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Stücke von Simon Stone werden erstmals auf Deutsch abgedruckt: Die Wildente, Die Orestie, John Gabriel Borkman, Yerma, Drei Schwestern, Hotel Strindberg. Simon Stones Regie- und Textarbeiten sind spektakulär und sprengen die Grenzen des Gewohnten. Mit Preisen international ausgezeichnet, wird er immer wieder als »Theatermann der Stunde« bezeichnet.
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Seitenzahl: 644
SIMONSTONE
STÜCKE
Herausgegeben von Brangwen Stone
Deutsch von Martin Thomas Pesl und Brangwen Stone
FISCHER E-Books
Mit einem Nachwort von Caroline Peters
nach Henrik Ibsen
Koautor: Chris Ryan
Deutsch von Brangwen Stone
WERLE
GREGERS
HJALMAR
EKDAL
GINA
HEDVIG
Uraufführung: Belvoir Street Theatre, Sydney, 12. Februar 2011
WERLE
Ich könnte dir ein belegtes Brötchen machen.
GREGERS
Seit wann kannst du das?
WERLE
Ich habe schon immer belegte Brötchen gemacht.
GREGERS
Ich habe noch nie miterlebt, dass du ein belegtes Brötchen gemacht hast.
WERLE
Möchtest du jetzt eins, oder nicht?
GREGERS
Nein, danke.
WERLE
Bist du müde?
GREGERS
Nein.
WERLE
Die Klimaanlage im Flieger trocknet mich immer aus.
GREGERS
Ja.
WERLE
Möchtest du ein isotonisches Sportgetränk?
GREGERS
Nein, danke.
WERLE
So mach ich das. Trinke zwei davon und dann bin ich wieder fit.
GREGERS
Mir geht’s gut, danke. Rauchst du immer noch?
WERLE
Ich versuche, damit aufzuhören.
GREGERS
Du versuchst?
WERLE
Anna mag es nicht. Sie ist um meine Gesundheit besorgt.
GREGERS
Stimmt was nicht?
WERLE
Kommt drauf an, wie man es sieht.
GREGERS
Was soll das heißen?
WERLE
Mach dir darüber keine Sorgen.
GREGERS
Mach ich mir auch nicht. Was soll es heißen?
WERLE
Nur. Du weißt schon. Es klappt nicht alles wie früher.
GREGERS
Was, also … untenrum?
WERLE
Wie bitte?
GREGERS
Entschuldige, ich dachte, du meintest –
WERLE
In dem Bereich ist alles in Ordnung.
GREGERS
Entschuldige, ich –
WERLE
Mir ist klar, was du meintest, und darum geht’s nicht.
GREGERS
Okay.
Pause.
WERLE
Ich hatte nicht erwartet, dass du kommen würdest.
GREGERS
Ich hatte nicht erwartet, dass ich kommen würde. Aber ich glaube, Mama hätte gewollt, dass ich komme.
WERLE
Das weiß ich zu schätzen.
GREGERS
Wie würde es denn aussehen, wenn der eigene Sohn nicht zu deiner Hochzeit auftaucht?
WERLE
Hör zu. Gregers. Ich habe darüber nachgedacht. Und ich habe beschlossen, du solltest die Firma übernehmen.
GREGERS
Was?
WERLE
Ich wäre aber immer noch das Aushängeschild.
GREGERS
Wieso das jetzt?
WERLE
Keine Angst. Wir würden nicht viel miteinander zu tun haben. Ich habe vor, eine Weile zu verreisen.
GREGERS
Wieso?
WERLE
Was meinst du wieso?
GREGERS
Du bist ein Megalomane. Wieso würdest du mich das Geschäft übernehmen lassen?
WERLE
Es wird Zeit. Du bist mein Sohn.
GREGERS
Stirbst du?
WERLE
Was? Nein.
GREGERS
Was ist los mit dir? Du hast gesagt, es sei was mit dir los.
WERLE
Gregers …
GREGERS
Was ist los?
WERLE
Nichts.
GREGERS
Papa.
WERLE
Okay. Ich werde blind.
…
GREGERS
Wie weißt du das?
WERLE
Mitten in meinem beschissenen Sichtfeld gibt es ein riesengroßes schwarzes Loch, und alles andere ist verschwommen.
GREGERS
Seit wann denn?
WERLE
Seit einem Jahr. Makuladegeneration.
GREGERS
Okay.
WERLE
Der Arzt hat gesagt, ich sei in einem halben Jahr wahrscheinlich total blind.
GREGERS
Scheiße. Kann ich irgendwie helfen?
WERLE
Du könntest ein paar Schritte nach links gehen.
GREGERS
Sorry?
WERLE
Du stehst mitten im Loch …
Gregers geht ein paar Schritte nach links.
Das ist besser. Die Welt sieht so aus, als ob jemand daran seine Zigarette ausgedrückt hat.
GREGERS
Ich dachte, das sei dein neuer Look.
WERLE
Was?
GREGERS
Die Sonnenbrille. Ich dachte, du würdest versuchen, cool zu sein.
WERLE
Nein … Hast du dich verändert?
GREGERS
Wie bitte?
WERLE
Ich kann nur deinen Umriss erkennen. Wie siehst du jetzt aus?
GREGERS
Oh. Hm. Ich glaube, ich bin ein bisschen gealtert.
WERLE
Echt?
GREGERS
Ja. Ich habe jetzt eine zerfurchte Stirn.
WERLE
Du solltest dir nicht so viele Sorgen machen.
GREGERS
Ja. Das versuch ich ja.
WERLE
Sonst noch was?
GREGERS
Ach du weißt schon. Die Lachfalten. Von denen gibt es aber weniger. Ich habe eine neue Narbe.
WERLE
Ach ja?
GREGERS
Ja, am Arm.
WERLE
Was ist denn passiert?
GREGERS
Ich habe damit ein Fenster eingeschlagen.
WERLE
Zeig mal.
GREGERS
Okay.
Gregers hält seinen Arm ganz nah an Werles Gesicht.
WERLE
Nicht schlecht.
GREGERS
Du wirst für eine Weile verreisen?
WERLE
Ich dachte, ich könnte noch ein bisschen was von der Welt sehen. Ein letzter Blick. Verlängerte Flitterwochen sozusagen.
GREGERS
Wie alt ist sie denn?
WERLE
Achtundzwanzig.
GREGERS
Heilige Scheiße.
WERLE
Beruhig dich.
GREGERS
Heilige verdammte Scheiße.
WERLE
Okay.
GREGERS
Achtundzwanzig.
WERLE
Ja. Achtundzwanzig.
GREGERS
Sie könnte deine Enkeltochter sein.
WERLE
Das ist mir auch eingefallen.
GREGERS
Bald siehst du sie nicht mal mehr.
WERLE
Meine anderen Sinne habe ich noch.
GREGERS
Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.
WERLE
Verlieb dich bloß nicht in sie.
GREGERS
Da besteht keine Gefahr.
WERLE
Das ist mein Ernst. Sie ist sehr hübsch.
GREGERS
Mach dir keine Sorgen, Papa. Ich werde deine Verlobte nicht ficken.
WERLE
Sie wird heute Abend da sein.
GREGERS
Heute Abend?
WERLE
Hast du was vor?
GREGERS
Ehrlich gesagt, ja. Ich werde mit Hjalmar zu Abend essen.
WERLE
Hjalmar Ekdal?
GREGERS
Ja.
WERLE
Wieso isst du denn mit ihm zu Abend?
HJALMAR
Wow.
GREGERS
Ja.
HJALMAR
Das ist ja komisch.
GREGERS
Ja.
HJALMAR
Wusstest du, dass ich deine Nummer immer noch auf meinem Handy gespeichert hatte?
GREGERS
Echt?
HJALMAR
Als ich deinen Namen auf dem Display gesehen habe, hatte ich fast einen Herzinfarkt. Ich habe ja schon seit, wie viele Jahre sind es denn –?
GREGERS
Achtzehn Jahre.
HJALMAR
Achtzehn? Mensch.
GREGERS
Ja.
HJALMAR
Ich kann’s ja nicht fassen, dass du immer noch die gleiche Nummer hast.
GREGERS
Ich kann’s ja nicht fassen, dass du immer noch das gleiche Handy hast.
HJALMAR
Nein, das ist schon mein viertes Handy seitdem, ich habe die Kontakte einfach immer wieder übertragen.
…
GREGERS
Ich hoffe, du hattest keine anderen Pläne für heute Abend.
HJALMAR
Ach, nein, nein.
GREGERS
Bevor du irgendwas sagst, ich lade dich ein.
HJALMAR
Das ist nicht notwendig.
GREGERS
Nein, ich werde die Firmenkreditkarte benutzen, es als Geschäftsessen von der Steuer absetzen.
HJALMAR
Okay. Vielen Dank.
GREGERS
Du siehst gut aus.
HJALMAR
Tu ich das?
GREGERS
Ja, das tust du.
HJALMAR
Ich fühle mich wie ein Fünfzigjähriger.
GREGERS
Du hast gesagt, du hättest Kinder?
HJALMAR
Ein Kind.
GREGERS
Das ist ja sehr erwachsen von dir.
HJALMAR
Ich weiß.
GREGERS
Wie alt ist –
HJALMAR
Sie. Hedvig. Sie ist fünfzehn.
GREGERS
Fünfzehn. Das war sicher –
HJALMAR
Ja, ich war noch ziemlich jung.
GREGERS
Wie ist das passiert?
HJALMAR
Wir hatten Sex. Nein, im Ernst, es war keine Absicht.
GREGERS
Der Sex?
HJALMAR
Nein, das Kind.
GREGERS
Aber es ist schön?
HJALMAR
Ja, unglaublich.
GREGERS
Ja.
HJALMAR
Der größte Glücksfall meines Lebens.
GREGERS
Hast du eine Foto von ihr? Vom Bumserfolg?
HJALMAR
Sie wird nicht gerne fotografiert.
GREGERS
Liegt wahrscheinlich am Alter.
HJALMAR
Ja.
GREGERS
Sie müsste in der …
HJALMAR
Sie ist im letzten Schuljahr.
GREGERS
Echt?
HJALMAR
Sie hat ein Jahr übersprungen.
GREGERS
Ekdal-Gene.
HJALMAR
O Gott, hoffentlich nicht. Wenn die letzten zwei Generationen irgendwelche Anhaltspunkte bieten.
