Sword Art Online – Alicization invading – Light Novel 15 - Reki Kawahara - E-Book

Sword Art Online – Alicization invading – Light Novel 15 E-Book

Reki Kawahara

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Niederlage Administrators hat einen hohen Preis gefordert. Eugeo hat sein Leben verloren und Kirito seine geistige Gesundheit. Sechs Monate nach der epischen Schlacht in der Central Cathedral ist Kirito an den Rollstuhl gefesselt – mit einem leeren, willenlosen Gesichtsausdruck. Alice hat sich in der Nähe des Dorfes Rulid niedergelassen und kümmert sich liebevoll um ihn. Die Armeen des dunklen Territoriums setzen sich in Bewegung. Der »Finale Belastungstest« hat begonnen. Und der Retter der Menschheit ist nicht bereit!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 321

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kapitel XIV

Subtilizer, der SeelenräuberJuni – Juli 2026

Da war sie. Die Scharfschützin mit türkisblauem Haar.

Ihr zierlicher Mädchenkörper harmonierte überraschend gut mit ihrem Kaliber-50-Gewehr.

Sie lag mit der Waffe im Anschlag flach auf dem Boden, ihr Gesicht abgewandt. Doch sicher waren ihre Züge ebenso kühn und schön wie die eines Luchses.

Ihr rechtes Auge an das Zielfernrohr gelegt, den Finger am Abzug, behielt sie die Straße unter sich absolut regungslos im Blick. Ihre Konzentrationsfähigkeit war bemerkenswert. Er hätte sie gern noch etwas länger so von hinten beobachtet, aber ihm blieb keine Zeit mehr.

Er verließ sein Versteck und schritt durch das verfallene Gebäude. Vorsichtig umging er Steinchen, Zweige und Metallscherben, die den Boden übersäten, und näherte sich dem Mädchen mit vollkommen lautlosen Schritten.

Plötzlich ging ein Zucken durch ihre Schultern.

Sie musste irgendetwas gespürt haben, das weder Laut noch Schwingung war. Sie hatte hervorragende Instinkte, doch leider war es schon zu spät.

Seine rechte Hand streckte sich aus und legte sich um ihren schlanken Hals, während die linke ihren Hinterkopf niederdrückte.

Leise, doch fest entschlossen begann er, sie zu erwürgen.

Sein Nahkampfskill »Army Combative« zeigte Wirkung, und die visuelle Darstellung der Lebenskraft des Mädchens, ihre HP-Leiste, begann rapide zu sinken. Die Scharfschützin wehrte sich nach Leibeskräften, doch in diesem VRMMO Gun Gale Online war es nahezu unmöglich, sich ohne beträchtlich höheren Stärke-Wert mit bloßen Händen aus einem Würgegriff von hinten zu befreien.

Von allen neunundzwanzig Teilnehmern des Bullet of Bullets hatte er sich am meisten darauf gefreut, gegen die blauhaarige Scharfschützin zu kämpfen … nein, sie zu jagen. Er hatte vorausgesehen, dass sie von einer der oberen Etagen dieses fünfstöckigen Gebäudes snipern würde.

Das Problem war, dass die Hauptstraße der Map sowohl vom vierten als auch vom fünften Stockwerk im Schussfeld lag. Er hatte eine schnelle Entscheidung treffen müssen, auf welchem Stockwerk er ihr auflauern würde.

Für gewöhnlich würde sie die vierte Etage wählen, um schneller die Scharfschützenposition einzunehmen. Als er jedoch die Bibliothek auf dem vierten Stock gesehen hatte, hatten ihm Intuition und Logik etwas anderes eingeflüstert. Seine Intuition sagte ihm, dass die Scharfschützin im wirklichen Leben noch eine junge Schülerin war. Seine Logik sagte ihm, dass sie es als Schülerin vermeiden würde, von der Bibliothek zu snipern, weil der Ort sie an ihr wirkliches Leben erinnerte.

Seine Prognose war korrekt gewesen. Die blauhaarige Scharfschützin hatte die paar zusätzlichen Sekunden investiert, um ein Stockwerk höher zu steigen, und war im Lagerraum auf dem fünften Stock erschienen.

Nun, wie ein Schmetterling, der sich ins Netz einer Spinne verirrt hatte, war sie drauf und dran, ihr vergängliches Leben zu verlieren.

Ach, wenn es doch nicht nur der Schwund binärer Daten in einer virtuellen Welt wäre, sondern der Kampf um ihr echtes Leben und ihre Seele.

Wenn es doch nicht nur der Avatar, sondern die Spielerin aus Fleisch und Blut wäre, die so verzweifelt gegen seinen Griff ankämpfte.

Wie überaus süß wäre der entscheidende Moment dann gewesen.

Die HP der Scharfschützin in der rechten, oberen Ecke seines Blickfelds fielen unter fünf Prozent. Dennoch versuchte sie weiter verbissen, seinem Würgegriff zu entkommen.

Obwohl ihre Niederlage unausweichlich war, gab sie keinen Laut von sich noch gab sie sich geschlagen, sondern kämpfte nach Kräften gegen ihn an. Auch wenn sie Gegner waren, berührte ihn das.

Als würde er eine Geliebte umarmen, näherte er seinen Mund ihrem Ohr und wisperte:

»Your soul will be so sweet.«

1

Langsam öffnete er die Augen.

Er musste eingeschlafen sein. Das italienische Sofa, das er vorige Woche gekauft hatte, war offenbar etwas zu weich. Versunken in das glatte Leder warf er einen Blick auf die Smartwatch an seinem linken Handgelenk.

02:12 Uhr.

Er stand auf und streckte sich, während er zur südlichen Fensterfront schlenderte. Die gesamte Fläche bestand aus intelligentem Glas. Da sie gerade transparent war, erlaubte sie von seinem Vorstandszimmer im dreiundvierzigsten Stock einen Blick auf das Ufergebiet unter ihm.

Die Lichter der Hochhäuser glitzerten still im Hafenbecken. An dem langen Kai lagen mehrere große Schiffe vor Anker.

Ihre kantigen, imposanten Silhouetten waren nicht die von Kreuzfahrtschiffen. Es waren Schlachtschiffe, die zum dritten Geschwader der US-Pazifikflotte gehörten.

San Diego, die zweitgrößte Stadt im Bundesstaat Kalifornien, war schon seit langer Zeit ein Militärstützpunkt. Über 25.000 Angehörige des Militärs wohnten hier und kurbelten rund um die gewaltige Marinebasis die Wirtschaft an.

