Sturmflirren - Yasmin Shakarami - E-Book

Sturmflirren E-Book

Yasmin Shakarami

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Beschreibung

Ein Mädchen findet in Katar die Liebe, ihren Mut, aber auch die Gefahr

Normalerweise kann Rea so schnell nichts aus der Fassung bringen, in letzter Zeit jedoch wächst ihr einfach alles über den Kopf: Prüfungen, Theaterproben, Fahrstunden – nichts will ihr mehr gelingen. Als Rea dann auch noch erfährt, dass ihr Diplomatenvater nach Doha, Katar, versetzt wird, kriegt sie endgültig die Krise. Wie soll sie sich in einer so fremden Welt zurechtfinden, in der völlig andere Regeln und Wertvorstellungen gelten? Doch obwohl sie sich fest vorgenommen hat, Doha zu hassen, ist sie seltsam angetan von der hochmodernen, luxuriösen Wüstenstadt. Nach ein paar anfänglichen Schwierigkeiten freundet sich Rea mit der rebellischen Farah an, die gemeinsam mit anderen Frauen in der Wüste gewagte Autostunts einübt. Als die beiden Mädchen eines Nachts auf eine illegale Wüstenparty gehen, verändert sich Reas Leben für immer. Denn hier lernt sie einen jungen Mann namens Shabah kennen und lieben. Was sie nicht ahnt: Shabah hat ein Geheimnis, und Reas Anwesenheit bringt ihn in höchste Gefahr ...
Das heiß ersehnte neue Buch der Spiegel-Bestsellerautorin: eine tief berührende Liebesgeschichte und eine Hommage an starke Frauen im Kampf um Gleichberechtigung.

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Seitenzahl: 498

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Yasmin Shakarami

Sturmflirren

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© 2024 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagillustration und -gestaltung: Max Meinzold

sh · Herstellung: ang

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-30974-9V003

www.cbj-verlag.de

Für alle Menschen, die in Unfreiheit leben

1.The Lizard Man

»Darf ich vorstellen, das ist Armin. Dieser wunderschöne namibische Schwimmfußgecko – auf Lateinisch Pachydactylus rangei genannt – ist eine ganz besondere Echse. Schaut euch nur mal seine Augen an! Hypnotisch. Und dann erst diese leuchtende transluzente Haut. Wow. So etwas findet man kein zweites Mal. Übrigens besitzt er als einzige Gecko-Spezies vier Schwimmfüße. Perfekt zum effektiven Sandschaufeln. Nein wirklich, ist das nicht exzellentes Sandschaufeln? Schlichtweg einmalig. Armin ist nachtaktiv und ernährt sich von Gliedertieren aller Art. Mein Hübscher hier frisst hauptsächlich Termiten. Gelegentlich gönnt sich Armin aber auch eine kleine Aranea – für Laien besser bekannt unter der Bezeichnung Spinne …«

Es hat keine drei Minuten gedauert, bis wir die erschreckend umfangreiche und schockierend kriechtierlastige Videokollektion von Timo Holz aka TheLizard Man auf YouTube gefunden haben. Beziehungsweise Mira hat sie gefunden, denn meine beste Freundin ist die gebündelte Reinkarnation aller Geheimagenten, die jemals auf diesem Planeten existiert haben. Sie findet jeden Dreck unter jedem Teppich, ganz gleich wie akribisch auch gekehrt wurde.

Ich sehe Mira vor mir, wie sie sich eine Haarsträhne hinter den Brillenbügel klemmt und mit bitterernster Expertenstimme verkündet: »Der Typ ist ein Freak! Ich wette, am Ende packt er den armen Armin an der Schwanzspitze und schlürft ihn wie eine Spaghetti runter. Roh und zappelnd, so mag er seine Schleimtierchen am liebsten.«

Ich habe den ganzen Kakao verschüttet, so wild musste ich losprusten.

Aber jetzt, wo The Lizard Man aus dem Terrarium-Kasten des TÜV-Süd-Gebäudes tritt, ist mir überhaupt nicht nach Lachen zumute. Ein Blick auf den grimmigen Fahrprüfer genügt, um zu wissen, dass sein Herz einzig und allein den Amphibien gehört.

Der Mann steckt seine fahle, graue, ganz und gar freudlose Visage durch das Autofenster und murmelt: »Tag, Holz ist mein Name.«

»Gn Tg«, nuschelt mein Fahrlehrer, der neben mir sitzt und wie immer mit halb verschlossenem Mund spricht. Der Minimalverbrauch von Silben ist seine Meisterdisziplin, und ich bezweifle, dass seine Zähne jemals Tageslicht gesehen haben.

Ich bemühe mich um einen extra neutralen Tonfall: »Hallo, Herr Holz.«

Er runzelt die Stirn. »Kennen wir uns?«

»N-nein.«

Seine farblosen Augen umschließen mich. »Gut. Bereit für die Führerscheinprüfung?«

»Ja«, antworte ich lächelnd.

The Lizard Man zieht den Kopf ruckartig ein (beinahe als hätte ihm mein sorgfältig einstudiertes Siegerlächeln einen Stromschlag verpasst) und öffnet die hintere Beifahrertür. Während er Platz nimmt, klettert mir ein unangenehm schlammiger Geruch in die Nase, eine Mischung aus Straßenlaub, Gummistiefeln und … Schwimmfußgecko?

»Und Sie heißen noch mal?«, fragt er, nachdem er sich mit beleidigender Gründlichkeit angeschnallt hat.

»Armin«, sage ich wie auf Knopfdruck.

»Armin?« Ich könnte schwören, dass sich die Pupillen des Fahrprüfers senkrecht zusammenziehen.

»Augustin, meine ich. R-Rea Augustin.« Der Stoff unter meinen Achseln wird feucht. Reiß dich zusammen, Rea!

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, murmelt er mit der nicht vorhandenen Empathie eines Roboters, der Binärcode spricht. »Atmen Sie einfach ganz tief durch. Das wird schon.«

Meine Kehle verengt sich. Wenn jetzt sogar schon Herr Holzechse merkt, dass etwas nicht stimmt, dann habe ich ein echtes Problem. Vielleicht ist sie ja wahr, die Sache mit dem Fluch.

»Ich habe keine Angst«, berichtige ich mit heiserer Stimme. »Ich bin nur ein ganz klein wenig nervös.« Denn Rea Augustin ist eine Gewinnerin. Rea Augustin schreckt vor keiner Herausforderung zurück. Musterschülerin. Aufsteigerin. Leos neue Freundin.

Rea Augustin kennt keine Angst.

»Wollen Sie einfach nur dasitzen und das Lenkrad anglotzen?« Durch den Rückspiegel sehe ich, dass The Lizard Man mich beäugt und dabei auf bemerkenswerte Weise demonstriert, wie man gleichzeitig skeptisch, abwertend und missvergnügt dreinschauen kann.

»Geht es denn schon los?«, krächze ich.

»Ja.«

»Das wusste ich nicht.«

»Heute ist der einundzwanzigste Juli. Wir befinden uns in München. Es ist sechzehn Uhr fünfundzwanzig. Die Sonne scheint. Vögel zwitschern. Wir beginnen jetzt offiziell mit der praktischen Fahrprüfung.« Er zieht wichtigtuerisch die Nase hoch. »War das deutlich genug für Sie?«

Mein Fahrlehrer lehnt sich zu mir und murmelt: »Fahrn Sie schn.«

Ich nicke bedröppelt und starte das Auto.

Urplötzlich verwandelt sich Timo Holz in Beyoncé, und mit wackelndem Zeigefinger und divenhafter Attitude macht er: »Ah, ah, ah!«

Verständnislos drehe ich mich zu ihm um.

»Immer zuerst den Rückspiegel und die Seitenspiegel einstellen.«

»Habe ich schon, als ich auf Sie gewartet habe.«

Die Entgeisterung in seiner Stimme bringt meine Ohren zum Klingeln: »Das kann ich doch nicht wissen! Einen Punkt Abzug!«

In meiner Magengrube braut sich ein Höllenfeuer zusammen. Jeder in meiner Klasse hat seinen Führerschein geschafft. Sogar Detlef Scheissner fährt jetzt Auto, dabei hätte ich Detlef Scheissner nicht einmal Stützrad-Fahren zugetraut. Wie peinlich wäre es, wenn gerade ich die Prüfung nicht bestehe?! Nein, das darf nicht passieren. Das kann nicht passieren, immerhin habe ich schon bedeutend größere Herausforderungen gemeistert – mit Bravour, versteht sich. Die Rolle der vollkommenen Iphigenie im Schultheater, das beste Zeugnis der Jahrgangsstufe, der erste Platz im Schreibwettbewerb, der Ständer in Leos Calvin-Klein-Boxershorts … Die Liste meiner Erfolge ist lang. Fazit: Ich bin vorbereitet. Ich habe alles unter Kontrolle. So schnell bringt eine Augustin nichts aus der Ruhe.

»Haben Sie Tomaten auf den Augen? Das ist eine Dreißiger-Zone!«

Andererseits: Die Sache letztens während der Matheklausur ist echt eigenartig gewesen. Das Schwitzen, das Zittern, dann diese völlige Leere im Kopf. Am Ende musste ich ein unbeschriebenes Blatt abgeben. Oder am Montag in der Theaterprobe, wo mir während meines Monologs so schwindlig geworden ist, dass ich beinahe von der Bühne gefallen wäre. Dann ein paar Tage später der Zwischenfall beim Französisch-Referat: Mein Magen hat sich derart verkrampft, dass ich gedacht habe, meine Eingeweide explodieren gleich. Auf der Toilette – in einer Wolke aus Körpergasen und Verzweiflung – habe ich mir zum ersten Mal die Frage gestellt, ob mich jemand mit einem Fluch belegt hat. Nicht, dass ich an so einen Unsinn glauben würde, aber noch viel unwahrscheinlicher erscheint es mir, dass mich plötzlich das kleinste Fitzelchen Adrenalin in die Knie zwingt. Normalerweise brauche ich den Nervenkitzel sogar, um meine Bestleistung erbringen zu können. Und dessen rühme ich mich, nämlich dass Mediokrität keine Option für mich ist.

