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Ein leeres Grab ist ein Versprechen auf den Tod Hauptkommissarin Bente Brodersen ermittelt mit friesischer Sturheit auf Deutschlands nördlichster Insel. Der Selbstmord eines Kapitäns im Hafen von Hörnum stellt Bente Brodersen und ihr Team vor ein unlösbares Rätsel. Kurz darauf entdeckt Bente in den Wanderdünen vor List eine skelettierte Frauenleiche. Die Suche nach Zeugen gestaltet sich schwierig, aber alle Hinweise deuten auf ein Ereignis von vor acht Jahren. Erst ein weiterer Mord führt zu der Spur des Täters. Gelingt es Bente, die losen Enden der Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen? Die raue See, der frische Wind und die endlosen Dünen machen SYLT zum idealen Schauplatz der spannenden Küstenkrimis. Jeder Teil der Syltkrimiserie ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig voneinander gelesen werden.
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KRINKE REHBERG
Möwengrab
Dieser Kriminalroman ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Sabine
Sie ist alles in oin!
ACH JA: NIEMAND IST PERFEKT!
Daher bitte ich, eventuelle Rechtschreibfehla zu entschuldigen ...; )
© 2022 KRINKE REHBERG
Alle Rechte an Cover/Logo/Text/Idee vorbehalten
ISBN: 9798353174325
Imprint: Independently published
Bilder: Shutterstock: Gwoeii, Malaysia; den Rozhnovski, Germany; Pawel Kasmierzcak, Poland; nuruddean, Thailand
Autorenservice at Tomkins – Krinke Rehberg, Am Wald 39, 24229 Strande
»Ein leeres Grab ist ein Versprechen auf den Tod.«
Vor 8 Jahren
Sie hatte Schuld auf sich geladen. Nun galt es, Rechenschaft abzulegen! Ihre Seele hatte sie dem Teufel verkauft. Dafür würde sie bezahlen müssen.
Nach einigen Minuten, in denen sie stumm und reglos am Grab ihrer Mutter verharrte, griff sie zu ihrem Handy und wählte die 110.
Dann zögerte sie.
Sollte sie jetzt die Polizei verständigen?
Nein, sie würde ihnen die Möglichkeit geben, sich zu stellen. Erst morgen würde sie sich selbst anzeigen und ihre gerechte Strafe annehmen.
Wichtiger als die eigene Schuld zu begleichen war, sich um die vielen Toten zu kümmern.
Jeder Einzelne von ihnen hatte ein Anrecht auf Respekt.
Sie legte ein üppiges Blumengesteck auf das Grab. Es war schlimm gewesen, allein mit dem Pastor am offenen Grab zu stehen. Sie hatte den Leichnam ihrer Mutter nach Sylt überführen lassen. Erst mit der Nachricht ihres Todes war sie auf den Gedanken gekommen, dass es tröstlich sein würde, ein Grab aufzusuchen und zu pflegen.
Die Beziehung zu ihrer Mutter war denkbar schlecht gewesen. Das Jugendamt hatte sie im Alter von sieben Jahren aus der dreckigen Einzimmerwohnung geholt und in ein Kinderheim nach Sylt gebracht. Bis zu ihrer Einschulung war sie bemüht gewesen, die Alkoholflaschen ihrer Mutter unbemerkt zu entsorgen und den Haushalt zu führen. Es hatte nur wenige fröhliche Stunden auf dem Spielplatz gegeben, die anderen Mütter hatten ihre Kinder von dem nach Zigarettenrauch stinkenden Kind weggerufen und mehr als einmal hatte sie sich eine Ausrede einfallen lassen, weshalb sie ohne Begleitung ihrer Mutter unterwegs war. Als ihre Klassenlehrerin sie gefragt hatte, ob sie zu ihnen nach Hause kommen dürfte, um mit ihrer Mutter zu sprechen, hatte sie ihr eine falsche Adresse genannt, aber das war natürlich keine Lösung gewesen.