Doch in den letzten Jahren hatten auch neue Industriezweige ein rapides Wachstum erlebt – Hightech-Industriezweige wie die Telekommunikation und Biotechnologie.

Manche Unternehmen nutzten sowohl das Militär als auch Spitzentechnologien als Waffe. Dabei handelte es sich um sogenannte private Militärunternehmen, die meist im Auftrag des Militärs, aber auch großer Unternehmen Aufgaben im Personen- oder Objektschutz, die Ausbildung von Soldaten bis hin zu unmittelbaren Kampfeinsätzen an der Front durchführten.

Gabriel Miller, der taktische Leiter von Glowgen Defense Systems mit Hauptsitz in der Innenstadt von San Diego, sah auf den nächtlichen Hafen hinunter und lächelte selbstvergessen.

Der Traum während seines kurzen Nickerchens vorhin hatte seine Stimmung etwas gehoben.

Er hatte von einem Event in einem Full-Dive-Spiel geträumt, an dem er vor wenigen Tagen aus diesem Büro teilgenommen hatte.

Gabriel träumte fast nie, doch wenn er es tat, dann war es immer eine detaillierte Wiederholung eines Erlebnisses aus seiner Vergangenheit. Er konnte noch immer das angenehme Gefühl spüren, wie die blauhaarige Scharfschützin gegen seinen Griff angekämpft hatte. Fast so, als ob es nicht nur ein Traum gewesen, sondern wirklich passiert wäre …

Aber das stimmte nicht. Dieser Kampf hatte nicht in der Realität, sondern in der virtuellen Welt stattgefunden.

Die Full-Dive-Technologie war eine phänomenale Erfindung, und er zollte ihrem Entwickler Akihiko Kayaba dafür großen Respekt. Wäre er noch am Leben gewesen, hätte Gabriel Millionen Dollar investiert, um ihn anzuwerben. Auch wenn er der berüchtigtste Verbrecher des Jahrhunderts war – oder eher gerade deswegen.

Doch je näher das vom AmuSphere gebotene Erlebnis der Wirklichkeit kam, desto mehr verstärkte es seine Unzufriedenheit, dass es nicht tatsächlich real war. Genau wie Salzwasser, das nie den Durst stillen konnte, so viel man auch davon trank.

Als jüngstes Vorstandsmitglied und Großaktionär von Glowgen DS fehlte es Gabriel materiell in seinem Leben an absolut nichts. Doch das heftige Verlangen tief in seiner Seele konnte kein Geld der Welt stillen.

»Your soul will be so sweet …«

Noch einmal sprach er die Worte aus seinem Traum.

Eigentlich hatte er den Satz auf Japanisch flüstern wollen, schließlich lernte er die Sprache bereits seit drei Jahren. Da ihn eine Markierung an der HP-Leiste jedoch als US-Spieler auswies, wollte er vermeiden, einen unnötig starken Eindruck zu hinterlassen. Er würde irgendwann schon noch Gelegenheit haben, sich in Ruhe mit ihr zu unterhalten. Wenn es so weit war, hatte er einige Fragen an sie.

Das leise Lächeln um seine Mundwinkel verschwand. Gabriel berührte einen der Touchsensoren, die an mehreren Stellen im Fensterglas eingebettet waren, und regelte die Transparenz herunter. In der nun schwärzlichen Oberfläche spiegelte sich seine eigene Gestalt.

Die blonden Haare hatte er locker nach hinten gekämmt, seine Augen waren blau. Sein 1,80 Meter großer Körper war in ein weißes Anzughemd und eine dunkelgraue Stoffhose gekleidet. Seine Schuhe waren eine Maßanfertigung aus Cordovanleder. Seine Aufmachung entsprach fast schon peinlich genau dem Bild der weißen Oberschicht, doch für Gabriel hatte sein Äußeres nicht mehr als eine symbolische Bedeutung. Denn der Körper war letztlich nur die fleischliche Hülle der Seele.

Soul.

Nahezu jede Religion der Welt hatte ein eigenes Konzept der Seele. Auch das Christentum lehrte, dass die Seele abhängig von den Taten zu Lebzeiten nach dem Tod entweder in den Himmel oder die Hölle gesandt wurde. Doch Gabriels Glauben an die Existenz der Seele und sein Streben danach rührte nicht etwa daher, dass er evangelisch oder katholisch gewesen wäre.

Er wusste es. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen.

Als das Mädchen in seinen Armen ihr Leben ausgehaucht hatte, war er Zeuge geworden, wie von ihrer Stirn eine unvergleichlich schöne Wolke von Lichtpartikeln aufgestiegen war.

Gabriel Miller war im März 1998 im Vorort Pacific Palisades von Los Angeles in Kalifornien geboren worden.

Als Einzelkind war er von seinen wohlhabenden Eltern großzügig mit allen erdenklichen materiellen wie immateriellen Liebesbekundungen überschüttet worden. In dem weitläufigen Anwesen hatte es beileibe nicht an Plätzen zum Spielen gefehlt, doch der Lieblingsort des jungen Gabriel war der Hobbyraum für die private Sammlung seines Vaters gewesen.

Sein Vater, der Inhaber und Geschäftsführer von Glowgen Securities, dem Vorgänger von Glowgen Defense Systems, war ein passionierter Sammler von Insektenpräparaten. Unzählige Glaskästen reihten sich in dem großen Raum aneinander. Wann immer Gabriel Zeit gefunden hatte, hatte er sich in den Raum geschlichen und mit einer Lupe in der Hand die farbenfrohen Insekten betrachtet oder auf dem Sofa in der Mitte in Tagträumen geschwelgt.

Allein in dem dämmrigen Zimmer mit der hohen Decke, umgeben von Tausenden von stummen Insekten, hatte den jungen Gabriel manchmal eine merkwürdige Ergriffenheit überkommen.

Diese Insekten hatten alle bis zu einem gewissen Moment gelebt. In den Savannen von Afrika, den Wüsten im Nahen Osten, den Urwäldern in Südamerika hatten sie ihre Nester gebaut und nach Futter gesucht.

Doch irgendwann waren sie von einem Sammler gefangen und mit Chemikalien behandelt worden, um schließlich über mehrere Zwischenhändler in einer ordentlichen Reihe in einem der Glaskästen im Hause Miller zu landen. Kurzum, dieser Raum war nicht nur eine Ausstellung einer Sammlung von Insektenpräparaten, sondern auch eine gigantische Grabstätte für Abertausende von massakrierten Leichnamen.

