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Vor über zwei Jahren landete Kirito, der Held der SAO-Krise, in einer rätselhaften Fantasy-Welt: Underworld. Erneut ist er in einem Game – und soeben noch mit seinem Freund Eugeo in einem Kerker – gefangen. Dank Kiritos Geistesgegenwart gelingt ihnen die Flucht aus dem Gefängnis. Mit der Unterstützung des rätselhaften Mädchens Cardinal machen sich die Jungen zur Spitze der Central Cathedral auf, um endgültig zu entfliehen. Doch mächtige Ritter, die durch den Vorgang der »Synthese« ins Leben gerufen wurden, stellen sich ihnen in den Weg!
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Seitenzahl: 338
Es war am 7. November 2024 gewesen, als ich, Kazuto Kirigaya, mich aus dem VRMMORPG Sword Art Online ausgeloggt hatte.
Nach meiner Rehabilitation konnte ich Mitte Dezember in mein Zuhause in Kawagoe zurückkehren. Zwei Monate zuvor war ich sechzehn Jahre alt geworden. Während jedoch meine ehemaligen Mitschüler gerade für die Aufnahmeprüfungen an der Highschool gebüffelt hatten, hatte ich mich in das Labyrinth auf der fünfzigsten Ebene von Aincrad gestürzt. Es gab also natürlich keine reguläre Schule, die ich nach meiner Rückkehr hätte besuchen können.
Glücklicherweise – wenn man es so nennen konnte – hatte meine Mittelschule Nachsicht mit mir gehabt und mir ein Abschlusszeugnis ausgestellt, obwohl ich nur die Hälfte der Kurse besucht hatte. Für gewöhnlich hätte ich anschließend eine Vorbereitungsschule besucht, um die Aufnahmeprüfung ein Jahr später abzulegen. Doch da hatte die Regierung eine unerwartete Lösung präsentiert.
Unter den etwa sechstausend Rückkehrern aus SAO waren auch mehr als fünfhundert Mittel- und Highschool-Schüler gewesen. Eigens für sie wurde in West-Tokyo eine Schule gegründet, an der sie ab April 2025 ohne Aufnahmeprüfung und Schulgebühren aufgenommen wurden und beim Abschluss die Qualifikation für die Universität erhielten.
Als Campus wurde das ehemalige Gebäude einer städtischen Schule genutzt, das seit deren Schließung im vorigen Jahr auf den Abriss gewartet hatte. Das Lehrpersonal bestand zum Großteil aus pensionierten Lehrern, die in Teilzeit wieder eingestellt wurden. Offiziell wurde die Einrichtung als staatliche Fachschule eingeordnet.
Paradoxerweise verursachte mir die unerwartete Sorgfalt bei der Planung dieses Sicherheitsnetzes eher ein mulmiges Gefühl. Dennoch hatte ich mich nach Rücksprache mit Asuna und natürlich auch meiner Familie dazu entschlossen, an die Schule zu gehen. Ich hatte meine Entscheidung kein einziges Mal bereut. Mit meinen Freunden aus dem Mechatronics-Kurs verschiedene Geräte zu entwerfen und zu bauen, hatte mir großen Spaß gemacht, und zudem hatte ich jeden Tag Asuna, Lisbeth und Silica sehen können. Trotz der obligatorischen, wöchentlichen Beratungsgespräche war es ein erfülltes Schulleben gewesen.
Doch wieder war es mir nicht vergönnt gewesen, die Schule bis zum Abschluss zu besuchen.
Ein Jahr und zwei Monate nach meinem Eintritt in die Schule, im Juni 2026, war mein Bewusstsein in die Alternativwelt Underworld katapultiert worden. Nachdem ich in einem Wald nahe dem Dorf Rulid im Norden der Menschenwelt erwacht war, hatte ich verzweifelt nach den Mitarbeitern von RATH – dem Unternehmen, das für die Entwicklung und Administration dieser Welt zuständig war – gerufen, aber keine Antwort bekommen.
Somit war ich gezwungen, eine Systemkonsole zu finden, um Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Die vermutete ich in der Central Cathedral der Axiom-Kirche, die sich inmitten der Zentralstadt Centoria erhob. Und so war ich mit Eugeo, meinem ersten Freund in dieser Welt, zu einer Reise zur Stadt im Herzen der Menschenwelt aufgebrochen.
Wir hatten ein geschlagenes Jahr nach Underworldler Zeitrechnung gebraucht, bis wir endlich Centoria erreicht hatten. Aber wir hatten nicht einfach direkt in die Kathedrale marschieren können. Die Axiom-Kirche hielt ihre Tore stets fest verschlossen, und nur die Sieger des jährlich im Frühling abgehaltenen Turniers der vier Kaiserreiche durften passieren.
Daher waren Eugeo und ich, die aus unterschiedlichen Gründen dasselbe Ziel verfolgten, zunächst in die kaiserliche Akademie der Schwertkünste eingetreten, um uns für die Teilnahme am Turnier zu qualifizieren. Der Großteil der Kurse bestand aus Übungen in Schwertkunst und Magie, die hier als sakrale Kunst bezeichnet wurde. Es war ein Lehrplan, wie es ihn in der realen Welt niemals gegeben hätte, außerdem hatte ich dort zum allerersten Mal in einem Studentenwohnheim gelebt. Trotz der ungewöhnlichen Situation hatte ich mich gewissermaßen an das Leben an der Akademie gewöhnt … nein, ich hatte sogar Spaß daran gehabt.
Doch an einem Tag im Mai des Jahres 380, ein Jahr und einen Monat nach meinem Eintritt in die Akademie, war es zu einem Vorfall gekommen, der unserem Leben an der Akademie unwiderruflich ein Ende gesetzt hatte. Zwei Studenten adliger Herkunft hatten unsere Pagen, die Novizinnen Ronie und Tiese, in eine heimtückische Falle gelockt, um ihr krankes Spiel mit den Mädchen zu treiben.
Als Eugeo ihrer Schandtat auf die Schliche gekommen war, hatte er den bedingungslosen Gehorsam aller Underworldler gegenüber dem Gesetz durchbrochen und sein Schwert gezogen. Unter Aufbietung all seiner Kräfte hatte er dem Adligen Humbert den linken Arm abgeschlagen. Als ich endlich am Ort des Geschehens eingetroffen war, hatte ich gegen Raios gekämpft und ihm dabei beide Hände abgehackt.
Trotz dieser schweren Verletzung hätte keine Lebensgefahr für ihn bestanden, wenn man seine Blutung sofort gestoppt und die Wunden mit einer sakralen Kunst geheilt hätte. Doch in dem Moment war etwas Seltsames geschehen. Zu einer Wahl zwischen der Befolgung des absoluten Gesetzes des Tabu-Index und seinem eigenen Leben gezwungen, war Raios unter unmenschlichen Schreien gestorben … oder besser gesagt, er hatte sich abgeschaltet.
