ihm schonend beibringen.
Papa öffnete die Tür weiter und ließ mich herein.
»Paps, Mama ist überfallen worden«, sprudelte es aus mir heraus, während ich eilig zum Wohnzimmer durchmarschierte. Hier gab es deutliche Hinweise darauf, dass meine Mutter schon vor längerer Zeit das Haus verlassen hatte. Ungewaschene Socken lagen vor dem Sofa, Geschirr war nicht zurück in die Küche gebracht worden, und Krümel, die offenbar von den Kräckern, deren leere Verpackung auf dem Stubentisch lag, herrührten, bedeckten den Teppich vor seinem Fernsehsessel. Im Wohnzimmer angekommen, drehte ich mich zu ihm um. Ich war aber auch unsensibel. Sofort beschlich mich ein schlechtes Gewissen. Papa war kreidebleich geworden, mit zitternder Unterlippe suchte er Halt am Türrahmen.
»Das ist ja schrecklich«, stammelte er erschüttert. »Ist die Polizei eingeschaltet?«, erkundigte er sich mit weinerlicher Stimme.
Ich lief auf Papa zu und umarmte ihn. Er roch immer noch nicht besser. Dennoch brauchte er meinen Beistand, dabei legte ich bewusst Atempausen ein.
»Ja, ist sie, aber ich konnte ihnen keine Adresse mitteilen, was die Suche natürlich enorm erschwert. Hat sie gesagt, dass sie nach St. Peter-Ording reisen wollte und wohin genau?«
Er breitete die Arme aus und zog die Schultern hoch. »Nix. Gar nichts hat sie gesagt. Sie ist vor einigen Tagen los, aufgebrezelt wie Johanna Seifert, hat ihren Koffer herausgerollt und ist verschwunden.«
Johanna Seifert war die Nachbarin und Freundin meiner Mutter. Meinem Vater war die enge Verbindung zu der aufgetakelten Frau immer ein Dorn im Auge gewesen.
»Könnte Johanna wissen, wo Mama hinwollte? Papa, konzentriere dich, jeder Hinweis ist wichtig.« Ich klang wie eine Ermittlerin der Kripo.
Papa schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich glaube nicht. Die beiden reden seit zwei Wochen nicht mehr miteinander.«
Ich stöhnte auf. »Ich muss unbedingt erfahren, wo ich nach ihr suchen soll. Die Polizei kann ohne Adresse nichts ausrichten«, rief ich, nicht weniger verzweifelt als mein Vater.
»Ja, aber Bettina, woher willst du denn wissen, dass sie in Nordfriesland ist?«
»Sie hat es mir am Telefon gesagt.«
In den Ohren meines Vaters musste sich das alles merkwürdig anhören. Ich setzte an, ihm von dem Telefonat zu erzählen.
»Also weißt du, wo sie ist?« Hoffnung schimmerte in seinem Gesicht.
Ich holte Luft. Dann gelang es mir endlich, ihm zu erzählen, was ich vor einer Stunde am Telefon miterleben musste.
»Ich begreife sowieso nicht, warum sie so mir nichts, dir nichts verschwunden ist«, schmollte Papa.
Ich seufzte hörbar. Wenn ich mich so im Wohnzimmer umsah, konnte ich theoretisch vieles verstehen. War meine Mutter …? Hatte sie meinen Vater … verlassen? Das passte so gar nicht zu Paula Sander. Sie war eine liebende, treu sorgende Ehefrau und verwöhnte ihren Mann, wann immer sie konnte. Ich hatte nie Klagen von ihr vernommen und war mir sicher, sie liebte meinen Papa über alles. Dieser saß zusammengesunken, mit hängendem Kopf, auf dem Sofa. Ein herzzerreißender Anblick. Ich schluckte. Wie konnte ich ihn nur trösten? Aber was sollte ich ihm sagen in dieser Situation?
»Es ist bestimmt nicht so schlimm, wie es aussieht«, gab ich dürftig und wenig überzeugend von mir. Ich merkte schnell, dass ich hier nicht weiterkam. Der Drang, nach meiner Mutter zu suchen, wurde immer stärker in mir. Vielleicht lag sie irgendwo blutend auf dem Boden ohne Telefon und Hilfe. Was wäre, wenn sie jetzt, in diesem Moment, ihre letzten Atemzüge machte? Bei der Vorstellung lief es mir eiskalt den Rücken herunter.