Gabriel hatte die Augen geschlossen und sich vorgestellt, die Insekten um ihn herum wären mit einem Mal wieder lebendig.

Sechs angestrengt in der Luft scharrende Beine, zitternde Fühler und Flügel. Krschh, krschh – ein leises Rascheln aus zahlreichen Richtungen, das sich zu einem vielstimmigen Rauschen vereinte und in Wellen an Gabriels Ohren brandete.

Krschh, krschh.

Er hatte die Augen aufgerissen. Für einen Moment war ihm gewesen, als hätten sich in einer Ecke eines Glaskastens genau vor ihm die Beine eines grünen Käfers bewegt. Er war hastig vom Sofa gesprungen und hinübergelaufen. Neugierig hatte er in den Kasten gestarrt, doch da war das Insekt wieder ein lebloses Präparat gewesen.

Der metallisch glänzende, smaragdgrüne Panzer, die stachelbesetzten Beine, die Facettenaugen mit ihrem mikroskopisch kleinen Netzmuster – Gabriel hatte sich gefragt, welche Kraft diesen präzisen Körper einst angetrieben hatte.

Sein Vater hatte ihm beigebracht, dass Insekten nicht wie Menschen über ein Großhirn verfügten. Als Gabriel ihn daraufhin gefragt hatte, mit welchem Körperteil sie dachten, hatte der Vater ihm ein Video gezeigt.

Es waren Aufnahmen von Gottesanbeterinnen bei der Paarung gewesen. Das kleinere Männchen hatte das dickere, größere Weibchen von hinten festgehalten und sein Fortpflanzungsorgan mit ihr vereint. Für einen Moment waren sie bewegungslos geblieben, bis das Weibchen plötzlich und ohne Vorwarnung mit ihren Fangarmen seine obere Körperhälfte gepackt und gierig seinen Kopf gefressen hatte. Erstaunt hatte Gabriel beobachtet, wie das Männchen die Paarung einfach fortgeführt und sich erst von ihr gelöst hatte, als sein Kopf vollständig verspeist worden war. Dann hatte er sich aus ihren Fangarmen befreit und die Flucht ergriffen.

Obwohl das Männchen keinen Kopf mehr hatte, war es durch das Gras gekrabbelt und auf einen Zweig geklettert. Gabriels Vater hatte auf das Video gezeigt und seinem Sohn erklärt: »Bei den Gottesanbeterinnen, wie auch bei allen anderen Insekten, funktioniert das Nervensystem im ganzen Körper wie ein Gehirn. Deswegen können sie auch ohne ihren Kopf, der nicht mehr als ein Sinnesorgan ist, eine Weile überleben.«

Nachdem Gabriel dieses Video gesehen hatte, hatte er sich tagelang gefragt, wo die Seele der Gottesanbeterinnen saß. Wenn sie weiterleben konnten, obwohl ihr Kopf verspeist worden war, wäre vermutlich auch der Verlust aller Beine nicht lebensbedrohlich für sie. Dann vielleicht im Bauch? Oder in der Brust? Doch Insekten zappelten selbst dann noch lebhaft mit den Beinen, wenn ihre weichen Bäuche zerquetscht oder sie mit einer Nadel durch die Brust aufgespießt wurden.

Wenn kein Körperteil beim Verlust zum sofortigen Tod führte, musste die Seele einer Gottesanbeterin wohl im ganzen Körper verteilt sein. Gabriel war zu der Zeit acht oder neun Jahre alt gewesen, als er nach einigen Experimenten an Insekten, die er in der Umgebung ihres Hauses gefangen hatte, zu dieser Schlussfolgerung gekommen war.

Diese seltsame Kraft, die die halbmechanischen Körper der Insekten antrieb, also die Seele, verblieb hartnäckig in ihrem Gefäß, egal welches Körperteil man auch zerstörte. Doch an irgendeinem Punkt gab die Seele auf und verließ den Körper.

Gabriel brannte darauf, Zeuge dieses Moments zu werden und die Seele wenn möglich einzufangen. Doch so angestrengt er auch durch seine Lupe gestarrt, so sorgfältig er seine Versuche auch durchgeführt hatte, er hatte dieses Etwas, das die Körper der Insekten verließ, nie erfassen oder auch nur sehen können. In seinem geheimen Versuchslabor tief im Wald hinter dem Anwesen hatte er viele Stunden und großen Eifer darauf verwendet, doch seine Mühen waren nicht im Mindesten belohnt worden.

Der junge Gabriel hatte instinktiv begriffen, dass sein Wunsch bei seinen Eltern keinen großen Anklang gefunden hätte. Aus diesem Grund hatte er seinem Vater nach dem Vorfall mit dem Video von den Gottesanbeterinnen nie wieder diese Frage gestellt und niemandem von seinen Experimenten erzählt. Doch je mehr er sein Geheimnis verborgen hatte, desto mehr war sein Verlangen gewachsen.

Zu jener Zeit hatte Gabriel eine sehr gute Freundin im gleichen Alter gehabt.

Alicia Clingerman war die einzige Tochter der Unternehmerfamilie gewesen, die in der Villa auf dem Nachbargrundstück lebte. Sie hatten dieselbe Grundschule besucht, und auch ihre Familien waren befreundet. Sie war ein schüchternes, ruhiges Mädchen gewesen, das lieber zu Hause Bücher gelesen und Filme gesehen hatte, statt draußen im Dreck zu spielen.

Natürlich hatte Gabriel auch vor ihr seine Experimente geheim gehalten und nie mit ihr über Insekten oder Seelen gesprochen. Dennoch hatte er nicht aufgehört, darüber nachzudenken. Wenn sie neben ihm versunken und mit engelhaftem Lächeln ihr Buch gelesen hatte, hatte er sie oft verstohlen angesehen und sich gefragt, wo sich wohl ihre Seele befand.

Insekten und Menschen sind verschieden. Menschen können ohne ihren Kopf nicht weiterleben. Also muss die menschliche Seele im Kopf sitzen … Im Gehirn.

Allerdings hatte Gabriel mit dem Computer seines Vaters recherchiert und bereits gelernt, dass ein Gehirnschaden nicht zwangsläufig zum Tod führte. Ein Bauarbeiter war einmal von einer dicken Eisenstange vom Kinn bis zur Schädeldecke durchbohrt worden und hatte trotzdem überlebt. Es hatte auch Ärzte gegeben, die versucht hatten, psychische Krankheiten ihrer Patienten zu behandeln, indem sie Teile ihrer Gehirne entfernten.