GREGERS
Wie geht’s deinem Vater?
HJALMAR
Ganz okay. Ist jetzt schon seit einer Weile aus dem Gefängnis raus. Er lebt bei uns. Arbeitet ein bisschen für deinen Vater.
GREGERS
Echt?
HJALMAR
Ja. Ich glaube, sie haben ihn irgendwo in der Buchhaltungsabteilung versteckt.
GREGERS
Hjalmar, es tut mir leid, was ihm passiert ist. Dieser schreckliche Betrugsfall.
HJALMAR
Gott, nein. Es tut mir leid, dass dein Vater wegen diesen beschissenen Landkarten da reingezogen wurde. Aber ich freue mich, dass du es mir nicht mehr übelnimmst.
GREGERS
Dir übelnehmen?
HJALMAR
Ja, dass du nach so vielen Jahren bei mir angerufen hast, da fällt mir ein Stein vom Herzen.
GREGERS
Wieso denkst du, dass ich es dir übelgenommen habe?
HJALMAR
Das Ganze war eine totale Katastrophe. Als dein Vater gesagt hat, du würdest nicht mehr mit mir reden wollen –
GREGERS
Das hat er dir gesagt?
HJALMAR
Ich … Ich schätze es wirklich, dass du dich bei mir gemeldet hast. Wirklich.
GREGERS
Sicher.
HJALMAR
Mensch. Siebzehn Jahre.
GREGERS
Achtzehn Jahre.
HJALMAR
Achtzehn.
GREGERS
Und du bist jetzt verheiratet und hast ein Kind. Wie heißt deine Frau schon wieder?
HJALMAR
Gina.
GREGERS
Stimmt. Das hattest du gesagt.
HJALMAR
Eigentlich kennst du sie ja schon.
GREGERS
Ja?
HJALMAR
Sie hat früher für deinen Vater gearbeitet.
GREGERS
Gina …
HJALMAR
Ja, Gina Hansen. Sie war etwa zwei Jahre lang seine Haushälterin.
Ekdal, sehr betrunken, mit Ente unter seinem Arm.
EKDAL
Die Kellnerin hatte Cankles. Wisst ihr, was ein Cankle ist? Hm?
GREGERS
Nein.
HJALMAR
Hey, Papa, komm, lass uns –
EKDAL
Komm, schau dir das an. Das ist ein Cankle. Eine Kombination von ankle, also Knöchel auf Englisch, und calf, also Wade. Das Bein geht quasi nahtlos in den Fuß über. Eine Einheit. Wie alt bist du denn jetzt? Ende dreißig?
GREGERS
Ja.
EKDAL
Hjalmar ist auch Ende dreißig.
GREGERS
Ja.
EKDAL
Wie waren sie denn?
GREGERS
Was?
EKDAL
Deine Dreißiger.
GREGERS
Ähm … sie waren okay.
EKDAL
Ich habe meine Dreißiger geliebt. Leute sprechen immer von ihren Zwanzigern, aber ich war in meinen Zwanzigern total durch den Wind. Ich wusste in meinen Zwanzigern nicht, wo mir der Kopf steht, aber dann kamen die Dreißiger. Man entspannt sich mehr. Alles gleicht sich aus. Aber dann die Vierziger. Tja, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Lass uns nicht über die Vierziger reden, vergessen wir mal die Fünfziger, wir freuen uns einfach mal auf die Sechziger. Ich glaube, das wird ein gutes Jahrzehnt sein.
HJALMAR
Komm, wir holen dir ein Glas Wasser, Papa.
EKDAL
Was hatte sie denn? Frau Cankles? Hat uns einfach rausgeschmissen.
HJALMAR
Nichts. Sie hat einfach ihre Arbeit gemacht.
EKDAL
Oh. Ihre Arbeit. Jeder macht seine Arbeit. Jeder hat viel zu tun. Jeder arbeitet in seinem eigenen Edelrestaurant.
HJALMAR
Wir sollten jetzt gehen.
EKDAL
Ich glaube, du musst fahren.
HJALMAR
Das ist okay.
EKDAL
Ich sollte ihn nach Hause fahren. Damit er was trinken konnte. Hast du was getrunken?
HJALMAR
Ja.
EKDAL
Was Feines? Er hat gesagt, es würde vielleicht was Feines sein.
HJALMAR
Papa.
EKDAL
Was war es denn? Französisch?
GREGERS
Das war es in der Tat.
EKDAL
Mmm.
HJALMAR
Komm schon, Papa.
EKDAL
Es überrascht mich, dass sie ihr erlauben Röcke zu tragen. Klar, man kann seine Angestellten nicht auf der Basis ihrer Knöchel aussuchen, aber man könnte sie wenigstens mit einer Hose verhüllen.
HJALMAR
Mensch, Papa.
EKDAL
Es war sehr schön, dich zu sehen … ähm …
GREGERS
Gregers.
EKDAL
Wir haben früher zusammen Fußball gespielt.
GREGERS
Das stimmt.
EKDAL
Es tut mir leid. Ich habe nicht gemerkt, dass ich zu viel getrunken habe. Ich bin normalerweise sehr vorsichtig. Aber ich hab’s nicht gemerkt, bevor es zu spät war. Kann ich dir meinen Autoschlüssel geben?
HJALMAR
Klar.
EKDAL
Ich bin total besoffen. Die Ente kommt in den Kofferraum.
HJALMAR
Ja. Es tut mir leid, den Abend so abrupt zu beenden.
GREGERS
Kein Problem.
HJALMAR
Das ist mir total peinlich. Hier lang, Papa. Vielleicht können wir uns ja noch mal treffen, bevor du gehst?
Gregers packt seine Tasche.
WERLE
Es war eine komplizierte Zeit, Gregers. Sie war krank. Unsere Beziehung war schwierig. Ich bereue die Affären. Sehr. Als deine Mutter krank wurde, habe ich versucht, ihr zu helfen. Aber es hat nichts gebracht. Für ein paar Jahre habe ich mich damit zurechtgefunden. Aber irgendwann wollte ich wieder glücklich sein.
GREGERS
Und warst du glücklich?
WERLE
Ja. Kurz. Aber sie hat immer einen Weg gefunden, mich wieder in ihr Unglück reinzuzerren. In den letzten Monaten ihres Lebens habe ich mir vorgemacht, es könnte wieder so sein wie früher, als wir jung waren. Es ging ihr eine Weile lang besser. Sie war in der Klinik gewesen, und die neuen Medikamente haben gut funktioniert. Ich habe aufgehört, mich mit anderen Frauen zu treffen. Ich war wie ein verliebter Teenager. Es war idiotisch von mir, dass ich es nicht vorausgesehen habe. Ich hatte einen Fehltritt, und das werde ich mir immer vorhalten, aber du bist ein Narr, wenn du glaubst, sie hätte sonst keinen anderen Grund dazu gefunden. Es war nicht das erste Mal, dass sie es versucht hat.
GREGERS
Das hast du mir nie gesagt.
WERLE
Ich wollte dich nicht beunruhigen.
GREGERS
Ich glaube, du wolltest nicht, dass ich mitbekomme, was du treibst.
WERLE
Das stimmt nicht. Du warst ein empfindlicher Junge. Du hättest das nicht verkraftet.
GREGERS
Du behandelst mich aber immer noch wie einen Sechsjährigen, der Angst im Dunkeln hat.
WERLE
Du warst damals viel niedlicher.
GREGERS
Ich wusste damals noch nicht, was für einen Vater ich habe. Weißt du, dass Mama mich angerufen hat, bevor sie sich umgebracht hat?
WERLE
Wirklich?
GREGERS
Sie hat mir gesagt, was los war.
WERLE
Wieso hast du mir das nicht gesagt?
GREGERS
Mensch, Papa, weil ich nicht wollte, dass es wahr war. Was war so besonders an ihr?
WERLE
Gregers.
GREGERS
Hat es sich gelohnt?
WERLE
Natürlich nicht … Ich nehme an, das bedeutet, dass du die Firma nicht übernimmst?
GREGERS
Nein.
WERLE
Oder zur Hochzeit kommst.
GREGERS
Nein.
WERLE
Lohnt es sich zu versuchen, deine Meinung zu ändern?
GREGERS
Nein.
WERLE
Dann alles Gute.
GREGERS
Danke.
WERLE
Gregers?
GREGERS
Ja?
WERLE
Du hast Hjalmar aber nichts davon erzählt, oder?
GREGERS
Nein.
WERLE
Du hast es auch nicht vor, oder?
HJALMAR
Du erinnerst dich doch noch an Gregers?
GINA
Natürlich.
GREGERS
Schön, dich wiederzusehen.
GINA
Ja.
GREGERS
Entschuldige. Es ist fast Mitternacht.
HJALMAR
Das ist völlig in Ordnung.
GREGERS
Es war zu spät, noch ein Hotelzimmer zu bekommen.
HJALMAR
Kein Problem. Du kannst im Gästezimmer schlafen.
GREGERS
Tut mir leid, dass ich hier so hereinplatze, Gina.
GINA
Nein, nein. Wir waren noch wach.
GREGERS
Danke, das ist sehr nett von euch.
HJALMAR
Gott, du bist sicher müde.
GREGERS
Eigentlich bin ich putzmunter. Liegt vielleicht am Jetlag.
GINA
Hjalmar, könntest du bitte das Schlafsofa ausklappen?
HJALMAR
Mach ich.
GINA
Bediene dich gerne jederzeit an den Sachen im Kühlschrank.
GREGERS
Danke.
GINA
Wenn sonst nichts ist, gehe ich jetzt wieder ins Bett.
GREGERS
Danke noch mal. Gute Nacht.
GINA
Gute Nacht.
HJALMAR
Gute Nacht, Schatz. Ich komme gleich nach.
GINA
Gregers?
GREGERS
Ja?
GINA
Was war denn mit deinem Vater?
HJALMAR
Gina.
GINA
Sorry, ist das unhöflich von mir?
GREGERS
Nein, überhaupt nicht. Seine Verlobte hat bei ihm übernachtet, und die Dinge sind gerade etwas angespannt mit der Hochzeitsplanung. Da dachte ich mir, ich mache mich für eine Weile aus dem Staub. Keine Angst, ich suche mir morgen ein Hotel.
GINA
Das ist Hedvig.
GREGERS
Hallo Hedvig.
HEDVIG
Hallo. Wo hast du meine Jacke hingetan, Mama?