Papa sah mich mit traurigen Augen an. »Was willst du nun machen, Bettinachen?«
Ich hasste diese Verniedlichung meines Namens, aber das war jetzt zu unwichtig, um ihn daran zu erinnern.
»Ich fahre nach St. Peter-Ording«, verkündete ich selbstsicher, ohne zu wissen, wo ich mit der Suche anfangen sollte.
Papa sprang urplötzlich und voller Elan auf. »Das ist eine gute Idee, Bettinachen. Ich komme mit.«
Ich zuckte zusammen, das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich konnte mir, trotz der betrüblichen Situation, beim besten Willen nicht vorstellen, mit ihm gemeinsam in den Norden zu fahren. Er war meist völlig chaotisch. Ich konnte mir schon ausmalen, wie die Fahrt verlaufen würde. Fieberhaft überlegte ich, wie ich ihm diese Schnapsidee ausreden könnte, und hatte zum Glück die zündende Idee.
»Ahm, Papa, das ist nicht nötig. Außerdem muss doch jemand hier sein, der sie versorgt, falls sie unverhofft völlig durcheinander und Hilfe suchend wieder nach Hause kommt.« Ich war zufrieden mit mir, denn Papa hielt in der Bewegung inne und nickte kraftlos.
»Bist du wirklich der Meinung, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte?«
Schon bei der bloßen Vorstellung blieb mir die Luft weg. »Nein, ich glaube nicht, aber es könnte doch möglich sein. Ich werde Mama finden, versprochen.«
»Aber du meldest dich sofort … Aber auch sonst …« Einen Wimpernschlag später sank er zurück auf seinen Sessel und starrte vor sich hin.
»Zieh dir eine Hose an, Papa«, riet ich ihm, bevor ich aus dem Haus rauschte. Immerhin wäre es möglich, dass ein Polizeibeamter im Hause Sander auftauchte, dann würde der Eindruck, den er hinterließ, weniger glanzvoll sein als der Umstand, dass er vor seiner Pensionierung im hohen Beamtenstand gewesen war. Vor seiner Versetzung in den Ruhestand war er ein erfahrener und anerkannter Volljurist am Amtsgericht gewesen. Der gefürchtete Richter Sander. Der seine Autorität eingebüßt hatte, weil er sich langweilte und sich eine gewisse Unzufriedenheit breitgemacht hatte. Ich liebte meinen Vater, ohne Frage. Und inzwischen nagten Zweifel und Selbstvorwürfe an meiner Seele. Warum war ich nur nicht schonender mit ihm umgegangen? Doch wie hätte ich das anfangen sollen? Die Kuschelzeit war vorbei. Solange ich nicht wusste, was mit Mama passiert war, mussten wir mit einer Tragödie rechnen und damit umgehen. Das war neu für die Familie Sander. Wenn wir auch nicht auf Rosen gebettet waren, so durften wir behaupten, dass es uns bisher gut gegangen war. Ich hoffte inständig, dass dies auch so bleiben würde. Ich zitterte leicht, als ich meinen Wagen öffnete und mich auf den Sitz gleiten ließ.
Es hatte zu regnen angefangen, genau das richtige Wetter für trübe Stimmungen. Ich konnte nicht verhindern, dass eine Träne ihren Weg über mein ungeschminktes Gesicht nahm. Trotzig wischte ich sie weg. Ich brauchte meinen Verstand und wollte mir keine Schwäche erlauben. Wenn meine Mutter Hilfe benötigte, brachte es nichts, den Kopf in den Sand zu stecken und rumzuheulen. Nachdem ich die Autobahn Richtung Norden erreicht hatte, gestattete ich den mickrigen PS unter der Haube meines alten Volvos, sich ordentlich auszuhusten. Das Gaspedal bis zum Bodenblech gedrückt, brachte ich den Wagen auf Touren.
Ich fuhr nur selten mit dem Auto, überwiegend arbeitete ich von zu Hause aus oder reiste für Recherchefahrten mit dem Zug. Meist brachte dies eine zusätzliche Story ein, denn die Deutsche Bahn mit ihren anregenden Fahrgästen sorgte immer für Abwechslung. Sei es mit großzügigen Verspätungen oder Mitreisenden, für deren Geschichten ich stets empfänglich war, auch wenn ich sie nicht danach gefragt hatte. Oft kam mir dabei die Idee, mich an einen Krimi zu wagen. Während mein Blick auf die Autobahn gerichtet war, kreisten meine Gedanken unentwegt zu meinen Eltern, vornehmlich war Mama die Hauptperson in dem Gedankenkarussell. Über die Freisprechanlage wählte ich ihre Nummer. Unter Umständen … da, ich hörte deutlich, dass jemand abnahm. Eine Person atmete in den Hörer hinein, ohne ein Wort von sich zu geben.
