Sweet Surprise - Der Mann aus dem Koffer - Karin Koenicke - E-Book

Sweet Surprise - Der Mann aus dem Koffer E-Book

Karin Koenicke

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Beschreibung

Was kann ein Koffer über einen Mann verraten? Gärtnerin Melissa spricht lieber mit ihren Pflanzen, als sich ins New Yorker Nachtleben zu stürzen. Um sie aus dem Gewächshaus herauszuholen, schleift Freundin Sandy sie zu einer Kofferversteigerung. Statt der erhofften Sommerkleider findet Melissa in dem ersteigerten Lederkoffer die Sachen eines Mannes und wird neugierig. Inkognito lässt sie sich auf ein Treffen mit dem Besitzer ein und verliebt sich Hals über Kopf in Patrick. Doch will der überhaupt etwas von einer einfachen Gärtnerin wissen? Sie hat durch den Kofferinhalt viel über ihn erfahren und gaukelt ihm gleiche Interessen vor. Doch ihr Lügenkonstrukt wird immer gefährlicher, denn im Prospect Park blühen die japanischen Kirschbäume und da fällt es schwer, klare Gedanken zu fassen … Ein Liebesroman, so zart und zauberhaft wie der Frühling

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1. Bonsai-Kiefer
2. Passionsblume
3. Kalanchoe Beharensis
4. Dieffenbachia
5. Japanische Kirsche
6. Drachenbaum
7. Oleander
8. Clematis
9. Löwenzahn
10. Kastanie
11. Elefantenfuß
12. Efeu
13. Heckenrose
14. Diptam
15. Trauerweide
16. Zimmerfarn
17. Iris
18. Weißdorn
19. Lilie
20. Melisse
Dein Geschenk
Rezepte

 

Karin Koenicke

 

 

Sweet Surprise - Der Mann aus dem Koffer

 

 

Liebesroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erste Auflage in 2017

 

Alle Rechte bei der Autorin

 

Copyright © 2017

by Karin Koenicke

Primelstr. 9

85386 Eching

 

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www.karinkoenicke.de

 

 

 

 

 

1. Bonsai-Kiefer

Bonsai ist die fernöstliche Gartenkunst, bei der Sträucher und Bäume in kleinen Gefäßen im Wuchs begrenzt und ästhetisch geformt werden. Das Wort bonsai besteht aus den beiden Wörtern bon „Schale“ und sai „Pflanze“. Ein Bonsai soll die Harmonie zwischen Natur und Mensch in Miniaturform darstellen.

 

 

„Keine Angst“, sprach Melissa beruhigend auf die Bonsai-Kiefer ein. „Ich kürze dir nur ein paar Äste, damit du schön buschig bleibst. Es ist nicht schlimm.“ Sie nahm die bereitgelegte Zange in die Hand und knipste dem winzigen Nadelbaum einige Zweige ab, damit er wieder neu austreiben konnte. Fast schon zärtlich bestrich sie die Schnittstellen mit einer Wundverschlusspaste. Der Boss hatte natürlich mächtig gemeutert, als sie die teuren japanischen Werkzeuge bestellt hatte, aber für die Bonsais gab es nichts Besseres. Und schließlich betreute das City Garden Center die Pflanzen einer Menge wohlhabender New Yorker, deshalb hatte er am Ende eingewilligt.

Melissa wandte sich gerade einem prächtigen Fächerahorn in Miniaturformat zu, als ihr Kollege Darryl ins Gewächshaus getrampelt kam.

„Ich habe wieder mal einen Problemfall für dich“, rief er schon an der Tür. Sein Blondschopf verschwand fast hinter dem Ficus im Terrakottatopf, den er vor sich hertrug.

Kopfschüttelnd ging Melissa auf ihn zu. „Wie schaffst du es nur immer, irgendwelche Patienten aufzugabeln?“, fragte sie. „Kein anderer Gärtner schleppt so viele kranke Pflanzen an.“

„Die schauen halt nur aufs Trinkgeld. Ich hingegen sorge dafür, dass dir nicht langweilig wird.“ Sein breites Grinsen ragte über die Grünpflanze hinaus.

Melissa seufzte hörbar. Von Langeweile konnte wirklich keine Rede sein. Im City Garden Center am Rand von Manhattan war immer genug zu tun, nicht nur für die Floristen vorne im Shop, sondern auch für Melissa und ihre Kollegen, die im Gewächshaus arbeiteten.

„Das Kerlchen hier hat braune Blätter, obwohl er genau wie die anderen gegossen wurde“, sagte Darryl.

„Stell ihn hierhin.“ Melissa deutete auf einen freien Platz. „Ich schau mal, was ich für ihn tun kann.“

„Okay. Muss sowieso gleich wieder los. Bis dann!“ Er winkte ihr kurz zu und verschwand. Melissa war heute Nachmittag alleine im Gewächshaus. In der Gärtnerei in New Hampshire, wo Melissa aufgewachsen war, hatten ihnen die Kunden die bunten Tagetes und Petunien oft schon vor Ostern aus der Hand gerissen. Melissa hatte sich damals gefragt, ob es wohl einen heimlichen Wettbewerb um das früheste Blütenmeer gäbe. Hier im Herzen der Großstadt waren Zimmerpflanzen viel begehrter und die waren zum Glück ihr Steckenpferd.

Sie untersuchte den kranken Ficus von allen Seiten, tastete in seine Erde hinein, prüfte die Beschaffenheit seiner Blätter und Zweige. Schnell wurde ihr klar, dass der Patient einen Pilz hatte. Das war kein größeres Problem, sie holte eine Sprühflasche, rührte ihr Spezialmittel an und nebelte den Ficus sorgfältig ein.

„Mach dir keine Sorgen“, munterte sie ihn auf. „Mit dieser Kur bist du ganz bald wieder fit und darfst an deinen angestammten Platz zu Hause zurück.“ Melissa wusste, dass Pflanzen sich nicht wohlfühlten, wenn man sie aus der bekannten Umgebung riss. Ihr kam es vor, als hätten sie Heimweh. Das Licht war anders, die Luft auch – war ja kein Wunder, dass viele erst mal traurig die Blätter hängen ließen. Sie konnte das gut nachvollziehen. Bei ihr hatte es auch eine Zeit gedauert, bis sie sich eingewöhnt hatte. Und so eine richtige Großstadtpflanze würde sie wohl nie werden.

Sie spendierte dem grünen Patienten ein Düngerstäbchen und blieb noch einen kurzen Moment vor ihm stehen. „Du bist ein kräftiger Kerl“, stellte sie fest. „Und lässt dich doch von einem Pilz nicht unterkriegen. Außerdem bin ich ja da und passe auf dich auf.“

„Hey, Mel, sag bloß, du redest schon wieder mit irgendeinem Gestrüpp?“ Melissa fuhr herum. Ihre Freundin Sandy – wie immer in schrille Farben verpackt und heute auch noch mit Glitzerohrringen dekoriert – rauschte heran.

„Ich mach das nur wegen des Kohlendioxids im Atem“, erklärte Melissa schnell. „Das tut den Pflanzen gut für ihren Stoffwechsel.“ Natürlich war das Unsinn und natürlich wusste sie, dass eine ganze Menge Menschen sie für verrückt hielt, weil sie sich gerne mit Pflanzen unterhielt. Aber sie fühlte sich nun mal wohl in grüner Umgebung, meist sogar wohler als bei ihren eigenen Artgenossen. Pflanzen waren verlässlich. Sorgte man gut für sie, bemühte man sich um ihr Wohlergehen, so waren sie dankbar und treu. Niemals hintergingen sie einen und man wurde von ihnen auch nicht ausgenutzt. Es gab nur selten Streit und man musste nicht besonders hübsch oder interessant sein, damit sie einen mochten. Melissa fand, das alles waren Gründe genug, sie der Mehrzahl der Menschen, denen sie bisher begegnet war, vorzuziehen.

„Klar, du redest nur wegen irgendwelchem chemischen Zeugs mit ihnen.“ Sandy grinste, aber auf eine sehr gutmütige Art. „Heute Abend schleppe ich dich ein bisschen unter Menschen, sonst setzt du hier noch Wurzeln an.“

Oh nein, nur das nicht! Wenn Sandy so etwas ankündigte, konnte das nur eines bedeuten. „Du willst mir schon wieder irgendeinen Kerl andrehen!“ Melissa verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber ich will kein Date, glaub mir das doch endlich.“

Die letzten Gestalten, die Sandy für sie angeschleppt hatte, waren allesamt schräge Vögel gewesen und hatten außerdem sowieso kein Interesse an ihr gehabt. Melissa hatte ihre Freundin wirklich gern, aber diese Verkuppelungsversuche raubten ihr den letzten Nerv.

Abwehrend hob Sandy die Arme. „Keine Panik, Darling! Heute geht es um etwas ganz anderes, ich verspreche es dir. Die Sache ist nämlich die: George will mit mir in Florida Urlaub machen, sogar eine ganze Woche.“

„Ja, und?“ Melissa konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das mit ihr zu tun haben sollte.