Sie erinnerte sich an die Teilnahmslosigkeit ihrer betrunkenen Mutter und ihre eigenen Tränen, als zwei Tage später zwei freundliche Mitarbeiter des Jugendamtes in der Wohnung gestanden und kurzerhand ihre wenigen Anziehsachen und Bücher eingepackt hatten. Erst nach der Ankunft im Kinderheim war ihr das wahre Ausmaß dieser Trennung bewusst geworden. Sie war vom ersten Tag an froh gewesen, mit anderen Kindern spielen zu dürfen, warme Mahlzeiten gekocht zu bekommen und saubere, wohlriechende Wäsche in ihrem Schrank vorzufinden. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich zu ihrer Mutter zurückgewünscht. Es vergingen mehrere Jahre, in denen sie sich nicht gesehen und auch nicht geschrieben hatten, bis sie an ihrem zwölften Geburtstag im Heim aufgetaucht war. Sie hatten sich wie Fremde gegenübergestanden und genau das waren sie geblieben. Einen Vater gab es nicht. Manchmal erschienen Bilder von fremden Männern und ihrer Mutter auf dem Schlafsofa vor ihren Augen, aber zu keinem von ihnen hatte sie ein Gesicht.
Die Scham über ihre Herkunft hatte sie mit herausragenden schulischen Leistungen wettgemacht. Tatsächlich war sie jedes einzelne Schuljahr die Jahrgangsbeste gewesen und hatte nach dem Abitur ein Stipendium an der Medizinischen Hochschule Hannover bekommen. Nach ihrer Approbation war sie erstmalig in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt, um ihre Mutter zu besuchen. Sie hatte für zwei Tage ein Hotelzimmer gebucht und war nach einer Stunde in der Wohnung, die sie viel größer in Erinnerung gehabt hatte, direkt nach Sylt gefahren. Hier war ihr Zuhause! Trotz denkbar schlechter Ausgangslage war aus ihr eine selbstbewusste, erfolgreiche Frau geworden. Niemals würde sie sich in die Abhängigkeit eines Mannes oder einer Sucht begeben, wohin das führte, hatte sie vorgelebt bekommen. Die Enttäuschung über ihre Mutter war dem Mitleid gewichen, das sie verdient hatte. Welch ein vergeudetes Leben! Aber sie hatte sie geboren und dafür war sie dankbar.
Sie wischte all die Gedanken an ihre Kindheit und Jugend beiseite und heftete den Blick auf das Grab. Ein einzelner Grashalm hatte sich seinen Weg durch die frische Erde gebahnt. Sie ging in die Hocke und zupfte ihn heraus. Der Stein würde in zwei Wochen geliefert werden. Was war ein Grab anderes als eine Stätte des Respektes?
Schmerzlich wurde sie sich der Bedeutung der Ruhestätte bewusst und spürte jäh das Unrecht, das sie begangen hatte. Durfte das Leben künstlich verlängert werden? Mit dieser moralisch ambivalenten Frage hatte sie sich während des Studiums eingehend beschäftigt und erst jetzt, am Grab ihrer Mutter, fand sie die unumstößlich richtige Antwort.
Ihr Entschluss stand fest.
So wie du, Mutter, dachte sie und zupfte noch einmal die Blüten zurecht. Dann ging sie durch die Dünenlandschaft zurück in ihre lichtdurchflutete Dreizimmerwohnung. Es war noch eine Stunde bis Dienstbeginn und sie musste sich für heute Abend mit ihm verabreden.
Das Richtige zu tun, duldete keinen Aufschub, aber der Teufel würde nicht so leicht zu besiegen sein.
Vor 4 Tagen
Die fünfhundert PS drückten den dreißig Meter langen Rumpf der MS Möwe durch das Wasser des Hörnumer Tiefs, das die Inseln Sylt und Föhr trennte. Dieser Priel zwischen den Sandbänken war der traditionelle Seefriedhof für die Seebestattungen vor Sylt.
Kapitän Ove Sörensen vollzog die heutige Zeremonie teilnahmslos und sagte nur das Nötigste, bevor er sich wieder auf die Brücke zurückzog.