»Mama? Bist du es?«
Schweigen.
Wut zündelte meine Nerven hoch. Ich schrie in das Mikro über mir am Autohimmel. »Was habt ihr meiner Mama angetan?!« Ich keuchte. Musste aber hinnehmen, dass das Klicken am anderen Ende der Leitung bedeutete, dass ich keine Antwort erhalten würde. Ich schluchzte auf. Schnell zwang ich mich, meine Konzentration der Fahrbahn zu widmen. Alles andere wäre bei der Verkehrslage zu gefährlich. Im Rückspiegel sah ich einen Sonnenaufgang. Der Feuerball legte seine Strahlen über das Land, als wollte er die Welt überdachen. Wenigstens etwas, das mich besänftigte und mir ein Lächeln abgewann.
An der Raststätte Harburger Berge verließ ich die Autobahn, um die Toilette aufzusuchen, außerdem beschloss ich, dass mir ein Kaffee guttäte. Normalerweise begann ich den Tag nie ohne ein leichtes Frühstück. Dass es heute ausfallen musste, ließ meinen rebellischen Magen aufwachen, und es fühlte sich an, als würden Tennisbälle darin rumoren.
An den Zapfsäulen herrschte reger Betrieb, ich war froh, dass ich mit vollem Tank losgefahren war und keinen Nachschub brauchte. Es war verwunderlich, wie viele Menschen in den frühen Morgenstunden schon unterwegs waren. Ich saß um diese Zeit meist im Nachthemd an meinem Schreibtisch, mit mindestens zwei Bechern Kaffee intus, dabei spielte das Leben auf den Straßen lediglich eine untergeordnete Rolle und fand nur in meiner Fantasie statt.
Ich lenkte den Wagen um die Tankstelle herum und hielt nach einem Parkplatz Ausschau. Ich entdeckte eine Lücke und beschloss, meinen Volvo 740 dort einzufädeln. Mist, das war reichlich knapp, ich war mir dennoch sicher, dass der Wagen in die Nische hineinpasste. Ein Verkehrsschild mit dem Hinweis, dass hier nur für kurze Zeit geparkt werden durfte, meinte es mit meinem Außenspiegel aufnehmen zu müssen. Es gab einen lauten Krach, und der rechte Spiegel polterte auf den Asphalt.
Ich fluchte leise. »Auch das noch.« Hektisch stieg ich aus, hob das Teil auf und sah mich ratlos um. Dem Schild, was auch immer es dort zu suchen hatte, war nichts passiert. Die Sorgen um Mama und meine Notdurft ließen mich keine klaren Gedanken fassen. Mit dem »Havaristen« in der Hand steuerte ich auf das Gebäude zu, in dem sich die Toiletten befanden. Mit der Schulter schob ich die Eingangstür auf. In Gedanken versunken, wie ich ohne Rückspiegel die Fahrt nach St. Peter fortsetzen sollte, stieß ich unsanft mit einem Körper zusammen, der nicht davon zu überzeugen war, nachzugeben. Ich prallte zurück und wäre um ein Haar hingefallen, wenn nicht zwei kräftige Hände mich daran gehindert hätten.
»Hoppla, nicht so stürmisch«, ertönte eine belustigte Stimme. Als ich aufsah, schaute ich in ebenso amüsierte Augen, deren Farbe mich unweigerlich an die Tiefen des Ozeans erinnerten.
»Entschuldigung«, stammelte ich, obwohl ich mir keiner Schuld bewusst war. Dieser Typ hätte genauso aufpassen können.
»Kein Problem, ich ecke gerne mal an, besonders mit so einer hübschen Frau.« Er grinste über das ganze Gesicht.
Ich schnappte nach Luft, denn der Aufprall hatte meine Lungenflügel in Mitleidenschaft gezogen. Oder lag es an diesem Mann, der braun gebrannt und freundlich auf mich herabsah? Auf mich? Dies kam so gut wie nie vor, oft reichten mir die gut aussehenden Männer gerade mal bis zum Brustbein. Ein angenehmer Duft betörte meine Nasenflügel. Verdammt, ausgerechnet heute hatte ich keine Zeit, mich auf einen Flirt einzulassen.
