Sturmschaden - Rainer Bressler - E-Book

Sturmschaden E-Book

Rainer Bressler

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Beschreibung

Äussere und innere Stürme stellen selbst den in die Jahre gekommenen Protagonisten in STURMSCHADEN, eingebettet in die Geschichte um einen tatsächlichen Sturmschaden, auf die Probe. Er wird in seinem Dasein als Mann durcheinandergeschüttelt. Muss alles und nichts in Frage stellen. Will wissen, wie er als Mensch und als Mann tickt. Um angemessen handeln zu können. Dazu sein Staunen über die Folge von überraschenden Zufällen innert kürzester Zeit in seinem normalen Alltag als Rentner. Zufälle, die sich zu einem stimmigen Ganzen zusammenfügen. Der Geschichte einen besonderen Drive geben. Die Erforschung seines Denkens, seines Tatsächlichen, seines Eingebildeten und seines Seins löst unzählige Wirbel aus und führt, mit etwas Glück, zu so etwas wie einem Mehrgewinn an Selbsterkenntnis. Der letztlich erheitert und zur Bewältigung des Alltags beiträgt.

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Rainer Bressler, Jurist im Ruhestand und Schriftsteller, geboren 1945, ist Schweizer und lebt in Zürich. In den Jahren 1980 bis 1993 profilierte er sich als Hörspielautor, dessen Hörspiele von Radio DRS produziert und ausgestrahlt wurden.

Bisherige Veröffentlichungen:

7 Hörspiele:

Tom Garner und Jamie Lester; Morgenkonzert; Folgen Sie mir, Madame; Aufruhr in Zürich; Nächst der Sonne;

Geliebter / Geliebte; Gaukler der Nacht; Beinahe-Minuten-Krimi

Produziert und ausgestrahlt in den Jahren 1979 bis 1993

Geliebter / Geliebte. 8 Hörspiele, Karpos Verlag, Loznica 2008

Privatzeug 1856 bis 2012. Versuch einer Spurensuche, 5 Bände:

Spur 1 Reisen; Spur 2 Spielen; Spur 3 Schreiben; Spur 4

Dichten; Spur 5 Weben

BoD 2012 bis 2016

Pink Champagne, satirischer Roman, BoD 2020

Schattenkämpfe, Roman, BoD 2020

Kraut & Rüben, Kurzgeschichten, BoD 2020

Reise-Impressionen, Erzählungen, BoD 2020

Fenstersturz, Krimi-Satire, BoD 2020

Texturen, Krimi-Satire, BoD 2020

Theaterstücke Band I bis …, BoD 2020

Gärung, Gesellschafts-Satire, BoD 2020

Axthieb, Krimi-Parodie, BoD 2021

Spassvogel, Novelle, BoD 2022

Ein falscher Freund, BoD 2024

Der Mensch lebt durch den Kopf

Der Kopf reicht ihm nicht aus

Versuch' es nur, von deinem Kopf

Lebt höchstens eine Laus

Denn für dieses Leben

Ist der Mensch nicht schlau genug

Niemals merkt er eben

Diesen Lug und Trug

Bertolt Brecht, Die Dreigroschenoper; Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens

RBr., Fotocollage 1977

RBr., Selbstporträt-Skizze nach Bruce Nauman, undatiert

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Nachspiel

Eins

Du verkriechst dich mit deinem Kopf aus der Beinahe-Dunkelheit in dunklere Dunkelheit unter deine Bettdecke. Um von den Leuchtziffern deiner Rolex-Armbanduhr, die du selbst im Bett und in der Nacht an deinem linken Handgelenk trägst, blinzelnd die Zeit abzulesen. Oder zumindest zu erahnen, um wieviel Uhr du jetzt schon wieder aufgewacht bist. Mit leichtem Druck auf die Blase. Fünf nach Zwei. Gut so. Nach vier Stunden Schlaf mit leichtem Harndrang aufzuwachen ist okay. Der Harndrang, obwohl leicht, lässt dich nicht gleich wieder einschlafen. Du MUSST pissen gehen. Sonst irritiert dich der Druck auf die Blase und lässt dich ewig wachliegen. Dein Schlaf ist zwar unterbrochen, doch vermittelt das Schicksal dir die Feststellung, dass du bereits zumindest vier Stunden ohne Unterbruch fest und traumlos geschlafen hast. Hoffentlich ohne zu schnarchen. Lady hatte dir neulich an den Kopf geworfen, dass du oft schnarchst. Eine Feststellung, die, so unspezifiziert hingeworfen, an deiner Ehre nagt. Du erlebst dich selber nicht als Schnarcher. Bezweifelst daher Ladys Behauptung.

Obwohl der Harndrang nicht sehr stark ist, legst du in einer Anwandlung von Halbschlaf ohne wächstes Wachsein sachte, wie gewohnt, eine Ecke deiner Bettdecke zurück, stehst, nackt wie du bist und zu schlafen pflegst, auf und gehst ohne das Licht anzudrehen, zur Türe des Schlafzimmers. Den in die Nachtstille dringenden Geräuschen, dem regelmässigen Aufprall von Tropfen auf irgendwelche Flächen draussen, dem leisen Scheppern von Läden und Fensterscheiben, entnimmst du, dass draussen leichter Wind herrscht, und es leicht regnet. Zumindest kein Sturm. Nicht weiter störend. Du gehst die Wendeltreppe in der Dunkelheit vorsichtig runter. Bedächtig der Wand der Mittelsäule auf der einen Seite und dem Handlauf auf der anderen Seite nachtastend. Bis dein rechter Fuss nach dem Teppichbelag auf den Wendeltreppenstufen wieder Parkett-Boden spürt. Du durchquerst den Vorraum im ersten Stock des Hauses. Findest den Eingang zur Toilette bei offenstehender Toilettentüre spielend. Betrittst die Toilette. Stellst dich in der Dunkelheit beinahe blindlings, doch voller Zuversicht, dich richtig positioniert zu haben, vor das schwach heller aus dem Dunkel hervorschimmernde, bei vollem Licht weisse Toilettenbecken. Hältst deinen Schwanz so, dass dein Pissstrahl die Mitte des Beckens treffen sollte. Was er durchaus tut. Du hörst es am Geräusch des Aufplätscherns deines Pissstrahls. Der Pissstrahl auf das stehende Spühlwasser im Becken ist – bedingt durch dein Alter – zu einem nicht heftigen Pissflüsschen verkommen. Du lässt die Pisse in Ruhe fliessen.

Nach dem Pissen tastest du dich der Wand der Mittelsäule und dem Handlauf entlang wieder nach oben in den zweiten Stock hinauf. Gehst Tritt für Tritt die Wendeltreppe hoch in Richtung Schlafzimmer. Oben angekommen bemühst du dich, dich möglichst ohne unnötige Geräusche wieder ins Bett zu legen. Du kuschelst dich in deiner Bettdecke zurecht. Zerrst am Kopfkissen, bis seine Lage deinen Kopf wohlig stützt. Entspannt wie du bist, wirst du, wie du aus Gewohnheit weisst, problemlos wieder weiterschlafen.

Spontan blitzt die Erinnerung an das morgige oder besser heutige, verflixte, dir auf dem Magen liegende Gespräch am Nachmittag mit Justus von Schaffensberg auf. In deinem Kopf quillt seit den ungeahnten Zufällen gestern Nachmittag diese Erinnerung daran immer wieder spontan auf. Je näher der Termin rückt, desto öfter kommt sie. Reflexartig wehrst du ab. Versuchst zu verdrängen. Was nicht gelingt.