GINA
Ich hab sie nirgends hingetan.
HEDVIG
Du musst sie irgendwo hingetan haben, weil ich sie nicht finden kann.
GINA
Vielleicht hast du sie verlegt?
HEDVIG
Ich verlege sie nicht. Du räumst auf und tust Sachen an dumme Orte.
GINA
Wenn du sie ausziehen würdest, wenn du nach Hause kommst, und sie dann sofort in deinen Schrank hängen würdest, dann müsste ich nicht –
HEDVIG
Mama, ich habe keine Zeit, hier zu stehen und mit dir darüber zu streiten, was das beste System ist –
HJALMAR
Hey. Griesgram. Wir haben Besuch.
HEDVIG
Papa, ich brauche meine verdammte Jacke.
HJALMAR
Hey.
GINA
Hedvig.
HEDVIG
Ich muss noch vor der ersten Stunde zur Bibliothek, und jetzt habe ich nur noch eine halbe Stunde, und ich kann nicht ohne verdammte Jacke in die Schule.
HJALMAR
Also, wir versuchen das jetzt noch mal. Das ist Gregers. Er ist ein alter Schulfreund von mir.
HEDVIG
Übernachtest du hier?
GREGERS
Letzte Nacht habe ich hier übernachtet.
HEDVIG
Wieso?
GINA
Hedvig.
HEDVIG
Was?
GINA
Du solltest frühstücken.
HEDVIG
Wieso?
GINA
Du bist gerade sehr kurz angebunden.
HEDVIG
Ich habe ihn bloß gefragt, warum er hier übernachtet hat.
GINA
Er heißt Gregers.
HEDVIG
Ich weiß, wie er heißt. Ich bin nicht taub.
HJALMAR
Gregers wohnt bei uns, weil ich ihn ganz lange nicht gesehen habe und ihn eingeladen habe.
HEDVIG
Wie lange bleibst du?
GREGERS
Also eigentlich wollte ich heute –
HJALMAR
Bleib doch noch eine Nacht. Wir könnten heute Abend zusammen essen. Dann kannst du alle kennenlernen.
GREGERS
Ich lasse euch mal besser in Ruhe.
HJALMAR
Du störst uns nicht.
GREGERS
Also, wenn es euch wirklich nichts ausmacht …
HJALMAR
Es macht uns nichts aus, oder, Gina?
GINA
Nein. Nein, überhaupt nicht.
HJALMAR
Siehst du?
GREGERS
Das wäre schön.
HEDVIG
Ich habe heute Abend keine Zeit zum Abendessen.
HJALMAR
Wieso nicht?
HEDVIG
Ich hatte vor, zur Unibibliothek zu gehen.
HJALMAR
Ist der Abgabetermin für die Hausarbeit nicht schon heute?
HEDVIG
Das ist die Hausarbeit für Geschichte. Am Freitag muss ich noch eine Hausarbeit für Deutsch abgeben.
GINA
Wieso musst du denn zur Unibibliothek?
HEDVIG
Weil ich die Bücher, die ich für die Hausarbeit brauche, in der Schulbibliothek nicht kriegen kann.
HJALMAR
Kannst du nicht morgen hin?
HEDVIG
Morgen habe ich Feldhockey.
HJALMAR
Ach so. Hockey. Ich könnte dich doch von der Schule abholen und zur Uni fahren. Dann wären wir alle rechtzeitig zum Abendessen zu Hause?
HEDVIG
Okay.
GINA
Du hast doch heute Nachmittag ein Fotoshooting mit einem Paar.
HJALMAR
Das kannst du doch übernehmen, oder nicht?
GINA
Ja, könnte ich, aber eigentlich wollte ich unsere Steuererklärung machen.
HJALMAR
Aber Gregers Werle ist ja nicht jeden Tag da.
GREGERS
Mach dir nicht zu viel Mühe.
GINA
Wir kriegen es schon hin.
HJALMAR
Prima. Hast du das gehört, Papa?
EKDAL
Hä?
HJALMAR
Abendessen. Heute Abend.
EKDAL
Wir essen jeden Abend.
HJALMAR
Aber heute kommt Gregers zum Abendessen.
EKDAL
Heute kommt wer?
HJALMAR
Gregers. Als Gast.
EKDAL
Wer?
HJALMAR
Gregers Werle. Er steht direkt vor dir.
GREGERS
Hallo.
EKDAL
Bist du Haakons Sohn?
GREGERS
Genau.
EKDAL
Ich habe dir beigebracht, wie man Fußball spielt.
GREGERS
Ja, das stimmt.
EKDAL
Bist du immer noch scheiße?
GREGERS
Ja.
HJALMAR
Hey, Papa, erinnerst du dich noch daran, wie er diesen Fallrückzieher versucht hat?
GREGERS
Danke, Hjalmar, du weckst gerade eine schmerzliche Erinnerung. Sie werden nie erraten, wo ich letztes Jahr war, Herr Ekdal.
EKDAL
Hä?
GREGERS
Bei unserem Sägewerk.
EKDAL
Das Sägewerk?
GREGERS
Wo Sie früher immer waren.
EKDAL
Im Wald?
GREGERS
Genau.
EKDAL
Ich habe da früher gejagt. Habe in der ersten Jagdsaison neun Wildschweine erlegt. Wie geht es dem Wald?
GREGERS
Nicht mehr viel davon übrig, um ehrlich zu sein.
EKDAL
Was meinst du, es ist nicht mehr viel davon übrig?
GREGERS
Das meiste ist abgeholzt worden.
EKDAL
Baume zu fällen war noch nie eine gute Idee. Das verstehen Leute heutzutage. Es ist aber zu spät. Er wird Vergeltung üben.
GREGERS
Wer?
EKDAL
Der Wald.
HJALMAR
Papa hat einige ziemlich merkwürdige Theorien über die Welt.
GREGERS
Hjalmar sollte dich mal hinbringen.
EKDAL
O nein. Ich werde da nie wieder hin. Das ist ein unheilverkündender Ort.
GREGERS
Aber die Jagd vermissen Sie doch sicher?
EKDAL
Die Jagd vermissen? Ich habe hier alles, was ich brauche.
GREGERS
Was meinen Sie?
EKDAL
Soll ich’s ihm sagen?
HJALMAR
Papa.
GREGERS
Was denn?
EKDAL
Komm schon, Sohn.
HJALMAR
Okay.
EKDAL
Kannst du ein Geheimnis bewahren?
GREGERS
Klar.
HJALMAR
Es ist nicht gerade legal.
EKDAL
Es schadet doch keinem?
GREGERS
Wovon sprecht ihr?
HEDVIG
Von Opas Wald.
GREGERS
Wald?
HEDVIG
Oben.
EKDAL
Es war früher ein Dachboden.
HEDVIG
Aber jetzt ist es ein Wald.
HJALMAR
Aber du darfst keinem davon erzählen. Sonst sitze ich ganz schön in der Scheiße.
EKDAL
Es hat mit ein paar Hasen angefangen. Jetzt gibt es auch ein paar Hühner und Tauben.
GREGERS
Da oben gibt es auch Tiere?
HEDVIG
Sie haben Bäume und Gras und einen kleinen Teich. Es ist wirklich wie im Wald.
GINA
Außer dass alles aus Plastik ist.
HEDVIG
Die Tiere wissen nicht, dass alles aus Plastik ist.
GINA
Ich glaube, die Hasen haben es wahrscheinlich in dem Moment rausgekriegt, wo sie versucht haben, am Gras zu knabbern.
GREGERS
Es klingt schön.
HJALMAR
Es hält Papa bei Laune.
EKDAL
Und wir haben vergessen, unseren Neuzugang zu erwähnen.
GREGERS
Ja, ich wollte eigentlich danach fragen. Die Ente.
HEDVIG
Meine Ente.
GREGERS
Sie gehört dir?
EKDAL
Keine gewöhnliche Ente.
GREGERS
Nicht?
EKDAL
Keine gekaufte Ente. Das ist eine besondere Ente.
GREGERS
Echt?
EKDAL
Siehst du es nicht?
GREGERS
Was?
EKDAL
Hat er Grütze zwischen den Ohren?
HJALMAR
Papa.
EKDAL
Es ist eine Wildente.
HEDVIG
Es ist meine Wildente. Dein Vater hat sie mir geschenkt.
GREGERS
Mein Vater?
HEDVIG
Er hat sie abgeschossen.
GREGERS
Mein Vater hat diese Ente abgeschossen?
EKDAL
Weißt du, was Enten machen, wenn sie aus dem Himmel geschossen werden, Gregers? Sie fallen ins Wasser und tauchen dann bis nach ganz unten – so tief wie nur möglich – und klammern sich an den Wasserpflanzen fest. Und sie verstecken sich da unten, warten auf ihren möglichen Tod, wollen nur nicht erwischt werden. Aber diese Ente hat ihren Meister gefunden. Der Golden Retriever deines Vaters ist ihr nachgetaucht und hat sie rausgefischt.
GREGERS
Und so habt ihr sie bekommen?
EKDAL
Nicht sofort, nein. Zuerst hat dein Vater sie nach Hause genommen und hat versucht, sich um sie zu kümmern, aber es ging ihr nicht gut, und schließlich hat er Peterson gesagt, er soll sie beseitigen.
HJALMAR
Peterson hatte Mitleid mit ihr. Hat sie Papa gegeben. Für seinen Wald.
GREGERS
Es scheint ihr ja ganz gutzugehen.
EKDAL
Auf jeden Fall. Sie wird immer dicker. Der Flügel ist fast geheilt. Ich erwarte aber nicht, dass sie wieder in der Wildnis leben können wird, ich glaube, sie hat jetzt total vergessen, wie es da draußen ist.
GREGERS
Von jetzt an nur noch Plastikbäume. Es sah ziemlich komisch aus, als Sie gestern Abend mit dieser Ente unter dem Arm aufgetaucht sind, Herr Ekdal. Ich dachte vielleicht, die ist zum Essen gedacht.
HJALMAR
Ah –
EKDAL
Was ist denn gestern Abend passiert?
HJALMAR
Nichts, Papa, nichts.
EKDAL
Was redet der da?
HJALMAR
Weißt du noch, wie du uns gestern Abend vom Restaurant nach Hause gefahren hast?
EKDAL
Daran erinnere ich mich nicht.
HJALMAR
Doch hast du.