Eugeo und ich waren der Akademie verwiesen worden. Ein von der Axiom-Kirche entsandter Integrationsritter hatte uns in einen Kerker unterhalb der Kathedrale geworfen. Ohne mich von meinem dritten Schulabbruch in Folge entmutigen zu lassen, war ich mit Eugeo aus dem Gefängnis ausgebrochen. Während wir auf der Suche nach einem Eingang zur Kathedrale durch den Rosengarten auf dem Kirchengelände geirrt waren, war es zum Kampf gegen weitere Integrationsritter gekommen. Auf unserer verzweifelten Flucht hatten wir unerwartet Hilfe erhalten von einem mysteriösen Mädchen, das sich als Cardinal vorgestellt hatte.
Cardinal lebte in einer gewaltigen Bibliothek innerhalb eines geschlossenen Raumes. Sie hatte den nach einem Sturz in einen Springbrunnen vollkommen durchnässten Eugeo erst einmal ins Bad geschickt und mir derweil die verblüffende Wahrheit offenbart.
Underworld war eine Gesellschaftssimulation, die ganze 450 Jahre interner Zeit umspannte.
Die Hohepriesterin der mächtigen Axiom-Kirche war einst ein sehr schönes, aber ansonsten ganz normales Mädchen namens Quinella gewesen.
Sie hatte die sakralen Künste, mit anderen Worten die Systembefehle, gemeistert und in ihrer unendlichen Gier nach immer mehr Macht schließlich die verbotene Formel gefunden, um eine Liste mit sämtlichen Kommandos aufzurufen. Das hatte sie von einem einfachen Testobjekt innerhalb der Simulation zu nichts Geringerem als dem Administrator dieser Welt aufsteigen lassen.
Von der Spitze der Central Cathedral blickte Quinella nun auf die Welt hinunter, über die sie mit uneingeschränkter Macht herrschte. Ich fragte mich, ob ihr Blick auch Eugeo und mich erreichte, die sich in ihren heiligen Garten verirrt hatten …?
Ein unvermitteltes Frösteln ließ mich am ganzen Körper erzittern. Cardinal sah mich von der anderen Seite des runden Tisches mit einem grimmigen Lächeln an. Sie trank einen Schluck Tee aus ihrer Tasse und schob ihre kleine Brille hoch.
»Es ist noch zu früh, um vor Angst zu zittern«, sagte sie seelenruhig.
Ihr gelassener Tonfall half mir, den eisigen Schauer abzuschütteln. »Richtig … Entschuldige, bitte fahr fort.«
Ich griff meine eigene Tasse und nippte an dem Tee, dessen Geschmack stark an Kaffee erinnerte. Cardinal lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und fing mit ruhiger Stimme wieder an zu erzählen.
»Vor 270 Jahren, nachdem es Quinella letzten Endes gelungen war, die komplette Liste aller Systembefehle aufzurufen, hat sie zuerst ihre eigene Systemkontrollkompetenz maximiert, was sie befähigte, in das CardinalSystem selbst einzugreifen. Anschließend übertrug sie alle Rechte und Kompetenzen, die Cardinal vorbehalten waren, auf sich. Die Gestaltung von Gelände und Gebäuden, das Generieren von Items und sogar die Manipulation der Haltbarkeit von beweglichen Einheiten, Menschen eingeschlossen … kurzum, die Manipulation der Lebensspanne …«
»Die Manipulation … der Lebensspanne? Das heißt, sie kann die Höchstdauer eines Lebens …«, fragte ich bange, und die junge Weise nickte gelassen.
»… überschreiten, richtig. Ihre erste Handlung als unumschränkter Administrator war die vollständige Regeneration ihrer Lebensspanne, die zu diesem Zeitpunkt bereits achtzig Jahre zählte und nahezu erloschen war. Dann stoppte sie deren automatischen Verfall. Stellte ihre physische Erscheinung wieder her. Quinella war außer sich vor Freude, als sie die strahlende Schönheit ihrer Jugend zurückerlangte. Als junger Mann wirst du das vermutlich nicht nachvollziehen können …«
»Nun ja, ich kann schon verstehen, dass es einer der größten Träume jeder Frau ist«, antwortete ich ernst.
Cardinal schnaubte. »Selbst ich, ohne jegliche menschliche Emotionen, bin froh, dass mein Erscheinungsbild fixiert ist. Auch wenn ich gern fünf oder sechs Jahre älter aussehen würde, wenn ich es mir aussuchen könnte … Jedenfalls war Quinella wie im Rausch, als sie sich all die Begierden erfüllt hatte, die sie angetrieben hatten. Sie hatte unbegrenzte Macht über die weite Menschenwelt und ewige Schönheit erlangt. Ihre Euphorie … grenzte an Wahnsinn. So sehr, dass sie allmählich den Verstand verlor …«
Hinter der Brille verengten sich Cardinals Augen, als würde sie die Torheit der Menschen verspotten – oder vielleicht bemitleiden. »Hätte sie sich doch nur damit zufriedengegeben. Aber in Quinellas Herz hatte sich ein bodenloser Abgrund geöffnet. Sie war noch nie zufrieden mit dem gewesen, was ihr gegeben worden war … und sie konnte keine Existenz mit einer ebenbürtigen Autorität dulden.«
»Du meinst … das Cardinal-System selbst?«
»Korrekt. Obwohl es nur ein Programm ohne Bewusstsein war, beschloss sie, es zu vernichten. Doch … so versiert sie in den sakralen Künsten auch sein mag, schlussendlich ist sie doch nur ein Bewohner von Underworld – einer Welt, die weit von einer wissenschaftlichen Zivilisation entfernt ist. Sie konnte die komplizierten Befehle auf Administrationsniveau unmöglich innerhalb einer Nacht begreifen. Sie versuchte mit aller Macht, die für die RATH-Ingenieure aufgezeichneten Verweise zu entziffern … und dann unterlief ihr ein Fehler. Ein einziger, aber gewaltiger Fehler. Sie entschied sich, das Cardinal-System selbst in sich aufzunehmen, und rezitierte ein ellenlanges, sakrales Mantra. Infolgedessen …«, erklärte Cardinal mit einem leisen Seufzer, »hat Quinella den Basisbefehl des Cardinal-Systems als nicht überschreibbare Maxime in ihr Fluctlight eingebrannt. Sie wollte nur dessen Kompetenzlevel an sich reißen, doch stattdessen hat sie ihre eigene Seele mit dem Cardinal verschmolzen!«
»Was … sagst du da …?«, stammelte ich, unfähig, ihre Worte auf Anhieb zu begreifen. »Und … was genau ist Cardinals Basisbefehl …?«
»Die Erhaltung der Ordnung. Das ist der primäre Daseinszweck des Cardinal-Systems. Falls du schon einmal in vom Cardinal-System kontrollierten Welten gewesen bist, müsstest du das wissen. Cardinal überwacht permanent die Handlungen von euch ›Spielern‹. Und sobald das System ein Phänomen registriert, das die Balance der Welt stören könnte, ergreift es rigorose Gegenmaßnahmen.«
»Ja … stimmt. Ich habe mir oft genug den Kopf zerbrochen, wie man das System austricksen kann, aber wann immer ich ein Schlupfloch gefunden habe, wurde es verschlossen …«, murmelte ich und erinnerte mich daran, wie ich zu SAO-Zeiten einmal geglaubt hatte, eine sichere und effektive Farmmethode gefunden zu haben, die sofort rundheraus unterbunden worden war.