»Vorsicht! Blinker! Sie müssen den Blinker benutzen!«

Schon flammt es in mir auf, das Gefühl der Überforderung. Ich stelle mir vor, wie ich vor meinen Eltern stehe, den größten Overachievern überhaupt, und ihnen erkläre, dass ich durch die Führerscheinprüfung gefallen bin. Bestimmt werden sie mir kein Wort glauben. Am Ende werde ich sie von meiner Niederlage überzeugen müssen, was furchtbar erniedrigend sein wird. Auch Mira wird denken, dass ich sie auf den Arm nehme. Nichtsdestotrotz wird sie sich über die Vorstellung, dass Detlef Auto fahren darf – und ich nicht –, ausgiebig lustig machen. Wenn sie dann endlich rafft, dass ich wirklich auf ganzer Linie versagt habe, wird sie mir tagelang wie eine Glucke hinterherrennen. Und es gibt nichts Schlimmeres, als bemitleidet zu werden.

»Sind Sie taub? Hören Sie nicht das Hupen?«

Heiße Nadelspitzen bohren sich in meine Kopfhaut. Leo wird meine Niederlage als Vorwand für Sex benutzen. Aktionswoche bei McDonalds, vom Zoll beschlagnahmte Albino-Capybara, randalierende Ufo-Sekte – momentan gelingt es ihm, jedes x-beliebige Gespräch auf die Tatsache zu lenken, dass wir nach fünf Wochen immer noch nicht miteinander geschlafen haben. Ich kann es ihm nicht verübeln. Mittlerweile ist meine Prüderie nicht mehr geheimnisvoll, sondern schlichtweg seltsam. Auf die Idee, dass ich noch Jungfrau sein könnte, ist Leo bisher nicht gekommen. Und freiwillig unterrichten werde ich ihn darüber auf keinen Fall. Meine Unerfahrenheit ist der letzte große Makel, den ich noch beheben muss.

»Rote Ampel! ROTE AMPEL!!! Oh Gott, Sie hätten den Kerl beinahe überfahren!«

Das Lenkrad unter meinen Händen beginnt zu glühen und eine dumpfe Taubheit befällt meine Beine. Ob The Lizard Man noch Jungfrau ist? Und falls nicht, müssen seine Bettpartner dann im Echsen-Kostüm antanzen? Dienen die Geckos, die er laut Miras psychologischem Gutachten regelmäßig verspeist, gar als Aphrodisiakum? Wie pflanzen sich Reptilien eigentlich fort? Der überlegene, erhabene, Auto fahrende Detlef Scheissner wüsste die Antwort sicher. Hundertprozentig bin ich die Einzige auf der Welt ohne Führerschein und fundiertem Wissen über das Liebesleben des Pachydactylus rangei.

Pachydactylus rangei.

Pachydactylus rangei.

Argh, halt die Klappe, Gehirn!!!

»Oh mein Gott … Sie müssen sich einfädeln! Das ist eine Autobahn! Sie müssen Gas geben und sich EINFÄDELN!!!«

Nichts dringt mehr durch die Nebeldecke, die sich wie ein bleiernes Gewicht auf meine Gedanken gesenkt hat. Die Gegenwart verzieht sich zu einer Fratze, leere Momente reihen sich aneinander. Auf einmal erscheint alles unwirklich, gedämpft und zeitverzögert. Angst, da ist sie – einnehmend und aushöhlend. Jede Faser meines Körpers wird von ihr infiltriert. Ich spüre ihre ganze Wucht, ihre ganze Zerstörungskraft.

Rea Augustin kennt doch Angst.

»Sie bringen uns noch um! Anhalten! SOFORT ANHALTEN!!!«

Als mein Fahrlehrer am Ende des Beschleunigungsstreifens auf die Bremse tritt, habe ich das Gefühl, dass der Anschnallgurt meine Kehle durchschneidet. Dann herrscht Stille; eine Stille mit Reißzähnen und Klauen, die darauf wartet, mich zu zerfleischen. Ich wage es nicht, in die Richtung des Fahrprüfers zu schauen. Das teekesselartige Pfeifen seiner Atemzüge lässt schon mal nichts Gutes ahnen.

Und weil ich hoffe, dass noch etwas zu retten ist, lehne ich mich nach vorne und schalte den Warnblinker an.

»Wow«, keucht The Lizard Man mit fadendünner Stimme. Es ist überflüssig, zu sagen, dass es sich bei diesem Wow nicht um ein Armin-Wow handelt, sondern um ein apokalyptisches Wow, ein Wow des reinen Entsetzens.

»B-bin ich durchgefallen?«, hauche ich.

Sobald ich die Worte ausgesprochen habe, bricht der Fahrprüfer in hysterisches, beinahe wahnsinniges Gelächter aus.

Tränen steigen mir in die Augen. »Es … es tut mir leid.«

Timo Holz lacht weiter, kalt und donnernd. Dabei greift er sich in die Hosentasche und holt … keinen Schwimmfußgecko, sondern ein Taschentuch heraus.

»Könnten Sie mir bitte noch eine Chance geben?«

Dramatisch seufzend tupft er sich die Stirn ab.

»Sie haben einen völlig falschen Eindruck von mir«, versuche ich es weiter. »K-keine Ahnung, was gerade los war, aber ich schwöre, ich kann das!« Hilfe suchend blicke ich zu meinem Fahrlehrer, doch dieser scheint noch immer mit seiner Nahtoderfahrung zu ringen.

Die Empörung in der Stimme des Echsenmanns schält mir beinahe die Nägel von den Fingern. »Ich hatte schon unzählige Prüflinge in meinem Auto, aber das, was ich Ihnen jetzt sage, habe ich noch nie zu jemandem gesagt: Ich bitte Sie – nein, ichflehe Sie an –, setzen Sie sich niemals wieder hinter ein Steuer. Ihnen einen Führerschein zu geben, wäre nicht nur verantwortungslos, sondern schlichtweg lebensmüde.« The Lizard Man macht eine bedeutungsschwere Pause. »Sie sind die mit Abstand schlechteste Autofahrerin, die mir je begegnet ist. DURCHGEFALLEN.«

Als ich zu Hause klingele, reißt meine Mutter bereits nach 0,5 Sekunden die Eingangstür auf und jubelt überschwänglich. Eine glitzernde Konfettiwolke hüllt mich ein und im nächsten Augenblick ertönt ein lauter Korkenknall. Mein Vater erscheint hinter einem Wall aus bunten Luftballons und hält mir ein Sektglas entgegen.

»Herzlichen Glückwunsch, Re-Ra! Wir sind wahnsinnig stolz auf dich!«, ruft er, und seine Wangen heben das Brillengestell an, so breit grinst er.

Wortlos nehme ich ihm das Sektglas ab und trinke es in einem Zug leer.

»Okay«, kommentiert Mama, dieses Mal wesentlich nüchterner. »Herzlichen Glückwunsch zum Führerschein, Rea. Wie ich sehe, bist du durstig. Soll ich dir ein Glas Wasser bringen?«

Ich stampfe an meinen Eltern vorbei … und bleibe sogleich wie angewurzelt stehen: Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer thront eine aufwendig dekorierte Torte und daneben liegen Autoschlüssel.

»Alles in Ordnung, Kleines?«, fragt Papa vorsichtig.

Mama klingt weniger einfühlsam: »Kannst du uns jetzt nicht mal mehr anständig begrüßen?«

»Wem gehören die?«, krächze ich und zeige auf den Schlüsselbund.

»Dir, Schatz!« Mein Vater reißt feierlich die Arme in die Luft. »Überraschung!!!«

»I-ich dachte, ich bekomme erst mit achtzehn ein Auto.«

»Überraschung!«, wiederholt er und klatscht begeistert in die Hände. »Du warst dieses Jahr so fleißig, deshalb wollten Mama und ich dir eine Freude machen!«

»Sie freut sich aber nicht, Constantiiin, merkst du das nicht«, murmelt meine Mutter augenrollend und betont dabei das i in seinem Namen, wie eine Französin es tun würde.

»Was meinst du damit, Caroliiin?«, fragt Papa verdutzt. Auch er näselt das i in ihrem Namen, obwohl ich schon tausendmal dargelegt habe, wie unglaublich peinlich ich das finde. Aber meine Eltern wollen an ihrem Paris-Insider festhalten, an ihrem magischen Jahr in Frankreich, in dem sich die beiden kennengelernt haben.

»Ihr habt mir ein Auto gekauft?«, plärre ich schockiert. »Oh Gott! Wie könnt ihr mir das antun?!«

»Aber« – Papa blickt Hilfe suchend um sich – »du hast es dir doch so gewünscht.«

Mama bläst sich eine Locke aus der Stirn und macht eine richtungsweisende Handbewegung: »Setz dich, Rea, und sag uns, was passiert ist.«

»Sehr gut. Ich hole in der Zwischenzeit den Tortenheber.«

Wir signalisieren Papa mit einem warnenden Blick, dass Flucht keine Option ist, und setzen uns mit verschränkten Armen auf das Sofa.

»Nun, ich bin ganz Ohr.« Meine Mutter benutzt jetzt ihre inquisitive Journalistinnen-Stimme, die mich immer zur Weißglut bringt.

»Schon mal auf die Idee gekommen, dass ich keine Lust habe, zu reden?«, herrsche ich sie an.

Ihre linke Augenbraue wandert nach oben. »Darf ich das feine Fräulein daran erinnern, dass sie keine zwölf mehr ist?«

»Was ist das für eine Torte?«, zische ich.

»Weiße Schokolade mit frischen Erdbeeren!«, faucht sie zurück. »Deine Lieblingssorte!«

»Danke!«

»Gern geschehen!«

Schnaubend drehen wir uns voneinander weg, und Papa zuckt ängstlich zusammen, denn ihm wird klar, dass er in wenigen Sekunden Opfer unserer emotionalen Unzulänglichkeit werden wird.