EKDAL
Ich habe die Ente mitgebracht?
HJALMAR
Red keinen Unsinn, Papa, warum hättest du die Ente mitgebracht? Das wäre doch seltsam.
EKDAL
Also, wir haben uns gestern Abend schon gesehen?
GREGERS
Nur kurz.
EKDAL
Entschuldige. Ich hab’s vergessen. Wie merkwürdig.
EKDAL
Du darfst deiner Mutter nicht davon erzählen.
HEDVIG
Werde ich auch nicht. Versprochen.
EKDAL
Sie wird mich kastrieren, wenn sie davon was hört.
HEDVIG
Ekelig.
EKDAL
Was ist das?
HEDVIG
Ein Gewehr.
EKDAL
Was für ein Gewehr?
HEDVIG
Ein großes Gewehr?
EKDAL
Was für ein großes Gewehr?
HEDVIG
Weiß ich nicht.
EKDAL
Das ist eine Flinte.
HEDVIG
Okay.
EKDAL
Eins nach dem anderen. Die innere Weite des Laufes nennt man Kaliber. Das ist eine Kaliber 12.
HEDVIG
Okay.
EKDAL
Siehst du, dass sie zwei Läufe hat?
HEDVIG
Ja.
EKDAL
Wie heißt das wohl?
HEDVIG
Doppellauf?
EKDAL
Fast. Das ist eine doppelläufige Schrotflinte. Aber es gibt zwei Arten doppelläufige Flinten. Die Doppelflinte, mit zwei nebeneinanderliegenden Läufen, und die Bockflinte, mit zwei übereinanderliegenden Läufen. Welche ist die hier?
HEDVIG
Das ist eine Doppelflinte.
EKDAL
Genau. Verschiedene Flinten haben auch verschiedene Abzugssysteme.
HEDVIG
Abzugssysteme?
EKDAL
Hast du je von einer Vorderschaftrepetierflinte gehört?
HEDVIG
Wie in Terminator 2?
EKDAL
Die in Terminator 2 hatte eine Hebelmechanik, aber ja, du hast verstanden, worum es geht. Wie ein Gewehr neu geladen wird, nachdem ein Schuss abgefeuert wird.
HEDVIG
Was für ein Abzugssystem hat diese Flinte?
EKDAL
Das ist ein Repetiergewehr, das man nicht absetzen muss, um neu zu laden.
HEDVIG
Wieso hast du keine Vorderschaftrepetierflinte?
EKDAL
Dazu bräuchte ich einen grünen Waffenschein, statt einen gelben, und müsste einmal im Monat offizielles Schießtraining machen. Das ist mir zu viel Aufwand.
HEDVIG
Aber du warst doch früher ein Soldat?
EKDAL
Ja, früher. Aber jetzt nicht mehr.
HEDVIG
Wieso muss man mehr Training machen, wenn man eine Vorderschaftrepetierflinte haben möchte?
EKDAL
Die sind sehr leicht nachzuladen. Deshalb sind vollautomatische Waffen auch verboten. Es ist damit viel zu leicht Amok zu laufen.
HEDVIG
Also ein Massaker?
EKDAL
Genau. Wenn du mit dieser Waffe hier in ein Einkaufszentrum gehen würdest, um Amok zu laufen, könntest du nicht sehr viele Leute umbringen. Weil du immer wieder nachladen müsstet.
HEDVIG
Verstanden.
EKDAL
Also, wie gesagt, ist das ein Repetiergewehr. Man öffnet es so. Das hier ist der Verschluss, und hier tut man die Patronen rein.
HEDVIG
Die Kugeln?
EKDAL
Das sind nicht Kugeln. Das sind Schrotpatronen.
HEDVIG
Die Hülle ist aus Plastik.
EKDAL
Genau. Das ist die Patronenhülse. Innen drin sind viele kleine Kügelchen. Wie heißen die wohl?
HEDVIG
Ich weiß es nicht.
EKDAL
Schrot. Daher der Name.
HEDVIG
Oh.
EKDAL
Heutzutage wird Schrot aus Tungsten hergestellt, aber als ich jung war, haben wir noch Bleischrot benutzt, aber das ist jetzt illegal.
HEDVIG
Wieso?
EKDAL
Hast du von Bleivergiftungen gehört?
HEDVIG
Ja.
EKDAL
Blei macht dein Nervensystem kaputt.
HEDVIG
Bleistifte hatten früher auch Blei drin.
EKDAL
Nein, hatten sie nicht, das ist ein weitverbreiteter Irrtum. Die Mine in Bleistiften war schon immer aus Graphit und nicht aus Blei.
HEDVIG
Aber Herr Paris hat gesagt –
EKDAL
Herr Paris ist ein Idiot. Zieh deine Ohrenschützer an.
Sie ziehen ihre Ohrenschützer an. Jetzt müssen sie lauter sprechen, um einander hören zu können.
Und deine Schutzbrille.
Sie setzen ihre Schutzbrillen auf.
Die erste Sicherheitsregel lautet: Finger weg vom Abzug, bis die Waffe auf ein Ziel gerichtet ist und du bereit bist zu schießen. Finger weit weg vom Abzug. Richte die Waffe nach unten oder nach oben, damit du niemanden umbringst, wenn ein Schuss aus Versehen abgefeuert wird. Das ist die Sicherung. Die darfst du erst entsichern, wenn du zum Schießen bereit bist. Aber verlass dich nicht auf sie, bloß weil sie an ist. Sie ist eine mechanische Vorrichtung, und mechanische Vorrichtungen können versagen. Also nie, auch wenn die Sicherung an ist, mit der Waffe rumalbern. Nun. Das Schießen.
HEDVIG
Endlich.
EKDAL
Hab es nie eilig, eine Schusswaffe abzufeuern, Hedvig. Waffen können sehr viel Schaden anrichten. Wenn du nicht vorsichtig mit einer Waffe umgehst, kann sie unbeabsichtigte Schäden verursachen.
HEDVIG
Sorry.
EKDAL
Kein Problem. Also. Identifiziere dein Ziel. Setze die Flinte so an der Schulter an.
HEDVIG
Okay.
EKDAL
Wenn du zum Schießen bereit bist, entsicherst du die Waffe. So. Und dann drückst du so ab.
Er drückt ab.
HEDVIG
O Gott. Das ist ja heftig.
EKDAL
Möchtest du mal?
HEDVIG
Okay.
EKDAL
Ich sichere die Waffe wieder. Bitte schön.
HEDVIG
Die ist ja schwer.
EKDAL
Ja, das ist sie. Finde dein Ziel. Worauf willst du schießen?
HEDVIG
Auf die rote Büchse da drüben.
EKDAL
Gut. Setze die Waffe so an der Schulter an. Okay. Jetzt entsichern.
HEDVIG
Mach ich.
EKDAL
Nun, wenn du so weit bist, kannst du abdrücken.
GINA
Hallo.
WERLE
Hallo.
GINA
Ich habe gelesen, dass du heiraten wirst. Herzlichen Glückwunsch.
WERLE
Danke. Lange nicht gesehen.
GINA
Ich weiß. Danke, dass du gekommen bist.
WERLE
Keine Ursache. Was ist los?
GINA
Gregers wohnt gerade bei uns.
WERLE
Ich verstehe.
GINA
Was hat sich zwischen euch abgespielt?
WERLE
Er hat mit mir Schluss gemacht.
GINA
Mit dir Schluss gemacht?
WERLE
Ich weiß nicht. Wie soll ich es denn sonst beschreiben?
GINA
Also weiß er Bescheid.
WERLE
Es tut mir leid, Gina. Er sagt vielleicht gar nichts.
GINA
Meinst du?
WERLE
Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie wirklich verstanden.
GINA
Mach das Licht bitte an, Schatz.
HEDVIG
Mir geht’s gut.
GINA
Wie kannst du die Buchstaben bei dem Licht überhaupt sehen?
HEDVIG
Es ist hell genug.
GINA
Hjalmar?
HJALMAR
Hm?
GINA
Kannst du mal mit ihr reden?
HJALMAR
Ich schaue fern.
GINA
Sie liest im Dunklen.
HJALMAR
Sieht doch okay aus. Alles okay, Schatz?
HEDVIG
Könnt ihr beide still sein? Mama, ich brauche für den Freitagsausflug Geld.
GINA
Wann?
HEDVIG
Ähm? Am Freitag.
GINA
Danke, Schlaumeier. An welchem Freitag?
HEDVIG
Diesen Freitag.
GINA
Ich denke schon. Hast du die Rechnung von der Druckerei irgendwo gesehen? Hjalmar?
HJALMAR
Was?
GINA
Die Rechnung. Von der Druckerei.
HJALMAR
Die ist doch im Aktenschrank.
GINA
Da ist sie nicht.
HJALMAR
Ich habe sie in den Aktenschrank getan.
GINA
Hier ist die Mappe mit den Rechnungen. Sie ist nicht dabei.
HJALMAR
Lass mich mal gucken.
Er schaut in die Mappe rein.
Hier.
GINA
Oh. Gregors Sachen sind weg.
HJALMAR
Ja, er ist in ein Hotel gezogen. Er hat uns diese Schachtel Pralinen da gelassen.
GINA
Du hast sie ja alle schon gegessen. Es sind nur noch die Beschissenen übrig.
HJALMAR
Das sind keine Beschissenen.
GINA
Klar. Was guckst du?
HJALMAR
Einen Tierfilm.
EKDAL
Ach so? Worüber?
HJALMAR
Wale.
EKDAL
Echt?
HJALMAR
Die US-Armee tötet Wale.
EKDAL
Wie?
HJALMAR
Siebzehn Wale sind in den Bahamas gestrandet. Die US-Armee hat da Unterwasser-Sonartests gemacht. Die Wale hatten Hirnblutungen, waren desorientiert und sind an einem Strand gestorben.
HEDVIG
O Gott.
GINA
Hjalmar.
HJALMAR
Was?
GINA
Sie versucht zu arbeiten.
HJALMAR
Auf den Kanarischen Inseln ist es später auch passiert.
HEDVIG
Das ist ja schrecklich.
GINA
Wie kommst du mit deiner Hausarbeit voran, Schatz?
HEDVIG
Ich weiß nicht. Das Buch ist superlangweilig. Meine Aufgabe ist es quasi, Gründe zu erfinden, warum das Buch interessant ist, damit es dem Lehrer nicht peinlich sein muss, dass er das Buch vor vierzig Jahren toll fand.