Er zeigte auf den mit Fliegenleichen gesprenkelten Außenspiegel. »Ein hübscher alter Volvo 740 würde ihm gut stehen, haben Sie ihn verloren?«
»Nicht den Volvo, aber diesen hier«, ich hob das Ersatzteil hoch.
Kommentarlos nahm er mir das Beweisstück ab, schaute es von allen Seiten an und murmelte: »Ich habe da eine Idee. Erlaubst du mir, dir zu helfen? Dann würde ich in diesem Teileshop an der Tanke etwas besorgen, um deine Weiterfahrt zu sichern.«
Ich sah den Mann ungläubig an. Er bot mir seine Hilfe an? Hatte ihn ein Engel oder der Teufel geschickt? Nach dem mutmaßlichen Überfall auf Mama war ich misstrauisch geworden. Aber was konnte der Hüne mir anhaben? Er wollte doch nur meinem Auto auf die Sprünge helfen. Der Parkplatz war voller Menschen, da hätte er wenig Gelegenheit, mich zu belästigen. Ich willigte zögernd ein und nickte. So langsam musste ich an den Grund meiner Pause denken und die Toilette aufsuchen.
»Ich bin gleich wieder da«, stammelte ich.
Er nahm mir den Spiegel aus der Hand und zwinkerte mir freundlich zu. »Ich denke, ich werde das Auto auch ohne dich finden. Es gibt ja schließlich nicht viele, bei denen der Außenspiegel fehlt.«
Ehe ich michs versah, war er mitsamt dem Sorgenkind meines Volvos verschwunden.
Ich mochte keine öffentlichen Toiletten, aber manchmal kam man ohne nicht aus. Anschließend besorgte ich zwei Kaffee im Pappbecher und belegte Brötchen dazu. Damit bewaffnet begab ich mich zur Unglücksstelle meines Autos.
Als ich um die Ecke bog, strahlte der Mann mich an. »Ich denke, so wird es gehen. Wie weit musst du noch fahren?«
Ich biss in mein Brötchen und reichte ihm das für ihn vorgesehene. Dann spülte ich mit einem Schluck scheußlichen Kaffees die Pappe hinunter.
»St. Peter-Ording«, murmelte ich kauend, bevor ich den Rest herunterschluckte.
»Das hält«, versprach er zuversichtlich. »Übrigens ein schönes Auto«, lobte er ebenfalls mit vollem Mund.
Ich zog die linke Schulter hoch. »Na ja, ist halt eine alte Karre, aber ich brauche nicht viel. Er tut es noch eine Weile.«
»Ich heiße übrigens Noah. Hat mich gefreut, mit dir zusammenzustoßen.«
Ich lachte amüsiert. »Ganz meinerseits. Ich bin Betty. Vielen Dank für deine Hilfe.«
Er hatte den Spiegel sorgfältig mit Panzerband befestigt. Das graue Spezialklebeband zierte nun mein Auto. Nicht ansprechend, aber sicherlich selten.
Ich zermarterte mir den Kopf, wie ich ihn dazu bringen konnte, nach meiner Adresse zu fragen. Er tat es nicht. Nach einer kurzen Verabschiedung sah ich ihm hinterher. Alle vier Blinker eines weißen Porsches leuchteten auf. Er hatte soeben seinen Wagen bestiegen. Wie angewurzelt verharrte ich an der Stelle, an der wir uns verabschiedet hatten. Meine Finger kribbelten dort, wo eben noch seine schmale, aber dennoch kräftige Hand in meiner gelegen hatte.
Ach so, von Beruf Sohn.