Cardinal lächelte wieder stolz. Es waren die einzigen Momente, in denen sich ihre weise Ausstrahlung zu der arglosen Miene eines jungen Mädchens wandelte. »Aber natürlich, das Cardinal-System lässt sich nicht von Halbstarken überlisten, selbst wenn sich noch so viele von ihnen zusammenrotten. Aber Quinellas Erhaltung der Ordnung ist noch weitaus radikaler. Nachdem sie den Befehl in ihr Fluctlight, also ihre Seele, geschrieben hatte, brach sie ohnmächtig zusammen und erwachte erst einen Tag später wieder. Zu diesem Zeitpunkt war sie in jedweder Hinsicht kein Mensch mehr. Sie alterte nicht mehr, nahm weder Wasser noch Nahrung zu sich … Ihr einziges Begehren war nunmehr die ewige Erhaltung der Menschenwelt, über die sie herrschte …«
»Die ewige Erhaltung …«, wiederholte ich flüsternd.
Nicht nur AIs im weiteren Sinne wie das Cardinal-System, auch die Administratoren jedes VRMMOs hofften auf den Fortbestand ihrer Spielwelt. Deswegen regulierten sie die Balance von Währung, Items und Monster-Spawnraten, um die Ordnung zu erhalten. Doch selbst für die Administratoren mit ihrer gottgleichen Macht gab es einen einzigen Faktor, den sie nicht kontrollieren konnten: Die Spieler.
Ob man dasselbe über diese Welt sagen konnte …?
Als hätte Cardinal meine Gedanken gelesen, nickte sie leicht und fuhr mit ihrer Erklärung fort.
»Früher hat das Cardinal-System dieser Welt Objekte und Effekte wie die Flora und Fauna, das Gelände oder auch das Wetter reguliert … Mit anderen Worten, es hat die Welt nur als Gefäß kontrolliert, aber nicht in das Leben ihrer Bewohner, der synthetischen Fluctlights, eingegriffen. Quinella war da anders. Sie wollte selbst die Beschäftigung ihrer Untertanen lebenslang festlegen.«
»Festlegen … Du meinst, dass jeder täglich der gleichen Tätigkeit nachgeht, ohne je etwas Neues auszuprobieren …?«
»Hmm … im Großen und Ganzen, ja. Aber weiter im Text … Nachdem Quinella mit dem Cardinal-System fusioniert war, hat sie ihren Namen geändert. Fortan nannte sie sich Hohepriesterin der Axiom-Kirche, Administrator …«
Als ich das hörte, fiel ich ihr erneut ins Wort. »Den Namen hat auch dieser Integrationsritter erwähnt, Eldrie Synthesis … äh …«
»Thirty-One.«
»Ja, genau. Er meinte, er sei von der Hohepriesterin Administrator vom himmlischen Reich auf die Erde beschworen worden. Dann hat er dabei also von Quinella gesprochen … Sie hat sich ja einen ziemlich – wie soll ich sagen – hochtrabenden Namen gegeben.«
Für mich hatte das englische Wort administrator vor seiner ursprünglichen Bedeutung eines Verwalters in erster Linie die Konnotation eines PC-Admins. Allerdings war ich mir nicht sicher, welche Bedeutung Quinella im Sinn gehabt hatte, als sie sich selbst diesen Namen verliehen hatte.
Cardinal grinste schwach und nickte. »Ich schätze, es ist bezeichnend, dass sie sich den Namen der Götter dieser Welt gegeben hat … Wie dem auch sei, sobald Quinella in Namen und Funktion zum Administrator dieser Welt geworden war, erließ sie ihr erstes Edikt. Sie ernannte die vier hohen Adligen der damaligen Zeit zu Kaisern und teilte die Menschenwelt in die vier Reiche Nord, Süd, Ost und West auf. Du hast doch sicher schon einmal die Mauern gesehen, die Centoria kreuzförmig unterteilen, oder?«
Die Akademie, an der ich gelebt hatte, lag im fünften Bezirk von Nord-Centoria, der Hauptstadt des Nordreiches Norlangarth. Vom Fenster des Wohnheims waren stets die weißen Trennwände zu sehen gewesen, die höher waren als alle anderen Bauwerke in der Stadt. Ich war bass erstaunt gewesen, als ich erfahren hatte, dass gleich hinter diesen »unvergänglichen Mauern« die Hauptstädte der anderen Kaiserreiche lagen.
»Diese Mauern wurden nicht in jahrelanger Arbeit mühsam vom Volk aus Marmorquadern errichtet. Quinella … ich meine, Administrator hat sie mit ihrer göttlichen Macht innerhalb eines Augenblicks erscheinen lassen.«
»In einem Augenblick?! Diese Mauern?! Das übersteigt aber jede sakrale Kunst … Hat das die damaligen Einwohner nicht total verängstigt?«
»Natürlich, und genau das war auch ihr Ziel: Die Macht des Cardinal-Systems zu demonstrieren, um den Leuten so Ehrfurcht einzubläuen. Durch diese mentalen Schranken und die physische Barriere der unvergänglichen Mauern wollte sie die Bewegungen und den Austausch ihrer Untertanen beschränken, um so die Kommunikationswege in die Gewalt der Axiom-Kirche zu bringen und die Gesinnung der Menschen zu kontrollieren. Die Menschen sollten für alle Zeiten unwissende und naive, treu ergebene Gläubige der Kirche bleiben. Aber diese grotesken Mauern sind nicht die einzigen physischen Barrieren, die sie errichtet hat. Um auch die Gebiete der Siedler zu begrenzen, die sich bereits überall ausgebreitet hatten, hat Administrator auch große Objekte im Gelände platziert. Unzerbrechliche Felsen, unüberquerbare Stromschnellen, unfällbare Riesenbäume …«
»Mo… Moment mal. Sagtest du gerade ›unfällbare Bäume‹ …?«
»Korrekt. Eine Zeder von absurder Größe, der sie noch dazu eine quasi unendlich hohe Priorität und Haltbarkeit verlieh.«
Ich dachte an die dämonische Gigas Cedar, die einem mit ihrer unnachgiebigen Härte die Tränen in die Augen getrieben hatte, und rieb mir unwillkürlich die Hände unter dem Tisch.