HJALMAR
Nur noch ein Jahr.
HEDVIG
Was?
HJALMAR
Nur noch ein Jahr, und dann musst du keinem mehr vorgaukeln, dass dich was interessiert.
HEDVIG
Echt?
HJALMAR
Außer wenn du kein Interesse an Jura oder Medizin hast, dann musst du halt noch fünf Jahre lang so tun als ob.
HEDVIG
Wer sagt, dass ich Jura oder Medizin studieren werde?
HJALMAR
Was?
HEDVIG
Ich hab mir überlegt, ich gehe vielleicht auf die Schauspielschule.
HJALMAR
Was zur Hölle redest du da?
HEDVIG
Ich habe über meine Interessen nachgedacht, wie die Karriereberaterin an der Schule uns ja rät, und dabei ist mir aufgegangen, dass ich meine Kreativität ausleben sollte.
HJALMAR
Verdammt nochmal, Gina. Sag doch mal was.
GINA
Sie nimmt dich auf den Arm.
HJALMAR
Tut sie das?
HEDVIG
Ja, das tut sie. Du bist geistesgestört.
HJALMAR
Das war überzeugend. Vielleicht solltest du wirklich auf die Schauspielschule.
HEDVIG
Wirklich?
HJALMAR
Nein.
EKDAL
Ich war früher Schauspieler.
HEDVIG
Nein, das warst du nicht.
EKDAL
Doch war ich. In der zehnten Klasse. Faust. Ich habe Gretchen gespielt.
HEDVIG
Du warst sicher schrecklich.
EKDAL
Wieso sagst du das?
HJALMAR
Weil du ein Mann bist.
HEDVIG
Ich weiß immer, wenn du lügst.
EKDAL
Aber vielleicht sind das ja Köderlügen?
HEDVIG
Köderlügen?
EKDAL
Schlechte Lügen, um dich davon zu überzeugen, dass du weißt, wann ich lüge, damit ich mit unheilvolleren Lügen davonkomme.
HEDVIG
Echt?
EKDAL
Das wirst du nie wissen.
HJALMAR
Möchte jemand Kniffel spielen?
ALLE
Nein.
EKDAL
Nein.
HEDVIG
Warst du je bei einer Schulaufführung dabei?
GINA
In der Grundschule habe ich mal ein Monster in Wo die wilden Kerle wohnen gespielt.
HJALMAR
Echt?
GINA
Siehst du? Man lernt jeden Tag was Neues.
HJALMAR
Wir sind schon seit sechzehn Jahren verheiratet und überraschen einander immer noch.
HEDVIG
Ich glaub nicht, dass ich heiraten will.
GINA
Wieso nicht?
HEDVIG
Ich weiß nicht. Die meisten Leute lassen sich doch eh scheiden.
GINA
Wir sind nicht geschieden.
HEDVIG
Die Eltern von Elin haben sich scheiden lassen. Jedes zweite Wochenende muss sie bei ihrem Vater wohnen, und der lebt am Ende der Welt. Im Winter braucht sie ungefähr drei Stunden, um dahin zu kommen. Sie geht deshalb zum Psychologen. Sie wurde mit Depression diagnostiziert. Ich heirate auf gar keinen Fall.
HJALMAR
Musst du auch nicht.
HEDVIG
Wieso habt ihr es denn gemacht?
GINA
Weil wir wollten. Wir haben uns geliebt.
HJALMAR
Liebe, süße Liebe.
HEDVIG
War es nicht einfach, weil Mama mit mir schwanger war?
HJALMAR
Was? Wer hat dir das gesagt?
HEDVIG
Opa.
HJALMAR
Papa.
EKDAL
War es nicht so?
HJALMAR
Trotzdem. Ziemlich unromantisch.
GINA
Wir hätten auch sonst geheiratet, Hedvig, du hast alles einfach ein bisschen beschleunigt.
HJALMAR
Und denk nicht, dass du unerwünscht warst, oder so was.
GINA
Wir haben uns sehr gefreut.
HJALMAR
Das Beste in unserem Leben.
HEDVIG
Okay, Leute, jetzt wird’s peinlich.
HJALMAR
Hedvig … Kniffel?
GINA
Lass sie in Ruhe, Hjalmar.
HJALMAR
Mir ist langweilig. Der Walfilm war doch nicht so interessant. Die Strandungen waren der Höhepunkt.
HEDVIG
Mama?
GINA
Ja?
HEDVIG
Wie zum Teufel konntest du dich in Papa verlieben?
HJALMAR
Weil ich wie John Stamos aussehe.
GINA
Du siehst überhaupt nicht wie John Stamos aus.
HEDVIG
Wer ist John Stamos?
HJALMAR
Der Schlagzeuger der Beach Boys.
GINA
Er war nicht der Schlagzeuger der Beach Boys.
HJALMAR
Er war von 85 bis 92 der Schlagzeuger der Beach Boys. Er war auch in Full House.
HEDVIG
Was ist Full House?
HJALMAR
Hast du einen Freund?
HEDVIG
Nein, aber wenn schon?
HJALMAR
Ich würde dir sagen, du solltest ihn zum Abendessen einladen.
HEDVIG
Echt?
HJALMAR
Absolut. Dann würde ich ihn am Kragen packen und ihm sagen, dass er seine Finger von dir lassen soll.
HEDVIG
Okay, dann sage ich dir auf gar keinen Fall Bescheid, wenn ich einen Freund habe.
HJALMAR
Ich werde es rauskriegen.
HEDVIG
Wie?
HJALMAR
Ich werde deine Telefongespräche abhören.
HEDVIG
Ähm. Nein, das wirst du nicht.
HJALMAR
Ähm doch, werde ich. Ich werde deine Handyrechnung anschauen, alle Handynummern da drauf anrufen, und wenn ein Junge abnimmt, dann sage ich ihm, dass ich ihn überfahren werde, wenn er nicht aufhört, anzurufen.
HEDVIG
Du bist ein Psychopath.
HJALMAR
Das kannst du gerne glauben.
GINA
Denkst du schon an einen?
HEDVIG
Was?
GINA
Schwärmst du für jemanden?
HEDVIG/HJALMAR
Das sag ich dir nicht.
GINA
Wieso nicht?
HEDVIG/HJALMAR
Werde ich einfach nicht.
HJALMAR
Hast du ihn schon geküsst?
HEDVIG/HJALMAR
Das sag ich dir nicht.
HJALMAR
Wieso nicht?
HEDVIG/HJALMAR
Werde ich einfach nicht.
HEDVIG
Sehr witzig.
GINA
Ich glaube, es wäre schön, wenn du einen Freund hättest, Hedvig.
HJALMAR
Ich nicht.
GINA
Wir könnten ihn zum Abendessen einladen. Zusammen Filme schauen. Du könntest mit ihm über Sport reden, Hjalmar.
HJALMAR
Ich mag keinen Sport.
GINA
Autos.
HJALMAR
Ich mag keine Autos. Außer wenn ich damit Hedvigs Freund überfahre.
GINA
Dann solltest du dir ein paar Gesprächsthemen einfallen lassen.
HJALMAR
Oder Hedvig könnte das mit dem Freund einfach lassen.
Hjalmars Handy klingelt.
Wo ist mein Handy?
HEDVIG
Ich benutze es gerade als Duden.
HJALMAR
Im Regal steht ein echter Duden. Gib mal her.
HEDVIG
Mach mal eine Rolle rückwärts.
Er nimmt ab.
HJALMAR
Hey. Wo bist du? Nein, wir haben schon gegessen.
Okay. Klingt gut. Ja. Bis bald.
Er legt auf.
GINA
War das Gregers?
HJALMAR
Ja. Ich gehe mit ihm in die Kneipe.
GINA
Was jetzt?
HJALMAR
Das ist doch okay, oder?
GINA
Ich dachte, du wolltest noch an dem Porträt arbeiten?
HJALMAR
Ich schau mir die Bilder später an.
GINA
Wieso kann er nicht hier einfach herkommen und hier was mit dir trinken?
HJALMAR
Ich weiß nicht. Aber es ist doch manchmal auch schön, unter vier Augen zu quatschen.
GINA
Ist irgendwas?
HJALMAR
Glaub ich nicht.
GINA
Wieso kannst du dich dann nicht einfach morgen mit ihm treffen?
HJALMAR
Er wird nicht mehr lange hier sein.
GINA
Hjalmar, könntest du bitte –
HJALMAR
Warum bist du gerade so komisch?
GINA
Okay. Dann. Bleib nicht zu lange aus.
HJALMAR
Ich bleibe nicht lange aus. Liebe dich. Hey Versagerin. Viel Glück mit der Hausarbeit.
HJALMAR
Hast du jemals daran gedacht zu heiraten?
GREGERS
Nicht wirklich. Ich habe mich eine Weile lang gefragt, ob ich vielleicht schwul bin.
HJALMAR
Echt?
GREGERS
Aber anscheinend muss man sich zu Männern hingezogen fühlen, um schwul zu sein.
HJALMAR
Ja, das ist schon ein wichtiges Kriterium.
GREGERS
Ja, also nicht schwul. Aber neulich ist mir aufgefallen, dass ich immer mit gutaussehenden, aber total seelenlosen Frauen ausgehe.
HJALMAR
Ach ja?
GREGERS
Sie erweisen sich im Endeffekt immer als viel weniger interessant, als sie am Anfang zu sein scheinen. Bei der Trennung sind wir beide immer sehr gefasst. Wir teilen unsere Habseligkeiten gerecht auf. Wir sind sehr höflich. Sogar nett. Wir versprechen, dass wir Freunde bleiben werden, rufen einander in den ersten paar Monaten noch regelmäßig an, bis wir entdecken, dass wir gar nichts gemeinsam haben.
HJALMAR
Hoppla.
GREGERS
Ich glaube, ich war mal verliebt. Es hat mich total überrumpelt, weil sie nicht sehr schön war. Nicht hässlich, aber auf jeden Fall nicht hübsch. Mir war es immer ein bisschen peinlich, wenn ich meinen Kollegen ihr Bild gezeigt habe. Wenn ihr Gesicht auf einem Foto eingefroren war, sah sie ein bisschen unbeholfen aus, außer Proportion. Aber wenn sie sich bewegt hat, war es total anders. Hypnotisierend. Ich musste ständig an sie denken. Während des Monats, in dem ich mit ihr zusammen war, habe ich in der Arbeit nichts auf die Reihe bekommen, hab kaum was gegessen, musste oft mitten im Date aufs Klo, um mich zu übergeben, weil ich so unglaublich nervös war. Ich kann sie immer noch riechen. Sie wurde schwanger. Ich hatte Angst. Ich hab sie verlassen.