Also muss es ein bestimmter Teil des Gehirns sein, hatte Gabriel überlegt, während er Alicias Stirn, umrahmt von seidenweichem, blondem Haar, betrachtet hatte. Hinter der glatten Haut, dem harten Schädelknochen, dem weichen Hirngewebe musste sich Alicias Seele verbergen.

In seiner kindlichen Naivität hatte Gabriel sich immer ausgemalt, dass er Alicia einmal heiraten würde. Dann würde er vielleicht eines Tages ihre Seele mit eigenen Augen sehen können. Die Seele eines so engelhaften Mädchens wie Alicia musste zweifellos unbeschreiblich schön sein.

Gabriels Wunsch war unverhofft bald in Erfüllung gegangen, wenn auch nur zum Teil.

Im September 2008 hatte der Konkurs einer großen Investmentbank eine globale Finanzkrise ausgelöst.

Die Auswirkungen der Rezession hatten auch Pacific Palisades erfasst. Etliche Villen waren zum Verkauf gestellt worden, und auch die Zahl der Luxusautos auf den Straßen hatte sichtlich abgenommen.

Glowgen Securities’ solides Management hatte sich ausgezahlt, sodass sie die Schäden niedrig halten konnten. Doch die Firma für Immobilieninvestments der Clingermans hatte große Verluste erlitten. Im April des folgenden Jahres hatte die Familie ihr gesamtes Vermögen einschließlich des Anwesens verloren und beschloss, zu ein paar Verwandten zu ziehen, die in Kansas City im Mittleren Westen eine Farm betrieben.

Gabriel war niedergeschlagen gewesen. Für einen Jungen von gerade mal zehn Jahren war er intelligent gewesen und verstand, dass er als Kind keine Möglichkeit hatte, Alicia zu helfen. Er hatte sich gut vorstellen können, welche Strapazen sie in Zukunft erwarten würden.

Villa mit perfekter Security, täglich von geschulten Köchen zubereitete Mahlzeiten, eine Schule voller Kinder von reichen Weißen – all diese Privilegien würde Alicia für immer verlieren und stattdessen Armut und harter Arbeit ausgesetzt sein. Doch vor allem hatte Gabriel den Gedanken nicht ertragen können, dass Alicias Seele, die doch eines Tages ihm gehören sollte, von irgendeinem Unbekannten verletzt werden und ihr Strahlen verlieren würde.

Also hatte er beschlossen, sie zu töten.

Am Tag von Alicias Abschied in der Schule hatte Gabriel sie in den Wald hinter den Häusern eingeladen, als sie aus dem Schulbus gestiegen waren. Geschickt war er allen Sicherheitskameras auf der Straße und den Grundstücksmauern ausgewichen, sorgsam darauf bedacht, von niemandem gesehen zu werden. Im Wald war er auf Laub getreten, um keine Fußspuren zu hinterlassen, und hatte Alicia zu seinem geheimen »Versuchslabor« geführt, das zwischen dichten Sträuchern verborgen lag.

Als Gabriel seine Arme um ihren zierlichen Körper gelegt hatte, hatte sie seine Umarmung erwidert, ohne zu wissen, dass an diesem Ort früher unzählige Insekten gestorben waren. Leise schluchzend hatte sie ihm beteuert, dass sie nicht weggehen und für immer bei ihm bleiben wolle.

In Gedanken hatte Gabriel ihr zugeflüstert, dass er ihren Wunsch erfüllen würde, und dabei in seine Jackentasche gegriffen und ein Werkzeug hervorgeholt – eine vier Zoll lange Stahlnadel mit Holzgriff, die sein Vater sonst zum Präparieren von Insekten verwendet hatte.

Vorsichtig hatte er die scharfe Spitze in Alicias linkes Ohr eingeführt, seine linke Hand auf ihr rechtes Ohr gedrückt und dann ohne das kleinste Zaudern die Nadel bis zum Griff in ihren Kopf gerammt.

Alicia hatte verwundert geblinzelt, unfähig zu begreifen, was gerade geschehen war. Plötzlich war ihr Körper von heftigen Krämpfen geschüttelt worden. Wenige Sekunden später hatten ihre weit aufgerissenen, blauen Augen den Fokus verloren.

Dann hatte Gabriel es gesehen.

Aus Alicias glatter Stirn war eine Art kleine, glitzernde Wolke aufgetaucht. Langsam war sie auf sein Gesicht zugeschwebt und zwischen seinen Augen widerstandslos in seinen Kopf gedrungen.

Der sanfte Sonnenschein eines Frühlingsnachmittags um sie herum war verschwunden. Durch die Baumwipfel hoch über ihnen waren grelle Lichtstrahlen auf ihn gefallen. Ihm war sogar so gewesen, als habe er von fern Glocken läuten gehört.

Von unbeschreiblicher Euphorie ergriffen waren Gabriel Tränen über das Gesicht geströmt. Er hatte in diesem Moment Alicias Seele gesehen. Und nicht nur das, er hatte auch gesehen, was Alicias Seele gesehen hatte, wie er intuitiv erkannt hatte.

Die kleine glitzernde Wolke war in wenigen Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen waren, durch Gabriels Kopf geschwebt und immer höher aufgestiegen, wie vom Licht in den Himmel geleitet, bis sie schließlich verschwunden war. Erst dann waren der Sonnenschein und das Singen der Vögel zurückgekehrt.

Mit Alicias leblosem und entseeltem Körper in den Armen hatte Gabriel sich gefragt, ob das, was er gerade erlebt hatte, tatsächlich geschehen war oder nur eine von seiner heftigen Aufregung ausgelöste Halluzination. Doch was auch immer es gewesen war, er hatte mit Bestimmtheit gewusst, dass er von nun an sein Leben lang dem, was er soeben erlebt hatte, nachjagen würde.

Alicias Leiche hatte er in ein zuvor entdecktes Erdloch zwischen den Wurzeln einer großen Eiche geworfen. Dann hatte er sich sorgfältig untersucht, zwei lange, blonde Haare von seinem Körper gepflückt und sie ebenfalls in das Loch geworfen. Die Nadel hatte er gründlich gereinigt in den Werkzeugkasten seines Vaters zurückgelegt.