„Ich habe nur eine uralte Reisetasche, die geht auf keinen Fall. Aber hast du mal in der letzten Zeit die Preise für Koffer gesehen?“

Das war sicher eine rhetorische Frage, denn Melissa wanderte lieber im Central Park herum als die Fifth Avenue entlang, um sich die Nase an Schaufensterscheiben platt zu drücken. „Die letzten acht Tage habe ich ausnahmsweise die Entwicklung des Lederpreises nicht eingehend verfolgt“, antwortete sie im Ton eines Börsenkommentators.

„Ich schon“, gab Sandy trocken zurück und sah sie dann mit einem so auffordernden Blick an, als wollte sie sie beim Tanztee zum Quick Step auffordern. „Können wir los? Du hast doch sicher schon Feierabend.“

„Ich soll mit dir einkaufen gehen?“ Melissa streifte sich die Arbeitshandschuhe ab. „Du weißt, dass es für mich Höchststrafe ist, durch irgendwelche Kaufhäuser zu bummeln.“

„Keine Angst, das musst du nicht. Wir verbinden das Nützliche mit etwas richtig Aufregendem!“ Nach dieser kryptischen Ankündigung öffnete Sandy die Tür des Schranks, in dem die Angestellten ihre Jacken aufhängten, und zog Melissas alte Strickjacke vom Bügel. „Komm schon, wir müssen uns beeilen. In einer halben Stunde geht es los.“

„Was denn?“

„Das erzähle ich dir unterwegs, es wird dir gefallen!“

Davon war Melissa keineswegs überzeugt. Ihre Freundin hatte dieses bestimmte Funkeln in den Augen, das nie etwas Gutes bedeutete. Beim letzten Mal, als Sandy sie so angesehen hatte, waren sie rüber nach Staten Island geschippert, weil es da angeblich ein Treffen von alleinstehenden Kräuterliebhabern geben sollte. Seit Sandy mit George zusammen war, versuchte sie ständig, ihre Freundin ebenfalls an den Mann zu bringen. Das anvisierte Meeting von Grünzeugliebhabern, die sich nach weiblicher Gesellschaft sehnten, hatte sich am Ende als Weed Dating herausgestellt, und das Kräuterangebot war dann doch nur auf eine einzige Sorte beschränkt gewesen. Leider hielt sich Melissas Liebe zu Hanf sehr in Grenzen und die tiefenentspannten Typen mit verfilzten Rastazöpfen hatten auch keine Schmetterlingsanfälle bei ihr ausgelöst.

„Ich warne dich, Sandy: Wenn es irgendein Speed Dating, Slow Mating oder Food Debating sein sollte, bin ich sofort raus aus der Nummer!“, kündigte Melissa entschlossen an. „Ich will meine Ruhe und nicht wieder von einer Horde seltsamer Jungs begutachtet werden wie eine Nordmanntanne beim Christbaumverkauf.“

„Unsinn, wir fahren heute nur zu einer Versteigerung.“ Sandy drückte die Tür des Personaleingangs auf und ging hinaus.

Verwirrt folgte ihr Melissa in Richtung U-Bahn. „Ich dachte, du brauchst einen Koffer?“

„Ja eben. Stell dir vor – allein am JFK bleiben jedes Jahr Hunderte von Koffern herrenlos zurück. Wenn sich die Besitzer nicht melden oder nicht aufgefunden werden können, versteigern die Leute vom Flughafen nach einiger Zeit das Gepäck.“

„Mit Inhalt?“

„Klar, das ist ja das Witzige daran. Aufregend, findest du nicht?“ Da war es wieder, dieses verdächtige Glitzern in Sandys Augen.

„Soll das heißen, wir fahren jetzt raus zum JFK?“ Das würde ewig dauern und Melissa hatte eigentlich gar keine Lust, sich den ganzen Abend am Airport herumzutreiben.

„Nee, das Ganze findet in einer Halle hier in der City statt.“

Während der Fahrt dorthin erklärte Sandy ihr den Ablauf. Blieb ein Koffer am Flughafen zurück, wurde erst einmal vier Wochen gewartet, ob ihn jemand abholte. Anschließend versuchten die Leute vom Airport, den Besitzer ausfindig zu machen. Der Koffer wurde also geöffnet und auf Hinweise durchsucht. Erst wenn sich kein Fitzelchen fand, das auf den wahren Eigentümer hinwies, ging das Gepäckstück nach einiger Wartezeit in die Versteigerung.

„Bekommt man eine Liste, was im Koffer drin ist?“, fragte Melissa.

„Eben nicht! Genau das ist ja das Spannende. Man kauft einen Trolley oder eine Tasche und lässt sich überraschen, welche Schätze darin verborgen sind! Ist das nicht großartig?“

Melissa seufzte ergeben. Ihre Freundin hatte sich eine kindliche Unbeschwertheit bewahrt, die ihr selbst fehlte. Sie beneidete Sandy oft um diese Leichtigkeit. „Dir ist aber klar, dass die sogenannten Schätze auch ein Haufen getragener Unterwäsche sein können?“

„Oder der Großeinkauf einer Ölscheichfamilie bei Prada und Gucci.“

Sandys Optimismus war so unerschütterlich, dass Melissa sich geschlagen gab. „Okay, das ist natürlich auch möglich. Sag mal: Wie bist du überhaupt auf diese Versteigerungssache gekommen?“

„Eine Dauerwelle hat es mir erzählt. Die hat für sich selbst und für ihren Mann dort Hartschalenkoffer ersteigert. Für nur fünfzig Dollar jeweils, stell dir das nur vor! In seinem waren Schuhe, die ihm zufällig sogar gepasst haben, außerdem ein brandneuer Fotoapparat. Sie hatte weniger Glück, da gab‘s langweilige Pyjamas und Sportklamotten, aber immerhin einen echt coolen Vibrator, irgendwas mit Schallwellen, muss der totale Kick sein. Das hat sie ihrem Mann aber nicht erzählt.“ Sandy kicherte.

„Was du von deinen Kunden alles mitkriegst, ist schon erstaunlich.“ Immer wieder wunderte sich Melissa, welche Details Menschen in einem Friseursalon ausplauderten. Schallwellen-Vibrator! Von weiteren intimen Geständnissen wollte sie lieber erst gar nichts hören.

„Na ja, nicht alle reden nur mit Pflanzen. Viele quatschen halt eher mit ihrer unfassbar begabten und himmlisch freundlichen Hairstylistin. Allerdings gehen die auch öfter zum Friseur als du.“ Lächelnd knuffte Sandy sie in die Seite.

Melissa verdrehte theatralisch die Augen. Das hatte ja kommen müssen. Seit sie sich kannten – und ihr erstes Treffen lag immerhin schon über ein Jahr zurück – lag Sandy ihr in den Ohren, mehr aus sich zu machen. Sie sollte die Brille gegen Kontaktlinsen tauschen, sich auffälliger schminken, andere Klamotten tragen und natürlich ihre braunen, glatten Haare in eine schimmernde Wallemähne verwandeln. „Mal ernsthaft, Sandy: So was, das du anhast, würde sowieso nicht zu mir passen. Ich finde dich super mit deinem witzigen Styling, aber ich bin einfach nicht der Typ dafür.“

Die Kurzhaarfrisur mit dem bunten Pony konnte man nur tragen, wenn man eine quirlige Lebenskünstlerin wie Sandy war. Da passte einfach alles zusammen, von den ausgefallenen Shirts bis hin zum dramatischen Eyeliner und den Ohrringen.

„Quatsch. Ich würde dich doch nicht zu einer schrillen Anziehpuppe umstylen, das weißt du. Aber ein bisschen Pep würde nicht schaden. Binde doch die Haare nicht immer zusammen, sondern lass sie offen.“

„Ist total unpraktisch in der Arbeit.“

„Und lass mich ne Tönung machen, damit sie nicht so matt sind.“

„Ich hab mich an mein Straßenköterbraun schon gewöhnt.“

Sandy hob abwehrend die Hände. „Okay, ich geb’s auf. Wir müssen sowieso aussteigen. Auf in den Kampf um den Luxuskoffer, voll mit Einkäufen bei Tiffany’s und Saks!“

Lachend folgte Melissa ihrer Freundin nach draußen. Sie gingen ein paar Blocks entlang und landeten schließlich in einer grauen Betonhalle, wo sie sich auf zwei der zahlreichen, in sauberen Reihen aufgestellten Klappstühle niederließen. Die Versteigerung war schon im Gange. An einem Schreibtisch saß der Auktionator, ein gedrungener, grauhaariger Mann im schlecht sitzenden Sakko, und sprach in ein Mikrofon.

„Als Nächstes haben wir eine schwarze Sporttasche im Angebot, gut erhalten, alle Reißverschlüsse intakt. Das Anfangsgebot liegt bei zwanzig Dollar.“

Ein stämmiger Mitarbeiter hob das Gepäckstück etwas an, damit alle im Publikum es begutachten konnten. Wie schon von Sandy angekündigt, wurde über den Inhalt nichts mitgeteilt. Nur zwei Leute boten auf die Tasche. Am Ende erhielt ein junger Mann aus der dritten Reihe den Zuschlag, bezahlte und holte sich seine Beute ab.