HJALMAR
Fuck.
GREGERS
Ja.
HJALMAR
Hast du sie seitdem gesehen?
GREGERS
Nein. Sie hat mich einen Monat lang jeden Tag angerufen. Ich habe nie abgenommen. Schließlich hat sie aufgegeben.
HJALMAR
Hat sie das Baby bekommen?
GREGERS
Nein. Sie hat mir einen Brief geschickt, in dem stand, dass ich mir keine Sorgen machen muss, sie hätte es abgetrieben und würde es mir nicht nachtragen, und wenn ich je Lust hätte, mit ihr was zu trinken und alles zu besprechen, sollte ich mich einfach bei ihr melden. Sie war etwas ganz Besonderes. Verdammt nochmal.
…
Wie hast du denn Gina kennengelernt?
HJALMAR
Ach. Das war eine interessante Zeit. Es war kurz nachdem Papa ins Gefängnis gekommen ist. Ich war völlig am Boden. Es war ständig in den Nachrichten. Wir waren bankrott. Ich hatte keinen auf der Welt, hab jeden letzten Cent meines Bafögs versoffen, bin immer wieder durchgefallen und wurde exmatrikuliert. Wusstest du, dass ich damals in einer Wohnung, die deinem Vater gehörte, leben durfte? Und einmal die Woche kam eine Putzfrau. Jeden Dienstagmorgen war es glaube ich. Und eines Morgens war die Putzfrau plötzlich Gina. Ich sollte eigentlich gar nicht da sein. Dein Vater hatte mir gesagt, ich sollte spätestens um acht Uhr raus, damit sie putzen konnten, aber ich war besoffen und ohnmächtig und war erst ein paar Stunden früher ins Bett gegangen. Sie hat mich mit einem Schrei geweckt, als sie ins Schlafzimmer kam. Es war wie ein merkwürdiger feuchter Traum. Eigentlich sollte es ja eine andere Frau sein, eine ältere polnische Dame mit einem Muttermal auf der Lippe. Und plötzlich hatte die sich in eine, ich weiß nicht, Göttin verwandelt, die mit einem Staubsauger in der Hand am Ende meines Bettes stand. Ich habe sie eingeladen, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen. Sie sagte nein. Die Woche darauf hat sie auch nein gesagt, und die nächsten fünf Wochen auch. Aber schließlich hat die Hartnäckigkeit gesiegt. Sie war schüchtern. Sie hatte noch nie eine ernsthafte Beziehung gehabt, obwohl sie älter war als ich. Ich meine damit nicht, dass sie eine Jungfrau war, du Arschloch, aber ich musste sie schon nach allen Regeln der Kunst umwerben. Ich wusste, dass ich eine einmalige Frau gefunden hatte, und wusste, dass ich mich zusammenraffen musste, um sie für mich zu gewinnen, und langsam, aber sicher hat sie mir auch meine Selbstachtung wiedergegeben. Hedvig kam dann ungefähr ein Jahr später. Ein paar Jahre später wurde Papa aus dem Gefängnis entlassen, und wir haben eine kleine Familie aufgebaut. Wir haben eigentlich keine Freunde, und das bereue ich auch, aber das Fotostudio hält uns auf Trab. Die Arbeit macht nicht so viel Spaß. Hochzeiten. Geburtstage. Porträts. Ab und zu machen wir mal einen Fotoshooting für eine Kochzeitschrift. Spannender wird es nicht. Ich hab vor einer Weile gedacht, ich könnte wieder was Eigenes machen. Eine Ausstellung. Aber es hat nicht geklappt. Die Privatschule, auf die Hedvig geht, wird jedes Jahr teurer, und wir müssen jeden Cent zweimal umdrehen, um uns die Schulgebühren leisten zu können. Gina meint, es sei ein Fehler gewesen, sie da hinzuschicken, aber Hedvigs Noten sind super. Sie ist ein Genie. Ich weiß, ich sollte das als Vater nicht sagen. Aber sie ist ein Genie. Weißt du, als ich letztes Jahr bei einer Preisverleihung in der Aula von Hedvigs Schule saß und gehört habe, wie sie ihren Namen gerufen haben, war mir plötzlich klar, dass ich die ganzen letzten Jahre, also seit dem Prozess und seitdem Papa ins Gefängnis kam, immer zusammengezuckt bin, wenn ich den Namen Ekdal gehört habe. Aber dieses Mal nicht. Hedvig Ekdal. Sie hat mich wieder darauf stolz gemacht, ein Ekdal zu sein, das erste Mal seit achtzehn Jahren. Versteh mich nicht falsch. Ich bin meinem Vater nicht mehr böse. Er hat einen Fehler gemacht und hat dafür gebüßt. Es ist einfach gut, wieder auf irgendwas stolz sein zu können. Ab und zu bin ich enttäuscht, dass ich es zu nichts gebracht habe. Als ich siebzehn war, war ich ganz sicher, dass ich erfolgreich werden würde. Und es erschüttert mich immer noch, wenn ich feststelle, dass ich nicht erfolgreich bin. Aber wenn ich mich so fühle, dann denke ich an Hedvig, und was sie alles in ihrem Leben vollbringen wird, und es geht mir sofort viel besser.
GREGERS
Hjalmar.
HJALMAR
Noch ein Bier?
GREGERS
Nein, danke. Hjalmar.
HJALMAR
Ich hol mir noch eins. Ich trinke zu viel. Gina möchte, dass ich weniger trinke, damit dieser Bauch weggeht, aber ich schaffe es irgendwie nicht.
GREGERS
Hjalmar.
HJALMAR
Ja?
GREGERS
Ich muss dir was sagen.
HJALMAR
Ach ja?
GINA
Wo warst du so lange?
HJALMAR
Ich bin spazieren gegangen.
GINA
Machst du die Druckfahnen noch fertig?
HJALMAR
Eher nicht.
GINA
Mensch, Hjalmar.
HEDVIG
Papa, kannst du noch Korrektur lesen?
HJALMAR
Gerne. Leg die Arbeit auf den Küchentisch.
HEDVIG
Kannst du es nicht sofort machen?
GINA
Wir hatten ihnen gesagt, wir würden sie heute schicken.
HJALMAR
Sie müssen halt abwarten.
GINA
Was ist denn?
HJALMAR
Nichts.
GINA
Hjalmar, was ist los?
HJALMAR
Hedvig, könntest du uns bitte kurz allein lassen?
HEDVIG
Warum?
HJALMAR
Ich muss mit deiner Mutter sprechen.
HEDVIG
Worüber?
HJALMAR
Hedvig.
HEDVIG
Wieso kann ich nicht dableiben. Geht es um mich?
HJALMAR
Nein.
HEDVIG
Werdet ihr euch streiten?
HJALMAR
Hedvig, kannst du uns bitte einfach kurz alleine lassen.
GINA
Geh schon, Hedvig.
HEDVIG
Fuck.
GINA
Hedvig.
HEDVIG
Was? Ich gehe ja schon.
GINA
Nimm die Ente mit.
HJALMAR
Ich wünschte, das verdammte Ding wäre tot.
HEDVIG
Was?
HJALMAR
Tu mir einen Gefallen, dreh der Ente den Hals um.
HEDVIG
Wieso bist du so gemein?
GINA
Hedvig, geh einfach mal.
GREGERS
Was ist los?
HEDVIG
Wir wurden rausgeschickt. Mama und Papa streiten sich.
GREGERS
Was esst ihr?
EKDAL
Kaninchen.
GREGERS
Ach so.
EKDAL
Habe es heute Nachmittag erlegt.
GREGERS
Ist das eine der –
EKDAL
Erinnerst du dich noch an das männliche Kaninchen, das sich immer wieder an die weiblichen Kaninchen rangemacht hat?
GREGERS
Ja.
EKDAL
Das ist es.
GREGERS
Mein Gott.
EKDAL
Es gab zu viele männliche Kaninchen. Es bringt nichts mehr, als einen Jungen zu haben. Das ist mehr als ausreichend für die Zucht.
GREGERS
Also esst ihr gerade ein Kaninchen, das heute Nachmittag noch gelebt hat.
EKDAL
Ja. Ich hoffe, ich hab es geschafft, alle Schrotkugeln zu entfernen.
GREGERS
Du hast es erschossen? Auf dem Dachboden?
EKDAL
Genau. Es hat sich zur Wehr gesetzt. Wusste, dass ich komme. Hat ein bisschen rumgetanzt.
GREGERS
Wie kommt deine Hausarbeit voran?
HEDVIG
Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht konzentrieren.
GREGERS
Wieso nicht?
HEDVIG
Ich weiß, worüber sie sich streiten.
GREGERS
Echt?
HEDVIG
Es geht um mich.
GREGERS
Was meinst du damit?
HEDVIG
Ich werde blind.
GREGERS
Was?
HEDVIG
Es wurden Tests gemacht. Mama und Papa wissen es nicht, aber ich habe die Untersuchungsergebnisse in ihrem Nachttisch gefunden.
GREGERS
Welche Ergebnisse?
HEDVIG
Von den Tests. Da stand Makuladegeneration. Ich habe im Internet nachgeschaut, und das bedeutet, dass ich blind werde. Es gibt eine Behandlung, aber sie ist sehr teuer, und sie können sie sich nicht leisten, und deshalb streiten sie sich gerade.
GREGERS
Du wirst blind.
HEDVIG
Ja.
GREGERS
O nein.
HJALMAR
Stimmt es?
GINA
Hjalmar.
HJALMAR
Sag’s mir.
GINA
Das ist jetzt schon achtzehn Jahre her.
HJALMAR
Hast du mit ihm geschlafen?
GINA
Lass das bitte.
HJALMAR
Beantworte meine Frage, Gina.
GINA
Ja.
HJALMAR
Bevor du mich kennengelernt hast?
GINA
Ja.
HJALMAR
Wieso hast du mir nichts davon gesagt?
GINA
Weil ich nicht dachte, dass es von Bedeutung war.
HJALMAR
Wie kommst du darauf?