Die Gigas Cedar war also nicht natürlich in dem Wald südlich von Rulid gewachsen, sondern als künstliches Hindernis von Administrator dort platziert worden, um durch dessen extrem hohe Haltbarkeit und die Absorption von Ressourcen die Ausbreitung des Lebensraums der Dorfbewohner zu unterbinden.
Von solchen Objekten existierten demnach noch mehr Exemplare in dieser Welt. Und um diese zu beseitigen, mühten sich Generationen von Menschen seit Jahrhunderten vergebens ab …
Als ich den Blick hob, sah mich das Mädchen, das sich selbst Cardinal nannte, unverändert an, als könne sie bis in mein Innerstes blicken. Mit leiser Stimme hörte ich sie sagen: »So gab es unter der absoluten Herrschaft von Administrator ein langes Zeitalter des Friedens und Müßiggangs. Zwanzig Jahre vergingen … dreißig Jahre … Das Volk verlor jeden Tatendrang, die Adligen gaben sich ihrem faulen Leben hin, und die Schwertkämpfer der alten Zeiten ließen ihre ausgefeilten Schwerttechniken zu bloßen Showelementen verkommen. Du hast es selbst miterlebt. Für vierzig, fünfzig Jahre blickte Administrator hinab auf den monoton dahinplätschernden Alltag der Menschenwelt und empfand dabei tiefste Zufriedenheit …«
Gewissermaßen war es wohl wie die Freude am Beobachten eines Aquariums mit einem perfekten Ökosystem. Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind fasziniert meine Ameisenfarm beobachtet hatte, und fühlte mich mit einem Mal ziemlich unwohl.
Cardinal, die mit gesenktem Blick ebenfalls in Gedanken versunken gewesen war, erklärte plötzlich entschieden: »Aber in keinem System ist ewiger Stillstand möglich. Irgendwann muss zwangsläufig etwas geschehen … Und so bemerkte Quinella, siebzig Jahre nachdem sie zu Administrator geworden war, eine Veränderung in sich. Selbst in ihren Wachphasen hatte ihr Bewusstsein immer wieder kurzzeitige Ausfälle, sie konnte die Erinnerung an die letzten paar Tage nicht mehr reproduzieren, und vor allem konnte sie sich nicht mehr auf Anhieb an die perfekt einstudierten Systembefehle erinnern. Diese Phänomene konnte sie auf keinen Fall ignorieren. Also benutzte sie einen Adminbefehl, um ihr eigenes Fluctlight genau zu untersuchen … und das Ergebnis ließ sie schaudern. Von ihr unbemerkt hatte ihr Erinnerungsspeicher die Grenze seiner Kapazitäten erreicht.«
»Grenze!?«, echote ich, verblüfft über diese unerwartete Wendung. Ich hörte zum ersten Mal davon, dass Seelen nur eine begrenzte Kapazität für Erinnerungen, sprich Daten, hatten.
»Wieso überrascht dich das? Wenn man ein wenig darüber nachdenkt, ist es doch nur logisch. Die Light Cubes, auf denen die Fluctlights deponiert sind, haben wie das biologische Gehirn nur eine begrenzte Größe, daher ist natürlich auch die Menge an Qubits limitiert, die darauf gespeichert werden können«, erklärte sie seelenruhig.
Ich hob eine Hand, um eine Bemerkung einzuwerfen. »Einen Moment, bitte. Du hast jetzt schon mehrmals diese Light Cubes erwähnt. Das sind also die Medien, auf denen die Fluctlights der Underworldler gespeichert sind, verstehe ich das richtig?«
»Was denn, nicht einmal das weißt du? Ja, richtig. Ein Light Cube ist ein Kubus mit einer Seitenlänge von fünf Zentimetern, der das Fluctlight genau eines Bewohners von Underworld enthält und zudem für die Speicherung keine Ressourcen benötigt. Sie sind in einem sogenannten Light-Cube-Cluster mit einer Seitenlänge von drei Metern zusammengeschlossen.«
»Ähm … also fünf Zentimeter große Cubes auf einer Länge von drei Metern …«
Ich versuchte, die Gesamtzahl der Light Cubes im Kopf zu errechnen und hatte gerade dreihundert durch fünf geteilt, als Cardinal mir kurzerhand die Antwort gab.
»Theoretisch wären das insgesamt 216.000 Cubes. Allerdings befindet sich im Zentrum des Clusters der Hauptspeicher, alias ›Main Visualizer‹, daher müsste die tatsächliche Anzahl niedriger sein.«
»216.000 … Das ist dann also die Obergrenze für die Bevölkerung von Underworld.«
»Mhm. Nebenbei gesagt, es gibt noch genug freien Platz. Wenn du also mit irgendeinem Mädel Nachwuchs zeugen möchtest, musst du dir keine Gedanken um die Anzahl leerer Cubes machen.«
»Aha … äh, das habe ich natürlich nicht vor!«, protestierte ich hastig und schüttelte heftig den Kopf.
Die junge Weise warf mir einen durchdringenden Blick zu, bevor sie wieder zum eigentlichen Thema zurückkam. »Nun, wie bereits erwähnt, erreicht die Speicherkapazität eines einzelnen Light Cubes über kurz oder lang ihre Grenze. Administrator hatte seit ihrer Geburt als Quinella bereits unglaubliche 150 Jahre gelebt. Das Gefäß ihrer Erinnerungen, die sie während dieser langen Zeit gesammelt hatte, begann schließlich überzulaufen, was ihre Fähigkeiten zum Aufzeichnen, Speichern und Reproduzieren von Erinnerungen beeinträchtigte.«
Das war wirklich eine schauderhafte Vorstellung, die auch mich nicht kalt ließ. Schließlich hatte ich in dieser Welt mit beschleunigter Zeit schon Erinnerungen von über zwei Jahren angehäuft. Selbst wenn in der Wirklichkeit nur ein paar Monate oder auch nur ein paar Tage vergangen waren, war dadurch gewiss die Lebensdauer meiner Seele verkürzt worden.
»Sei unbesorgt, dein Fluctlight hat noch reichlich freien Platz«, bemerkte Cardinal, die abermals meine Gedanken erraten hatte, mit einem Grinsen.