Ich schätzte sein Alter auf höchstens Mitte zwanzig. Um einiges zu jung für mich. Ich wurde nächsten Monat fünfunddreißig. Aber dennoch war er goldig. In diesem Moment war ich verwundert, woher er sofort wusste, zu welchem Fahrzeug der Spiegel gehörte. Ob er so was wie ein Automechaniker war? Aber was kümmerte mich das? Ich sollte besser meinen Weg fortsetzen und meine Mutter suchen. Bei dem Gedanken an Mama wurde mir wieder mulmig zumute. Ich hoffte, die Polizei hatte inzwischen etwas herausgefunden. Aber hatte der Beamte nicht gesagt, er meldete sich, sobald er Näheres erfuhr? Blöd, dass ich mir nicht gemerkt hatte, mit wem ich gesprochen hatte. Ich rutschte auf den Fahrersitz und kontrollierte den Blick im Spiegel. Ob es nun Zufall war oder Noah es einzuschätzen vermochte, welche Einstellung erforderlich war, er war perfekt angepasst und bot freie Sicht nach hinten. Mein alter Volvo war keine Rennziege, aber für Überholmanöver war ein Rückspiegel unerlässlich. Ich drehte den Zündschlüssel, das Brummen des Motors hatte in gewisser Weise eine beruhigende Wirkung auf meine angespannten Nerven.
Die Situation vor dem Elbtunnel stellte mich auf eine Geduldsprobe der anderen Art. Stau! Erst aufmerksam, dann gelangweilt und schon bald ungeduldig betrachtete ich den Containerhafen Waltershof mit den Schiffen aus aller Welt und den dort gestapelten Großbehältern. Ob dort kostbare Güter geladen waren? Auf welche Reise würden sie nach der Verladung aufbrechen? Ich verdrängte die unbeantworteten Fragen aus meinem Hirn und trommelte ungeduldig auf das Lenkrad. Im Schneckentempo rollte die Blechlawine durch den Tunnel. Ich nutzte die Gelegenheit, während der unfreiwilligen Pause die Polizeistation in St. Peter anzurufen. Es meldete sich eine dunkle Stimme, zu der ich sofort Vertrauen fasste. Ich gab mich freundlich zu erkennen und erkundigte mich, ob es Neuigkeiten bezüglich des Verbleibs meiner Mutter gab. Zur Sicherheit prägte ich mir dieses Mal den Namen des Beamten ein. Volker Brandt.
»Frau Sander, Sie haben hier eine Welle ausgelöst. Selbst die Kripo Kiel hat sich eingemischt. Aber machen Sie sich keine Sorgen, bei uns im kleinen St. Peter-Ording ist bisher noch niemand überfallen worden. Ihre Mutter wird es sich hier gut gehen lassen.«
Ich schnappte nach Luft, hatte ich mich verhört? Ich fand die Aussage über Mama unverschämt.
»Aber was ist, wenn meine Mutter da eine Ausnahme bildet?« Mein Atem ging stoßweise.
»Beruhigen Sie sich, wir versuchen doch sie ausfindig zu machen. Alle unsere Kollegen drehen jeden Grashalm um, um Hinweise auf den Verbleib Ihrer Frau Mutter zu finden.«
»Es gibt also keine Neuigkeiten?«, fragte ich mit piepsiger Stimme.
»Wir tun, was wir können.«
»Danke«, hauchte ich in den Hörer und drückte die Taste mit dem roten Knopf. Mein Herz schlug Purzelbäume, als der Verkehr wie aus dem Nichts wieder rollte. Verwunderlich, dass hinterher nicht zu erkennen war, woher der Stau rührte. Als mich am Ende des Tunnels das Tageslicht mit strahlendem Sonnenschein empfing, besserte sich meine Stimmung ein wenig. Fast schämte ich mich, weil ich mich, obwohl meine Mutter verschwunden war, auf die Nordsee freute. Aber wenigstens war ich voller Zuversicht, dass das Schicksal meiner Mutter sich bald zum Guten wenden würde, drückte das Gaspedal aufs Bodenblech und überholte in einem Zug den Lkw-Konvoi. Es störte mich dabei nur unwesentlich, dass ein Sportwagen an meiner Stoßstange klebte und mich nötigte, die Straße freizugeben. Ich scherte rechts ein und war versucht, dem Fahrer den bekannten Mittelfinger zu zeigen, als dieser in hohem Tempo an mir vorbeiraste. Doch ich entschied mich dagegen. Bevor ich einen erneuten Überholvorgang startete, überzeugte ich mich durch einen Blick in meinen provisorisch reparierten Außenspiegel, dass die Bahn frei war. Ich grinste zufrieden ob der Erinnerung an meinen Retter. In dem Augenblick, als ich erneut zurück auf die rechte Spur scherte, schoss ein weißes Auto wie ein Geist an mir vorbei. Es war Noahs Porsche. Offenbar hatte er mich ebenfalls erkannt, denn er grüßte mich mit einmal aufleuchtenden Warnblinkern. Ich hatte ihn nicht nach seiner Zieladresse gefragt, doch in meinem Magen kribbelte es, als ich das NF-Kennzeichen für Nordfriesland erkannte. Ob der Zufall wollte, dass wir uns noch einmal über den Weg liefen? Er war ein Mann, den man unbedingt wiedersehen musste. Ich musste mir allerdings auch eingestehen, dass Nordfriesland einige Quadratkilometer umfasste und es unwahrscheinlich war, dass wir das gleiche Ziel hatten. Träumen sollte trotzdem erlaubt sein, dachte ich mir, auch wenn ich zuerst einmal herausfinden musste, was mit Mama passiert war.