Letzten Endes war er in den vergangenen Jahren zum Trauerredner geworden. Längst hatte er geplant, sich beruflich zu verändern, aber die Kapitänsuniform war seit Astrids Tod sein einziger Halt. Sie hatten gemeinsame Pläne gehabt, wollten reisen und ihren Lebensabend genießen, doch dann war der Krebs gekommen. Heimtückisch, hinterhältig und ohne Vorwarnung.
Astrids letzten drei Lebensjahre war er mit ihr von einer Spezialklinik in die nächste gefahren. Sogar bei Schamanen und Wunderheilern waren sie gewesen. Sie hatten sowohl den Kampf gegen den Krebs als auch die gesamten Ersparnisse verloren.
An diesem Vormittag zeigte sich die Nordsee von ihrer sanften Seite und nahm Sörensen etwas von seiner Wut auf das Leben.
Die knapp zwei Stunden lange Bestattungsfahrt neigte sich dem Ende zu. Der Hörnumer Leuchtturm tauchte aus der diesigen Sicht auf.
Hinter ihm knarzte es. Er drehte sich um.
Seine Finger juckten so sehr, dass er sich die Haut von den Knöcheln kratzte.
Die Möwe hielt Kurs auf den Hafen Hörnum. Der östlich vorgelagerte Wellenbrecher musste backbord umfahren werden, um in die Hafeneinfahrt einzulenken, aber die Fähre steuerte mit unverminderter Geschwindigkeit auf die steinige Hafenmole zu.
Seemann Hinnerk Klaas wunderte sich. Die Möwe hätte längst beidrehen und die Geschwindigkeit drosseln müssen.
Er sah hinauf zur Brücke, doch durch die beschlagenen Scheiben konnte er nichts erkennen. Er winkte mit beiden Armen und rief nach dem Kapitän. Dadurch machte er die umstehenden Trauergäste auf die brisante Situation aufmerksam.
Die Mole kam schnell näher. Zwar fuhr die MS Möwe nicht volle Kraft voraus, aber schnell genug, um ernsthaften Schaden zu nehmen.
Das markerschütternde Geschrei einiger Möwen, die über dem Schiff kreisten, konnte den Schuss, der durch die Luft peitschte, nicht übertönen.
Augenblicklich hielt jeder auf dem Schiff inne und starrte auf die Brücke.
Hinnerk Klaas rannte über das Vorschiff hoch zum Brückendeck und rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Binnen Sekunden hatten sich alle Besatzungsmitglieder vor der Tür zur Brücke versammelt.
»Wir rammen die Mole! Tu was!«, schrie Moni, die Kellnerin aus der Bordküche.
Hinnerk griff nach dem Feuerlöscher, der in der Wandhalterung hing, schlug die Scheibe der Tür ein, drehte den steckenden Schlüssel um und öffnete die Tür.
Der Kapitän lag in einer Blutlache am Boden.
»Oh, mein Gott!«, kreischte Moni, schaute abwechselnd auf den toten Kapitän und die vor ihnen liegende Mole.
»Hinnerk, tu was!« Sie schubste den geschockten Seemann vorwärts.
»Festhalten!«, schrie Hinnerk und kurz darauf setzte der Schiffsrumpf knirschend auf. Durch den Aufprall wurden alle Passagiere und Besatzungsmitglieder Richtung Bug geschleudert.
Heute
Vom Oberdeck des Autozuges nach Sylt war nichts als eine graue Nebelwand zu sehen.
Bente sah verträumt hinaus und dachte an die letzten fünf Tage mit Anka in Hamburg. Natürlich hatten sich immer wieder alte Verhaltensmuster eingeschlichen und Mutter und Tochter an den Rand ihrer Toleranzgrenze gebracht, aber irgendwie hatten sie sich diesmal zusammengerauft und einen Weg gefunden, den Anderen einfach so sein zu lassen, wie er war.