Die örtliche Polizei hatte trotz umfangreicher Ermittlungen keine Hinweise auf Alicia Clingermans Verbleib gefunden, und der Fall blieb ungeklärt.

Der achtundzwanzigjährige Gabriel Miller erwachte aus seinem kurzen, doch tiefen Tagtraum. Er wandte den Blick von seinem Spiegelbild ab und ging zum Schreibtisch an der westlichen Seite des Zimmers. Sobald er sich in dem norwegischen Lehnstuhl niederließ, blinkte das Symbol eines Telefonhörers auf einem 30-Zoll-Display, das in die Glasfläche des Schreibtischs eingelassen war.

Als er es antippte, erschien das Gesicht seiner Sekretärin.

»Mister Miller, bitte entschuldigen Sie die Störung. Unser COO Mister Ferguson würde morgen gerne mit Ihnen zu Abend essen. Was soll ich ihm sagen?«

»Teilen Sie ihm mit, dass mein Terminkalender voll ist«, antwortete Gabriel, ohne zu überlegen. Seine sonst so souveräne Sekretärin wirkte etwas irritiert. Schließlich war der COO der Vizepräsident des Unternehmens, die Nummer zwei von Glowgen DS. Gabriel dagegen war nur einer von zehn Vorstandsmitgliedern und nicht in der Position, eine Einladung zum Essen auszuschlagen – eigentlich.

Doch die Verwirrung im Gesicht seiner Sekretärin verflüchtigte sich innerhalb einer Sekunde, dann sagte sie ruhig: »Wie Sie wünschen. Ich werde mich darum kümmern.«

Nach dem Telefonat ließ sich Gabriel in seinen Stuhl zurücksinken und schlug die Beine übereinander.

Er ahnte schon, worüber Ferguson mit ihm sprechen wollte. Vermutlich wollte er Gabriel von der geplanten Teilnahme an einer bestimmten Operation abbringen.

Doch insgeheim hatte der COO jedoch zweifellos genau das Gegenteil im Sinn. Der alte Fuchs hoffte sicher darauf, dass Gabriel sich an den gefährlichen Einsatzort begeben und auf der Liste der Gefallenen landen würde. Immerhin war Gabriel der Sohn des früheren Geschäftsführers und Großaktionär.

Natürlich war Gabriel vollkommen bewusst, wie leichtsinnig es war, sich als Führungskraft eines großen Unternehmens an Operationen mit echten Gefechtssituationen zu beteiligen. Auch wenn er militärische Erfahrung haben mochte, war es doch die Aufgabe eines CTO, aus der Sicherheit des Büros im Hauptsitz umfassende, strategische Pläne zu erstellen. Es bestand keine Notwendigkeit für ihn, sich selbst auf dem Schlachtfeld in Gefahr zu bringen.

Doch an dieser streng geheimen Sonderoperation wollte er um jeden Preis selbst teilnehmen. Denn dieses Unternehmen stand in direktem Zusammenhang mit dem Ziel, dem Gabriel nachjagte, seit er damals Alicias Seele gesehen hatte.

Der Auftraggeber war diesmal nicht ihr Stammkunde, das Verteidigungsministerium, sondern die NSA, die Nationale Sicherheitsbehörde, mit der sie bisher kaum Geschäfte gemacht hatten.

Im vorigen Monat hatten ihn zwei NSA-Agenten in seinem Büro aufgesucht und Gabriel trotz seiner Gefühlskälte gleich in mehrfacher Hinsicht überrascht.

Zum einen war die gesamte Mission absolut illegal. Ein Kampftrupp von Glowgen sollte an Bord eines U-Boots der Marine ein Schiff der alliierten Nation Japan stürmen. Zudem waren sie auch bereit, den Tod der Besatzung des Schiffes in Kauf zu nehmen.

Ziel der Mission war der Raub einer bestimmten Technologie.

Als Gabriel die Einzelheiten erfahren hatte, hatte er vor Überraschung – oder möglicherweise auch vor Begeisterung – einen kleinen Laut ausgestoßen. Glücklicherweise hatten die Agenten es nicht gehört.

Es ging um die Technologie des Soul Translator. Diese erstaunliche Maschine, entwickelt von einem Subunternehmen des japanischen Militärs, war in der Lage, die menschliche Seele auszulesen.

Als Seelenhäscher hatte Gabriel schon seit Langem ein großes Interesse an der Full-Dive-Technologie aus Japan. Es war auch der Grund, warum er in Gun Gale Online gegen japanische Spieler kämpfte und sogar die japanische Sprache lernte. Überdies hatte er Zehntausende von Dollar ausgegeben, um eine dieser Höllenmaschinen namens NerveGear zu erwerben, die eigentlich samt und sonders verschrottet werden sollten – wenn auch natürlich nicht, um es selbst zu benutzen.

Nach dem Skandal um jenes tödliche Spiel hatte Gabriel erwartet, dass die Forschung an der Full-Dive-Technologie in Japan zum Erliegen kommen würde. Tatsächlich waren die Forschungen jedoch insgeheim fortgesetzt worden, und nun war man der Enträtselung der menschlichen Seele dicht auf der Spur.

Für Gabriel war die Anfrage der NSA nichts anderes als Schicksal.

Glowgen DS war zwar groß, doch letztlich nur ein privates Militärunternehmen. Eine Anfrage der NSA, die dieser Tage mehr Macht als die CIA hatte, konnten sie auf keinen Fall ablehnen. In einer eilig einberufenen Vorstandssitzung war der Auftrag mit einer Mehrheit von zwei Stimmen angenommen worden. Um absolute Geheimhaltung zu gewährleisten, hatten sie das operative Team mit Söldnern verstärkt, die schon Dreck am Stecken hatten und auf Auftragsmord spezialisiert waren.

Gabriel selbst hatte sich als Leiter der Operation gemeldet.

Natürlich wurde dem Kampftrupp verschwiegen, dass Gabriel zum Vorstand von Glowgen gehörte. Falls es bekannt werden würde, war es bei diesen Typen nicht unwahrscheinlich, dass sie das Unternehmen hintergehen und Gabriel entführen würden, um Lösegeld für ihn zu fordern.

Doch dieses Risiko musste Gabriel eingehen.

Die NSA-Agenten hatten ihm erzählt, dass es RATH mithilfe der STL-Technologie gelungen war, die menschliche Seele nicht nur zu dechiffrieren, sondern auch zu vervielfältigen. Wenn die künstliche Seele mit dem Codenamen A.L.I.C.E. erst fertiggestellt wäre, würde sie auf japanische Militärdrohnen geladen werden und damit das militärische Gleichgewicht in Ostasien empfindlich stören.