St. Peter-Ording kannte ich bisher nur von Reiseführern und aus dem Fernsehen. Ich war voller Neugier auf die größte Sandkiste Deutschlands und die abwechslungsreichen Ortschaften der Halbinsel Eiderstedt, die ursprünglich durch Landgewinnung und Eindeichungen sowie Zusammendeichungen aus zwei Inseln und einer Halbinsel entstanden war. Die Westküste dieser Gegend war landschaftlich geprägt durch Sandbänke, Dünen und Salzwiesen. Der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer war 2009 zum Weltnaturerbe erkoren worden. Ein Paradies für Vögel und deren Beobachter. Ein Besuch der Seehundsbänke stand ganz oben auf meiner Liste der Erkundungen dieser Landschaft. Natürlich setzte ich voraus, dass ich meine Mutter gesund und munter wiederfand und im Anschluss zwecks Recherchen an diesen zauberhaften Orten vieles unternehmen würde.
Doch zunächst war an solch erfreuliche Momente nicht zu denken. Ich seufzte: »Mama, wo steckst du?«
Mein Handy klingelte. Gebannt sah ich auf das Display. Hatte die Polizei meine Mutter gefunden? Doch es war meine Lektorin.
»Betty, wie sieht es aus? Hast du dein Manuskript bald fertig?«
Mir wurde glühend heiß. Wenn Carola wüsste, dass ich nicht mal angefangen hatte, würde sie einen Nervenzusammenbruch erleiden. Aber das musste ich riskieren.
»Ich bin wegen einer Familienangelegenheit auf dem Weg nach St. Peter-Ording, ich …«
Carola schmetterte eine Reihe von Wörtern durch den Hörer, die ich sofort verdrängte.
»Außerdem bin ich hier zum Recherchieren«, unterbrach ich sie siegessicher.
»Betty, ein Nordseeroman? Großartig, deine Leser werden begeistert sein«, frohlockte sie versöhnlich.
Ich grinste zufrieden. Carola hatte die Neuigkeit geschluckt.
»Wie wäre es mit einem Krimi?« Seit Langem hegte ich den Wunsch, mich diesem Genre zu widmen. Doch leider war der Verlag da anderer Meinung. Grundsätzlich verständlich, denn meine Leserinnen bevorzugten nun mal Liebesromane, und Carola dachte nicht daran, solch ein Experiment einzugehen.
»Fantastisch, das muss nur so von Romantik triefen, aber das hast du ja drauf.«
Ja, ich hatte ein Händchen für Happy Ends und wohlige Seufzer am Ende des Buches. Doch leider fiel mir das immer schwerer. Ich sehnte mich nach einem Mann, mit dem ich durch dick und dünn gehen konnte. Wie sollte ich eine romantische Geschichte hinbekommen, wenn mein eigenes Herz förmlich nach einer Romanze schmachtete? Die Tragikomödien lagen mir momentan einfach mehr.
»Carola, ich kümmere mich um neuen Stoff und sage dir dann Bescheid, mehr kann ich dir nicht versprechen. Lass dich überraschen«, fügte ich geheimnisvoll hinzu, denn Carola liebte Überraschungen. Unsere Zusammenarbeit jährte sich im Herbst zum fünften Mal. Da war es logisch, dass wir uns gut kannten. Folglich war es nur einleuchtend, dass Carola Lunte roch, dass noch keine neue Idee in meinem Kopf rotierte. Doch sie erwähnte dies mit keinem Wort.
»Du bist mein bestes Pferd im Stall, ich kann mich immer auf dich verlassen. Ich wünsche dir eine großartige Zeit an der Nordsee.« Dann legte sie auf, und ich war wieder allein mit meinen Sorgen um Mama und dem schlechten Gewissen meiner Lektorin gegenüber.