„Der da drüben gefällt mir“, flüsterte Sandy und deutete ausnahmsweise nicht auf einen sexy Kerl, sondern auf einen weinroten Schalenkoffer mit silbernem Kofferband, der in der Mitte der aufgestellten Gepäckstücke stand. Bevor der drankam, wurden einige Trolleys versteigert, aber dann wurde es ernst.

„Der rote Koffer ist in hervorragendem Zustand, selbst das Zahlenschloss funktioniert. Anfangsgebot vierzig Dollar“, verkündete der Auktionator. Wider Erwarten schnellte Sandys Hand nicht sofort in die Höhe, sondern blieb abwartend in ihrem Schoß liegen.

„Willst du nicht bieten?“, fragte Melissa überrascht.

„Doch, aber niemand soll den Eindruck haben, dass ich wirklich scharf auf das Ding bin, das treibt sonst den Preis in die Höhe.“

Leider fanden aber noch vier andere Damen den roten Koffer sehr spannend, sodass tatsächlich ein filmreifes Wettbieten begann. Der Preis schraubte sich auf siebzig Dollar hoch.

„Dafür kannst du ihn auch im Laden kaufen“, flüsterte Melissa.

„Aber nicht mit diesem Inhalt! Mein Näschen sagt mir, dass das Teil ein Schnäppchen ist, vertrau mir.“ Sandy klang, als würde sie jedes freie Wochenende damit verbringen, bei Sotheby’s auf einen frühen Rembrandt oder einen Biedermeiersekretär aus Nussbaumholz zu bieten.

Für sage und schreibe fünfundsiebzig Dollar erhielt Sandy schließlich den Zuschlag, quiekte völlig unprofessionell auf und stürmte nach vorne, um das gute Stück zu bezahlen und entgegenzunehmen. Strahlend wie ein Kind mit einem schokoladenprallen Osternest in der Hand kam sie zum Platz zurück. Natürlich fummelte sie sofort an den Außentaschen des Koffers herum.

„Du kannst ihn doch hier nicht öffnen!“, sagte Melissa.

„Nein, aber hineinlinsen. Oh! Da ist ein Halstuch! Vielleicht Hermès?“ Vor Aufregung konnte sie kaum mehr still sitzen.

„Na komm, wir machen uns auf den Heimweg, damit du schnell deine Schatztruhe öffnen und die Goldstücke polieren kannst“, schlug Melissa vor und stand auf.

Sandy jedoch zog sie am Ärmel zurück auf den Stuhl. „Nichts da, du kaufst dir auch einen. Einfach aus Spaß. Sonst ist es fad, wenn ich meinen auspacke, und du hast keinen. Ist doch viel lustiger, wenn wir vergleichen können.“

„Das kostet Geld. Und ich brauche keinen Koffer.“

„Die letzten dort hinten sind billig, das sind Modelle mit kleinen Macken.“

So wie sie selbst, assoziierte Melissa sofort. Aber trotz allen Mitgefühls mit den Ladenhütern dort vorne – sie hatte nicht vor, zu verreisen, weder ins sonnige Florida noch sonst wohin.

„Ich kann mir das nicht leisten, Sandy. Selbst für einen Spaß sind vierzig Dollar viel Geld.“

„Nun warte doch erst mal ab.“

Die Menschen im Publikum wurden immer weniger. Am Ende saß nur noch ein kleines, verstreutes Häufchen von rund zehn Leuten herum. Melissa drängte erneut, endlich heimzufahren, doch Sandy ließ sich nicht beirren. „Schau doch nur, der alte Lederkoffer! Der ist so herrlich antik, in den könntest du sogar Blumen pflanzen.“

Das war allerdings eine kreative Idee. Melissa sah sich den Koffer genauer an. Wenn man ihn öffnete, den Deckel senkrecht an eine Wand lehnte und ein paar Fäden als Rankhilfe spannte, würde er mit Blumentöpfen in seinem Inneren tatsächlich sehr dekorativ aussehen. Trotzdem war er natürlich zu teuer, selbst für die zwanzig Dollar Startgebot, das der Auktionator gerade verkündete. Von den anderen Leuten gab niemand ein Gebot ab, was Melissa nicht wunderte. Das Ding hatte nicht mal Rollen, es war antiquiert und würde sicher übrigbleiben. So ähnlich wie sie selbst. Während sie darüber nachgrübelte, ob man mit siebenundzwanzig Jahren schon ein richtiger Ladenhüter war und warum sie heute eigentlich ständig Parallelen zu ihrem selbst erwählten Singleleben zog, zählte die Stimme über den Lautsprecher den Lederkoffer an. „Zum Ersten, zum Zweiten und zum …“

Bevor er „zum Dritten“ sagen konnte, riss Sandy einfach Melissas Arm nach oben.

„Zuschlag für die junge Dame mit Brille und Pferdeschwanz in der vorletzten Reihe!“, verkündete der Auktionator.

„Spinnst du?“, fuhr Melissa ihre Freundin an.

„Ach komm schon. Ein Zwanziger für ein wenig Spaß ist doch nicht schlimm. Ich lade dich am Wochenende zu einem tollen Frühstück bei Pastry Passion ein, wenn nichts Vernünftiges im Koffer ist, versprochen!“

Widerwillig ging Melissa nach vorne, um zu bezahlen. Das war natürlich ein Angebot. Der Caramel Hazel Cappuccino bei Emilia war ungeschlagen, und wenn es dazu noch ein Stück Lemon Crust Cheesecake gab, war das fast schon den Ausflug hierher samt Kofferkauf wert. Außerdem hatte Sandy recht: Ein bisschen Spaß im Leben sollte man sich gönnen. Melissa wusste, dass Sandy trotz ihrer flapsigen Art eine scharfe Beobachterin war und sich bestimmt Sorgen machte, weil Melissa so selten unter Leute ging und allein wohnte. Immer wieder kam sie mit kleinen Abenteuern an, um Melissa aus ihrer kleinen Welt zu reißen, und dafür war sie der Freundin wirklich dankbar. Auf Sandy konnte man sich verlassen, das war viel wert in einer kalten Großstadt wie New York.

Sie legte den Zwanziger auf den Tisch, unterschrieb einen Zettel und drehte sich nach rechts. Der Koffer wartete auf sie. Er war nicht so riesig wie seine gigantischen Hartschalenkollegen, sondern eher von mittlerer Größe, und er schien sie erwartungsvoll anzuschauen. Sein braunes Leder war an einigen Stellen abgewetzt und der Handgriff glänzte, als hätten ihn Finger beim Tragen poliert. Im Gegensatz zu den anderen ergonomisch geformten und windschnittig gerundeten Gepäckstücken wirkte er wie aus einer anderen Zeit. Er war kantig, auf altmodische Art melancholisch und sah aus, als hätte er einen Hang zur Rebellion. Auf alle Fälle besaß er mehr Charakter als die übliche Massenware, die Menschen normalerweise auf leisen Rollen hinter sich herzogen, wenn sie in ihren Lack-Pumps oder polierten Geschäftsschuhen zum Flughafen hetzten.

Melissa mochte den Koffer.

Das glatt gewetzte Leder um seinen Griff schmiegte sich warm in ihre Hand, als sie ihn anhob und zu ihrem Platz trug. Ihr kam es vor, als machte er sich ein wenig leichter für sie. Das war natürlich Quatsch. Manchmal ging ihre Phantasie mit ihr durch. Sandy sagte, das komme daher, weil sie zu viel mit Sträuchern rede, statt einfach mal auf einer Party zu knutschen. Vielleicht hatte sie recht.

„Du liebe Zeit, der hat ja nicht mal Rollen“, stellte die Freundin entsetzt fest. „Den musst du ja heimschleppen!“

„Ist doch nicht schlimm. Jahrhundertelang haben die Menschen ihr Gepäck so getragen.“

„Ja, da sind sie aber auch noch mit der Kutsche gefahren statt in einen Airbus zu steigen. Und es gab Diener. Außerdem keine Duschen, nur stinkige Perücken und zum Friseur ging auch niemand.“

Melissa musste lachen. Sie stellte sich Sandy in einem bunten Reifrock am Hofe des Sonnenkönigs vor. „Bestimmt hättest du die adligen Damen mit deinen Perückenkreationen in Verzückung versetzt. Stell dir nur mal vor, wie kreativ du dich mit diesen turmhohen Frisurenmonstern austoben könntest!“

„Auch wieder wahr“, gab Sandy zu, als sie die Halle verließen. Die Frühlingssonne war fast untergegangen, nur ein schwacher, rötlicher Schein beleuchtete die Spitzen der Hochhäuser. Melissa schlang ihre Jacke enger um sich, denn die Abende jetzt im April waren noch empfindlich kalt. Zum Glück war es nicht weit zur U-Bahn. Vor einem Hotel hatte man zwei Tröge mit herrlichen Veilchen aufgestellt, an denen Melissa im Vorbeigehen schnupperte. Sie rochen wunderbar nach Frühjahr, wo alles blühte, zum Leben erwachte, die Welt so reich mit bunten Farben beschenkte.