Dieser Erinnerungsblitz katapultiert dich augenblicklich in volles Wachsein. Deine Sinne sind entfesselt. Ein unwillkürlicher Gedankensturm wirbelt sogleich durch deinen Kopf. Du wirst an diesem Gespräch ohne Rücksicht auf Verluste sagen müssen, was gesagt werden muss. Die Situation ist eindeutig und klar. Du wirst Justus, diesem Pappenheimer, der dir ein Begriff ist, mit dem du jedoch nie wirklich etwas zu tun hattest und den du nur sehr entfernt kennst, gelassen gegenübertreten. Weshalb, zum Teufel, brockt dir ein Zufall dieses widerliche Gespräch ein! Weshalb musst du ausgerechnet jetzt, wo du einschlafen willst, daran erinnert werden!

Du befürchtest, wegen dieses blöden Erinnerungsblitzes, der dich schon etwas nervös macht, überhaupt nie mehr einschlafen zu können. Du wirst nervös und nervöser werden. Bestimmt wirst du stundenlang wachliegen. Dich unruhig hin und her wälzen. Lady wird, trotz ihres Tiefschlafs, mitbekommen, dass du eine unruhige Nacht hast. Sie wird dich am Morgen, wenn sie ungefähr zwei Stunden nach ihrem Aufstehen vom Aufwach- in den Gesprächsmodus wechselt, mit Fragen löchern. Weshalb du dich die ganze Nacht über im Bett herumgewälzt hast. Ob dich etwas bedrückt? Vom wahren Grund deiner Nervosität, dem bevorstehenden Gespräch, willst du ihr aus taktischen Gründen vorerst nichts sagen.

Da liegst du nun. Du, das durchschnittliches Menschlein in der grossen, weiten Welt. Du, Erber, der in Würde in die Jahre Gekommene und 69 Jahre alt Gewordene. Weise und alt geworden dürften dich solche alltäglichen Dinge wie das Bisschen Regen draussen und die Erinnerung an ein läppischer Gespräch nicht mehr aus der Fassung bringen. Du sehnst dich sehnlichst danach, endlich wieder einzuschlafen. Liebendgerne ausgeliefert zu sein an Träume, die da kommen mögen. Und an das Aufwachen sobald es zu tagen beginnt. Bei diesem Gedanken driftest du unmerklich in sanften Schlaf ab.

Erber Selbstporträt, Das durchschnittliche Menschlein 1979 (Zur Zeit der Erber-Geschichten, nachzulesen in Rainer Bressler, „Kraut & Rüben. Kurzgeschichten aus 63 Jahren“, BoD 2020)

Zwei

Ein ohrenbetäubendes Scheppern, Stampfen, Klirren und Sausen schreckt dich abrupt aus traumlosem Schlaf auf. Die Glasscheiben der Fensterfront und der Balkontüre zittern und knirschen. Als wollten sie gleich bersten und zerspringen. Schon siehst du vor deinem geistigen Auge, wie der wütende Sturm das Hausdach abhebt. Es fliegt davon. Die fest geglaubten Steinmauern stürzen ein. Begraben dich, das durchschnittliche Menschlein & Co., unter Haustrümmern. Du & Co. unschuldige Opfer der erhabenen, doch jetzt entfesselt wütenden Natur. Deine Welt steht kopf. Wird gleich untergehen. Schluss damit! Genug, genug …

Du liegst mit angehobenem Kopf und weit aufgerissenen Augen im Bett. Starrst hin zum Fenster und der verglasten Balkontüre. Sie bilden die dem Bett gegenüber-liegende Aussenwand. Deine Augen gewöhnen sich an die relative Dunkelheit. Erkennen in ihr, die sich aus verschiedenen Graustufen zusammensetzt, Konturen des Raumes und des Ausblicks nach draussen.