»Das klingt jetzt irgendwie, als würde in meinem Kopf gähnende Leere herrschen …«
»Nun, wenn ich eine Enzyklopädie wäre, wärst du im Vergleich dazu ein Bilderbuch.« Mit Unschuldsmiene nippte sie an ihrem Tee und räusperte sich. »Weiter im Text. Mit der unvorhergesehenen Situation ihres begrenzten Erinnerungsspeichers konfrontiert, verlor selbst Administrator die Fassung. Im Gegensatz zum Statuswert der Lebensspanne war das eine Ressource, die sie nicht manipulieren konnte. Aber sie ist keine Frau, die sich ergeben ihrem Schicksal fügt. Wie damals, als sie den Thron Gottes usurpierte, ersann sie eine teuflische Lösung …«
Angewidert verzog sie das Gesicht und stellte ihre Tasse ab, bevor sie ihre Hände, zierlich wie die Blüten der Cattleya-Orchideen, auf dem Tisch fest ineinander verschränkte.
»Zu der Zeit – also vor zweihundert Jahren – gab es eine junge Novizin der Axiom-Kirche, nur wenig älter als zehn Jahre, die auf den unteren Ebenen der Central Cathedral die sakralen Künste studierte. Ihr Name … ach, der ist mir entfallen. Sie war die Tochter eines Schreiners in Centoria und verfügte durch eine Schwankung der zufälligen Parameter über eine geringfügig höhere Systemkontrollkompetenz als andere. Aus diesem Grund wurde ihr die Berufung als Nonne verliehen. Es war ein Mädchen mit braunen Augen und ebenso braunen Locken …«
Ich blinzelte und begutachtete erneut Cardinal, die mir gegenübersaß. Es schien, als würde sie nichts anderes als ihr eigenes Aussehen beschreiben.
»Administrator ließ das Mädchen in ihr Gemach im obersten Stockwerk der Kathedrale kommen und begrüßte sie dort mit einem liebevollen Lächeln wie die heilige Mutter höchstpersönlich. Dann erklärte sie ihr: ›Du wirst von nun an mein Kind sein. Das Kind Gottes, das diese Welt leiten wird.‹ In gewissem Sinne war das auch zutreffend. Wenn man bedenkt, dass das Kind die Informationen ihrer Seele übernehmen sollte. Aber natürlich lag darin nicht ein Funken mütterlicher Liebe. Denn ihr Plan war, die Seele des Mädchens mit einer Kopie der Gedankensphäre und wesentlichen Erinnerungen ihres eigenen Fluctlight zu überschreiben.«
»Wa…?!«
Abermals lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Eine Seele zu überschreiben – allein der Gedanke war entsetzlich. Ich rieb meine jetzt schweißnassen Handflächen aneinander und brachte mit verkrampftem Kiefer mühsam hervor: »A… Aber wenn solche komplexen Manipulationen der Fluctlights möglich sind, hätte sie dann nicht einfach die Erinnerungen löschen können, die sie nicht mehr benötigt?«
»Würdest du etwa so ohne Weiteres deine wichtigen Dateien editieren?«, fragte sie zurück.
Für einen Moment fehlten mir die Worte, dann schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich würde erst ein Back-up machen.«
»Eben. Administrator hatte nicht vergessen, dass sie damals für einen Tag und eine Nacht das Bewusstsein verloren hatte, als sie die Maxime des Cardinal-Systems auf sich übertragen hatte. So gefährlich ist die direkte Manipulation der Fluctlights. Sie befürchtete, dass wichtige Daten beschädigt werden könnten, wenn sie versuchte, ihre Erinnerungen umzustrukturieren. Also wollte sie sich stattdessen zuerst der Seele des Mädchens bemächtigen, die noch reichlich Kapazitäten für Erinnerungen übrig hatte, um dann nach der geglückten Replikation ihre bisherige, abgenutzte Seele zu vernichten. Sie ging äußerst akribisch und vorsichtig vor … doch genau an dieser Stelle machte Administrator, nein, Quinella ihren zweiten großen Fehler.«
»Fehler …?«
»So ist es. Denn wenn sie Besitz von dem Mädchen ergriff und ihr altes Selbst entsorgte, würden für einen einzigen Augenblick zwei Götter mit ebenbürtiger Macht existieren. Administrator hatte das teuflische Ritual sorgfältig geplant und vorbereitet … Und mit diesem Synthese-Ritual, bei dem Seele und Erinnerungen vereinigt werden, war es ihr schließlich gelungen, ein anderes Fluctlight zu rauben. Wie sehr … wie sehr ich auf diesen Moment gewartet hatte … siebzig lange Jahre!«, rief Cardinal plötzlich ungewöhnlich erregt.
Ich starrte sie nur verständnislos an. »Warte mal … Wer bist denn dann du …? Wer ist die Cardinal, mit der ich gerade spreche?«
»Verstehst du es immer noch nicht?«, murmelte sie und rückte sich die Brille wieder zurecht. »Kirito, du kennst doch meine Originalversion, oder? Nenne mir die Besonderheit des Cardinal-Systems.«
»Äh … ähm …« Mit gerunzelter Stirn rief ich mir meine Zeit in Aincrad ins Gedächtnis. Akihiko Kayaba hatte dieses autonome Verwaltungsprogramm für den Betrieb des tödlichen Spiels SAO entwickelt. Kurzum … »Es kann über einen langen Zeitraum laufen, ohne dabei eine Korrektur oder Wartung durch den Menschen zu benötigen …?«
»Richtig. Und zu diesem Zweck …«
»Zu diesem Zweck verfügt das System über zwei Kernprogramme … Der Hauptprozess kontrolliert die Balance, während der Subprozess den Hauptprozess auf Fehler überprüft …« An dieser Stelle hielt ich inne und starrte das Mädchen mit dem Lockenkopf mit offenem Mund an.
Ich wusste aus eigener Erfahrung nur zu gut, dass das Cardinal-System mit einer mächtigen Fehlerkorrekturfunktion ausgestattet war. Die AI Yui, die Asuna und ich während unserer Zeit in SAO als unsere Tochter angenommen hatten, war ein Unterprogramm von Cardinal. Es hatte mich verzweifelte Mühen gekostet, Yui vor Cardinal zu retten, das sie als Fremdkörper identifiziert und gnadenlos zu löschen versucht hatte.
Im Grunde hatte ich nur mit einer Systemkonsole auf SAOs Programmbereich zugegriffen, Yuis Konfigurationsdateien herausgesucht, komprimiert und in ein Objekt umgewandelt. Aber es war praktisch ein Wunder gewesen, dass ich all das in den wenigen Sekunden geschafft hatte, bevor Cardinal meinen Systemeingriff registriert und den Zugang gesperrt hatte. Die gewaltige Präsenz, die mir auf der anderen Seite der Holo-Tastatur gegenübergestanden hatte, war der Fehlerkorrekturprozess von Cardinal gewesen. Also eben jenes niedliche Mädchen, das mir hier gerade gegenübersaß.