Sandy war natürlich an den Pflanzen vorbeimarschiert, ohne sie wahrzunehmen. Ihr roter Koffer folgte ihr auf leisen Sohlen, aber mit nichtssagender Miene, während Melissas Lederfreund sie dankbar anzulächeln schien. Nun ja, vielleicht sollte sie selbst wirklich mehr unter Menschen kommen, wenn sie jetzt schon anfing, Gepäckstücken Gefühle zu unterstellen?

„Du wohnst näher an der Subway-Station, lass uns zu dir gehen“, schlug Sandy vor. „Aber nur, falls du zwei Gläser Sekt übrig hast, um auf unsere Schätze anzustoßen!“

Da konnte Melissa sie beruhigen. „Klar doch. Eleanor versorgt mich laufend mit irgendwas Trinkbarem. Vor allem, seit ich ihren geliebten blauen Hibiskus vor einer Blattlausinvasion gerettet habe.“

„Deine Vermieterin ist echt klasse. Mit meinem hab ich nur Ärger. Der hat sich neulich sogar beschwert, dass George so oft bei mir übernachtet. Dabei sind wir echt leise.“

Melissa sparte sich die Frage, worauf sich die Lautstärkenangabe bezog. Manche Dinge wollte sie gar nicht so genau wissen.

Eine halbe Stunde später schleppten sie ihre Neuerwerbungen die Treppe hoch bis in Melissas kleine Dachgeschosswohnung, die natürlich vor Grünpflanzen fast überquoll. Sandy rollte ihren Koffer direkt ins Wohnzimmer, wo sie sich aufs Sofa fallen ließ, unmittelbar danach wieder aufsprang und zur Küchenzeile lief, um zwei Gläser aus dem Hängeregal zu holen. In weiser Voraussicht öffnete Melissa den Kühlschrank und gab ihrer Freundin eine Sektflasche in die Hand. Sie musste zugeben, dass sie jetzt selbst total aufgeregt war und wissen wollte, welche Geheimnisse in dem Lederkoffer steckten.

„Wer fängt an?“ Sandys Augen leuchteten.

„Nachdem deine Finger schon seit einer Minute auf dem Verschluss liegen, du!“ Melissa lachte und schenkte zwei Gläser Sekt ein.

Als hätte sie nur auf das Kommando gewartet, ließ Sandy die Schnallen aufspringen und riss den Kofferdeckel auf. „Wie cool!“ Sie zog ein knallgelbes Minikleid mit Spaghettiträgern hervor. Außerdem kam ein silbern glitzerndes Bolerojäckchen zum Vorschein, zwei Hotpants mit erstaunlich wenig Stoff, ein Bikini, der hauptsächlich aus Fäden bestand, und ein Paar Plateauschuhe mit Korksohle. Sandy schlüpfte sofort hinein und stakste durchs Zimmer, allerdings waren die Dinger etwas zu groß, sodass sie stolperte und fast in die Zimmerpalme gekracht wäre.

„Ein Kind an seinem fünften Geburtstag ist nichts gegen dich“, kommentierte Melissa das Geschehen. „Fehlt nur noch, dass du ein Papierhütchen aufsetzt und eine Wunderkerze anzündest.“

„Ich hab’s dir doch gesagt“, jubelte Sandy. „Der Koffer ist ein Volltreffer! Schau nur, diese Jeans sind von Donna Karan. Und eine Ray Ban Sonnenbrille ist auch dabei!“ Sie setzte sich die Brille auf, band sich einen pinkfarbenen breiten Gürtel um und machte eine Pose, als wäre sie mitten in einem Fotoshooting für die Vogue. Melissa musste schon wieder lachen. Es tat wirklich gut, mal so richtig übermütig zu sein.

„Wenn du in diese Jeans passen willst, darfst du aber nie mehr deine geliebten Pecan Crunchies bei Emilia essen.“ Die Inhaberin der Konditorei Pastry Passion war eine gute Freundin von Sandy und versorgte sie gerne mit Leckereien.

„Stimmt. Aber in den Bikini passe ich auch mit kleinem Schokoladenbauch.“ Sie hielt sich das Oberteil an die Brust. Sicher würde Sandy irrsinnig sexy in dem Teil aussehen, sie hatte eine tolle Figur und konnte die Körbchen des Bikinis gut ausfüllen. Melissa selbst war zwar schlank, aber ihr fehlten die weiblichen Kurven der Freundin, deshalb fühlte sie sich in Jeans und einfachen T-Shirts am wohlsten. Tief dekolletierte Oberteile besaß sie erst gar nicht.

Nachdem Sandy, immer wieder kleine Jubelschreie ausstoßend, den gesamten Koffer leer geräumt und seinen Inhalt rund um die Couch verteilt hatte, trank sie erschöpft einen Schluck Sekt und sah Melissa an. „So, jetzt ist dein Ledermonster an der Reihe. Hoffentlich gehört es keiner alten Dame. Obwohl – die schleppen ja gerne Rubinketten und Bernsteinanhänger mit sich herum. Oder vielleicht ist ein Pelzmantel drin? Ein russischer Zobel, weil die Besitzerin vor einem Moskauer Ölbaron fliehen musste? Ja genau, sie reiste inkognito in die Staaten, war aber eigentlich die letzte Nachkommin der Zarin Katharina. Leider hat sie sich unterwegs in einen Wodka-Produzenten verliebt, der jedoch in Wahrheit ein Agent für den Schweizer Geheimdienst war. Er füllte sie mit Schnaps ab, um ihr das alte Familiengeheimnis zum verschwundenen Bernsteinzimmer zu entlocken, und sie verlor im Rausch den Koffer mit ihren Kostbarkeiten. Nastrovje!“

„Du siehst eindeutig zu viele James Bond Filme, liebe Sandy.“ Wie, bitteschön, kam jemand auf solche Dinge? „Gibt es überhaupt einen Geheimdienst in der Schweiz?“

Sandy zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, ich war nie dort. Und jetzt mach auf, ich will den Zobel und die Bernsteinkette von Olga Zarovitschka sehen!“

Mit einem breiten Grinsen beugte sich Melissa über den Koffer. Sie strich über das alte Leder. Es fühlte sich gut an, so echt und freundlich. Auch wenn sie natürlich nicht an eine reiche Moskauerin mit Pelz und Geschmeide glaubte, hatte sie irgendwie das Gefühl, dass der Koffer etwas erzählen würde. Aber womöglich sollte sie sich besser die Nase zuhalten, um nicht von den Gerüchen irgendwelcher entsorgter Abscheulichkeiten erschlagen zu werden, möglich war schließlich alles.

Vorsichtig schob sie die kleinen Metallstifte zur Seite, sodass die beiden Klappen aufsprangen. Ganz langsam öffnete sie den Deckel des Koffers und blickte überrascht auf das sauber zusammen gelegte Innere.

„So ein Mist“, schimpfte Sandy umgehend los. „Das sind ja Sachen von einem Kerl! Tut mir echt leid für dich.“ Sie schenkte für Melissa und sich selbst noch einmal Sekt nach.

Melissa trank einen Schluck und stellte das Glas zurück. Sie selbst fand es gar nicht so schlimm, dass der Koffer keinen Glitzerbikini oder eine Sonnenbrille enthielt, mit der man aussah wie Puck, die Stubenfliege. Okay, die Bernsteinkette oder das Diamantcollier hätte sie brauchen können, denn ihr Kontostand war nie besonders erfreulich. Aber sie kam über die Runden.

„Irgendwie ist es doch auch spannend, den Koffer eines Mannes auszupacken, findest du nicht?“, fragte sie ihre Freundin. „Mal sehen, was er alles über den Besitzer verrät.“

„Wenn du Haftcreme für die dritten Zähne findest und knöchellange Feinripp-Unterhosen, kann ich mir vorstellen, wem das Ding gehört.“

Melissa faltete eine ausgeblichene Jeans auseinander, die obenauf lag. „Keine Bügelfalte drin.“ Sie schmunzelte. „Und sogar Knöpfe statt Reißverschluss. Scheint also keinem Rentner zu gehören. Die sitzen ja sowieso alle in Florida und warten, bis du ihnen mit deinem neuen Bikini Herzrhythmusstörungen verpasst.“

„Los, weiter!“ Sandy ließ sich nicht ablenken, streckte nur kurz die Zunge heraus.

Unter der Hose lag ein Buch, das ganz offensichtlich schon gelesen worden war. „Nachtzug nach Lissabon“, stellte Melissa fest und studierte den Klappentext auf der Rückseite. Sie hatte weder den Titel noch den Autor jemals gehört. Allerdings las sie auch eher Krimikomödien, die aber mit viel Begeisterung. Das hier war allem Anschein nach viel literarischer.