Das Balkongeländer draussen ist zu erahnen. Dahinter die im Rhythmus des Sausens und Schepperns der Fensterscheiben wild hin- und hertanzenden Baumwipfel am nahen Waldrand. Das Knirschen im Dachgebälk, das Scheppern der vibrierenden Glasscheiben und das Windsausen sind ohrenbetäubend.

RBr., Selbstporträt-Skizze, Tagebuch 1981

Ein Blick zur Seite nach rechts lässt dich erkennen, dass der sich als etwas heller vom umgebenden Dunkel abhebende blonde Haarschopf des Hinterkopfs von Lady ruhig auf dem wegen seiner Helligkeit vage erkennbaren Kopfkissen liegt.

Du hievst dich behutsam, einen Zipfel der Bettdecke zur Seite drapierend, aus dem Bett hoch. Gehst im Dunkeln die wenigen Schritte zur Fensterwand. Auf Zehenspitzen. Um Lady nicht unnötig aufzuwecken.

Es ist etwas über Viertel nach Drei in der Nacht.

Du klebst an der Fensterscheibe. Starrst hinaus. Augenblicklich beginnt dein Herz wie wild zu klopfen. Es fühlt sich an, als ob deine Zähne klappern, deine Knie schlottern und dein Verstand stillsteht. Einen Moment lang stehst du wie ein begossener Pudel da. Ungläubig nach draussen starrend. Unfassbare Szenarien denkbarer Sturmschäden rattern wie auf Knopfdruck in Sekundenschnelle durch deinen Kopf.

Du fasst dich. Du beobachtest scharf das Spektakel der im Rhythmus der Sturmböen und der schauerlichen Geräusche wild entfesselt durchgepeitschten Baumwipfel am nahen Waldrand.

Das Phänomen, dass ein ungewohntes Geschehen ein momentanes Aussetzen deines Verstandes bewirkt, dich wildesten Fantasien ausliefert, das Wahrgenommene in höchste Potenzen steigert und wahnwitzigste Szenarien generiert, fasziniert dich.

Draussen herrscht Sturm. Soviel ist dir klar. Im Haus bist du, zumindest im Moment noch, sicher. Kein Anzeichen, dass sich an dieser Situation trotz der ohrenbetäubenden Geräusche und der entfesselten Bewegtheit draussen etwas ändert.

Das intuitive Bedenken deiner vorherigen Spontanfantasie, dass Lady und du unter den Trümmern eures Hauses begraben werdet und somit unter Ruinen zu liegen kommt, amüsiert dich. Einen Moment lang war dir diese Fantasie als grösster Schrecken in die Knochen gefahren. Doch bloss für einen Moment. Jetzt, gleichsam post festum, liefert eine Assoziation dir spontan einen Titel für diese Fantasie. „Das durchschnittliche Menschlein verzweifelnd in Gedanken des Zutodekommens unter den Trümmer des eigenen Hauses“.

Sogleich schnellt die Erinnerung an eines deiner Lieblingsbilder von Johann Heinrich Füssli hervor, „Der Künstler verzweifelnd angesichts der Grösse der antiken Trümmer“ aus den Jahren 1778 bis 1780. Spontan versuchst du, das in der Zeichnung Dargestellte als Gedankenbild zu sehen. Ein gequält dasitzender Mann. Vor monumentalen Fragmenten von Skulpturen. Ein riesiger Fuss, der den Mann überragt und gegen dessen Rist der Mann seinen lahm ausgestreckten rechten Arm lehnt. Dahinter aufragend wie ein Turm, den Mann in gerader Linie überragend, eine riesige Hand. Mit nach oben ausgestrecktem Mahn- und Zeigefinger. Sei dir deiner Kleinheit bewusst, kleines Menschlein. Das Bild hatte sich dir doppelt eingeprägt, nachdem du anlässlich einer Romreise die originalen antiken Trümmer, die Füssli über 200 Jahre zuvor zum Gegenstand seiner Zeichnung gemacht hatte, entdeckt und eingehend betrachtet hattest.