GINA
Du hast mir auch nicht alles über deine Vergangenheit erzählt.
HJALMAR
Doch habe ich. Ich dachte, Gregers irrt sich, weil wir immer so ehrlich miteinander waren. Ich dachte, wir seien immer so ehrlich miteinander gewesen.
GINA
Waren wir auch.
HJALMAR
Es war peinlich. Etwas aus der Vergangenheit meiner eigenen Frau nicht zu wissen. Von jemand anderem davon zu erfahren.
GINA
Es tut mir leid.
HJALMAR
Du hattest eine Affäre mit einem verheirateten Mann.
GINA
Ihre Beziehung war eigentlich schon vorbei.
HJALMAR
Und, was, habt ihr es in ihrem Haus getrieben, während sie zu Hause war?
GINA
Meistens hat er ein Hotelzimmer gebucht.
HJALMAR
Jesus.
GINA
Können wir damit aufhören.
HJALMAR
Nein. Warum hast du mit ihm Schluss gemacht?
GINA
Seine Frau hat’s rausgefunden. Ihr ging es gerade nicht gut, und er hatte Angst davor, was sie vielleicht machen würde.
HJALMAR
Also hat er dich als Putzfrau angestellt.
GINA
Ja.
HJALMAR
Und dann sind wir zusammengekommen.
GINA
Ja.
HJALMAR
Gregers scheint zu denken, dass du seinen Vater danach noch mal gesehen hast.
Keine Antwort.
Hast du ihn noch mal gesehen?
Gina weint.
Wann?
GINA
Als du weg warst.
HJALMAR
Okay.
GINA
Ich war in ihn verliebt.
HJALMAR
Okay.
GINA
Es gab keine Auflösung. Er hat die Beziehung so abrupt abgebrochen. Hat sich geweigert, sich mit mir zu treffen, hat nicht abgenommen, wenn ich ihn angerufen habe. Ich musste ihn sehen.
HJALMAR
Aber warst du zu dem Zeitpunkt nicht schon in mich verliebt?
GINA
Nicht wirklich.
HJALMAR
Nicht wirklich?
GINA
Nein.
HJALMAR
Verdammte Scheiße.
GINA
Es tut mir leid. Jetzt bin ich aber in dich verliebt.
HJALMAR
Ich kann’s nicht fassen.
GINA
Es tut mir sehr leid.
HJALMAR
Gregers’ Mutter hat ihn angerufen, bevor sie sich umgebracht hat. Sie hat ihm von eurer Beziehung erzählt. Wieso dachtest du, ich würde das nie rausfinden?
GINA
Hjalmar –
HJALMAR
Du hast alles versaut, Gina.
GINA
Sag das bitte nicht.
HJALMAR
Und als sie sich dann umgebracht hatte, wollte er nichts mehr mit dir zu tun haben, und ich war die zweitbeste Möglichkeit?
GINA
Nein, Hjalmar.
HJALMAR
Ich habe sein Geld angenommen. Ich bin ein Idiot. Ein verdammter Idiot.
GINA
Nein, bist du nicht.
HJALMAR
Ich dachte, du seist in mich verliebt. Aber ich war bloß –
…
Gott
…
O Gott.
GINA
Hjalmar.
HJALMAR
Sag mir jetzt bitte nicht, es war, weil du schon schwanger warst.
GINA
Hör auf, Hjalmar.
HJALMAR
Gina. War es, weil du schon schwanger warst?
GINA
Hör damit auf. Ich flehe dich an.
HJALMAR
Beantworte die Frage.
GINA
Hjalmar.
HJALMAR
Beantworte die Frage.
GINA
Bitte.
HJALMAR
Beantworte die verdammte Frage.
GINA
Ja. Ich war schwanger.
HJALMAR
Mit Hedvig?
GINA
Ja.
HJALMAR
Also ist sie nicht …
GINA
Nein.
…
HJALMAR
Lass mich los. Ich muss gehen.
GINA
Hjalmar.
HJALMAR
Ich muss gehen.
GINA
Hjalmar.
GREGERS
Wo ist Hjalmar?
GINA
Ich weiß es nicht.
GREGERS
Was ist passiert?
GINA
Was denn wohl?
GREGERS
Das mit Hedvig wusste ich nicht.
GINA
Herzlichen Glückwunsch. Du hast deine Rache bekommen.
GREGERS
Das war nicht mein Ziel.
GINA
Was weißt du schon davon, wie es ist, verheiratet zu sein?
GREGERS
Ich habe schon mehrere Ehen erlebt, die auf Lügen basierten.
GINA
Verschwinde von hier. Raus aus meinem Haus.
GREGERS
Okay.
GINA
Du widerst mich an.
GREGERS
Das mit Hedvig tut mir leid, aber es ist nicht meine Schuld. Du hättest ihm schon vor ganz langer Zeit die Wahrheit erzählen können.
GINA
Wage es ja nicht, Hedvig davon zu erzählen.
GREGERS
Was? Du wirst einfach weiter lügen?
GINA
Verschwinde. Verpiss dich. Raus aus meinem Haus. Halte dich aus meinem beschissenen Leben raus.
WERLE
Kann ich dir nicht wenigstens einen Kaffee holen?
HJALMAR
Ich will keinen Kaffee.
WERLE
Setz dich mal kurz hin.
HJALMAR
Nein.
WERLE
Es tut mir leid, Hjalmar. Von dem mit Hedvig hatte ich keine Ahnung. Das ist mir auch alles neu.
HJALMAR
Ich habe kein Interesse, es mit dir zu diskutieren. Ich bin nur gekommen, um die Rechnungen zu begleichen.
WERLE
Ach komm doch, Hjalmar.
HJALMAR
Erstens möchte ich, dass du dich von mir und meinem Vater fernhältst.
WERLE
Ich verstehe, dass dich das trifft.
HJALMAR
Zweitens, das Geld. Ich werde alles zurückzahlen. Mit zehn Prozent Zinsen.
WERLE
Wir hatten doch vereinbart, dass es ein zinsloses Darlehen sein würde.
HJALMAR
Zehn Prozent.
WERLE
Geh doch nach Hause und denk noch mal drüber nach.
HJALMAR
Ich gehe nicht nach Hause.
WERLE
Ich denke, das solltest du.
HJALMAR
Wer ist die Frau in dem Büro da vorne?
WERLE
Das ist meine Sekretärin.
HJALMAR
Sie sieht aus wie deine Verlobte.
WERLE
Sie ist meine Verlobte.
HJALMAR
Ist das nicht etwas klischeehaft?
WERLE
Ich bin noch einer von der alten Garde.
HJALMAR
Du hast mein Leben zerstört.
WERLE
Hjalmar.
HJALMAR
Du hast das Leben von meinem Vater zerstört, und jetzt hast du auch meins zerstört.
WERLE
Hjalmar, geh einfach nach Hause. Tu so, als ob nichts passiert ist. Du wirst keinen Ärger mit mir haben.
HJALMAR
Fick dich.
WERLE
Oh. Hallo. Ich suche die Marketingabteilung.
EKDAL
Das hier ist die Buchhaltungsabteilung.
WERLE
Echt? Bin ich auf der falschen Etage?
EKDAL
Marketing ist im fünften Stock.
WERLE
Und wo bin ich?
EKDAL
Im vierten Stock.
WERLE
Ich dachte, Marketing sei im vierten Stock.
EKDAL
Nein. Buchhaltung. Und das Fitnessstudio.
WERLE
Da gehe ich nie hin.
EKDAL
Nein.
WERLE
Stinkt.
EKDAL
Ha. Ja. Du solltest dem mal nachgehen.
WERLE
Mach ich. Ich bin mir sicher, dass Marketing beim letzten Mal hier war.
EKDAL
Die Abteilung ist schon vor fünf Jahren umgezogen.
WERLE
Oh. Und wie läuft die Buchhaltung?
EKDAL
Weiß ich nicht. Ich bin nicht in der Buchhaltung.
WERLE
Nicht?
EKDAL
Nein.
WERLE
Wieso bist du denn hier?
EKDAL
Weil man mir ein Büro hier eingeteilt hat, als ich zurückgekommen bin.
WERLE
Ach. Gut. Ja.
EKDAL
Die denken auch alle, ich sei ein Buchhalter. Was ja ziemlich lustig ist, da ich kein gutes Händchen für Zahlen habe.
WERLE
Stimmt, ich erinnere mich.
EKDAL
Echt?
WERLE
Ja.
EKDAL
Du erinnerst dich daran? Als wir nur zu zweit da waren und unsere eigene Buchhaltung geführt haben.
WERLE
Genau.
EKDAL
Und du alles mit einem roten Stift korrigiert hast und man das Papier vor lauter Korrekturen gar nicht mehr sehen konnte. Gott, ich war ein hoffnungsloser Fall.
WERLE
Du hattest andere Talente.
EKDAL
Ich bin mir nicht sicher, was für welche.
…
WERLE
Ekdal.
EKDAL
Ja?
WERLE
Es tut mir leid.
EKDAL
Hä?
WERLE
Es tut mir alles sehr leid.
EKDAL
Was tut dir leid?
WERLE
Es tut mir leid, dass es damals so ausgegangen ist.
EKDAL
Hä? Es ist doch alles ganz gut geworden.
WERLE
Echt?
EKDAL
Ich habe Hjalmar. Ich habe Hedvig. Ich habe Gina. Ich habe die Ente.
WERLE
Wie geht es der Ente?
EKDAL
Super. Der Flügel ist fast total geheilt.
WERLE
Ja, Peterson hat mir gesagt, dass er sie dir gegeben hat.
EKDAL
Das war sehr nett von ihm.
WERLE
Eine verdammt kräftige Ente.
EKDAL
Eine Meisterente. Ja, es läuft alles ganz gut. Es hätte nicht besser laufen können.
WERLE
Das ist ja gut.
EKDAL
Und was ist mit dir?
WERLE
Ich? Ich heirate am Sonntag.
EKDAL
Echt?
WERLE
Wusstest du das nicht?
EKDAL
Nein, glaub nicht, nein.
WERLE
Ach. Es stand schon mehrmals in der Zeitung.
EKDAL
Die lese ich nicht.
WERLE
Klar.
EKDAL
Wer ist sie?
WERLE
Meine Sekretärin.
EKDAL
Boah. Gut gemacht.
WERLE
Danke.
EKDAL
Ist sie jung?
WERLE
Achtundzwanzig.