Nachdem ich die Autobahn verlassen hatte, eröffnete sich vor meinen Augen die Weite Nordfrieslands, die nur unterbrochen wurde von zahlreichen Windkrafträdern. Für eine umweltfreundlichere Stromversorgung waren sie unerlässlich. Doch das Landschaftsbild wirkte etwas gestört auf mich. Ich näherte mich der Ortschaft St. Peter. Hinweisschilder wiesen den Weg zu den Ortsteilen. Böhl, Dorf, Bad und Ording. Ich fragte mich, wo ich als Erstes mit meiner Suche anfangen sollte, und entschied mich für St. Peter-Bad. Das Zentrum des Nordsee-Urlaubsortes.
Die Shoppingmeile bot zahlreiche Cafés und Restaurants, und Souvenirjäger konnten hier nach Lust und Laune für die Daheimgebliebenen einkaufen. Der Mittelpunkt war ohne Frage der Zugang zum Strand mit der fast elfhundert Meter langen Seebrücke. Von der Erlebnispromenade bot sich ein sagenhafter Blick über Dünen und Seegras bis hinunter zum Strand. Strandkörbe standen bereit für unvergessliche Stunden am Meer. Dafür hatte ich aber momentan keinen Kopf. Ich musste etwas über das Schicksal meiner Mutter herausfinden. Ich malte mir aus, wie sie gefesselt und geknebelt in einem dunklen Verlies ausharrte und auf Hilfe hoffte. Vorausgesetzt, sie lebte noch, wovon ich ausging, bis ich etwas anderes erfuhr.
Nach langer Parkplatzsuche hatte ich endlich Erfolg. Ich stellte meinen Volvo ab und überlegte, was ich als Erstes unternehmen sollte, um Mama zu retten. Ich widerstand der Versuchung, zum Strand zu laufen, sondern ging recht planlos die Straße Im Bad entlang. Machte mehrmals Schlenker in Nebenstraßen und stellte fest, dass ich hier nicht weiterkam. In einem kleinen Geschäft holte ich mir eine Straßenkarte und studierte sie ausgiebig. Die Fahrbahn, auf der ich mich befand, führte direkt in den Ortsteil Dorf. Ich vermutete, dass Mama den ruhigeren Teil bevorzugte, daher lief ich die Straße komplett entlang, um dorthin zu gelangen. Leider hatte ich nicht bedacht, dass sich der Weg einige Kilometer in die Länge zog, und bereute bald, meinen Wagen stehen gelassen zu haben. Urplötzlich änderte sich der Straßenname zu »Bad Allee«.
»Wie einfallsreich«, murmelte ich genervt. Dann bog ich in eine schmale Nebenstraße ein. »Düneneck«. Schon besser, sinnierte ich. Am Ende des Weges bog ich instinktiv links ab, und mein Herz raste unaufhörlich vor lauter Aufregung. Wenn mich nicht alles täuschte, stand dort der rote Flitzer meiner Mutter. Er parkte mit einem Rad auf dem Bürgersteig, deshalb war ich mir sicher, dass es ihr Wagen war. Ich kannte ihre Fahrweise, Parken war noch nie ihre Stärke gewesen. Beim Näherkommen erkannte ich endlich das Kennzeichen und hatte die Bestätigung. Das letzte Stück rannte ich. Ich sollte wieder mehr Sport treiben, dachte ich, die Schnappatmung war ein deutlicher Hinweis darauf. Wie eine Katze schlich ich um den Wagen meiner Mutter herum. Ich warf einen Blick ins Innere. Es war ordentlich wie immer. Das hatte ich nicht von ihr geerbt. Ein Zettel hinter der Windschutzscheibe erweckte meine Aufmerksamkeit. Ich erkannte die schöne Handschrift meiner Mutter. Sie hatte die Zeilen selbst verfasst.
Lieber Ordnungshüter von St. Peter-Ording. Mir ist bewusst, dass ich nicht befugt bin, hier zu parken, aber bitte nehmen Sie Rücksicht darauf, dass ich für eine Weile in Urlaub gefahren bin. Den Strafzettel dürfen Sie gerne behalten, oder schicken Sie ihn an meinen Mann. Sie können ihm gerne Grüße von mir ausrichten.