»Willst du einfach nur blöd rumstehen, Constantiiin?«

»Ja, Papa, bist du gerade am Teppich festgewachsen?«

Mein Vater schleicht auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer und nimmt mitsamt Sektflasche auf dem Lesesessel Platz.

»Du darfst mir gerne nachschenken«, brumme ich und halte ihm mein Glas hin.

Mama hebt warnend die Hand. »Nein, darfst du nicht.«

»Ich dachte, ich bin nicht mehr zwölf!«

»Deinem Verhalten nach zu urteilen schon. Normalerweise bedankt man sich, wenn man ein Geschenk bekommt – ein so großzügiges obendrein!«

»Newsflash: Ich brauche euer Geschenk nicht! Ich habe es sowieso nicht verdient.«

»Was redest du da?« Bevor ich etwas erwidern kann, fügt sie mit angestrengter Miene hinzu: »Seitdem du dich mit diesem Theater-Beau abgibst, bist du noch kratzbürstiger und schlechtgelaunter als sonst.«

»Der Theater-Beau heißt Leo und ist mein fester Freund!«

»Auf Wolke sieben scheinst du ja nicht gerade zu schweben …«

»Wenn ich kurz etwas einwenden dürfte?« Papa setzt sein charmantestes Verhandlungslächeln auf. »Ich will mich nicht einmischen. Wirklich, ich bin völlig unparteiisch. Aber ich finde, wir sollten ein bisschen diplomatischer miteinander umgehen. Vergesst nicht: Wir sind ein Team, wir halten zusammen, wir sind die Augustiiins!« Auch das i in Augustin wird von meinen Eltern übertrieben lang gezogen, als wären wir eine uralte französische Adelsfamilie mit einem Vampirproblem. »Was auch geschieht, wir sind die drei Musketiere! Nichts und niemand kann uns trenn…«

Mama schickt einen flehenden Blick in meine Richtung. Wir mögen Hitzköpfe sein, aber allen voran sind wir viel zu ungeduldig für Papas ausufernde Friedensreden …

»Also gut!«, unterbreche ich ihn und hole tief Luft. »Ich bin durch die Führerscheinprüfung gefallen.«

Ungläubiges Schweigen breitet sich zwischen meinen Eltern aus.

»Ernsthaft?«, flüstert mein Vater.

»Ernsthaft.«

»Bist du sicher?«, wispert meine Mutter.

»Ganz sicher«, entgegne ich und seufze niedergeschlagen.

Mama rutscht näher und nimmt mich in die Arme. »Aber das ist doch nicht schlimm, Rea!«

»W-was?«, stammele ich überrascht. Als ich einmal mit einer Drei minus nach Hause gekommen bin, hat sie mich gefragt, ob ich neuerdings ein Drogenproblem hätte. Meine Mutter ist niemals nicht paranoid. »Du bist nicht böse?«

Sie drückt mich fest an sich. »Ich bin überhaupt nicht böse!«

»Waren die Fahrstunden nicht teuer?«

»Ach, zerbrich dir darüber mal nicht den Kopf!«

Ich lese an Papas Gesichtsausdruck ab, wie gerne er ihr widersprechen würde, doch er nickt bloß tapfer.

»Und ihr seid noch nicht einmal … enttäuscht?«, bohre ich nach, denn so handzahm kenne ich meine Eltern nicht.

Inbrünstiges Kopfschütteln.

Schon überrollt mich das schlechte Gewissen. »Tut mir leid, dass ich mich wie eine Furie aufgeführt habe. Gerade ist einfach alles ein bisschen zu viel. Ich freue mich wirklich sehr über das neue Auto. Danke.«

Papa schenkt sich Sekt ein – viel Sekt.

»Ich werde noch ein paar Fahrstunden nehmen und die Prüfung wiederholen. Bis dahin stellen wir das Auto einfach in die Garage.«

Mama zeigt den Daumen hoch. »Klasse Plan, Schätzchen!«

»Kann ich es mal sehen?«

Papa räuspert sich und betrachtet die Wand mit verdächtiger Intensität.

»Lasst uns zuerst Torte essen!« Mamas Tonfall bekommt etwas Messerscharfes. »Constantin, jetzt darfst du den Tortenheber holen.«

»Caroliiin«, flüstert Papa.

»Noch nicht«, faucht diese und lacht gekünstelt.

Ich lege die Stirn in Falten. »Alles in Ordnung?«

»Natürli…«

»Das Auto ist nicht hier!«, platzt es aus meinem Vater heraus.

»Oh.« Ich rekapituliere kurz. »Also habt ihr mir kein Auto gekauft?«

»Doch, aber … Die Sache ist etwas komplizierter.«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Wenn das Auto nicht hier ist, wo ist es dann?«

Mein Vater pult am Etikett der Sektflasche und hüstelt nervös. »In Doha.«

»Doha?«, wiederhole ich verwirrt. »Ist das ein Geschäft?«

»Doha, Katar«, erläutert meine Mutter, ohne mich dabei anzusehen.

Ich blinzle verständnislos.

»Dein Vater wurde als Botschafter nach Katar einberufen.« Sie schlägt die Beine übereinander, beinahe, als befänden wir uns nun in einem offiziellen Meeting.

Heiße Panik steigt in mir auf. »Ich verstehe kein Wort.«

»Nun, wir wussten, dass es früher oder später so weit sein würde.« Papa zuckt betreten mit den Achseln.

»Das ist der mit Abstand wichtigste Moment in der Karriere deines Vaters«, fügt Mama hinzu. Es ist offensichtlich, dass sie diesen Satz gründlich einstudiert hat.

Tränen schnüren mir den Hals zu. »W-warum Katar?«

»Na ja, ich spreche fließend Arabisch«, erwidert Papa stockend.

»Aber du sprichst auch Finnisch und Koreanisch! Du sprichst sogar Klingonisch, verdammt noch mal!«

»Wir ziehen nach Doha, Kleines. So ist es nun mal.«

»Wann?«

»Nach deiner Theateraufführung«, antwortet er.

Mittlerweile schreie ich: »Nächste Woche schon?!«

»Ich habe die Zusage bereits vor einiger Zeit bekommen.«

»Wir wollten es dir früher sagen, aber wir dachten, das wäre ein schöner Touch.« Mama nimmt die Autoschlüssel in die Hand und streckt sie mir mit einem versöhnlichen Lächeln entgegen.

»Ein schönerTouch?!« Mit rasendem Herzen stehe ich auf. »Das ist der schrecklichste Moment meines Lebens! Ihr seid solche Verräter!«

»Komm schon, Schatz. Das wird eine einmalige Erfahrung. Ein Abenteuer! Und vergiss nicht das funkelnagelneue Auto, das in Doha auf dich wartet!«

Fassungslos schaue ich sie an. »Ihr könnt euch euer Scheißauto in den Arsch …«

»Rea, genug!« Papa schlägt mit der Hand auf die Tischplatte. Wenn er Rea und nicht Re-Ra sagt, meint er es ernst. »Es geht nun mal nicht immer nur um dich!«

Eine entsetzliche Kälte kriecht meine Beine hinauf. Als ich mich umdrehe und durch den Flur stürme, habe ich das Gefühl, in ein Wurmloch geraten zu sein – alles schwirrt und flackert, und meine heile Welt rauscht in Lichtgeschwindigkeit davon.

»Wo willst du hin?« Hinter lautem Störrauschen vernehme ich das Schlurfen von Mamas Hausschuhen.

»Ganz sicher nicht nach Doha!«, brülle ich und knalle die Eingangstür hinter mir zu.

2.Ein Vollidiot, sie zu knechten

Miras Stimme am anderen Ende der Leitung überschlägt sich beinahe: »Scheiße.«

»Ich weiß.«

»Nein, wirklich: Scheiße.«

Die Menschen, die mir entgegenkommen, wirken so vergnügt und unbekümmert, dass ich mich persönlich angegriffen fühle. Ich werfe ein paar Haarsträhnen vor die Gläser meiner Sonnenbrille, um mich vor dem aufdringlichen Frohlocken der Welt maximal abzuschirmen. »Ich weiß.«

»Die haben dir wirklich ein neues Auto gekauft? Einfach so?«

Ich verziehe das Gesicht. »Das ist hier nicht das Problem. Meine Eltern wollen mich in die Wüste verfrachten, schon vergessen? Sie sind böse.«

»Du hast in letzter Zeit so viel darüber geredet, wie sehr du dir ein Auto wünschst. Und ganz nebenbei: Ich habe meinen Führerschein geschafft, trotzdem muss ich den alten Fiat mit meinen Brüdern teilen.«

»Dafür zwingt man dich nicht, nach Afghanistan zu ziehen.«

»Katar«, korrigiert sie mich. »Übrigens eines der sichersten Länder der Welt.«

»Von wegen!«, ächze ich. »Kopftücher, Kamele und Aladdin Jibbijab – ist doch alles das Gleiche!«

»Falls du damit Ahmadinedschad meinst, den ehemaligen Präsidenten des Irans, kann ich dich beruhigen: Den wirst du in Katar garantiert nicht antreffen.«

Unter der tiefen Abendsonne funkelt der Asphalt wie ein Band aus Sternen. Goldener Blütenstaub flirrt in der Luft und aus der benachbarten Brauerei weht der Duft von Hopfen. Der Sommer steht kurz davor, seine perfekte Reife zu erreichen, ein Bukett aus Euphorie und Lebenslust mit einem Hauch von traumsüßem Weltschmerz. Nächste Woche beginnen die großen Ferien, und jedes Atom ist randvoll mit diesem magischen Gefühl, dass nichts unmöglich ist.

Für mich hingegen geht alles zu Ende.