Gabriel war gleichgültig, ob im Fernen Osten – oder irgendwo sonst in der Welt – ein kriegerischer Konflikt ausbrach. Doch sobald er den Namen Alice gehört hatte, hatte sein Entschluss festgestanden.

Sie würde ihm gehören.

Er würde tun, was immer nötig war, um diese Seele in die Finger zu bekommen, die auf einem kleinen Medium namens Light Cube gespeichert war.

»Alice … Alicia …«

Weit auf seinem Stuhl zurückgelehnt, murmelte er die beiden Namen leise vor sich hin. Um seine Mundwinkel spielte wieder ein leichtes Lächeln.

Glowgen, der Name der von Gabriels Großvater gegründeten Firma, war eine Wortschöpfung mit der Bedeutung »was Leuchten hervorbringt«. Sein Großvater hatte sich darunter offenbar das Leuchten des Glücks vorgestellt, doch sein Erbe Gabriel konnte dabei an nichts anderes denken als an das goldene Leuchten, das von der Stirn der sterbenden Alicia aufgestiegen war.

Was dieses Leuchten hervorbrachte – das war die Seele.

All das war Schicksal.

Eine Woche später flog Gabriel mit einer Truppe von elf Kämpfern nach Guam. Von dort drangen sie mit einem Atom-U-Boot, das am dortigen Marinestützpunkt vor Anker lag, in japanische Hoheitsgewässer ein. Unmittelbar vor Beginn der Operation wechselten sie in ein mitgeführtes, kleineres Tauchboot und starteten den Angriff auf ihr Ziel, das gigantische Meeresforschungsschiff »Ocean Turtle«.

Es war nicht klar, ob das Schiff ohne Blutvergießen eingenommen werden konnte oder ob es auf einer oder beiden Seiten Opfer geben würde. Doch Gabriel war überzeugt, dass er Alice und die STL-Technologie an sich bringen würde. Der NSA würde er einfach irgendwelche Light Cubes und Kopien der Unterlagen liefern.

Bald … Schon bald würde es so weit sein. Seit Alicia hatte er an vielen Menschen experimentiert, ohne der wahren Essenz der Seele näherzukommen. Doch nun war sie zum Greifen nah.

Er würde diese wunderschöne Wolke aus Licht wieder sehen.

»Deine Seele wird so süß sein …«

Noch einmal murmelte Gabriel die Phrase, diesmal auf Japanisch, und schloss die Augen.

2

Dario Ziliani, Kapitän des Atom-U-Boots »Jimmy Carter« der Seawolf-Klasse, war U-Boot-Mann durch und durch. Er hatte sich vom Reinigen der Torpedorohre bis zu seiner jetzigen Position hochgearbeitet. Sein erstes Schiff war ein altes Diesel-U-Boot der Barbel-Klasse gewesen, in dessen entsetzlich beengtem Innenraum man auf Schritt und Tritt vom Ölgestank und Maschinenlärm verfolgt wurde.

Verglichen damit war die Seawolf-Klasse, das teuerste U-Boot der Welt, ein Rolls Royce. Seitdem Ziliani 2020 zum Kapitän ernannt worden war, hatte er sein Schiff und die Besatzung mit Fürsorge überschüttet. Dank des harten Trainings agierten der Schiffsrumpf aus hochfestem Stahl, der S6W-Reaktor und die 140-köpfige Besatzung nun wie ein einziger Organismus, der ungehindert in jedem Ozean tauchen konnte, solange er nur tief genug war.

Die »Jimmy Carter« war Zilianis Baby. Bedauerlicherweise würde er schon bald aus dem aktiven Dienst zurücktreten und musste sich entscheiden, ob er an Land weiterarbeiten oder in den Vorruhestand gehen würde. Doch er war überzeugt, dass das U-Boot bei seinem ersten Offizier Guthrie, den er als seinen Nachfolger empfohlen hatte, in guten Händen sein würde.

Doch dann hatte er vor gerade einmal zehn Tagen einen seltsamen und riskanten Befehl erhalten, der Zilianis ruhigen Lebensabend zu ruinieren drohte.

Die »Jimmy Carter« war ein Schiff, das für Spezialoperationen konzipiert war und über verschiedene Ausstattungen für Einsätze der Navy SEALs verfügte. Dazu gehörte auch das Mini-U-Boot auf dem hinteren Deck.

Sie waren zuvor schon mehrere Male mit Einsatzkräften der SEALs weit in Hoheitsgewässer anderer Länder vorgedrungen. Doch dabei war stets das Ziel gewesen, den Frieden in den Vereinigten Staaten und der Welt im Ganzen zu erhalten, und die Männer, die bei diesen Missionen ihre Leben aufs Spiel gesetzt hatten, hatten das gleiche Pflichtbewusstsein an den Tag gelegt wie auch Zilianis Mannschaft.

Die Typen dagegen, die vor zwei Tagen in Guam an Bord gekommen waren …

Ein einziges Mal war Ziliani in den hinteren Bereich gegangen, um nach seinen Passagieren zu sehen, und war drauf und dran gewesen, seinen Leuten zu befehlen, sie allesamt in die Tiefsee zu feuern. Ein Dutzend Männer hatte sich ohne jegliche Disziplin auf dem Boden gelümmelt. Einer hatte Kopfhörer getragen, aus denen laute Musik geplärrt hatte, ein paar hatten um Geld gepokert, und überall hatten leere Bierdosen herumgelegen. Diese Kerle waren eindeutig keine richtigen Seemänner. Im Gegenteil, es war sogar fraglich, ob sie überhaupt Soldaten waren.

Nur einer von ihnen, ihr hochgewachsener Kommandant, der sich bei Ziliani für das Durcheinander entschuldigt hatte, schien Manieren zu haben.

Doch seine erstaunlich blauen Augen …

Als Ziliani die ausgestreckte Hand des Mannes ergriffen und einen Blick mit ihm gewechselt hatte, hatte ihn ein schon lange vergessenes Gefühl überkommen.