Während ich noch mit meinen verworrenen Empfindungen kämpfte, seufzte sie leise, als hätte sie es mit einem besonders unverständigen Kind zu tun.
»Du scheinst es endlich begriffen zu haben. Quinella hat nicht nur ein einziges Grundprinzip auf ihre Seele geprägt. Der Hauptprozess gab ihr den Befehl, die Welt zu erhalten. Und der Subprozess wies sie an … die Fehler des Hauptprozesses zu korrigieren.«
»Die Fehler korrigieren …?«
»Als ich noch ein Programm ohne Bewusstsein war, habe ich nichts anderes getan, als unaufhörlich die Daten zu verifizieren, die der Hauptprozess ausspuckte. Aber sobald ich sozusagen als Quinellas Schattenbewusstsein eine Persönlichkeit bekam, musste ich ohne die Unterstützung von redundantem Code mein eigenes Handeln beurteilen. Es war gewissermaßen wie eine ›multiple Persönlichkeit‹, wie ihr es nennen würdet.«
»Wobei es in der Wirklichkeit auch die Meinung gibt, dass multiple Persönlichkeiten nur in der Fiktion existieren.«
»Oh, ist das so? Nun, für mich klingt es sehr realistisch. Nur in Momenten, in denen Quinellas Bewusstsein leicht nachließ, konnten meine Denkprozesse überhaupt an die Oberfläche kommen. Also dachte ich, diese Quinella … nein, Administrator musste einen gewaltigen Fehler begangen haben.«
»Einen Fehler …?«, fragte ich unwillkürlich. Wenn Cardinals Grundprinzip die Erhaltung der Welt war, schienen Quinellas bisherige Handlungen immer vollständig mit diesem Prinzip übereinzustimmen, ganz gleich, welche drastischen Maßnahmen sie auch ergriffen haben mochte.
Doch Cardinal erwiderte meinen Blick offen und antwortete in würdevollem Ton: »Lass mich dir eine Frage stellen. Hat das Cardinal-System in der Welt, die du einst kanntest, auch nur ein einziges Mal eigenhändig den Spielern geschadet?«
»Äh … Nein, das hat es nicht. Es war zwar in der Tat der ultimative Gegner der Spieler … aber es hat nie jemanden auf unfaire Art direkt attackiert. Entschuldige, hast recht«, sagte ich.
Cardinal schnaubte kurz, bevor sie fortfuhr: »Doch sie hat genau das getan. Über diejenigen, die gegenüber dem von ihr erlassenen Tabu-Index Zweifel hegten oder rebellische Tendenzen zeigten, verhängte sie eine Strafe, die grausamer war als der Tod … Aber dazu später mehr. Zu den seltenen Gelegenheiten, wenn ich aus meinem Schlaf erwachte, beurteilte ich – als Subprozess des Cardinal-Systems – Administrators Existenz selbst als kolossalen Fehler und versuchte, sie auszulöschen. Dreimal habe ich versucht, von der Spitze des Turms zu springen. Zweimal wollte ich mit einem Messer mein Herz durchbohren, und zweimal probierte ich, mich mit sakraler Kunst zu verbrennen. Nicht einmal die Hohepriesterin hätte der Auslöschung entgehen können, wenn ihre Lebensspanne auf einen Streich auf null gefallen wäre.«
Diese krassen Worte aus dem Mund des niedlichen Mädchens zu hören, schockierte mich. Doch Cardinal sprach mit ruhiger Stimme weiter, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
»Beim letzten Versuch war ich wirklich nah dran. Ich entfesselte eine sakrale Kunst mit der höchsten Angriffskraft auf mich selbst. Die donnernden Blitze, die auf mich herniedergingen, radierten selbst Administrators gewaltige Lebensspanne bis auf den letzten Punkt aus. Doch in diesem Moment riss der Hauptprozess wieder die Kontrolle über den Körper an sich … und sobald das geschah, konnte sie keine noch so schwere Verletzung mehr töten. Im Nu hatte sie ihre Lebensspanne mit einem Heilmantra vollständig wiederhergestellt. Noch dazu begann sie durch diesen Vorfall, mich, also ihr verborgenes Bewusstsein, als ernsthafte Gefahr zu betrachten. Als sie erkannte, dass ich nur dann die Kontrolle übernehmen konnte, wenn im Fluctlight Konflikte auftraten – einfach gesagt, in Momenten seelischer Unruhe –, machte sie sich daran, mich mit einer grotesken Methode zu versiegeln.«
»Grotesk …?«
»Mhm. Von ihrer Geburt bis zu dem Zeitpunkt, da sie als Dienerin der Göttin Stacia ausgewählt worden war, war Administrator ein Mensch gewesen. Sie verfügte über genug Emotionen, um Blumen hübsch zu finden oder den Klang von Musik zu genießen. Die emotionalen Schaltkreise, die sich zu dieser Zeit herausgebildet hatten, blieben auch nach ihrem Aufstieg zum halbgottartigen Herrscher noch am Grunde ihrer Seele erhalten. Sie kam daher zu dem Schluss, dass die geringfügige Destabilisierung ihrer Seele bei unvorhergesehenen Ereignissen von diesen Emotionen verursacht wurde. Also griff sie mit einem Adminbefehl direkt auf ihr Fluctlight im Light Cube zu und riegelte ihre emotionalen Schaltkreise ab.«
»Was …?! Heißt das etwa, sie hat einen Teil ihrer Seele zerstört?«, fragte ich entsetzt. Cardinal nickte mit finsterer Miene. »Aber … Aber das ist doch verrückt … Das klingt noch viel gefährlicher als das Kopieren des Fluctlight, von dem du vorhin erzählt hast …«
»Natürlich hat sie es nicht direkt an ihrer eigenen Seele durchgeführt. Bei solchen Dingen ist Administrator geradezu enervierend vorsichtig. Ist dir aufgefallen, dass die Menschen dieser Welt verborgene Parameter haben, die nicht im Stacia-Fenster, sprich im Status-Fenster, aufgeführt sind?«
»Ah, nun ja, ich hatte so eine Ahnung … Ich habe schon mehrere Leute gesehen, deren physische Kraft oder Agilität nicht zu ihrem Äußeren passte«, antwortete ich und dachte dabei an Sortiliena, der ich an der Akademie ein Jahr lang als Page gedient hatte. Trotz ihres schlanken, fast schon zerbrechlichen Körpers hatte sie mich im Nahkampf viele Male zurückgeschlagen.