Erstaunlich, wie schnell sich ein kleiner Riss in einen gähnenden Abgrund verwandeln kann – und wie leicht man hineinfällt. Vor ein paar Stunden war ich noch Rea Augustin, eine blühende junge Frau mit großen Plänen und noch größerem Potenzial. Fortan bin ich die Verfluchte, die Führerscheinlose, die Unberührte, die irgendwo in Agrabah vergammeln wird.

»Bist du noch dran?«, fragt Mira ins Bleigrau meiner Gedanken.

»Womit habe ich das bloß verdient?«, rufe ich verzweifelt, und ein Rauhaardackel kläfft mich empört von der Seite an.

»Beruhige dich, Re-Ra. Erinnerst du dich nicht an die letzte Fußball-WM? Bis heute zerreißt man sich das Maul darüber, wie over-the-top Katar als Gastgeberland gewesen ist. Dort ist alles auf Luxus und Glamour getrimmt. Das ist doch total nach deinem Geschmack!«

»Stimmt überhaupt nicht«, murre ich. »Außerdem ist das Einzige, woran ich mich erinnere, dieser komische Tapir in seinem weißen Flatterkleid.«

Mira seufzt tadelnd. »Emir, Rea. Nicht Tapir.«

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«

»Auf deiner, aber nur wenn du aufhörst, mit rassistischen Vorurteilen um dich zu werfen.«

Ich wünschte, ich könnte eine leere Getränkedose aus dem Weg kicken, aber weil München dafür zu sauber ist, zupfe ich (wütend) eine Löwenzahn-Blume vom Straßenrand ab und werfe sie (energisch) auf den Fahrradweg. »Glaub mir, du wärst auch am Durchdrehen, wenn du in meinen Schuhen stecken würdest!«

»Im Gegenteil«, berichtigt sie. »Unser letzter Urlaub ist fünf Jahre her und wir konnten uns gerade mal eine Hütte am Gardasee leisten. Das zählt noch nicht mal als richtiges Ausland. Du hast die Gelegenheit, ein Land von Grund auf neu kennenzulernen. Ich finde das aufregend. Außerdem haben wir uns auf die erste Versetzung deines Vaters doch immer so gefreut!«

»Ja, weil wir dachten, dass Papa nach Seoul einberufen wird und wir die Typen von BTS daten können!«

Mira lacht auf eine Art und Weise, die ich nicht einordnen kann. »Mann, du und deine Luxusprobleme.«

In meiner Magengrube sticht es. »Offensichtlich ist dir die Tatsache, dass mein Leben gerade den Bach runtergeht, völlig egal.«

»Mir ist überhaupt nichts egal. Und ich werde dich schrecklich vermissen, wenn du wegziehst. Aber glaub mir: Im Vergleich zum Rest der Menschheit ist dein Leben ziemlich perfekt.«

»Habe ich dir nicht lang und breit geschildert, was in letzter Zeit alles schiefgelaufen ist?! Die Matheklausur, das Referat, die Theaterprobe. Heute die versemmelte Fahrprüfung und die Nachricht, dass ich mich schon bald dem islamischen Gesetz unterwerfen darf!« Kurz muss ich innehalten, um nicht augenblicklich loszuschluchzen. »Und dann erst die Sache mit Leo. Ich habe mich immer noch nicht getraut … und jetzt werden wir auf brutalste Weise auseinandergerissen!«

»Ich sage es jetzt einfach: Leo ist ein Arsch.«

»Wie bitte?«, krächze ich.

»Seit Wochen drängt er dich dazu, mit ihm zu schlafen. Dabei ist ihm kein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass du noch unerfahren bist und deshalb mehr Zeit brauchst.«

»Unerfahren«, wiederhole ich und mache ein lautes Würgegeräusch.

»Was ist so schlimm daran? Es ist nun mal die Wahrheit. Ich verstehe nicht, warum du das vor Leo unbedingt geheim halten möchtest. So wichtig kann dir dein Ruf echt nicht sein.«

Es fällt mir schwer, zu glauben, dass das wirklich Mira am Telefon ist. Seit der fünften Klasse sind wir beste Freundinnen, derart gefühlskalt habe ich sie aber noch nie erlebt. Andererseits geraten wir in letzter Zeit immer häufiger aneinander, was mitunter daran liegt, dass sie ständig diese spitzen Kommentare abgibt. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre sie unterschwellig wütend auf mich, dabei habe ich nicht den leisesten Schimmer, was ich ihr getan haben könnte.

»Du musst endlich aufhören, dir so viel Druck zu machen, Re-Ra. Diese Panikattacken, die werden nicht besser, wenn du nicht lernst, auch mal loszulassen, die Kontrolle abzugeben. Irgendwann streikt dein Körper einfach.«

»Panikattacken? Ich bin doch kein Psycho!«, zische ich. »Das sind irgendwelche Voodoo-Kräfte, die gegen mich am Werk sind, ich schwöre es!«

»Voodoo, klar.« Und dann geht sie endgültig zu weit: »Na ja, vielleicht musst du das alles gerade erleben, damit du lernst, auf was es im Leben wirklich ankommt.«

»Du sagst das nur, weil wir Kohle haben und ihr nicht!«, fauche ich zornentbrannt. »Das hat dich schon immer gestört! Und jetzt verwendest du es gegen mich!«

Mira bleibt lange still.

»Ja, ihr habt Geld und wir nicht«, sagt sie schließlich reserviert. »Und genau deshalb kannst du dich auch über jeden Scheiß aufregen. Am Ende wird sowieso alles gut. Am Ende wartet ein nagelneues Auto auf dich.«

»Wow«, keuche ich. »Ich habe geahnt, dass du mir meine Beziehung mit Leo nicht gönnst, aber das du dermaßen neidisch auf mich bist, hätte ich nicht gedacht. Ich wette, du warst diejenige, die mich mit diesem verdammten Fluch belegt hat!«

Sie lacht hohl. »Du irrst dich. Ich möchte auf keinen Fall in deiner Haut stecken, nicht einmal für eine Sekunde. Dieser zwanghafte Drang, immer und überall die Beste zu sein, dieses ständige Kopfzerbrechen darüber, was andere Leute über dich denken. Ich kenne wirklich keinen anderen, der ein so geringes Selbstwertgefühl hat wie du. Und das, obwohl du so verdammt privilegiert bist.«

»W-wie bitte?«, röchle ich fassungslos.

»Ist doch wahr! Seitdem ich dich kenne, bist du in diesem Käfig aus Angst und Selbstzweifeln gefangen, dabei könntest du so frei sein! So glücklich! Aber nein, du spielst lieber das Opfer und suhlst dich bei jeder Gelegenheit im Selbstmitleid. Bleibst in deiner Komfortzone, die überhaupt keine ist. Manchmal kommt es mir so vor, als hättest du längst aufgegeben, jemals richtig du selbst zu sein.«

»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?«

»Ich sage nur, wie es ist«, schließt sie frostig. »Ich nehme an, du kommst heute nicht mehr zu mir?«

Ich bleibe vor der U-Bahn-Haltestelle stehen. »Nein, ich gehe zu meinem Freund! Mein Freund, der mich liebt und begehrt. Genau, Dinge, die ich habe und du nicht! Außerdem bin ich sehr wohl frei. Frei genug, um zu sagen, dass du eine verdammt beschissene Freundin bist!«

Sie legt auf.

Ich stoße einen wütenden Schrei aus und werfe mein iPhone mit solcher Wucht auf den Boden, dass es in tausend Einzelteile zerspringt.

»Rea, was machst du denn hier?« Leo sieht mich durch seine ozeanblauen Augen überrascht an. Er trägt ein weißes T-Shirt mit tiefem Rundausschnitt, das sowohl seine definierte Brust als auch seine Bizepse perfekt in Szene setzt. Kurz gesagt: Er könnte jetzt genauso gut im Blitzlichtgewitter über einen Pariser Laufsteg flanieren.

»Tut mir leid, dass ich nicht Bescheid gesagt habe. Mein Handy ist kaputt.« Ich räuspere mich nervös. »K-kann ich hier übernachten?«

Ich wünschte, es wäre nicht so offensichtlich, dass er sofort an das eine denkt.

»Klar!« Leo schenkt mir ein strahlendes Lächeln und fährt sich durch die goldblonde Löwenmähne – sein Signature Move. Keine Sekunde später regnen engelsgleiche Locken über seine Stirn und im flüchtigen Schattenspiel erscheinen seine Wangenknochen noch dramatischer als sonst. »Meine Eltern sind auf unserem Boot in Italien. Glubschi ist da, aber er ist schon seit Stunden in seine Lektüre vertieft.«

»Cool.« Ich reibe über meine Arme. »Darf ich reinkommen?«

»Aber sicher.« Er macht eine einladende Handbewegung und ich betrete die geräumige Altbauwohnung mit den hohen Stuckwänden.

Plötzlich umarmt er mich von hinten und küsst meinen Hals. »Schön, dass du da bist, Belladonna. Ich habe dich vermisst.«

Ich warte auf die Schmetterlinge im Bauch, den Rausch, das Gefühl des Dahinschmelzens, aber mein Kopf meldet sich wie immer schneller zu Wort als mein Herz. Hoffentlich werde ich gut genug sein, denke ich bloß.

Jeder ist Leonardo Angelini verfallen, nicht nur die gesamte Mädchenschaft der nördlichen Hemisphäre, sondern auch ein Großteil der Jungs, Lehrer, der alte Griesgram vom Pausenverkauf, Heizungsableser, Obststandverkäufer, Ticketkontrolleure, Streifenpolizisten, Bäcker, Briefträger, also quasi alle Vielzeller mit Sexualtrieb und einem rudimentären Sinn für Ästhetik, und Eichhörnchen. Ja, sogar die Sportplatz-Eichhörnchen sind verrückt nach dem einnehmenden, umwerfenden, berückenden Leonardo.