Richtig, zum Beschreiben dieser Zeichnung hätte dein Gedächtnis einfach so niemals ausgereicht. Zu Hilfe kommt dir der Zufall, dass du dich erst kürzlich bei der Arbeit an deinem neusten Schreibprojekt „Ein falscher Freund“ in eine Schreibblockade hinein manövriert hattest. Das Monodrama handelt von der historischen Entzweiung von Frank Wedekind und Gerhart Hauptmann. Darin gelingt es dir, deine persönliche und intime Neigung, immer wieder aus Gutmütigkeit auf falsche Freunde reinzufallen, und deine Unfähigkeit, wenn du es erkennst, ehrlich und offen reinen Tisch zu machen, ernsthaft zu bedenken und zu thematisieren. Um des lieben Friedens willen, redest du dir ein, ziehst du vor zu schweigen. Dein Schreibfluss geriet vor wenigen Tagen unversehens ins Stocken. Spielerisch denkst du, da hast du den Salat, stehst vor einem Trümmerhaufen. Sogleich springt dir die Erinnerung an das Füssli-Bild in den Sinn.

Du machtest dich sogleich auf, in deinem Fundus an Büchern und Katalogen eine Abbildung dieses Füssli-Bildes zu finden. Erneut anzuschauen. Auf dich einwirken zu lassen. Im Katalog „Füssli. The Wild Swiss“ des Kunsthauses wirst du fündig. Du hattest dir bei dieser Gelegenheit das Bild so sehr verinnerlicht, dass du es jetzt in dieser Sturmnacht auf Anhieb wieder präsent hast und vor dir siehst. Die Tatsache der oft im richtigen Moment hervorspringenden Assoziationen und deren Folgen machen dich schmunzeln. Schliesslich verpassen diese Assoziationen deinem Denken Schwung. Und, wer weiss, vielleicht die notwendige Distanz zu schwierigen Dingen, die dann spielerisch und tanzend anzugehen sind.

Bei Tanz blitzt die nächste Assoziation auf. Die Erinnerung an den Film „Fogo Fuato“. Ein unterhaltsames, witziges, anregendes, total satirisches Meisterwerk des portugiesischen Regisseurs João Pedro Rodrigues. Der Film wird in der Werbung folgendermassen beschrieben: „Wir schreiben das Jahr 2069. Auf dem Sterbebett erinnert sich der ehrwürdige Regent Alfredo, König ohne Krone, an seine ausschweifende Jugend als Feuerwehr-Azubi. Die Begegnung mit seinem Ausbilder Afonso entfachte damals eine leidenschaftliche Liebe – und den gemeinsamen Willen, den Status quo zu verändern. Ein perfekt choreografierter Liebestanz, sexy Feuerwehrmänner in Jockstraps und ein Baum-Penis-Memory gegen den Flächenbrand. Eingebettet in ein Sci-Fi-Narrativ inszeniert Regisseur João Pedro Rodrigues Coming of Age und Romantic Comedy als absurd-komisches Musical. …“ Die Feuerwehrmänner spielen tanzend, mal provokativ-pornografisch, mal lakonisch-elegant faszinierende, irritierende, erschreckende Bilder nach von Caravaggio, Francis Bacon, José Malhoa, Diego Velázquez und Peter Paul Rubens. Bilder mit Themen, die sie beschäftigen. Tanzend und assoziativ Dinge angehen, die einen in der Erinnerung verfolgen.