Vielleicht war das eine Begleiterscheinung des Alters, vielleicht aber, und das war die wahrscheinlichere Erklärung, war Bente selbst entspannter geworden. Sie spürte ganz deutlich die Veränderung, die sie durchgemacht hatte, seit sie die Kripo Sylt leitete. Zum ersten Mal musste sie als Dienststellenleiterin mit ihren Kollegen klarkommen und konnte sie nicht, wie es sonst ihre Art gewesen war, einfach ignorieren und sie als Vollidioten abstempeln. Sie hatte die Schwächen und Stärken ihres Teams kennengelernt und somit auch ihre eigenen erkannt. In gewisser Weise war der Job die beste Therapie.
Ulrike schob ihren Kopf zwischen die Vordersitze und Bente streichelte die felligen Ohren. »Bist du ein Stadtmädchen gewesen, hast du fein gemacht«, raunte sie dem Hund zu.
Die fünf Tage Urlaub hatten ihr gutgetan. Heike hatte bei ihrer Abfahrt geschworen, sie nicht zu behelligen, außer bei Erdbeben oder einem Angriff von Außerirdischen. Sie mochte den Humor ihrer jungen Kollegin und war froh, sie im Team zu haben.
Der Zug wurde langsamer und sie sah die Gleisanlagen des Bahnhofs Westerland zu beiden Seiten.
Bente fuhr direkt vom Zug zum Lister Ellenbogen, parkte am Surferparkplatz, ließ Ulrike aus dem Bus und sog begierig die frische, salzige Nordseeluft ein.
Hier oben am nördlichsten Punkt Deutschlands fühlte sie sich am wohlsten.
Sie genoss die Weite und Stille des riesigen Naturschutzgebietes. Auch jetzt, im Spätsommer, waren die größten Wanderdünen Europas von nur wenigen Touristen besucht. Erst jetzt bemerkte Bente, wie sehr sie die Insel in den letzten fünf Tagen vermisst hatte. Hier war sie zu Hause!
Der Nebel lag wie ein Leichentuch über der Landschaft und Bente spürte die unbändige Kraft, die in den Naturgewalten verborgen lag, bereit, jederzeit zuzuschlagen.
Das Wetter hier oben war unvorhersehbar. Selbst die alteingesessenen Fischer hüteten sich, Prognosen über einen Tag hinaus abzugeben.
Aufgeregtes Bellen riss sie aus den Gedanken. »Ulrike, hierher!«, rief sie und erhielt als Antwort ein Fiepen, Bellen und Knurren, wie sie es von der Hündin nicht kannte. Sie rannte zu dem Dünenkamm und war spontan erleichtert, Ulrike im Sand buddeln zu sehen.
»Komm, mein Mädchen, Dünenschutz ist Inselschutz, gebuddelt wird nur am Strand«, murmelte sie vor sich hin, während sie die Düne hinunterstieg und schließlich bei Ulrike ankam.
Sie zog den Kopf der Hündin am Halsband aus dem Loch und erstarrte.
»Ganz ehrlich, Brodersen, kaum bist du zurück, schon findest du eine Leiche. Gibt dir das nicht zu denken?« Flackners Stimme klang missmutig und gereizt. Er war auf dem Weg in den Feierabend gewesen, als Bentes Anruf einging. Kurz hatte er überlegt, den Anruf zu ignorieren, aber er wusste, sie würde nicht locker lassen. Ohne Zweifel war sie die beste Kommissarin, die er im Laufe seiner gerichtsmedizinischen Karriere kennengelernt hatte, aber ihre friesische Sturheit trieb ihn manchmal zur Weißglut.
»Was sollte ich deiner Meinung nach denken, Flackner?«
»Weshalb du ausgerechnet in der ersten Stunde nach deinem Urlaub einen solchen Fund machst! Hast du keine Hobbies?«
»Hast du niemanden sonst, den du vollsabbeln kannst?«, konterte Bente trocken. »Schaff dir einen Hund an!«
»Damit der irgendwelche Knochenfunde aus dem Sand ausgräbt? Nein, danke!«
»Atme durch den Bauch, Flackner. Sag mir lieber, was wir hier haben!« Bente zeigte auf das Skelett, das die Mitarbeiter freilegten.