Und ich bin seine Freundin. Nicht, dass ich das erste weibliche Geschöpf wäre, dem diese besondere Ehre zuteilwird, aber zumindest bin ich die Erste aus unserer Schule. Dass Leo sonst nur ältere Mädchen mit anspruchsvollen Studienfächern und erprobten Geschlechtsorganen datet, versuche ich auszublenden. Die Wahrheit ist, dass mich alles, was ihn so begehrenswert gemacht hat, irgendwie verunsichert, seitdem wir zusammen sind. Sobald wir gemeinsam auf der Bühne stehen und uns die Bewunderung der anderen wie ein magischer Nimbus umhüllt, bin ich sicher, dass wir wie füreinander geschaffen sind, doch hinter den Kulissen, wenn es still um uns wird, stelle ich mir oft die Frage, was er eigentlich an mir findet.

»Hi, Glubschi!«, rufe ich, während mich Leo an der Hand durch das Wohnzimmer führt.

Der Junge mit der adretten Hornbrille blickt auf und nickt zum Gruß. Auf seinem Schoß ruht ein dicker Schmöker und neben ihm dampft ein antiker Kelch mit erlesener Trinkschokolade. Ich glaube, ich habe Leos elfjährigen Bruder noch nie in einer anderen Position gesichtet.

Leo schlägt einen unnötig verschwörerischen Tonfall an: »Wir gehen schlafen. Wehe, du störst!«

»Um halb acht?«, fragt Glubschi stirnrunzelnd, und sofort schießt mir die Schamesröte ins Gesicht.

»Lass das mal unsere Sorge sein und widme dich wieder Pupsis Abenteuern oder welchen Quatsch du da auch immer liest!«

Glubschi hebt die Augenbrauen und hinter dem ominösen Blitzen seiner Brillengläser erkenne ich eine Mischung aus Belustigung und Bedauern.

Glubschi heißt eigentlich Gabriel und ist ziemlich seltsam. Er verhält sich überhaupt nicht wie ein Kind, auch nicht wie ein Erwachsener oder ein Mensch generell, sondern wie ein Außerirdischer, der plant, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Dass ihm seine Brille das skurrile Aussehen eines Koboldmakis verleiht, ist nicht gerade hilfreich.

»Na dann, viel Vergnügen«, sagt er spöttisch und blättert eine Seite um.

Leo schließt die Tür und lässt sich mit einem geschmeidigen Grinsen auf sein Doppelbett fallen. Im Zimmer herrscht das durchschnittliche Chaos eines Achtzehnjährigen, sein Bett hingegen ist makellos hergerichtet. Er klopft auf den leeren Platz neben sich und fragt mit virtuos-doppeldeutiger Stimme: »Gibt es einen besonderen Anlass für deinen Besuch?«

Ich tue so, als würde ich seine überdeutliche Geste nicht bemerken, und setze mich ihm gegenüber auf den Schreibtischstuhl. »Ich hatte einen schrecklichen Streit mit Mira.«

Erneut fährt er sich durch die Haare – extra langsam und meisterhaft sinnlich. »Worüber?«

Ich überlege kurz. Reden-Reden ist nicht wirklich sein Ding. Und ich will auf keinen Fall, dass er denkt, ich sei schwach. Oder schwierig. Nein, das Letzte, was ich möchte, ist, vor Leo als Opfer dazustehen. »Ach, sie ist einfach eine dumme Kuh«, antworte ich daher schlicht.

»Finde ich auch«, erwidert er. »Ich habe sie nie sonderlich gemocht.«

Ich blinzle überrascht. Überrascht, weil Mira trotz unserer Reibereien in letzter Zeit der beste Mensch ist, den ich kenne. Und überrascht, weil ich ihm für diese Aussage am liebsten eine Ohrfeige verpassen würde.

»Ihr werdet euch bestimmt wieder vertragen«, ergänzt er beschwichtigend und schenkt mir ein bezauberndes Lächeln. »Und bis dahin können wir beide mehr Zeit miteinander verbringen! Das ist doch auch schön.«

Es ist eine mathematische Unmöglichkeit, Leonardo Angelini länger als drei Sekunden böse zu sein.

»Da gibt es noch etwas …«

»Du bist so sexy, weißt du das eigentlich?« Er öffnet die Arme. »Wieso kommst du nicht her und erzählst mir alles, während ich dich küsse.«

»Ich ziehe weg!«, platzt es aus mir heraus. »Meine Familie zieht nach Katar.«

In Leos Hirn rattern die Denktraktoren, und er fragt mit schockgeblähten Nasenlöchern: »Aber zur Theateraufführung bist du noch da, oder?«

Ich runzle die Stirn. »Ja.«

»Puh!«, keucht er. »Ich dachte schon, ich muss das ganze Stück wieder von vorne einstudieren – mit einer neuen Prinzessin Leia.«

»Keine Sorge, wir gehen erst nächste Woche«, stammele ich, zu perplex, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Leo seufzt dunkel und philosophisch. »Nun, das wird einiges ändern. Katar ist ziemlich weit weg.«

Weißglühende Panik durchzuckt mich. Will er gerade mit mir Schluss machen?

»Ich bin bereit!«, rufe ich heiser.

Er legt den Kopf zur Seite.

»Lass es uns tun!«

Mein Gefühlsausbruch stößt auf Skepsis. »Was tun?«

»Schlafen wir miteinander!«

Von einer Sekunde auf die andere strahlt sein Gesicht heller als eine neugeborene Sonne. »Meinst du das ernst?«

Übelkeit brandet in mir auf, trotzdem nicke ich enthusiastisch. »Ich liebe dich, Leo.«

Sein Blick gleitet lustvoll über meine Brüste. »Ich liebe dich auch, Rea.«

Beklemmung schließt sich wie eine Faust um mein Herz. Es ist so weit. Mein erstes Mal. Mit Leo. Das ist das, was ich immer wollte. Das ist das, was jeder wollen würde. Es wäre schließlich verrückt, es nicht zu wollen. Und du bist nicht verrückt, Rea. Tue es! Wenn acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten Sex haben können, kannst du es auch!

Ich setze mich auf seinen Schoß und küsse ihn mit zitternden Lippen.

Seine Hände gleiten unter meine Kleidung, kalt und glitschig.

Was bleibt mir schon, wenn ich ihn auch noch verliere?

Ich liege bewegungslos da und warte darauf, dass er sich erklärt. Dass er sich dafür entschuldigt, nicht vorsichtiger, nicht zärtlicher gewesen zu sein. Ich bin so felsenfest davon überzeugt, dass er sich gerade in Grund und Boden schämt, dass ich mir im Kopf bereits den Satz zurechtlege, den ich sagen werde, wenn er mich um Verzeihung bittet. Tröstende Worte, wie: Du warst nicht grob, du warst bloß leidenschaftlich. Oder: Ich weiß, du wolltest aufhören, als ich dich darum gebeten habe, aber das italienische Temperament ist mit dir durchgegangen. Obwohl mir nach Weinen zumute ist, denke ich darüber nach, wie ich die Situation noch retten kann.

Aber nachdem wir endlose Minuten in den Treibsand des Schweigens hinabgesunken sind, dreht er sich zufrieden seufzend zur Seite und nimmt sein Handy von der Kommode.

»Es war schön«, röchle ich mit einem dicken Kloß im Hals.

Er unterdrückt ein Gähnen und antwortet: »Ja, fand ich auch.«

Ungläubig sehe ich zur Zimmerdecke hinauf, die ihre eigene tiefschwarze Dunkelheit zu erzeugen scheint.

»Schade, dass ich schon so bald abreise.«

»Hm.« Er likt ein Foto auf Instagram.

»Kommst du mich mal besuchen?«

»Irgendwann bestimmt.«

»Leo«, ich nehme all meinen Mut zusammen, »wir sind schon noch ein Paar, oder?«

»Selbstverständlich nicht.«

Der Schock durchfährt mich wie eine tödliche Ladung Elektrizität. »Wie bitte?«

»Wir wären in einer Fernbeziehung«, erklärt er und klingt dabei so, als wäre das die wahnwitzigste Idee in der Geschichte der Menschheit.

»Na und?«

Er setzt sich auf. »Tut mir leid, aber Fernbeziehungen sind nicht mein Ding. Mir ist das Körperliche einfach zu wichtig. Außerdem sprechen wir hier vom Nahen Osten«, elaboriert er unverblümt. »Die Ecke hat mich noch nie gereizt.«

Voller Entsetzen starre ich ihn an. »Also wenn ich in Europa bleiben würde, würdest du es dir noch mal überlegen?«

»Ja, oder Amerika. Meinetwegen auch Neuseeland, da wollte ich schon immer mal hinreisen.«

»Neuseeland ist dreimal so weit weg wie Katar!«

»Entspann dich.« Wieder kommt sein Signature Move zum Einsatz, bloß erinnern mich seine Locken jetzt nicht mehr an Engelshaare, sondern an platt gekochte Fusilli-Nudeln. »Wir können nach der Aufführung noch mal in Ruhe über alles reden.«

»Scheiß auf die Aufführung! Du hast mir noch vor zwei Minuten gesagt, dass du mich liebst!«

Er fasst sich gekränkt an die Brust. »Entschuldige mal, das waren weitaus mehr als zweiMinuten!«

Unglaublich, wie sich hinter so viel Schönheit so viel Hässlichkeit verbergen kann. Sogar vom tiefen Ozean in seinen Augen fehlt auf einmal jede Spur. Übrig ist nur ein seichtes Pfützengrau, das im Becken seiner Iris träge hin und her schwappt.

Ich taste nach meinem Slip und winde mich aus dem Deckengewirr.

»Ach, Belladonna, sei doch nicht so empfindlich! Komm wieder ins Bett!« Erneut verzerrt diese abstoßende Begierde seine Züge. »Wir fangen doch gerade erst an.«

»Oh, wir sind so was von zu Ende!« Ich wünschte, meine Stimme wäre nicht so fadendünn. »Ich gehe jetzt.«

Sogleich perlt jegliches Interesse von ihm ab. »Wie du willst.«

Wankend schlüpfe ich in mein Sommerkleid und versuche mit aller Kraft, die Tränen zurückzuhalten.