Erinnerungen und daraus wuchernde Assoziationen als Trigger. Erinnerungen und Assoziationen wecken Spieltrieb in dir und die Lust am Spielen mit deinen Gedanken. Öffnen die Sinne für etwas Neues und Anderes. Stellen im Moment für einen Moment alles, was lastet, hintenan. Schaffen Distanz. Verfügen über die Macht, spielerisch Blockaden zu umtanzen. Dank den Erinnerungen an das Füssli-Bild und den Rodrigues-Film hattest du vor wenigen Tagen deine Schreibblockade locker überwinden können …

Doch im Moment stehst du nach wie vor an der Fensterscheibe. Tauchst aus den Gedanken, in die du versunken warst, auf. Drückst dir deine Nase daran platt an der Fensterscheibe. Staunst inzwischen über das Absurde und über die surreale Ästhetik dieses Sturms. Über den überwundenen inneren Sturm. Würdest du unversehens unter den Trümmern des Hauses begraben, würde auch das dich nervös machende Gespräch heute Nachmittag ins Wasser fallen. Du lachst. Und du atmest auf.

Drei

Du atmest auf. Stehst dennoch wie ein Ölgötz da, klebst an der Fensterscheibe. Starrst raus. Seit mehreren Minuten. Der Anblick der vom Sturmwind zum Herumtanzen gepeitschten Baumwipfel beginnt dich zu langweilen.

Dieser jetzt tobende Sturm, denkst du, kommt bedenklich an den Jahrhundertesturm Lothar vor wenigen Jahren heran. Damals hatten Lady und du am Abend im Wohnzimmer gesessen. In den Nachrichten die Warnung vor einem heftigen Sturm vernommen. Bemerkt, dass draussen ein Sturm beginnt und wütet. Ihr hattet zur Sicherheit alle Rollläden im Haus runtergelassen und gehofft, dass das Unwetter bis am nächsten Tag vorüber ist.

Im Nachhinein erfahrt ihr aus Nachrichten, dass ihr den Jahrhundertesturm Lothar erlebt, und sogar überlebt, habt.

Am Morgen nach dem Sturm Lothar kannst du beim Rundgang um Haus und Garten mit Genugtuung feststellen, dass das Haus insgesamt keinen Schaden genommen hat. Gartenstühle, der Gartentisch, Grill, im Garten sonst stehende Blumentöpfe, kurz, alles, das nicht niet- und nagelfest am Haus befestigt war, liegt verstreut in der Umgebung herum. Das bedeutet für dich, all das Zeugs wieder einzusammeln und die Blumentöpfe, die nicht zu Bruch gegangen sind, wieder aufzustellen und an ihren ursprünglichen Platz zurückzubringen. Die Nachwehen des nächtlichen Sturms verzögern bloss den Beginn deines Morgenrituals, das dir hoch und heilig ist, nur wenig. Danach bist du, wie jeden Tag, zu deinem Morgenspaziergang durch den nahe gelegenen Wald aufgebrochen.

RBr., ohne Titel, kolorierte Zeichnung, 1979t

Als du dich dem Wald näherst, nimmst du von Weitem bereits wahr, dass die Baumzeile am Waldrand bedenklich gelichtet ist. Baumstämme kreuz und quer, gefällt, geknickt oder ganz entwurzelt, am Boden liegen. Beim Näherkommen staunst du, wie Baumstümpfe mit nach oben ragenden Abrissspitzen zu Hauf sichtbar sind. Die Bäume zum Teil mit nun aus der Erde ragenden Wurzelballen niedergefegt worden waren und jetzt tiefe Löcher im Waldboden entstanden sind. Auf der nicht asphaltierten, doch für den Verkehr mit grossen Nutzfahrzeugen gut befestigten Waldstrasse ist kein Durchkommen mehr. Kreuz und quer, wild durch- und übereinander liegen Äste und Baumstämme. Die im ausgelichteten, sonst dichten Wald, übrig gebliebenen, einzelnen Baumwipfel wippen in der Höhe im sanften Wind hin und her. Du befürchtest, dass Teile von Bäumen oder schwere Äste noch runterkrachen könnten. Dir ist zwar ungemütlich zumute, doch stur, wie du nun einmal bist, willst du dich unbedingt nicht durch die wüste Bescherung von deinem üblichen Spaziergang abhalten lassen. Du steigst und kraxelst da, wo noch gestern die Waldstrasse frei durchgängig gewesen war, über umgeworfene Baumstämme hinweg und zwischen herumliegenden Tannästen, deren Spitzen durch deine Kleider pieken, hindurch. Bis du, selbst du, zum Schluss, einsehen musst, dieses Unterfangen ist sinnlos und letztendlich echt gefährlich. Absurd dieses wilde Durcheinander von Bäumen, gefällten, geknickten, liegenden und hängen Baumstämmen, Ästen und Erdlöchern, was erst gestern noch ein schöner Wald gewesen war. Du musst in Sorge um deine Sicherheit deinen pblichen Morgenspaziergang abbrechen. Die Verantwortung für dein sicheres Nachhausekommen übernehmen.