EKDAL
Boah. Du Glückspilz. Wusstest du, dass dein Sohn die ganze Woche bei uns war?
WERLE
Ja. Tut mir leid.
EKDAL
Er ist ganz in Ordnung.
WERLE
Ist jetzt alles in Ordnung bei euch?
EKDAL
Keine Ahnung. Ich mische mich nicht in fremde Angelegenheiten ein.
WERLE
Das ist wahrscheinlich eine gute Richtlinie.
EKDAL
Hör mal zu, wie wir hier quatschen. Wir sollten aufpassen. Jemand könnte uns zusammen sehen.
WERLE
Ekdal, wir müssen nicht so –
EKDAL
Nein, nein. Das ist besser so.
WERLE
Ekdal.
EKDAL
Ja?
WERLE
Ich habe gelogen, als ich gesagt habe, ich sei zufällig hier. Ich weiß schon, wo meine eigene Marketingabteilung ist.
EKDAL
Ja, das fand ich schon ein bisschen komisch.
WERLE
Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.
HEDVIG
Haben Sie mal Feuer?
WERLE
Wieso?
HEDVIG
Könnte ich ihr Feuerzeug kurz haben?
WERLE
Weiß deine Mutter, dass du rauchst?
HEDVIG
Nein.
WERLE
Du solltest damit aufhören, solange es noch geht.
HEDVIG
Ich weiß.
Er zündet ihre Zigarette an.
Verdienen Sie Ihr Geld damit, dass Sie Bäume fällen?
WERLE
Unter anderem.
HEDVIG
Ist das nicht schlecht für die Umwelt?
WERLE
Meine Firma macht auch Sachen, die gut sind für die Umwelt.
HEDVIG
Mein Opa hat früher das Geschäft mit Ihnen geleitet.
WERLE
Ja.
HEDVIG
Und dann ist er ins Gefängnis gegangen.
WERLE
Ja.
Er nimmt einen Umschlag raus.
Ich habe dir was mitgebracht.
HEDVIG
Was ist es denn?
WERLE
Du hast doch am Sonntag Geburtstag?
Sie nimmt den Umschlag.
HEDVIG
Was ist es denn?
WERLE
Öffne doch den Umschlag.
…
HEDVIG
Heiraten Sie am Sonntag?
WERLE
Ja.
HEDVIG
Warum?
WERLE
Warum nicht?
HEDVIG
Sie sind ziemlich alt. Werden Sie nicht bald sterben?
WERLE
Ich habe vielleicht noch ein paar gute Jahre vor mir.
HEDVIG
Aber Sie werden viel früher als Ihre Frau sterben.
WERLE
Wahrscheinlich.
HEDVIG
Ist es nicht gemein, sie zu heiraten? Sie wird Sie nach Ihrem Tod vermissen.
WERLE
Du hast schon recht. Es ist ziemlich egoistisch.
HEDVIG
Also warum?
WERLE
Na ja, ich bin in den ganzen Jahren, seitdem meine Frau gestorben ist, sehr einsam gewesen.
HEDVIG
Wann ist sie gestorben?
WERLE
Wie alt bist du?
HEDVIG
Ich werde sechzehn.
WERLE
Also nicht lange vor deiner Geburt.
HEDVIG
Vermissen Sie sie?
WERLE
Ja.
HEDVIG
Wieso heiraten Sie denn eine andere Frau?
WERLE
Weil ich jetzt schon seit Jahren keine, ich weiß nicht, Zweisamkeit gehabt habe.
HEDVIG
Meinen Sie Sex?
WERLE
Wie bitte?
HEDVIG
Ist okay. Ich hatte schon Sex.
WERLE
Wirklich?
HEDVIG
Natürlich.
WERLE
Klar. Ja. Das ist Teil davon. Sex.
HEDVIG
Ich mag Sex nicht wirklich.
WERLE
Du wirst ihn noch mögen.
HEDVIG
Werden Sie noch Kinder haben?
WERLE
Nein, ich glaube nicht.
HEDVIG
Wieso? Hatten Sie eine Vasektomie?
WERLE
Nein. Ich hatte keine Vasektomie. Aber ich glaube nicht, dass wir Kinder haben werden.
HEDVIG
Mein Vater hatte eine Vasektomie.
WERLE
Echt?
HEDVIG
Ja. Sie konnten sich nach mir kein weiteres Kind leisten.
WERLE
Ach so.
HEDVIG
Sie heiraten an meinem Geburtstag.
WERLE
Ja.
HEDVIG
Dann wird ihr Hochzeitstag immer an meinem Geburtstag sein.
WERLE
Ja.
HEDVIG
Ich werde jetzt immer an meinem Geburtstag an Sie und Ihre Frau denken.
WERLE
Wirst du das?
HEDVIG
Vielleicht. Ich muss los.
WERLE
Okay.
HEDVIG
Meine Mutter weiß nicht, dass ich hier bin. Opa hat gesagt, ich soll es ihr nicht sagen.
WERLE
Ja, es wäre wahrscheinlich besser, ihr nichts davon zu sagen.
HEDVIG
Ich glaube nicht, dass sie dich mag.
WERLE
Sie hat schon gute Gründe dafür.
HEDVIG
Ich glaube nicht, dass ich wissen will, wovon Sie sprechen.
WERLE
Nein.
HEDVIG
Okay … Also …
WERLE
Es war nett, dich kennenzulernen, Hedvig.
HEDVIG
Was machst du hier?
GREGERS
Ich dachte, ich könnte dich nach Hause fahren.
HEDVIG
Mama will dich nicht sehen.
GREGERS
Ich kann dich ja am Ende der Straße absetzen.
HEDVIG
Wie geht es Papa?
GREGERS
Okay.
HEDVIG
Ich bin heute bei einem Test durchgefallen.
GREGERS
In welchem Fach?
HEDVIG
Physik.
GREGERS
Ich dachte, du seist gut in Physik.
HEDVIG
Bin ich auch.
Ich konnte mich nicht konzentrieren. Habe die Formeln alle vergessen.
GREGERS
Ich bin mir sicher, dass alles okay ist.
HEDVIG
Ich vergesse die Formeln nie.
GREGERS
Ist das Testresultat Teil deiner Gesamtnote für das Fach?
HEDVIG
Ja, fünf Prozent.
GREGERS
Das geht ja noch.
HEDVIG
Fünf Prozent ist viel. Wenn du fünf Prozent deines ganzen Geldes verlieren würdest, wärst du ziemlich aufgebracht.
GREGERS
Ja, stimmt schon. Bist du aufgebracht?
HEDVIG
Weiß nicht. Mir ist es egal.
GREGERS
Es ist dir egal?
HEDVIG
Nein.
GREGERS
Es wird alles okay sein.
HEDVIG
Kannst du das garantieren?
GREGERS
Ja. Ich nehme es an.
HEDVIG
Ist bei dir alles immer gut ausgegangen?
GREGERS
Ähmm …
HEDVIG
Deine Mutter hat sich doch umgebracht?
GREGERS
Ja.
HEDVIG
Das ist ja nicht gut ausgegangen, oder?
GREGERS
Nein. Ist es nicht.
Stille.
HEDVIG
Wie hat sich deine Mutter umgebracht?
GREGERS
Ähm. Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. In der Badewanne.
HEDVIG
Das habe ich mal in einem Film gesehen.
GREGERS
Ja, es passiert ziemlich häufig.
HEDVIG
Warst du da?
GREGERS
Nein, war ich nicht.
HEDVIG
Wer hat sie gefunden?
GREGERS
Mein Vater.
HEDVIG
Ein Junge an meiner Schule hat sich vor ein paar Jahren erhängt.
GREGERS
Jesus.
HEDVIG
Hat deine Mutter einen Abschiedsbrief geschrieben?
GREGERS
Nein, sie hat mich angerufen.
HEDVIG
Was, bevor sie es gemacht hat?
GREGERS
Ja.
HEDVIG
Mann.
GREGERS
Ja.
HEDVIG
Was hat sie gesagt?
GREGERS
Ein paar Dinge. Hauptsächlich, dass es ihr leidtun würde.
HEDVIG
Das war sicher ziemlich heftig für deinen Vater, seine tote Frau in der Badewanne zu finden.
GREGERS
Ich schätze schon.
HEDVIG
Er hat aber eine andere gefunden, oder?
GREGERS
Was, eine weitere Tote in einer Badewanne?
HEDVIG
Nein, ich meine eine neue Lebensgefährtin.
GREGERS
Ihm hat es nie an Gefährtinnen gefehlt.
HEDVIG
Was meinst du damit?
GREGERS
Nichts. Er heiratet am Sonntag.
HEDVIG
Ja, ich weiß.
GREGERS
Billiger als ein Pflegeheim. Die Pflege ist auch eher zur Hand.
HEDVIG
Vielleicht ist er ja auch verliebt.
GREGERS
Vielleicht.
HEDVIG
Ich war noch nie verliebt.
GREGERS
Dann kannst du dich ja auf ein richtiges Vergnügen gefasst machen.
HEDVIG
Warst du schon mal verliebt?
GREGERS
Ja, war ich schon mal.
HEDVIG
In wen?
GREGERS
Eine Frau.
HEDVIG
Nur eine?
GREGERS
Ja.
HEDVIG
Ich dachte, man verliebt sich in viele verschiedene Leute und findet dann irgendwann die richtige Person.
GREGERS
Oh. Ich muss das Memo verpasst haben.
HEDVIG
Und wie war das für dich?
GREGERS
Schrecklich.
HEDVIG
Schrecklich?
GREGERS
Es war kurz schön. Und dann war es schrecklich.
HEDVIG
Ich dachte, es sollte schöner als das sein.
GREGERS
Nein. Schöner wird es leider nicht.
HEDVIG
Das ist ja deprimierend.
GREGERS
Ja. Ich weiß. Tut mir leid.
…
HEDVIG
Was genau hast du Papa erzählt, was ihn dazu gebracht hat, auszuziehen?
GREGERS
Ähm. Ich glaube, das sollten dir deine Eltern sagen.
HEDVIG
Wieso kannst du es mir nicht sagen?
GREGERS
Es tut mir leid, ich kann’s einfach nicht.
HEDVIG
Wieso hast du es ihm denn gesagt, wenn es so schlimm ist?
GREGERS
Ich hätte nicht gedacht, dass es so ausarten würde.
HEDVIG
Ist es aber.
GREGERS