„Langweiliger Schmöker“, lautete Sandys Urteil, nachdem sie ihre Nase ebenfalls in das Buch gesteckt hatte. „Ich wette, da gibt es weder Morde noch ordentliche Sexorgien. Ist bestimmt einer dieser Schinken, wo einer auf der Suche nach dem Sinn des Lebens ist, oder so ein Käse.“ Sie hielt kurz inne. „Sag mal, hast du was Essbares im Haus?“

„Bedien dich im Kühlschrank“, erwiderte Melissa, ohne groß aufzusehen. Sie selbst hatte keinen Hunger, statt zu essen stöberte sie lieber weiterhin im Koffer. Ein paar T-Shirts kamen zum Vorschein, schlicht und ohne Markenaufschrift. Sneakersocken, ein blaues Handtuch, fünf Boxershorts. Auf einer davon hüpften Gonzo und Fozzie Bär herum. Melissa musste lächeln. Sie hatte diese Show schon immer gern gemocht und bereits als Kind jede der Wiederholungen begeistert angeschaut.

„Cool, der Typ steht auch auf die Muppetshow! Der passt ja perfekt zu dir, weil lesen tut der ja auch.“ Sandys Grammatik schien angesichts der Muppetfiguren oder des Sandwiches, in das sie gerade herzhaft hineinbiss, gehörig zu zerbröseln.

„Und er tut auch Jeans anhaben, also der perfekte Kerl für mich, nicht wahr? Trifft schließlich auf niemanden sonst zu.“

Sandy machte eine wegwischende Handbewegung. Ironie prallte fast immer an ihr ab. „Ach, du moserst eh immer, wenn es um Typen geht. Aber ich hab das im Gespür. Der hier wäre was für dich! Schau doch nur, er kauft sein Shampoo nicht von L’Oreal, sondern hat irgendwas Alternatives.“ Sie deutete auf den Waschbeutel, den Melissa gerade ausräumte. Nassrasierer, eine Tube No name-Zahnpasta, Duschgel und Shampoo tatsächlich aus irgendeinem Biomarkt. Unter dem Beutel fand Melissa ein kleines Notizbuch, in das er ein paar Namen und Nummern gekritzelt hatte. Interessiert blätterte sie es durch, denn seine Handschrift gefiel ihr. Schwungvoll und markant, die Schrift eines Mannes, der wusste, was er wollte. Und doch gab es Zitate aus Büchern oder Gedichten, die er dort vermerkt hatte. Und Kritzeleien, die er vielleicht beim Telefonieren ganz nebenbei hineingemalt hatte. Wie seine Hände wohl aussahen?

„Steht ein Name drin?“, unterbrach Sandy ihre Überlegungen.

„Nein. Sonst hätten die Leute vom Flughafen den Besitzer doch ausfindig gemacht. Die haben sicher alles genau durchsucht.“

„Auch wieder wahr.“ Sandy ließ sich aufs Sofa fallen. „Fassen wir mal zusammen: Laut Klamotten ist der Kerl ein Stück größer als du, was natürlich nicht schwer ist, hat breite Schultern, aber keinen Bauch. Scheint körperlich gut in Form zu sein. Er ist gepflegt, aber kein selbstverliebter Schönling, sonst hätte er Haarspray und Stylingzeug dabei. Außerdem hat er – Moment …“, sie nahm den Kamm heraus und untersuchte ihn fachmännisch, „… schwarze Haare. Das ist dir ja sowieso lieber als ein Blondschopf. Und er schläft nackt, denn er hat keinen Pyjama dabei. Das spricht dafür, dass er ein gutes Verhältnis zu seinem Körper hat und somit auch ein toller Hecht im Bett ist.“

„Außerdem ist er bestimmt verheiratet und hat sieben Kinder. Schließlich musste er sein geniales Erbgut weit verteilen.“

„Himmel, nun sei ausnahmsweise mal keine Spielverderberin!“ Sandy kramte in einem Seitenfach des Koffers herum und förderte eine CD zutage. „Schau, er hört auch noch gern Musik! Also ich finde den Kerl klasse. Eigentlich schade, dass ich mit meinem George zusammen bin, sonst würde ich ihn mir selbst schnappen.“

„Du vergisst eine winzige Kleinigkeit, Miss Marple. Wir haben keine Ahnung, wie er heißt oder wo er wohnt.“

Allerdings musste Melissa zugeben, dass ihr das Gedankenspiel gefiel. Es war fast wie in einem ihrer heiß geliebten Krimis. Sandy und sie waren quasi Profiler und versuchten, anhand von Indizien am Tatort respektive aus dem Koffer herauszufinden, was der Gesuchte für ein Mensch war. Irgendwie war das eine spannende Sache. Und ihre Freundin hatte recht: Der Mann schien tatsächlich kein Macho zu sein, der mit Gel in den Haaren herumlief und in Klamotten, die in Goldbuchstaben mit einem Markennamen protzten.

„Zeig mal her.“ Sie streckte ihre Hand aus, nahm die CD entgegen und betrachtete sie. Chet Baker. Nie gehört. Ein Milchgesicht mit Trompete in der Hand. Erst, als Melissa die Hülle umdrehte, sah sie ein weiteres Foto auf der Rückseite. Da hatte er fast keine Zähne mehr, aber dafür viele Falten im Gesicht. Während sie darüber nachdachte, was für eine Art Musik das wohl sein konnte, durchwühlte Sandy weiter die Seitenfächer.

„Ein Kugelschreiber“, stellte sie ohne größeren Elan fest. „Ich finde ja, dass ein Füller interessanter gewesen wäre. Und ein Zettel, auf dem er sich ein paar Notizen gemacht hat. Auch nichts Spannendes.“

„Lass mal sehen.“ Sie nahm Sandy den Zettel aus der Hand. Zahnarzttermin am 16.05. stand darauf. Und Reinigung abholen. „Da hat er sich nur ein paar Termine notiert. Leider nichts Persönliches. Der Zettel ist von einem dieser Blöcke, die man irgendwo geschenkt bekommt“, sagte Melissa.

„Von welcher Firma?“

Melissa reichte ihr den Notizzettel. Sandy verglich ihn mit dem Kugelschreiber und grinste plötzlich. „Nun wissen wir zumindest, wo der Knabe arbeitet!“

„Nämlich?“

Sandy hielt ihr Stift und Zettel unter die Nase. „First Manhattan Savings Bank“, las sie vor. „Beides ist von dort.“

„Das sind doch nur Werbegeschenke“, konterte Melissa, spürte aber trotzdem ein Kribbeln im Bauch. Sollte ihre Freundin tatsächlich auf der richtigen Spur und der Mann aus dem Koffer so nah sein? Ihr wurde warm bei der Vorstellung, also trank sie noch einen Schluck aus ihrem Sektglas.

Sandy schüttelte den Kopf. „Nee, der arbeitet dort, da bin ich mir sicher. Er ist nicht der Typ, der sich irgendwo Stifte schenken lässt. Nur dumm, dass wir nicht wissen, wie er aussieht. Diese Sparkasse ist nicht gerade klein, ich kenne sie. Aber wart mal – was ist denn das?“ Sie zog ganz unten aus dem Koffer etwas, das in braunes Packpapier gewickelt war.

Melissas Nackenhaare stellten sich auf. Es war, als würde der Koffer immer genau das Geheimnis offenbaren, nach dem sie gerade forschten.

„Ein Foto!“, rief Sandy, als sie das Objekt zur Hälfte ausgewickelt hatte. Melissa erkannte die Rückseite eines kleinen Bilderrahmens.

„Gib es mir, schließlich ist es mein Koffer.“ Das war natürlich kindisch, aber sie hatte das starke Gefühl, dass sie selbst es sein sollte, die das Bild umdrehte und als Erste sah.

Überraschenderweise händigte ihr Sandy widerstandslos den Rahmen aus. Melissa hielt unwillkürlich den Atem an, als sie das Papier abstreifte und das Foto langsam umdrehte. Gleich würde sie ihn sehen! Oder auch nicht. Es war schließlich nicht sehr wahrscheinlich, dass jemand sein eigenes Foto in einem Rahmen herumschleppte. Sicher war es eines seiner Frau, einer extrem hübschen Blondine mit Modelgesicht und glücklichem Lächeln. Oder ein Familienportrait seiner Kinder, alle in Reih und Glied aufgestellt vor der heimatlichen Vitrine mit dem guten Porzellangeschirr.

Sie blickte auf das Foto und stockte in der Bewegung. „Ein Babyfoto?“, stieß sie aus.

Sandy rutschte näher heran, um das Bild in Augenschein nehmen zu können. „Das ist aber ein altes Foto und eine ganz schlechte Qualität. Als hätte jemand vor dreißig oder vierzig Jahren einen Schnappschuss gemacht.“

Melissas Finger tasteten über den breiten Holzrahmen, den jemand liebevoll mit winzigen Perlen und bunten Holzsteinen beklebt hatte. Ganz so, als wäre das Foto eine kleine Kostbarkeit. „Ob er das selbst ist?“

Sie sah das Baby auf dem Bild genau an. Es musste kurz nach der Geburt aufgenommen worden sein. Der Säugling sah ernst aus und wirkte ein wenig verschreckt. Irgendwie so, als würde ihm die kalte Welt da draußen gehörig Angst einjagen. Mit den vielen dunklen Haaren und der Stupsnase war er so süß, dass Melissa ihn am liebsten gehalten hätte.