»Eins noch.« Er seziert mich mit einem detektivischen Blick. »War das dein erstes Mal?«

»Spinnst du?«, krächze ich mit hochrotem Kopf. »Natürlich nicht! Wieso fragst du so etwas Bescheuertes?«

Er zeigt auf die Matratze. »Weil du geblutet hast.«

Genau so stelle ich mir Folter vor. »Die paar Tropfen?«, lache ich rau. »Ich hatte nun mal länger keinen Sex mehr. D-das ist ganz normal.«

»Ach so. Na dann.« Er rollt sich aus dem Bett. »Hilf mir doch noch schnell, bevor du gehst.«

»Womit?«

»Das Laken abzuziehen.«

Und weil ich nie gelernt habe, wie man mit einer solchen Demütigung umgeht, gehorche ich wortlos.

»Du brauchst dich deswegen nicht schlecht zu fühlen«, schließt Leo mit dem Liebreiz eines Kloakentiers. »Muss eh mal wieder gewaschen werden.«

»Okay, b-bis morgen dann«, presse ich heraus.

»Hey, Rea – fang!« Das Bettlaken landet in meinem Gesicht. »Kannst du es beim Rausgehen noch schnell in die Waschmaschine werfen? Du kennst dich ja aus.«

»Tschüss, Glubschi«, murmele ich, nachdem ich das Bettlaken zusammen mit Leos elfenbeinweißem Theaterhemd in die Waschmaschine gestopft und das 90-Grad-Programm gestartet habe.

Er nickt abwesend.

Ich bleibe stehen und drehe mich zu dem Elfjährigen um. Der Arme muss Leos Bullshit schon sein ganzes Leben lang über sich ergehen lassen. »Was liest du da eigentlich, Gabriel?«

Verwundert blickt er zu mir auf. »Der Herr der Ringe.«

»Wirklich? Ich bin ein großer Fan von Tolkien.«

Kurz flirren seine Wimpern wie hauchzarte Antennen. »Hast du gerade geweint?«

»Sag es keinem weiter, aber Aragorn ist schon immer meine große Liebe gewesen.« Schnell wische ich mit dem Handrücken über meine Wangen.

Er kneift die Augen zusammen. »Ich dachte, mein Bruder ist deine große Liebe.«

Sprachlosigkeit übermannt mich. Mit einem Mal erscheint es mir völlig absurd, einen Menschen wie Leo gernzuhaben.

»Aragorn ist durchaus die bessere Wahl«, ergänzt er und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln.

»Gabriel, es tut mir leid, dass ich nicht immer nett zu dir war.«

Er schlägt die Beine übereinander und betrachtet mich sinnend.

»Oder n-nie nett war«, verbessere ich mich und senke schuldbewusst den Kopf.

»Schon okay. Von Leos Freundinnen bist du nur die Siebtschrecklichste.«

Ich nicke langsam. »Ich fasse das mal als Kompliment auf. Allerdings lautet die korrekte Bezeichnung Ex-Freundin.«

»Sei nicht traurig deswegen«, entgegnet der Junge – und sogleich wechselt er in eine düstere Erzählstimme: »Du musst wissen, mein Bruder ist wie der EineRing. Jeder begehrt ihn, jeder will ihn haben, doch besitzt man ihn erst, zieht er seinen Träger in das Reich der Schatten hinüber. Am besten, man bringt ihn zurück nach Mordor und überlässt ihn den Flammen des Schicksalsbergs. Ein Vollidiot, sie zu knechten …«

3.Die Nacktschneckenkönigin

Meine Mutter steckt den Kopf durch den Türspalt und verkündet in einem fröhlichen Singsang: »Ich habe eine Kleinigkeit für dich, Re…« – sie bricht ab und schnappt hörbar nach Luft – »du meine Güte! Ist alles in Ordnung?«

Ich signalisiere ihr mit einem kurzen Handzeichen, dass ich am Leben bin.

»Bist du gestürzt?«

»Nein.«

»Warum liegst du dann mitten auf dem Boden?« Ächzend bahnt sie sich einen Weg durch Umzugskartons, Kleiderberge und demontierte Möbelstücke. »Und wieso trägst du BHs am ganzen Körper?«

»Weil ich mich in die afrikanische Vielzitzenmaus hineinversetzen wollte«, erkläre ich mit monotoner Stimme.

»Die – was?«

»Vielzitzenmaus. Sie hat vierundzwanzig Brüste, mehr als alle anderen Säugetiere auf diesem Planeten.«

»Ist das so?« Mama räuspert sich verhalten. »Wie wäre es, wenn du – äh – eine Pause einlegst und dir ansiehst, was ich auf dem Nachhauseweg besorgt habe.«

»Habe ich eine Wahl?«

»Nein«, antwortet sie freundlich, aber bestimmt und pausiert die Doku auf meinem Laptop. Sowohl mein Vater als auch ich haben die Angewohnheit, uns von Tierfilmen einlullen zu lassen, sobald wir traurig sind.

Grummelnd setze ich mich auf. »Ich gebe dir drei Minuten. Danach will ich sehen, ob Orengina ihre Vielzitzen-Familie wiederfindet oder ob sie sich allein durch die Sahara schlagen muss.«

Mama streichelt mir über die Haare und verliert dabei sämtliche ihrer Ringe im Dickicht meiner blonden Locken. »Hast du heute schon was gegessen?«, fragt sie, während sie meinen Kopf nach ihren verschollenen Schmuckstücken absucht.

»Positiv«, entgegne ich und halte eine leere Gummibärchen-Tüte in die Luft.

»Ich meine, abgesehen von Süßigkeiten.«

Meine Miene verfinstert sich. »Dir bleiben noch zwei Minuten.«

»Du verbarrikadierst dich seit Tagen in deinem Zimmer, dabei beginnen nächste Woche die Sommerferien und wir …«

»Laufen ins Verderben.«

»Ziehen nach Doha«, berichtigt Mama, als klänge das weniger tragisch. »Du solltest in die Schule gehen und Zeit mit deinen Freunden verbringen.«

Ich huste ausgiebig. »Sorry, zu krank.«

»Bestimmt vermisst dich Mira schon. Und der Theater-Beau auch.«

»Du hast noch eine Minute«, knurre ich grimmig.

»Ach, komm schon, Rea!«

Ich stöhne genervt. »Niemand vermisst mich – kapiert!«

»Das weißt du doch gar nicht … schließlich kann man dich überhaupt nicht erreichen!« Mit einem triumphierenden Lächeln holt sie eine hübsche Geschenkbox hinter ihrem Rücken hervor. »Voilà, das allerneueste iPhone!«

Ich blicke auf die rosa Geschenkschleife – und fühle mich noch elender als zuvor.

»Nein, danke.«

Die Entrüstung steht ihr ins Gesicht geschrieben. »Wie bitte?«

»Ich lehne ab«, sage ich überdeutlich.

»Du brauchst aber ein Handy!«

»Ich will keins.«

Meine Mutter ballt die Hände zu Fäusten. »Was ist los mit dir, Rea? Du liegst hier rum und gibst dich so hilflos und verloren. Meine Tochter ist stark!«

»Dann richte deiner starken Tochter meine besten Wünsche aus, wenn du sie siehst«, zische ich. »In diesem Zimmer ist sie jedenfalls nicht, du kannst also getrost abziehen.«

Wer Carolin Augustin kennt, weiß, dass Aufgeben nicht Teil ihres Vokabulars ist. »Eine dämliche Fahrprüfung sollte dich wirklich nicht derart aus der Bahn werfen! In Doha kannst du wieder Unterricht nehmen, dann hast du deinen Führerschein ruckzuck in der Tasche.«

Typisch Eltern. Als ob ein paar dämliche Fahrstunden in Dohatanamo meine Probleme lösen würden.

»Ich habe gelogen«, offenbare ich giftig. »Das Handy ist mir überhaupt nicht aus der Hand gerutscht. Ich habe es auf den Boden geworfen – und zwar mit voller Absicht!«

Kurz herrscht tosende Sturmstille.

Dann stottert Mama entsetzt: »W-warum?«

»Mira hat mich beschuldigt, eine verwöhnte Göre zu sein – da bin ich wütend geworden. Dabei fällt mir auf, dass sie mit ihrer Einschätzung goldrichtig lag.« Ich zucke mit den Schultern. »Egal, dann bin ich eben ein schlechter Mensch. Ein neues iPhone brauche ich trotzdem nicht. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden und meine Doku weiterschauen. Die Besuchszeit ist vorbei.«

Mama pfeffert die Box neben mich und sagt böse: »Behalte es! Du kannst nicht ohne Handy rumlaufen!«

Wortlos begebe ich mich zurück in die Waagerechte und stülpe einen BH über meine Augen.

»Du enttäuschst mich, Rea.« Ich höre, wie sich meine Mutter erhebt und den Stoff ihres silbergrauen Hosenanzugs glatt streicht. »Ruf endlich deine Theaterlehrerin zurück. Übermorgen findet die Premiere statt und du hast die letzten beiden Proben verpennt. Frau Spekolato ist schon völlig am Durchdrehen.«

Mit einem lauten Knall schlägt sie die Tür hinter sich zu.

Lange Zeit liege ich einfach nur da, verinnerliche das Chaos um mich herum, die ganze Destabilisierung meiner Welt. Nichts ist mehr an seinem gewohnten Platz, alles befindet sich im Umbruch, in flirrender, quälender Unruhe. Und inmitten der Veränderung fühle ich mich zunehmend stumpf, abgeschnitten von meinen eigenen Gefühlen, als würde sich mein Herz in einen luftleeren Kokon zurückziehen.

Irgendwann überwinde ich mich dazu, meine alte SIM-Karte in das neue iPhone einzulegen. Ich starte das Handy und warte ab. Schalte es aus und wieder ein. Halte es kurz aus dem Fenster. Schüttele es wie eine Schneekugel vor meinem Gesicht.