Das Mädchen, das weitaus schwächer aussah als Sortiliena, aber eine unermessliche Würde ausstrahlte, nickte mir zu. »Mhm. Unter diesen verborgenen Parametern gibt es einen Wert, der als ›Verstoß-Exponent‹ bezeichnet wird. Das ist die numerische Darstellung des Grads der Befolgung von Gesetzen und Regeln jedes einzelnen Weltbewohners, basierend auf einer Analyse seiner Aussagen und Handlungen. Vermutlich haben die Beobachter in der Außenwelt diesen Wert konfiguriert, um die Überwachung zu vereinfachen … Administrator hat schnell herausgefunden, dass sie diesen Exponenten nutzen kann, um die Menschen aufzuspüren, die ihrem Tabu-Index gegenüber skeptisch sind. Für sie sind diese Menschen wie Bakterien, die in einen sterilen Raum eingedrungen sind. Sie hätte sie nur zu gern auf der Stelle ausgemerzt, aber zumindest das Verbot, Menschen zu töten, das ihre Eltern ihr in der Kindheit erteilt hatten, konnte sie nicht übertreten. Also führte sie an den Menschen mit hohem Verstoß-Exponenten eine entsetzliche Prozedur durch, die denjenigen zwar nicht tötete, aber unschädlich machen konnte.«
»Ist das die ›Strafe, die grausamer ist als der Tod‹, von der du gerade gesprochen hast?«
»In der Tat. Als Versuchsobjekte für ihre direkte Manipulation von Fluctlights wählte sie Personen mit hohem Verstoß-Exponenten. Sie untersuchte, wo im Light Cube welche Informationen gespeichert sind oder welche Teile sie manipulieren musste, um einen Verlust der Erinnerungen, der Gefühle oder des Denkens hervorzurufen … Es waren grausame Menschenversuche, vor denen selbst die Beobachter in der Außenwelt zurückschrecken würden«, sagte sie, der letzte Satz kaum mehr als ein Flüstern. Ich spürte eine leichte Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Cardinals Gesicht nahm einen schwermütigen Ausdruck an, als sie mit gedämpfter Stimme weitersprach: »Die meisten der Personen, die für ihre ersten Experimente benutzt wurden, büßten ihre Persönlichkeit ein. Sie endeten als Geschöpfe, die nicht mehr taten als zu atmen. Administrator fror ihre Körper und Lebensspannen ein und lagerte sie in der Kathedrale ein. Durch diese wiederholten Grausamkeiten verbesserte sich ihre Technik der Manipulation von Fluctlights stetig weiter. Als sie auf den Gedanken kam, ihre eigenen Emotionen zu blockieren, um mich zu versiegeln, experimentierte sie dafür erst an einer Menge Menschen, die in ihren Turm verschleppt worden waren, bevor sie den Befehl an sich selbst ausführte. Zu dem Zeitpunkt war sie etwa hundert Jahre alt.«
»War sie erfolgreich …?«
»Das könnte man wohl so sagen. Sie konnte zwar nicht sämtliche Emotionen beseitigen, aber es gelang ihr, Gefühle wie Angst, Entsetzen und Zorn zu blockieren, die eine spontane Unruhe verursachen. Seither ist Administrator durch keine wie auch immer geartete Situation zu erschüttern. Sie ist wie ein Gott … nein, wie eine Maschine. Ein Bewusstsein, das nur existiert, um die Welt zu erhalten, zu stabilisieren und stagnieren zu lassen … Ich wurde in einem Winkel ihrer Seele versiegelt und konnte nicht mehr an die Oberfläche gelangen. Bis zu jenem Moment, als sie im Alter von 150 Jahren die Kapazitäten ihres Fluctlight erschöpft hatte und versuchte, sich der Seele dieses armen Mädchens zu bemächtigen.«
»Aber … wenn ich das richtig verstanden habe, war die Seele, die sie auf die Schreinerstochter übertragen hat, doch eine vollständige Kopie des Originals, oder nicht? Dann hätten deren Emotionen doch auch abgeriegelt sein müssen … Wie konntest du dann in diesem Moment überhaupt an die Oberfläche kommen?«, fragte ich.
Cardinal ließ ihren Blick in die Ferne schweifen, als würde sie gerade auf die unfassbar lange Zeitspanne von zweihundert Jahren zurückschauen.
Schließlich hörte ich sie sehr leise sagen: »In meinem Wortschatz existiert kein Ausdruck, der die Befremdung und das Grauen dieses Moments präzise beschreiben würde. Administrator ließ die Schreinerstochter zu sich in die oberste Etage der Kathedrale kommen und machte sich daran, durch das Synthese-Ritual deren Seele mit einer Kopie ihres Fluctlight zu überschreiben. Die Prozedur gelang ihr ohne Komplikationen. Was sie in dem Mädchen deponierte, war nichts anderes als Administrators, oder besser gesagt, Quinellas Persönlichkeit, wenn auch eine komprimierte Version ohne die überflüssigen Erinnerungen. Eigentlich war Quinellas Plan gewesen, ihre ursprüngliche Seele, die ihre maximale Kapazität erreicht hatte, nach dem erfolgreichen Abschluss des Rituals zu beseitigen … Doch …«
Aus Cardinals Wangen, die sonst eine so jugendliche, gesunde Röte hatten, war mit einem Mal alle Farbe gewichen. Entgegen ihrer Behauptung, keine Emotionen zu haben, schien sie in diesem Moment offenkundig von einer tiefen Furcht ergriffen zu sein.
»Doch nachdem die Replikation abgeschlossen war … und wir beide in nächster Nähe zueinander die Augen öffneten … ereilte uns ein immenser Schock. Es ist wohl am besten als Aversion gegenüber der grundsätzlich unmöglichen Situation zu beschreiben, dass es zwei Exemplare derselben Person gab. Ich … nein, wir starrten einander an und spürten prompt eine überwältigende Feindseligkeit. Wir konnten die Existenz des jeweils anderen auf keinen Fall akzeptieren … Es war ein Instinkt, der ein bloßes Gefühl überstieg … Gewissermaßen der erste Grundsatz, der tief im Geist eingebrannt ist. Hätte diese Situation nur wenig länger angehalten, wären wahrscheinlich unsere beiden Seelen unter dem Schock kollabiert. Doch – leider, wie ich sagen muss – kam es nicht dazu. Das auf die Schreinerstochter kopierte Fluctlight brach einen Moment vorher zusammen, und im selben Augenblick übernahm ich als Subpersönlichkeit die Kontrolle. Wir erkannten uns gegenseitig als Administrator in Quinellas Körper und Cardinals Subprozess im Körper der Schreinerstochter. Und gleichzeitig wurde der Kollaps unserer Seelen aufgehalten, und sie stabilisierten sich.«
Der Kollaps der Seele.
Cardinals Worte erinnerten mich unweigerlich an das ebenso schreckliche wie rätselhafte Ereignis, dessen Zeuge ich an jenem Abend vor zwei Tagen geworden war.