„Schwer zu sagen, wann das geknipst wurde. Name oder Datum stehen nicht drauf, oder?“, fragte Sandy.

Melissa sah noch einmal genau nach und verneinte.

„Na ja, ist auch egal“, meinte Sandy. „Wir schauen uns den Kerl einfach in Natura an.“

„Wie bitte?“

„Schätzchen, das ist doch klar! Wir beide werden in den nächsten Tagen einen Ausflug zur First Manhattan Savings Bank unternehmen und den Knaben dort ausfindig machen.“ Entschlossen spülte Sandy den Rest ihres Sandwiches mit dem letzten Schluck Sekt hinunter.

„Und dann sagen wir: ‚Hey, hast du zufällig einen Koffer mit einer Fozzie Bär Unterhose verloren‘ oder wie?“ Melissa starrte ihre Freundin entsetzt an.

„Quatsch. Erst mal checken wir, wie der Typ aussieht. Du bist doch genauso neugierig wie ich, das sehe ich dir an der Nasenspitze an.“

Melissa öffnete den Mund, um zu widersprechen. Niemals würde sie in eine Bank hineinlatschen und dumme Fragen nach einem jungen Mann stellen, das wäre doch nur peinlich. Doch sie kam nicht zu Wort.

„Ich muss los“, beschloss Sandy. „Morgen machen wir beide unsere Mittagspause später. Ich hol dich um zwei Uhr ab, dann marschieren wir rüber zu deinem sexy Bänker ohne Pyjama. Bis dann, Sweetheart!“

Sie warf ihren Designerkram in den roten Koffer, küsste die verdutzte Melissa auf die Wange und verschwand mit eiligen Schritten im Flur. Kurz darauf schlug die Tür hinter ihr zu.

Mit einem Mal war es still in der Wohnung. Melissa trug die leeren Gläser in die Küche, verstaute die halb volle Sektflasche im Kühlschrank und ging anschließend zurück ins Wohnzimmer. Das Leder des Koffers schimmerte weich. Der Roman lag einladend auf dem Couchtisch, also nahm sie ihn in die Hand und blätterte ein wenig darin herum. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Was der Besitzer wohl für ein Mensch war? Sie wünschte wirklich, sie hätte ein Bild von ihm. Oder würde wenigstens seine Stimme hören können, um sich irgendeine kleine Vorstellung zu machen, wie er sein mochte.

Ihr Blick fiel auf das Innere des Waschbeutels – genauer gesagt auf einen Flakon, dessen dunkles Glas im Licht der Stehlampe funkelte. Sein Aftershave, das sie beim Ausräumen übersehen hatte. Sie nahm die Flasche, die elegant gerundet war, in die Hand. Da das City Garden Center direkt neben einer Parfümerie lag, kannte Melissa die meisten Parfums zumindest vom Namen her. Dieses hatte sie noch nie gesehen. Vorsichtig öffnete sie den Verschluss und hielt den Flakon unter ihre Nase.

Es war ein ganz besonderer Duft, männlich, frisch und voll ursprünglicher Natur. Sie roch eine würzige Note, wie frisch geschnittenes Holz sie hatte. Das Aroma von feuchtem Waldboden, dessen Moosbelag das Geräusch von Schritten schluckte, wenn man darüber lief. Den zitronigen Duft von gerade aufblühenden Magnolien und einen Hauch von wildem Jasmin. Melissa schloss die Augen. Das Aftershave war wundervoll komponiert und sie konnte sich gar nicht sattriechen an seinem herrlich frischen Aroma.

Ganz plötzlich fand sie Sandys Idee, den Mann zu suchen, gar nicht mehr so abwegig.

Sie stand auf, den Duft noch immer in der Nase, legte den Flakon zurück und ging hinüber zum Fenster. Nicht weil sie hinaussehen wollte, sondern weil dort ihre allerbeste Freundin stand und geduldig auf sie wartete.

„Maddie, du hältst mich sicher für verrückt, oder? Aber ich muss zugeben, ich finde diesen Mann aus dem Koffer total spannend.“

Wie üblich antwortete Maddie nicht. Das war nicht besonders verwunderlich, denn es handelte sich um eine dickblättrige Grünpflanze, sogar um die älteste aller Pflanzen, die Melissa besaß. Auch wenn Maddie eher wortkarg war, stellte sie für Melissa eine enge Vertraute dar, mit der sie viel beredete.

„Ich erzähle dir morgen Abend, ob wir ihn gefunden haben“, sagte Melissa und strich der Pflanze, die ihr bis ans Kinn reichte, sanft über die samtenen Blätter. Ja, morgen. Da würde sie sich auf den Weg zur Sparkasse machen und vielleicht den Besitzer des abgewetzten Lederkoffers finden. Aber erst einmal sollte sie ihre grünen Mitbewohner gießen, auf die war nämlich Verlass. Die waren real. Und das war mehr wert als ein nach Magnolien und frischem Holz riechendes Traumbild.

Entschlossen nahm Melissa die Gießkanne zur Hand und versorgte ihre treuen Freunde. So wie es sich für eine anständige Gärtnerin nun mal gehörte.

2. Passionsblume

 

Die exotischen Blüten der tropischen Kletterpflanze bezaubern den Betrachter mit ihrer Schönheit. Jeweils fünf weiße Blätter umgeben einen Kranz zarter, bunter Fäden, aus dessen Mitte fünf goldene Staubbeutel und drei braune Narben herausragen. Der Kranz ist an der Basis purpurn gefärbt, in der Mitte weiß und zum Ende hin blau. Passionsfrüchte gelten als Delikatesse, sie schmecken süß-säuerlich und sind auch als Maracuja bekannt.

 

Den ganzen Vormittag über konnte sich Melissa nur schwer auf ihre Arbeit konzentrieren. Während sie junge Begonien pikierte, fragte sie sich immer wieder, ob das Ganze nicht eine ausgesprochene Schnapsidee war. Als sie die Orchideen einsprühte, holt sie sogar ihr Handy aus der Hosentasche, um Sandy anzurufen und die Aktion „Suche den Mann aus dem Koffer“ abzusagen. Bevor sie die Nummer antippte, besann sie sich aber doch eines Besseren und steckte das Telefon unverrichteter Dinge wieder weg. Sandy würde ihr die Hölle heißmachen, wenn sie einen Rückzieher machte.

Seufzend füllte sie Blähton als Dränage in einen Topf. Die Angst vor dem Spott der Freundin war natürlich nur die halbe Wahrheit. Tief in ihrem Inneren fieberte Melissa dem Bankbesuch entgegen, das musste sie sich leider eingestehen. Dieser Kerl hatte sie unbekannterweise neugierig gemacht. Außerdem – was hatte sie schon zu verlieren? Sie würde sich einfach nur ein bisschen in der Filiale umschauen, sonst nichts. Sicher war dieser Koffermann, falls sie ihn überhaupt finden sollten, sowieso ein richtiger Unsympath. Ein geldgieriger Finanzhai ohne Skrupel und mit Silberblick, dazu ein totaler Geizkragen, sonst würde er nicht mit so einem uralten Gepäckstück herumlaufen. Sie würde bestimmt froh sein, ihn dort hinterm Tresen zurücklassen zu können und als glückliche Singlefrau wieder heim zu ihren Pflanzen gehen zu dürfen.

Als der Zeiger ihrer Armbanduhr endlich in Richtung zwei Uhr wanderte, war Melissa erleichtert, sich endlich auf den Weg machen zu dürfen. Sie traf Sandy wie verabredet an der Ecke zur 16. Straße. Um ein Haar hätte sie die Freundin nicht erkannt, denn die trug ihr Haar streng nach hinten gekämmt, hatte ein Baseball-Cap auf dem Kopf und eine verspiegelte Sonnenbrille auf der Nase.

„Hier, setz die auf!“ Sandy hielt ihr eine ebenso monströse Sonnenbrille hin und stülpte ihr, ohne lange zu fragen, ein buntes Cap über den Kopf.

„Warum in drei Teufels Namen müssen wir uns verkleiden wie Profikiller?“

„Mel, schalt doch mal deine grauen Zellen ein! Falls der Typ ein Volltreffer ist, willst du ihm doch beim ersten Treffen in voller Pracht gegenüberstehen und nicht die Magie des unvergesslichen ersten Blicks in seine Edelstein-Augen dadurch schmälern, dass du dabei abgehetzt und ungeschminkt direkt aus dem Gewächshaus kommst.“

Das saß. Ertappt schaute Melissa an sich hinunter. Sandy hatte recht, sie trug grobe Arbeitsschuhe, eine fleckige Jeans und ihren Händen sah man an, dass sie heute einiges an Grünzeug umgetopft hatten.