Die Wahrheit bleibt die gleiche: Meine Theaterlehrerin ist die Einzige, die mich in den letzten 72 Stunden kontaktiert hat. Keine neue Nachricht von Leo. Kein Wort von Mira. Ich schlucke einen dicken Kloß hinunter und beschließe, meine Tier-Doku fortzusetzen. Als Orengina auf dem Weg zu ihrer Vielzitzen-Familie von einem Schakal verspeist wird, laufen mir die Tränen bereits in Strömen über die Wangen.

Frau Spekolatos Nachricht lese ich erst am nächsten Morgen – und sofort sitze ich kerzengerade im Bett. Nein, nicht das noch! In Lichtgeschwindigkeit ziehe ich mich an und stürme zu meinen Eltern in die Küche.

»Ich muss zur Theaterprobe!«, kreische ich, und mein Vater verschüttet vor Schreck den halben Kaffee.

»Himmel, Rea, bist du von allen guten Geistern verlassen? Deinetwegen bekommt Constantiiin noch einen Herzinfarkt!«, faucht Mama und zückt die Küchenrolle.

»Keine Zeit für Small Talk!«, rufe ich drängend. »Kann mich einer von euch in die Schule fahren?«

»Wie geht es deiner PM…?« Papa zupft unschlüssig an seiner Brille.

»S«, helfe ich ihm. »Meiner PMS geht es hervorragend. Können wir jetzt los? Bitte.«

Meine Mutter verdreht die Augen, aber immerhin signalisiere ich Bereitschaft, mein Zimmer zu verlassen, daher urteilt sie diesmal nur stillschweigend.

»Okay, ich bringe dich hin«, sagt Papa und trinkt seine Tasse in einem Zug leer.

»Rea, Moment!« Mama eilt uns hinterher. »Vergiss nicht, dass heute der Umzugsdienst kommt!«

»Wie könnte ich das vergessen?«, knurre ich und binde meine Sandalen.

»Hast du alles wie besprochen vorbereitet?«

Anstatt zu antworten, stoße ich die Eingangstür auf und laufe zum Auto.

Als ich die Aula betrete, offenbart sich mir das Ausmaß der Meuterei unter glitzerndem Scheinwerferlicht: Leo – in eingelaufenem Hemd und schwarzer Weste – hält Jaqueline aus unserer Stufe in den Armen und spitzt verführerisch die Lippen. Jaqueline – geschmückt mit zwei spiralförmigen Haarknoten – bäumt sich auf und seufzt mit der Inbrunst einer gebärenden Walrosskuh. Der Rest der Theatergruppe hat sich vor der Bühne versammelt und blickt schmachtend zum neuen Traumpaar hoch.

»Ich liebe dich«, säuselt die falsche Prinzessin Leia, scheinbar bemüht, mit dem Klimpern ihrer Wimpern einen ganzen Mückenschwarm zu verscheuchen.

»Ich weiß«, entgegnet Han Solo lässig, und seine Haare legen all die unmöglichen Stunts hin, die man sonst nur aus Shampoo-Werbungen kennt. Dann küsst er sie ohne jede Reue, dafür aber mit umso mehr Zunge.

Der Schmerz trifft mich wie eine Schockwelle. Mit stockenden, zombiehaften Bewegungen nähere ich mich der Bühne, während die Nebelmaschine das knutschende Paar in rosarote Wattewolken einhüllt. Alles wirkt unscharf und albtraumhaft verzerrt, als hätte sich eine pulsierende Membran zwischen mich und die Außenwelt geschoben.

Han Solo greift Prinzessin Leia an die Hüfte – und ich muss an Leos Berührungen denken, an seine schalen Liebkosungen und das kalte Brennen, das seine Hände auf meiner Haut hinterlassen haben. Mag sein, dass ich Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle gehabt habe, dass ich ihm jedoch so gänzlich egal bin, macht mich fassungslos. Einen Moment lang frage ich mich sogar, ob ich das alles nur träume, doch dann schweift Leos Blick über die gaffende Zuschauerschaft … undfindet mich.

Ohne jede Hast löst er sich von Jaqueline und setzt ein amüsiertes Grinsen auf. »Sieh mal an, wen die Galaxis da ausgespuckt hat!«

Alle drehen sich zu mir um und ein erschrockenes Raunen geht durch die Aula.

»W-was soll das werden?«, stammele ich.

»Meinst du das hier?« Leo zeigt zwischen sich und Jaqueline hin und her. »Das nennt man Showbusiness.«

Meine Stimme ist kaum mehr als ein wundes Hauchen: »Das verstehe ich nicht.«

»Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann.« Er vollführt eine Reihe zuckender Handbewegungen. »Jemanden, mit dem ich vibe.«

Eine ungeheuerliche Wut brodelt in mir auf. »Mir ist scheißegal, mit welchem dahergelaufenen Marsmonster du gerade vibest, die Rolle gehört mir! Ich bin Prinzessin Leia!«

»Hey!«, kräht Jaqueline – dass sie das bodenlange Gewand völlig falsch gebunden hat, scheint nur mir aufzufallen. »Als was hast du mich gerade bezeichnet?«

»Oh mui mui, ich-se nich-se wissen!«, fauche ich und balle die Hände zu Fäusten. »Schleich dich, Jar Jar Binks! Hier gibt es nur eine Prinzessin Leia!«

Endlich erwacht unsere Theaterlehrerin aus ihrer Schockstarre und hastet aufgebracht keuchend auf mich zu. »Rea, da bist du ja endlich!« Frau Spekolatos dreihundert Armbänder rasseln lautstark. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht!«

»Ach ja? Haben Sie mich deshalb aus dem Stück geworfen?«

»Wir mussten nun mal ein wenig umstrukturieren, schließlich hatten wir keine Ahnung, ob wir dich jemals wieder zu Gesicht bekommen!« Sie hickst nervös. »Du hast die letzten beiden Proben geschwänzt. Und die Nachricht über die verschobene Generalprobe hast du ebenfalls ignoriert.«

»Ich würde diese Gruppe niemals im Stich lassen! Niemals!« Ich klopfe mir auf die Brust. »Und das habe ich schon unzählige Male unter Beweis gestellt!«

»Krieg dich wieder ein, Rea!«, mault Leo und schwingt überheblich die Blasterpistole. »Es ist ja nicht so, dass du gar keine Rolle mehr hast.«

»Was heißt das?«, raune ich und schaue zwischen meinen Theaterkollegen hin und her.

Frau Spekolato zupft an ihrem bunt gefleckten Flatterschal und beginnt mit schwacher Stimme: »Nun, wir haben viel diskutiert, denn wir wissen ja, dass du gerade einiges durchmachst.«

»Die verkackte Führerscheinprüfung, zum Beispiel«, erläutert Jaqueline teuflisch vergnügt. »Und deine Deportation nach Katar.«

Ein eisiger Schauder ergreift mich. Wie konnte sich das so schnell rumsprechen?

Mittlerweile zeichnen sich Schweißperlen auf Frau Spekolatos Stirn ab. »Du scheinst im Augenblick einfach nicht du selbst zu sein und wir wollten … na ja … nichts riskieren.« Ihre Zähne knirschen unangenehm. »Jedenfalls sind wir zum Schluss gekommen, dass es besser wäre, wenn …«

Leo stöhnt ungeduldig und ruft: »Du bist jetzt Jabba the Hutt!«

Ich starre ihn entsetzt an.

Jaqueline grinst bösartig.

»Redest du von diesem schleimigen N-Nacktschneckenkönig?«, stottere ich.

»Dem Huttenkönig, ja«, bestätigt Leo.

»Aber Detlef ist Jabba the Hutt!«

»Nun, Detlef ist jetzt Jar Jar Binks«, erklärt Frau Spekolato und hüstelt betreten.

Ungläubig sehe ich zu Detlef Scheissner hinüber, der damit beschäftigt ist, seltene Bodenschätze aus den Tiefen seines Nasenlochs freizuschaufeln.

»Das könnt ihr mir nicht antun!« Ich mache einen Schritt auf meine Theaterlehrerin zu. »Es tut mir leid, dass ich untergetaucht bin – ehrlich. Aber jetzt bin ich hier. Bitte, geben Sie mir noch eine Chance! Sie können sich nicht vorstellen, wie wichtig mir das ist!«

Frau Spekolatos Miene erwärmt sich leicht, doch Leo fährt grob dazwischen: »Du hast selbst gesagt, dass du auf die Aufführung scheißt. Ich werde nicht zulassen, dass du die Show für uns kaputtmachst! Ich habe meine Prinzessin gewählt. Und es bist nicht du.«

»Das Theaterspielen bedeutet mir alles«, wimmere ich und merke, wie sich meine Augen mit Tränen füllen.

»Rea, das ist die letzte Probe vor der Aufführung«, nuschelt Frau Spekolato. »Wir müssen jetzt weitermachen. Ich bitte dich darum, die Entscheidung der Gruppe zu respektieren. Außerdem ist es doch schön, dass Jaqueline auch mal eine Chance bekommt. Sonst spielst immer nur du die weibliche Hauptrolle.«

»Weil ich mit Abstand die meiste Arbeit reinstecke!«, krächze ich.

»Komm schon« – Leo bedenkt mich mit einem anzüglichen Blick – »dir muss bewusst sein, dass deine Performance ziemlich zu wünschen übrig lässt.«

Unterdrücktes Glucksen von allen Seiten.

Ich starre ihn mit offenem Mund an. Noch nie im Leben habe ich mich derart gedemütigt gefühlt.