Ich hatte gegen Raios Antinous, den obersten Elite-Kadetten der Akademie der Schwertkünste, gekämpft und ihm mit der Serlut-Geheimtechnik »Wirbelnder Strudel« beide Hände abgetrennt. Eine solch schwere Verletzung konnte in der Wirklichkeit tödlich enden, doch hier in Underworld hätte Raios mit der entsprechenden Behandlung überleben können. Ich hatte die Wunden abbinden wollen, um seine Lebensspanne – der HP-Wert in dieser Welt – zu bewahren.
Doch bevor ich dazu gekommen war, war er unter bizarren Schreien zu Boden gefallen und gestorben.
Zu diesem Zeitpunkt war immer noch Blut aus seinen Wunden geflossen, seine Lebensspanne war also noch nicht gänzlich erschöpft gewesen. Anders ausgedrückt, er war nicht an dem totalen Verlust seiner Lebensspanne gestorben.
Bevor Raios zu Boden gegangen war, hatte er vor dem unmöglichen Dilemma gestanden, entweder sein Leben oder den Tabu-Index zu bewahren. Unfähig, eine Wahl zu treffen, war er in eine mentale Endlosschleife geraten, bis seine Seele sich letztendlich offenbar selbst zerstört hatte.
Es war denkbar, dass Quinella bei der Konfrontation mit ihrer eigenen Replik im Grunde der gleiche Schock ereilt hatte. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, wie furchterregend es sein musste, wenn eine andere Person mit denselben Erinnerungen und Gedanken wie man selbst existierte.
Die ersten Tage nach meinem Erwachen im Wald südlich von Rulid hatte ich die Möglichkeit nicht ausschließen können, ein synthetisches Fluctlight zu sein, das lediglich eine Kopie des echten Kazuto Kirigaya war. Diese Befürchtung hatte mich nie losgelassen, bis ich mich mit Selkas Hilfe vergewissert hatte, ob ich im vollen Bewusstsein meines Handelns gegen den Tabu-Index verstoßen konnte.
Was, wenn mein Bewusstsein allein in die endlose Dunkelheit geworfen worden wäre und meine eigene, vertraute Stimme zu mir gesprochen hätte: »Du bist meine Replik. Eine simple Kopie für Testzwecke, die mit einem einzigen Tastendruck gelöscht werden kann.« Wie entsetzlich wären der Schock, die Verwirrung und die Angst gewesen, die ich in diesem Moment gespürt hätte …
»Nun, hast du bis hierher alles verstanden?«, hörte ich Cardinals lehrmeisterhafte Stimme von der anderen Tischseite fragen, als ich mich wie so oft in meinen Gedanken verlor.
»Ähm … Ja, ich denke schon …«
»Ich komme mit meiner Erläuterung nun zum eigentlichen Thema. Daher wäre es problematisch, wenn du mir jetzt schon nicht mehr folgen könntest.«
»Das eigentliche Thema …? Ach so, verstehe. Du hast mir noch nicht erklärt, was ich für dich tun soll.«
»Korrekt. Ich habe seit jenem Tag zweihundert Jahre lang darauf gewartet, dir das mitzuteilen … Nun, ich hatte dir bis zu dem Punkt berichtet, als Administrator und ich uns aufgespalten haben«, sagte Cardinal, wobei sie die mittlerweile leere Teetasse in ihren Händen drehte. »An jenem Tag erhielt ich endlich einen Körper ganz für mich allein. Genau gesagt gehörte dieser Körper natürlich der bemitleidenswerten Novizin … Doch mit dem Augenblick, als die Daten in ihrem Light Cube überschrieben wurden, wurde ihre Persönlichkeit vollständig ausgelöscht. Nachdem ich also durch dieses barbarische Ritual und einen unerwarteten Unfall ins Leben gerufen worden war, starrte ich Administrator für einen Sekundenbruchteil an, bevor ich schließlich tat, was getan werden musste. Kurzum, ich versuchte sie mit einer sakralen Kunst der höchsten Stufe auszulöschen. Als vollständige Kopie von Administrator verfügte ich natürlich auch über identische Systemzugriffsrechte. Meine Prognose war, dass ich ihre Lebensspanne ausradieren könnte, bevor die räumlichen Ressourcen der Umgebung erschöpft waren, wenn ich sie zuerst angriff, selbst wenn sie mit einer Technik der gleichen Klasse kontern sollte. Die erste Attacke war ein Volltreffer, und der weitere Verlauf war genau so, wie ich vorhergesehen hatte. Auf der obersten Etage der Kathedrale bekämpften wir uns auf Leben und Tod mit donnernden Blitzen, Wirbelstürmen, lodernden Flammen und eisigen Klingen, und unsere Lebensspannen schrumpften zusehends – und zwar exakt im gleichen Tempo … Da ich zuerst angegriffen hatte, hätte ich also am Ende siegreich hervorgehen müssen.«
Bei der Vorstellung dieses Kampfes zwischen den zwei Göttern erschauderte ich. Die einzigen mir bekannten offensiven Sakralkünste waren die äußerst simplen Geschosse, die aus den Elementen erzeugt wurden, wie ich sie im Kampf gegen Eldrie angewandt hatte. Diese Attacken verfügten über weitaus weniger Angriffskraft als ein einzelner Hieb eines Schwertes und eigneten sich bestenfalls als Ablenkungsmanöver, aber keinesfalls dazu, jemandes Lebensspanne komplett zu vernichten …
»Hm? Moment mal. Du hast mir doch vorhin erzählt, dass Administrator keine Menschen töten kann. Müsste diese Einschränkung dann nicht auch für dich als ihre Kopie gelten? Wieso konntet ihr einander angreifen?«
Cardinal schürzte etwas verstimmt die Lippen, als ich ihre Erzählung an dieser dramatischen Stelle unterbrach. Doch dann nickte sie und antwortete: »Hm … das ist eine gute Frage. Administrator ist zwar nicht an den Tabu-Index gebunden, aber wie du schon sagtest, kann sie nicht gegen das Verbot des Mordens verstoßen, das ihr damals in ihrer Kindheit als Quinella von ihren Eltern auferlegt wurde. Obwohl ich mir viele Jahre den Kopf darüber zerbrochen habe, dass wir synthetischen Fluctlights niemals gegen Befehle von oben verstoßen können, konnte ich mir die Ursache nie erklären … Allerdings ist dieses Phänomen nicht so unabänderlich, wie du glauben magst.«
»Was bedeutet …?«
»Nun, zum Beispiel …« Cardinal hielt ihre rechte Hand mit der Teetasse über den Tisch. Statt die Tasse jedoch auf die Untertasse zu stellen, machte sie Anstalten, sie rechts daneben abzustellen – aber kurz bevor der Tassenboden die Tischdecke berührte, stoppte ihre Hand. »Weiter als bis zu diesem Punkt kann ich die Tasse nicht senken.«
»Wie?«, fragte ich verständnislos.