Es war geschehen, als er noch ein Junge gewesen war, lange bevor er der Marine beigetreten war. Er hatte in seiner Heimat Miami im Meer geplantscht, als plötzlich ein großer weißer Hai direkt an ihm vorbeigeschwommen war. Glücklicherweise hatte das Tier ihn nicht attackiert, doch Ziliani hatte aus nächster Nähe in die Augen des Hais blicken können. Sie waren wie zwei bodenlose Löcher gewesen, die alles Licht verschluckt hatten.

In den Augen dieses Mannes lag dieselbe Leere …

»Kapitän, ich habe hier etwas auf dem Bugsonar!«

Die Stimme des Sonartechnikers riss ihn unvermittelt aus seinen Gedanken.

»Das ist das Geräusch einer nuklearen Turbine. Identifizierung läuft … Übereinstimmung der Tonsignatur gefunden. Es ist unser Ziel, das Mega-Float. Entfernung noch fünfzehn Meilen.«

Ziliani wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Gegenwart zu und gab vom Kommandantensitz in der Operationszentrale seine Anweisungen.

»Gut, Tiefe beibehalten. Geschwindigkeit auf fünfzehn Knoten drosseln.«

Die Männer wiederholten seinen Befehl, dann fühlte er für einen Moment die Verlangsamung.

»Kennen wir die Position des Aegis-Geleitschiffs?«

»Geräusch einer Gasturbine drei Meilen west-südwestlich des Ziels registriert. Übereinstimmung gefunden. Es ist die ›Nagato‹ der japanischen Marine.«

Ziliani starrte auf die beiden leuchtenden Punkte auf dem großen Display vor ihm.

Das Geleitschiff verfügte zwar über das Aegis-Kampfsystem, doch das Mega-Float selbst sollte seines Wissens eine unbewaffnete Meeresforschungsstation sein. Der Befehl lautete, diese bewaffneten Rowdys an Bord zu schleusen. Noch dazu auf ein Schiff aus Japan, einer alliierten Nation. Es war schwerlich vorstellbar, dass diese Operation vom Präsidenten und Verteidigungsminister genehmigt worden war.

Ziliani erinnerte sich an die Worte der Männer in schwarzen Anzügen, die ihm den schriftlichen Befehl direkt aus dem Pentagon überbracht hatten.

Japan führt auf diesem Mega-Float Forschungen durch, um erneut einen Kampf gegen die Vereinigten Staaten zu beginnen. Um die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu bewahren, müssen diese Forschungen begraben und vergessen werden.

Ziliani war nicht mehr so jung und naiv, dass er ihre Worte für bare Münze genommen hätte. Doch er war alt genug, um zu begreifen, dass er keine andere Wahl hatte, als den Befehl zu befolgen.

»Sind unsere Passagiere so weit?«, fragte er seinen ersten Offizier neben sich mit gesenkter Stimme.

»Sie halten sich im ASDS bereit.«

»Gut … Geschwindigkeit beibehalten und auf hundert Fuß aufsteigen!«

Komprimierte Luft drückte das Meerwasser aus den Ballasttanks. Der so entstandene Auftrieb hob den massigen Korpus der »Jimmy Carter« an. Langsam, doch stetig verringerte sich die Entfernung zu den Lichtpunkten auf dem Sonar.

Würde es unter den japanischen Forschern Opfer geben? Sehr wahrscheinlich. Seine Beteiligung an dieser Operation würde er wohl sein Lebtag nicht mehr vergessen.

»Distanz bis zum Ziel noch fünf Meilen!«

Ziliani schüttelte seine Bedenken ab und befahl mit fester Stimme: »ASDS aussetzen!«

Eine leichte Erschütterung durchlief seinen Körper, was ihm signalisierte, dass die Fracht das Achterdeck verlassen hatte.

»ASDS ausgesetzt … Startet autonome Fahrt.«

Das U-Boot mit einem Rudel wilder Hunde und einem Hai an Bord beschleunigte zusehends und schoss geradewegs auf den Bauch der an der Oberfläche schwimmenden Riesenschildkröte zu.

Kapitel XV

In nördlichen GefildenOktober des Jahres 380 menschlicher Zeitrechnung

1

Alice Synthesis Thirty stellte das gespülte Geschirr in den Abtropfkorb und sah auf, während sie sich die Hände am Saum ihrer Schürze abwischte.

Durch das kleine Fenster fiel ihr Blick auf die Wipfel der Bäume, die nach dem Kälteeinbruch der letzten Tage schon viele ihrer rot und gelb gefärbten Blätter verloren hatten. Der Winter kam hier wirklich früher als in Centoria.

Doch das Licht von Solus, die zum ersten Mal seit Langem aus einem blauen Himmel herabschien, sah angenehm warm aus. Auf einem dicken Ast des Baumes vor dem Fenster saß ein Kletterhasenpaar aneinandergeschmiegt und sonnte sich behaglich.

Lächelnd betrachtete Alice sie für einen Moment, bevor sie sich umdrehte und sagte: »Heute ist so schönes Wetter. Was hältst du davon, wenn wir ein Picknick auf dem östlichen Hügel machen?«

Keine Antwort.

Die Blockhütte hatte nur zwei Zimmer, von denen eines als Wohnstube, Esszimmer und Küche diente. In der Mitte stand ein schmuckloser Tisch aus unbehandeltem Holz.

Auf einem der ebenso schlichten Stühle saß ein schwarzhaariger Junge. Ohne eine Reaktion auf Alice’ Frage zu zeigen, starrte er nur weiter teilnahmslos auf einen Punkt auf dem Tisch.

Er hatte nie sonderlich viel auf den Rippen gehabt, doch jetzt war er noch deutlich dünner als Alice. Selbst unter der lockeren Kleidung stachen seine Knochen hervor. Der leere rechte Ärmel, der schlaff von seiner Schulter herabhing, ließ seine gesamte Erscheinung nur noch mitleiderregender wirken.

Der Blick seiner Augen, ebenso tiefschwarz wie sein Haar, war leer. In den beiden lichtlosen Pupillen spiegelte sich nur sein verschlossener Geist wider.

Alice kämpfte den Schmerz nieder, der nicht abstumpfen wollte, und fuhr betont fröhlich fort: »Es ist ein wenig windig. Wir sollten uns besser warm anziehen. Warte, ich mache mich schnell fertig.«

Sie legte die Schürze ab und hängte sie an einen Haken neben dem Spülbecken, dann ging sie ins Schlafzimmer nebenan.