Sie schob die Pilotenbrille auf ihrer Nase zurecht. „Du bist wirklich genial, das muss ich zugeben.“

„Ich weiß. Und jetzt auf in die Schlacht!“ Mit zielsicheren Schritten marschierte Sandy auf die Filiale der First Manhattan Savings Bank zu, die sich einen halben Block weiter auf der anderen Straßenseite befand.

Melissas Herzschlag beschleunigte sich, als sie hinter ihrer Freundin die Glastür aufdrückte. Die Niederlassung der Bank war modern eingerichtet, mit einer Menge bepflanzter Hydrokultur-Tröge ausgestattet und vor allem riesengroß. Neben einer vollverglasten Kassenbox gab es insgesamt fünf Schalter, hinter denen sicher ein Dutzend elegant gekleideter Angestellte herumlief oder an Schreibtischen saß. Auf der Fläche daneben standen noch drei Besprechungstische, die wohl für Anlagegespräche oder Kreditverhandlungen genutzt wurden. Und weiter hinten konnte man sich auch noch in separate Zimmer zurückziehen, wahrscheinlich dann, wenn es um richtig große Beträge ging.

„Wie sollen wir ihn hier ausfindig machen?“, flüsterte Melissa ihrer Freundin zu, die zielsicher auf einen Kontoauszugsdrucker zusteuerte.

„Erst mal die Lage sondieren.“ Sandy klang wie ein Mitarbeiter des Secret Services. Sie tat so, als studiere sie einen Flyer, der neben dem Automaten auslag, spähte in Wirklichkeit aber über den Rand ihrer Riesenbrille.

Auch Melissa ließ ihren Blick über die Angestellten wandern. Himmel, es gab mindestens fünf Männer mit dunklen Haaren, die von Alter und Figur her infrage kamen! Alle wirkten viel zu selbstsicher, um für Melissa anziehend zu sein. Die Art, wie sie sich in ihren eleganten Anzügen bewegten, war eine Nummer zu groß für sie. Nur schwer konnte sie sich vorstellen, dass jemand dieser Schlipsträger ein altes Babyfoto im billigen Rahmen herumtrug. Wie sollten sie herausfinden, ob der Koffermann trotzdem einer von ihnen war?

„Ich tippe auf den dort hinten“, murmelte Sandy und deutete mit einer Kopfbewegung zu einem der Bänker, der gerade mit einem Kunden ein Formular ausfüllte. Interessiert schob Melissa ihre Sonnenbrille ein wenig hoch, um ihn besser unter die Lupe nehmen zu können. Nun ja, er wirkte irgendwie spröde mit der grauen Krawatte und dem strengen Seitenscheitel. Sah jemand, der Muppet-Boxershorts trug, so aus? Auch der jüngere Kollege neben ihm, ein schlaksiger Kerl mit Segelohren und zwei Goldringen am Finger, kam ihr unpassend vor. Der besaß garantiert einen windschnittigen Trolley, keinen abgegriffenen Lederkoffer.

„Schau mal, der ist doch total süß!“ Die Verzückung in Sandys Stimme galt dem gedrungenen Kassierer, der zugegebenermaßen ein hübsches Lächeln besaß.

„Aber der hat Gel in den Haaren. Du hast gesagt, unser Mann stylt sich nicht“, stellte Melissa fest.

„In der Arbeit vielleicht schon. Also ich finde den echt toll!“

Melissa war anderer Ansicht. Er erinnerte sie an Mister McKinley, einen der Kunden in der Gärtnerei, der gern zotige Bemerkungen machte, ihr mal auf den Hintern geklatscht hatte und seine Amaryllis vertrocknen ließ. Süß fand sie den wirklich nicht.

„Ich werde das wohl nie lernen!“, hörte man eine hohe Frauenstimme jammern. Rechts an den Geldautomaten kam eine ältere Dame ganz offensichtlich nicht mit der modernen Technik zurecht.

„Kein Problem, ich helfe Ihnen doch, Mrs. Smith“, beruhigte ein angenehmer Bariton die Kundin. Melissa sah den Rücken eines Angestellten, der die grauhaarige Lady im Kampf mit der Geheimzahl unterstützte. Sandy kniff sie in die Seite und wies sie erneut auf den gegelten Kassierer, deshalb wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu. Inzwischen wollten auch andere Kunden an den Auszugsdrucker, sodass sie Platz machen und an einen Ständer mit Prospekten weiterrücken mussten.

„Nein, ich glaube wirklich nicht, dass der Kassierer der Richtige ist“, wiederholte Melissa. „Er ist sicher zu klein, denk doch nur an die langen Hosenbeine der Jeans, die waren mindestens …“

Bevor sie weitersprechen konnte, stockte ihr der Atem. Ein unverwechselbarer Duft stieg in ihre Nase. Frisches Holz, Waldboden, Magnolien. Sie fuhr herum und sah, dass der Angestellte der überforderten Dame am Geldautomaten zu Ende geholfen hatte und diese nun zum Schalter geleitete. Was ihn direkt an Melissa vorbeiführte. Die Luft war mit einem Mal weicher auf ihrer Haut, als stünde sie nicht in einer Schalterhalle, sondern an einer sonnigen Küste. Auch das Licht der Neonröhren schien viel weniger kalt zu sein. Es war, als überzöge dieser Duft alles mit einem silbernen Puder.

„Das ist er“, flüsterte sie kaum hörbar. Der zarte Hauch von wildem Jasmin hing noch in der Luft. Sicher für niemanden sonst zu riechen, aber sie hatte das Parfum abgespeichert und zweifelte nicht ein bisschen. Ihr Puls pochte an ihrem Hals, als sie den Mann musterte, der sich lächelnd der Kundin zuwandte. Er war, wie sie ja auch erwartet hatte, ein Stück größer als Melissa, hatte eine sportliche Figur und die dichtesten schwarzen Haare, die sie jemals gesehen hatte. Sein Teint war relativ dunkel, umso intensiver stachen die hellen Augen hervor. Augen von einem lichten Blau, wie sie nur Waldhyazinthen hatten oder die Blüten von Rosmarin. Seine Nase war ein wenig zu kantig, als dass man ihn als hinreißend attraktiv hätte bezeichnen können. Aber er war interessant. Und allein ihn anzusehen, schenkte ihr ein aufregendes Kribbeln, denn er hatte etwas seltsam Magnetisches an sich. Sein warmes Lächeln und die vollen Lippen standen in einem aparten Kontrast zu der Stirnfalte und dem melancholischen Zug um den Mund, wenn er nicht lächelte, sondern sich wie jetzt auf den Computerbildschirm konzentrierte.

„Stimmt“, gab Sandy zu. „Der sieht aus wie ein Typ, der literarische Bücher liest und komische Trompetenmusik hört.“

So, wie sie das sagte, klang es nicht so, als könnte sie an einem derartigen Mann Geschmack finden. Ihr wäre der gestylte Kassierer sicher lieber. Melissa hingegen bildete sich ein, noch immer diesen Duft riechen zu können. Sie betrachtete seine Hände und mochte sofort die Art, wie er sie bewegte. Ja, das waren Finger, die den Griff eines abgewetzten Lederkoffers umschlangen oder in einem Notizblock herumkritzelten. Sie war sich absolut sicher. Auch dieser Anflug von Schwermut, den sie in seiner Miene erkannte, passte zum Buch und zur CD.

Melissa rückte noch ein Stück weiter nach links, damit der Prospektständer sie besser verdeckte und sie den Koffermann in Ruhe beobachten konnte. Er hatte eine sehr freundliche Art, mit der alten Lady zu reden, ganz persönlich, als kannte er sie schon lange. Als die Kundin ihm zum Abschied zuwinkte und den Schalter verließ, wollte er sich an den Schreibtisch setzen, doch eine Kollegin rief ihm etwas zu.

„Patrick, kannst du mir mal mit dem Ordner helfen?“ Es war eine langbeinige Schönheit mit glänzenden Locken, perfekt geschminktem Gesicht und in einem figurbetonten Designerkostüm. Sie stand vor einem Schrank und reichte nicht bis an das oberste Regalbrett heran, in das sie eine Akte verstauen wollte.

„Für dich tu ich doch alles, mein Augenstern.“ Lachend drehte er sich um und ging mit geschmeidigen Schritten auf die Kollegin zu, um ihr zu helfen. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln, aus dem große Vertrautheit sprach.

„Komm, wir gehen.“ Melissa drehte sich um und steuerte die Glastür an. Ihr Hals war trocken. Dass er vergeben war, konnte man ja wohl kaum übersehen. Nun, es war eben so. Wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn ein Mann wie er noch frei herumlief. Patrick. Der Klang des Namens gefiel ihr, er passte zu ihm. Männlich, aber doch nicht dumpf wie „Joe“ oder knallhart wie „Chad“. Eher der Name eines Feingeists, eines Klavierspielers oder Malers. Aber es war egal. Er hatte schließlich seinen Augenstern.

„Sag mal, trainierst du für den New York Marathon, oder was? Jetzt bleib doch mal stehen!“ Erst als Sandy angeschnauft kam, bemerkte Melissa, dass sie tatsächlich im Eiltempo die 16. Straße entlangmarschiert war.