Im nächsten Moment tritt Detlef Scheissner zwischen uns und hält mir das zusammengeknüllte Jabba-the-Hutt-Kostüm unter die Nase. »Äh, bitte sehr.«

»In diesem Stück wird es vielleicht eine falsche Prinzessin Leia geben … aber keinen Jabba the Hutt!« Ich reiße Detlef den Stoffhaufen aus den Händen und stolpere in Richtung Ausgang. »Ach ja, noch etwas«, ich drehe mich um, und mein Blick speit Feuer, »du bist ein Arschloch, Leonardo Angelini!«

»Han Solo«, korrigiert er echauffiert. »Du weißt doch, wie sehr ich es hasse, wenn man mich aus der Rolle reißt!«

Ich strauchele durch den leeren Schulkorridor und gerate immer wieder ins Taumeln. Graue Tränenvorhänge tönen meine Sicht und verziehen die Bogenfenster. Ich zittere am ganzen Körper. Das Rauschen meines Bluts scheint sich auf die Wände zu übertragen, alles um mich herum summt und pocht entsetzlich.

»Re-Ra!«

Ich bleibe stehen und schaue zeitlupenartig über die Schulter.

Es ist Mira, sie kommt gerade aus der Mädchentoilette. »Alles in Ordnung?«

»Sehe ich so aus, als wäre alles in Ordnung?«, japse ich, dicht gefolgt von einem raubtierhaften Aufschluchzen.

»Willst du mir erzählen, was passiert ist?«, fragt sie besorgt.

»Damit morgen die ganze Schule Bescheid weiß?!«, belle ich. »Warum hast du überall herumposaunt, dass ich durch die Führerscheinprüfung gefallen bin? Du bist die Einzige, die Bescheid wusste.«

Ihre Züge spannen sich an. »Ich habe Frau Spekolato informiert, weil ich mitbekommen habe, dass Leo die ganze Theatergruppe gegen dich aufhetzt. Ich wollte sie davon überzeugen, dass dein Verhalten begründet ist und du dich bis zur Premiere wieder einkriegst. Ich wollte helfen.«

»Herzlichen Glückwunsch, du hast alles nur noch schlimmer gemacht!«

Ihre Lippen beginnen zu beben. »Du willst also immer noch streiten?«

»Was macht das noch für einen Unterschied?« Der Knoten in meiner Kehle schwillt an. »Nächste Woche ziehe ich nach fucking Katar, dann bist du mich eh los! Du hast doch schon lange keinen Bock mehr auf unsere Freundschaft.«

»Das stimmt überhaupt nicht! Es ist nur einfach schwer nachvollziehbar, weshalb du so unglaublich hart zu dir selbst bist. Und wie blind dich das manchmal macht.«

»Ich habe jetzt echt keinen Nerv für deine Psychoanalysen!«

»Komm doch wenigstens kurz in die Klasse und verabschiede dich.« Jetzt kämpft auch Mira mit den Tränen.

»Nein«, stoße ich hervor.

»Dann lasse ich dich eben in Ruhe.« Der Linoleumboden quietscht unter ihren Schuhsohlen. »Gute Reise, Rea.«

»Warte!«, krächze ich mit brüchiger Stimme. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich meine beste Freundin womöglich zum letzten Mal gesehen habe. »I-ich werde dich vermissen.«

»Du hast eine seltsame Art, das zu zeigen.« Mira sieht mich todtraurig an, dann dreht sie mir den Rücken zu und geht.

Meine Eltern sind nicht zu Hause, Behördengänge oder Ähnliches. Als ich aufsperre und durch die Eingangstür trete, merke ich sofort, dass etwas nicht stimmt. Der vertraute Geruch unserer Möbel, unserer Teppiche, unserer Vorhänge, unserer Küchenschränke, dieses magische Allerlei an Duftnoten, das unser tägliches Leben repräsentiert, ist verschwunden.

Ich laufe durch den Flur und stelle fest, dass die Räume leer sind.

Der Umzugsdienst, erinnere ich mich glühend heiß und stürme die Treppe hinauf in mein Zimmer.

»Nein …«, keuche ich und schwanke. Alles ist weg. Alles. Ich blicke auf das kleine Stückchen Luftpolsterfolie, das vor meinen Füßen liegt, und denke an Mamas Worte: »Pack deinen Koffer mit den Dingen, die du in den nächsten zwei Wochen zum Leben brauchst. Der Rest wird vom Umzugsdienst eingeladen und nach Katar geschifft.« Nur habe ich meinen Reisekoffer niemals vom Speicher geholt, geschweige denn gepackt.

Wie in Trance schreite ich durch den leeren Raum. Da ist nichts, an dem ich mich festhalten kann, nichts, was mir Halt gibt. Mein ganzes Leben ist aus den Fugen geraten.

Mir wird bewusst, dass ich noch immer das Jabba-the-Hutt-Kostüm in den Händen halte. Die ganze Zeit über habe ich mich so fest in den Polyesterstoff gekrallt, dass meine Finger jetzt schmerzhaft knacksen. Ich hebe das grässliche Kostüm vor mein Gesicht und schüttele den Kopf. So strategisch grausam kann das Schicksal nicht sein. Nein, ich muss verflucht sein, anders lässt sich diese Anhäufung von Pech einfach nicht erklären. Ungeschickt schlüpfe ich in die grüngelben Hosenbeine und stecke den Kopf durch die braune, wulstige Öffnung.

Das bin ich nun also, die Nacktschneckenkönigin, die überhaupt nicht mehr weiß, wer sie ist und wo sie ist und welches Leben sie geführt hat, bevor sie verhext wurde. Ich bin im Begriff, in die völlige Fremde zu gehen, dabei hat das wahre Unbekannte schon längst Einzug gehalten – und zwar inmir.

4.Der gelbe Lampenbär

Gleich wird ihre Hand gegen die beschlagene Autoscheibe klatschen, dramatisch zucken und langsam hinuntergleiten. Jeder weiß, dass mit dieser Szene der Liebesakt zwischen Jack und Rose im Frachtraum der Titanic eingeleitet wird. Ich pausiere den Film und schiele verstohlen zu meinen Eltern. Mama, die am Fenster sitzt, tippt schon seit Stunden einen Artikel in ihren Laptop, und Papa, dem wir den Mittelplatz zugewiesen haben, scheint tief zu schlafen. Sein Mund steht offen und ein kleines Speichelbläschen wächst und schrumpft im Rhythmus seiner Atemzüge.

Es ist zu erwarten gewesen, dass er sich früher oder später in eine Art Delirium schwatzt. Ich kenne keinen anderen Menschen, der so gerne und vor allem so viel redet wie er. In den letzten zwei Stunden hat er jedes noch so belanglose Detail über die arabische Oryxantilope dargelegt, das Symboltier Katars, und das nur, weil ich das gehörnte Viech auf dem Seitenruder des Qatar-Airways-Flugzeugs mit einer Ziege verwechselt habe. Das Einzige, was ich aus seinem National-Geographic-reifen Vortrag herausgefiltert habe, ist, dass es sich bei der Antilope eigentlich um einen Pferdebock handelt – was mir ein kleines Schmunzeln entlockt hat, bevor ich mich wieder daran erinnert habe, dass wir nach Katar ziehen und alles scheiße ist.

Nachdem ich mich vergewissert habe, dass die Wahrscheinlichkeit einer Interaktion mit meinen Eltern gleich null ist, stecke ich den letzten arabischen Mini-Donut in den Mund (zugegeben sehr lecker, auch wenn der Name Khanfaroosh eher nach einem wütenden Flaschengeist und weniger nach einem Dessert klingt) und drücke auf Play.

Wait a minute.

Ich höre auf zu kauen und blinzle verdutzt in den Bildschirm. Die Szene, in der Jack und Rose im Oldtimer miteinander schlafen, fehlt. Stirnrunzelnd spule ich zurück. Nein, das war kein Glitch in der Matrix, die Sexszene ist definitiv rausgeschnitten worden.

»Aha«, eröffnet mein Vater hellwach und mit bedeutungsträchtiger Stimme.

Ich zucke so heftig zusammen, dass es sich kurz so anfühlt, als stürze das gesamte Flugzeug in ein Luftloch.

Beinahe feierlich setzt er seine Brille auf und lehnt sich an mich: »Vielleicht ist es dir vorhin nicht aufgefallen, aber man hat weder ihren Podex noch ihren Vorbau zu Gesicht bekommen.«

»Ihren was?« Schlagartig kommt mir die Szene in den Sinn, in der Jack die berühmte Nacktzeichnung von Rose anfertigt. Stimmt, man konnte wirklich nichts sehen, weder ihren Hintern noch ihre … »Argh, Papa!«, zische ich und merke, wie ich knallrot anlaufe. »Erstens: Verwende nicht andauernd diesen frühantiken Spießerwortschatz! Und zweitens: Ich dachte, du schläfst!«

Mein Vater lässt sich nicht beirren: »Alles, was als anstößig empfunden werden könnte, wird in den Golfstaaten zensiert. Manchmal ist sogar schon Händchenhalten zu viel des Guten.«

Es verwirrt mich, dass er so unbeschwert lächelt. »Und, findest du das in Ordnung?«, hake ich nach.

»Nachvollziehbar finde ich es nicht, nein. Aber ich bin ja auch nicht religiös.« Er macht eine abwinkende Handbewegung. »Stören tut es mich jedenfalls nicht.«

Es ist zu erwarten gewesen, dass seine Antwort unverfänglich oder allerhöchstens neutral ausfällt.

»Du weißt bestimmt, dass Lightyear in Katar verboten wurde, weil es eine Szene gibt, in der sich zwei Frauen küssen. Ein harmloser Kinderfilm, trotzdem darf er nicht gezeigt werden. Stört dich das etwa auch nicht?«

Papa hebt überrascht die Augenbrauen. »Du hast dich also informiert, dabei hat deine Mutter behauptet, dass du nur schmollst.«

»Ach, vergiss es einfach!«, knurre ich und wende mich von ihm ab.

Plötzlich verändert sich sein Tonfall. »Doch, Rea, das stört mich. Sehr sogar. Aber ich bin nicht in der Position, darüber zu urteilen. Meine Aufgabe ist es, die Interessen unseres Landes zu vertreten und die guten politischen Beziehungen zwischen Katar und Deutschland aufrechtzuerhalten.«

»Das hast du ganz wunderbar gesagt. Wirklich, sehr diplomatisch«, kommentiere ich sarkastisch.