Sie band ihre langen, blonden Haare zu einem Zopf zusammen und legte sich einen baumwollenen Schal um den Kopf. Das immer noch blinde rechte Auge bedeckte sie mit einem verblichenen schwarzen Stoffstreifen. Dann zog sie einen der beiden Wollmäntel an der Wand an, bevor sie mit dem anderen unter dem Arm in die Stube zurückging.

Der Junge mit den schwarzen Haaren hatte sich kein Stück bewegt. Als sie ihm auffordernd eine Hand auf den abgemagerten Rücken legte, erhob er sich mit ungelenken Bewegungen vom Stuhl.

Doch zu mehr war der Junge nicht imstande. Er konnte keinen einzigen Mer laufen. Sie half ihm von hinten in den Mantel, dann ging sie um ihn herum und band die Lederschnüre am Kragen fest zusammen.

»Gleich geschafft«, sagte sie und lief eilig in eine Ecke des Zimmers.

Dort stand ein stabiler Stuhl aus hellbraunem Holz. Anstelle von vier Beinen hatte er Metallräder, zwei große und zwei kleine. Ein alter Herr namens Garitta, der allein tief im Wald lebte, hatte ihn für sie gebaut.

Sie packte die Griffe an der Rückenlehne des Rollstuhls und fuhr ihn hinter den jungen Mann, der schon gefährlich schwankte. Sie half ihm, sich auf das Lederpolster zu setzen, und legte ihm zuletzt noch sorgfältig eine dicke Decke über die Knie.

»Fertig! Dann lass uns gehen.«

Sie klopfte ihm auf die Schulter, dann packte sie die Griffe des Rollstuhls und schob ihn zur Tür an der Südseite der Hütte.

Da drehte der Junge seinen Kopf kaum merklich und streckte seine verbliebene Hand zitternd zur linken Wand aus.

»Aah … Aah …«, stöhnte er heiser, doch es waren nur unverständliche Laute.

Trotzdem verstand Alice gleich, was er wollte.

»Oh, entschuldige. Ich hole sie dir.«

An der Wand, zu der er zeigte, hingen an soliden Metallhalterungen drei Schwerter.

Rechts Alice’ goldenes Langschwert, das Schwert des goldenen Osmanthus.

Links das pechschwarze Langschwert, das der Junge einst an der Hüfte getragen hatte, die Nachthimmelklinge.

Und in der Mitte das weiße Schwert ohne Meister, das Schwert der blauen Rose.

Zuerst nahm Alice die Nachthimmelklinge, die fast ebenso schwer war wie ihr goldenes Schwert, von der Wand und klemmte sie sich unter den linken Arm. Dann hob sie das Schwert der blauen Rose aus der Halterung. Dieses war nur halb so schwer wie das schwarze Schwert – denn in der Scheide fehlte der Großteil der Klinge.

Auch der flachsblonde Junge, der Besitzer des Schwertes und beste Freund des jungen Mannes, weilte nicht mehr unter ihnen …

Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, bevor sie mit den beiden Schwertern im Arm zum Rollstuhl zurückkehrte. Als sie die Schwerter behutsam auf den Knien des Jungen platzierte, legte er seine linke Hand darauf und senkte wieder den Blick. Nur wenn er um das schwarze und das weiße Schwert bat, artikulierte er seinen Willen mit Lauten und Gesten.

»Halt sie gut fest, damit sie dir nicht herunterfallen«, sagte Alice und verdrängte das Stechen in der Brust. Obwohl inzwischen Monate vergangen waren, war der Schmerz noch immer nicht verebbt. Sie schob den Rollstuhl mit dem zusätzlichen Gewicht durch die Tür ins Freie.

Dort führte eine dicke Planke von der Veranda zum Boden. Darüber gelangten sie in den Garten, wo die beiden von einer kühlen Brise und sanftem Sonnenlicht umfangen wurden.

Die Blockhütte stand auf einer Lichtung tief im Wald. Alice hatte eigenhändig die Bäume gefällt, die Stämme entrindet und die Hütte daraus zusammengebaut. Sie war vielleicht nicht die Hübscheste, dafür aber solide gebaut, da Alice nur die Holzarten mit der höchsten Priorität verwendet hatte. Der alte Garitta hatte ihr alles von Grund auf beigebracht und dabei mehr als einmal angemerkt, dass er noch nie solch ein starkes Mädel wie sie gesehen habe.

Diese Lichtung war offenbar Eugeos und ihr geheimer Spielplatz in ihrer Kindheit gewesen. Doch leider hatte sie keinerlei Erinnerungen mehr an diese Zeit. Das Gedächtnis an ihr Leben vor der Verwandlung zum Integrationsritter war ihr durch das Synthese-Ritual geraubt worden.

Garitta und den Dorfbewohnern hatte sie nur erklärt, dass sie ihre Vergangenheit vergessen hatte. In Wirklichkeit aber war ihr jetziges Selbst – Integrationsritter Alice Synthesis Thirty – nur eine falsche Identität im Körper von Alice Zuberg, die an diesem Ort geboren und aufgewachsen war. Hätte sie den Körper zurückgeben können, hätte sie es getan, aber die Erinnerungen der wahren Alice hatten diese Welt gemeinsam mit Eugeo verlassen.

»Gehen wir.«

Alice schüttelte die grüblerischen Gedanken ab und schob den Rollstuhl weiter.

Die runde Lichtung hatte einen Durchmesser von etwa dreißig Mer und war fast vollständig von weichem Pflanzenbewuchs bedeckt. Nur in einem Winkel im Osten lag unter den großen, überhängenden Ästen ein dicker Haufen Heu. Er sah aus wie das Nest eines riesigen Lebewesens – und tatsächlich war er genau das, auch wenn vom Bewohner nichts zu sehen war. Sie warf einen kurzen Blick hinüber und fragte sich, wo er sich wohl heute herumtrieb, als sie dem Pfad quer über die Wiese in den Wald hinein folgte.

»Ist dir auch nicht zu kalt?«, fragte sie den Jungen, erhielt jedoch keine Antwort.

Vermutlich hätte er nicht einmal einen Ton von sich gegeben, wenn sie sich inmitten eines tobenden Schneesturms befunden hätten. Sie lugte über seine Schulter und vergewisserte sich, dass sein Mantelkragen ordentlich geschlossen war.

Natürlich hätte sie ihn auch einfach mit einem oder zwei Hitzeelementen aufwärmen können. Allerdings waren manche Bewohner von Rulid den beiden gegenüber ohnehin schon misstrauisch, und Alice wollte Gerüchte vermeiden, dass sie die sakralen Künste missbrauchte.