„Wieso?“, rechtfertigte sie sich. „Wir haben unsere Mission erfüllt. Der Mann aus dem Koffer heißt Patrick und arbeitet in der Bank. Da er dort gut verdient, wird er den Verlust von ein paar Jeans und Boxershorts verkraften. Außerdem ist er liiert, also was soll ich noch dort?“

„Meine Güte!“ Sandy packte sie am Arm und hielt sie fest, sodass sie stehenbleiben musste. „Hast du denn keine Augen im Kopf? Diese Kollegin trägt einen Ehering, er nicht! Die sind einfach nur befreundet. So wie du und Darryl, nichts weiter.“

„Echt?“ Auf die Hände der Frau hatte Melissa nicht geachtet. „Na egal, er ist sowieso nicht mein Typ“, log sie. Selbst wenn er nicht an dieses Model in Bankuniform vergeben sein sollte – er war eine Nummer zu toll für sie. Solche Männer fingen garantiert nichts mit einer bebrillten Gärtnerin an, die hatten doch ganz andere Partnerinnen. Eher so richtig schöne Frauen mit sicherem Modegeschmack und einer schillernden Persönlichkeit. Auf keinen Fall welche, die sich allabendlich mit einer Kalanchoe Beharensis unterhielten, weil sie sich bei Grünpflanzen wohler fühlten als auf feuchtfröhlichen Cocktailpartys.

Erst als ihr Blick sich vom Asphaltboden löste und sie Sandy ansah, bemerkte sie, dass die Freundin sie genau musterte.

„Weißt du was?“, sagte Sandy. „Unsere Mittagspause ist noch nicht vorbei. Lass uns bei Emilia noch einen Kaffee trinken. Ich lade dich ein.“

Melissa wusste nicht, ob ihr das recht war. Eigentlich wäre sie lieber zurück in ihr Gewächshaus gewandert, denn sie hatte Angst, dass ihre Freundin wieder das Thema „Männer“ anschneiden würde. Andererseits konnte sie den Köstlichkeiten von Pastry Passion nur schwer widerstehen.

„In Ordnung“, gab sie nach. „Aber nur, wenn ich meinen Haselnuss Cappuccino bekomme!“

Sandy grinste und betrat kurz darauf mit Melissa die kleine Konditorei in der Nähe des Union Squares. Schon der Duft war eine Sensation, aber auch der Anblick der wundervollen Pralinen und Gebäckstücke im Tresen ließ Melissa das Wasser im Mund zusammen laufen.

„Buongiorno ragazze!“, schleuderte ihnen Violetta, die hinter der Theke stand, überschwänglich entgegen. Sie war Emilias Großtante und half im Laden aus, wenn Sandys Freundin sich um ihr Baby kümmerte. Fotos der kleinen Vittoria tapezierten die gesamte hintere Wand und es war klar, dass Violetta die stolzeste Urgroßtante von ganz New York war. Allerdings war sie wie immer recht ungroßtantenhaft gekleidet, heute trug sie eine Art Kimono aus gelber Seide und dazu ein kleines Hütchen in ihren neuerdings blauschwarz gefärbten Haaren. Die Farbe war natürlich das Werk von Sandy, die in Violetta eine treue und vor allem herrlich experimentierfreudige Kundin gefunden hatte.

„Hallo Vio“, erwiderte Sandy die Begrüßung. „Wir hätten gerne zwei Caramel Hazel Cappuccino.“

„Due Cappuccini, va bene!“ Die alte Dame strahlte und machte sich gleich an der Maschine zu schaffen, während Melissa gemeinsam mit Sandy die Kuchen inspizierte und sich wie immer kaum entscheiden konnte.

Ein paar Minuten später hatten sie an einem der kleinen Tische Platz genommen und Melissa schob sich ein Stückchen Rhabarberkuchen mit Kokoskruste in den Mund, das einfach himmlisch schmeckte. Sandy tauchte ihr Croissant mit Mandarinen-Marzipanfüllung in ihre Tasse. Sie schloss kurz die Augen, als sie von dem Hörnchen abbiss, und seufzte verzückt, dann aber sah sie Melissa an.

„Ich kauf dir nicht ab, dass dich dieser Patrick nicht interessiert“, sagte sie gerade heraus.

„Es ist aber so“, behauptete Melissa.

„Weil?“

„Himmel, er ist einfach nicht mein Typ!“

Sandy neigte den Kopf zur Seite, kniff die Augen zusammen und sah Melissa an, als wäre sie Verhörspezialistin beim FBI. „Das glaube ich dir nicht. Du stehst auf dunkle Haare und er hat ja wohl mehr als genug davon.“

„Oh Mann, ich verknall mich doch nicht in eine Frisur!“ Für wie einfältig hielt Sandy sie eigentlich?

„Das ist nicht alles. Ich weiß genau, dass du auf Kerle mit blauen Augen und schwarzen Haaren stehst. Hier, schau doch die Fotos an!“ Sie drehte sich um und deutete auf die Bilder, die die Eltern des Babys zeigten. Neben Emilia, einer hübschen Italienerin mit braunen Locken, stand ihr künftiger Ehemann, der millionenschwere Richard Stone. „Du hast schon mehrmals gesagt, dass dir Richard gut gefällt!“

Das stimmte leider. Sandy hatte sie oft genug mit der Frage malträtiert, welcher Typ Mann ihr denn vom Aussehen her gefiel. Irgendwann hatte sie zugegeben, dass sie die Kombination aus hellen Augen und dunklen Haaren, wie sie auch Richard Stone vorzuweisen hatte, sehr reizvoll fand.

„Ja, okay. Ist mir lieber als blond, das gebe ich zu. Aber trotzdem: Dieser Patrick ist nichts für mich.“ Entschlossen stach Melissa das nächste Stück vom fruchtigen Kuchen ab und schob es sich in den Mund. Langsam nervte es sie, dass sie sich ständig verteidigen musste, wenn sie sich beim Anblick eines Mannes nicht sofort die Kleider vom Leib riss und ihm „Nimm mich! Hier und jetzt!“ zurief.

„Kauf ich dir immer noch nicht ab.“ Sandy verschränkte die Arme vor der Brust.

„Dann glaubst du es eben nicht. Es ist schließlich meine Sache.“ Sie hatte endgültig genug von dem Thema. Am besten, sie trank schnell aus und ging zurück ins Gartencenter.

„Verdammt, Melissa, ich hab doch mitgekriegt, wie du ihn angeschaut hast. Er gefällt dir, du kannst mir nichts vormachen!“

„Aber ich ihm sicher nicht!“

Mist. Das war ihr rausgerutscht. Ärgerlich rührte Melissa in der Tasse herum. Sie hatte das doch für sich behalten wollen und nicht ausgerechnet Sandy verraten, die der Meinung war, jede Frau konnte jeden Mann rumkriegen, wenn sie es nur halbwegs schlau anstellte. Das galt vielleicht für die kesse Freundin, aber für sie selbst bestimmt nicht.

„Liebes, was ist los mit dir?“ Sandys Blick hatte sich verändert. Während sie bisher gelacht und mit munterer Stimme geredet hatte, zeigte sich nun Besorgnis in ihrer Miene. „Du zweifelst doch wohl nicht ernsthaft daran, dass er sich in dich verlieben könnte?“

Melissa seufzte. „Ich bin nicht wie du. Du hast Ausstrahlung. Wenn du eine Bar betrittst, drehen sich alle Männer um. Bei mir nicht. Eine graue Maus wie mich findet niemand interessant.“

Mit einem leichten Kopfschütteln legte Sandy ihre Hand auf die von Melissa. „Das ist Unsinn. Du bist ein wunderbarer Mensch. Mitfühlend, sensibel, du hast so viel zu bieten! Wie kommst du bloß darauf, dass Männer dich nicht spannend finden?“

„Siebenundzwanzig Jahre Erfahrung“, erklärte Melissa mit einem schiefen Lächeln. Sie trank einen Schluck Cappuccino und setzte dann die Tasse ab. „Schau“, begann sie, „es war immer so. Alle Jungs bei uns in der Stadt standen auf meine hübsche Schwester. Rosalyn konnte sich vor Verehrern kaum retten, während ich bei irgendwelchen Partys immer allein rumstand. Sie war die Strahlende, mich bemerkten die meisten Leute gar nicht.“

Manchmal dachte sich Melissa sogar, dass das alles schon bei der Namensgebung vorbestimmt gewesen war. Mit einer duftenden, sich hoch in die Luft reckenden, wunderschönen Rose konnte ein bodenwüchsiges Kraut nun mal nicht konkurrieren. Vielleicht war es auch eine Art von selbsterfüllender Prophezeiung, dass sie unscheinbar geblieben war. Gespürt hatte sie das jedenfalls schon seit ihrer frühsten Kindheit.

„Selbst bei den Verwandten war es so. Alle scharten sich um Rosalyn, wollten sie singen hören oder ließen sich von ihr ein Gedicht aufsagen.

---ENDE DER LESEPROBE---