Lady und du sind befreundet mit einem Förster. Unweigerlich hattet ihr euch beim ersten Treffen nach Lothar mit diesem Förster eingehend über Lothar und den Schaden, den er im Wald in eurer unmittelbaren Umgebung verursacht hat, unterhalten.

Der Förster, der überdies in amtlicher Funktion auch für den Wald in eurer Umgebung zuständig ist und ihn daher bestens kennt, bestätigt aus fachlicher Sicht sachlich und nüchtern die unermesslichen Schäden, die am Wald entstanden sind. Das Aufräumen des Waldes, die Beseitigung des gefällten Holzes, die Ausebnung des Waldbodens, das Aufforsten werde Wochen, Monate, wenn nicht gar Jahre dauern. Dann fügt er mit ernstem Gesichtsausdruck und Eindringlichkeit hinzu, dass Lothar auch gute Seiten habe. Diese Aussage von einem versierten Fachmann überrascht euch.

Dem Sturm nicht standgehalten hätten vor allem die in relativ kurzer Zeit zu immenser Höhe aufgeschossenen Tannen. Von den älteren und langsamer gewachsenen sLaubbäumen hätten die meisten das Desaster überstanden. Etwas zerzaust und einiger Äste beraubt. Doch würden sie sich im Laufe der Zeit wieder gut erholen. Tannen seien nicht originär in diesen Wäldern heimisch gewesen. Zwischen die Laubbäume gepflanzt worden, weil sie rasch hochschiessen und Holz liefern. Der nun gelichtete Wald, wo die Bäume nicht mehr so total dicht nebeneinander stehen, könne wieder natürlich wachsen. Dieses natürliche Wachstum müsse nun in Hege und Pflege gefördert werden. Es mute vielleicht absurd an, was reine Naturgewalt in der Natur an Zerstörung anrichte. Doch sei es in diesem Fall wie eine Läuterung, aus der die Natur gestärkt hervorgehen könne.

Die Erinnerung an dieses vor Jahren geführte Gespräch zieht spontan durch deine jetzigen Gedanken. Während du, ohne wirklich zu sehen, nach draussen starrst. Und du wiegst dich in der rasch angenommenen Gewissheit, dass dieser Sturm für dich und euer Haus genau so harmlos vorüberziehen wird, wie seinerzeit Lothar bei euch vorübergezogen war.

Plötzlich ein dröhnender Knall. Draussen. Wohl, nein, gewiss vom Sturm verursacht. Du schreckst auf. Dein ganzes Denken im Nu ein einziges Fragezeichen. Bange Ungewissheit. Zumindest hat der Sturm nicht das Vordach über dem Sitzplatz draussen weggerissen. Das hätte das Haus erschüttert. Zudem wäre das Zerbersten von Ziegeln hörbar gewesen. Keine dem Sturm ausgesetzte Glasscheibe im Schlafzimmer ist geborsten. Keinen blassen Schimmer, was diesen unsäglichen Knall verursacht haben könnte. Die Ungewissheit, was die Ursache des Knalls war und wo allenfalls welcher Schaden entstanden sein könnte,