Flackner rieb sich das Kinn und erklärte: »Um die Halswirbel liegt eine Perlenkette, es gibt zahlreiche Fasern von Kleidung, darum kümmere ich mich im Labor. Sand ist, im Gegensatz zu Lehm, sauerstoffdurchlässig, das bedeutet, die Verwesung geht schneller voran. Es gibt verschiedene Faktoren, die den Prozess begünstigen. Ganz wichtig sind Luftzufuhr und Bodenbeschaffenheit. Dementsprechend ist der Körper vollständig verwest. Grob geschätzt, liegt der Todeszeitpunkt irgendwo zwischen sieben und fünfzehn Jahren.«
»Machst du Witze? Wie sollen wir denn mit so einer Angabe Alibis überprüfen?«, meldete sich Heike Röder zu Wort. Bente wunderte sich über ihre junge Kollegin. Heike hielt sich bei Leichenfunden sonst eher im Hintergrund und bemühte sich, ihren Magen zu kontrollieren. Aber dieses im Sand freigelegte Skelett schien sie nicht zu berühren. Es hatte etwas von einer archäologischen Entdeckung, deren Knochenfund in ein Museum gehörte.
»Genaueres kann ich erst sagen, wenn ich es auf dem Tisch habe. Ich werde die Überreste mit den Ergebnissen des Freiluftverwesungslabors in Amsterdam vergleichen und das PMI genauer bestimmen.« Zufrieden sah Flackner sie an.
Bente seufzte hörbar und schwieg.
»Das Postmortem-Intervall ist der ...«
»... Zeitpunkt zwischen Todeseintritt und Auffinden einer Leiche. Das wissen wir, Flackner!«, unterbrach sie ihn.
»Moment Mal, hast du gerade Freiluftverwesungslabor gesagt?«, hakte Heike neugierig nach. »Das hört sich nach einer Attraktion an!«
»Na ja, es heißt nun nicht Open-Air- Verwesungslabor, aber dort liegen Leichen über und unter der Erde in verschiedenen Umgebungen. Bei Sonneneinstrahlung verrichten Maden weniger Arbeit als im Schatten. Offene Wunden sind eine Einladung für verschiedenste Insekten und erleichtern ihnen die Nahrungsaufnahme, das beschleunigt also die Zersetzung des Gewebes. Bei Trockenheit geht dieser Prozess schneller als im Wasser und je tiefer eine Leiche begraben ist, desto langsamer verwest sie. Auch anhand der Reihenfolge, wann welche Maden, Käsefliegen und bestimmte Käfer sich an einer Leiche bedienen, lässt sich der Todeszeitpunkt eingrenzen.«
»Okay, jetzt wird´s eklig!«, stöhnte Heike angewidert.
»Es reicht, Flackner, was kannst du uns noch sagen? Geschlecht, Alter?«, beendete Bente die Lehrstunde.
»Der Knochenbau lässt auf eine Frau schließen, anhand des Knochens und der Zähne lässt sich die DNA bestimmen, das geht aber nicht bei uns im Labor. Dazu braucht es eine spezielle Mahl- und Lüftungseinrichtung, die gibt´s in Kiel an der Uni«, sagte er. »Wusstet ihr, dass sich das Fettgewebe weiblicher Brüste schon nach wenigen Wochen auflöst?« Erst der fassungslose Blick der beiden Frauen ließ ihn innehalten. Verlegen und um Gleichberechtigung bemüht, fuhr er fort: »Äh, Penis und Hodensack verwesen übrigens...«
»Stopp, Flackner!«, rief Bente verärgert.
Er hob entschuldigend die Hände und räusperte sich. »Das Alter kann ich nur schätzen. Aber einige Gebisskronen und fehlende Weisheitszähne lassen auf die zweite Lebenshälfte schließen. Vielleicht bringt die Untersuchung der Faserreste Ergebnisse.«
»Das heißt, die Frau wurde mehrere Jahre von der Wanderdüne unter der Erde gehalten, richtig?«, fragte Heike.
Flackner nicke stumm.
»Gibt es ungeklärte Vermisstenfälle auf der Insel?«
»Nicht, dass ich wüsste, aber das lässt sich klären!«, bemerkte Heike und tippte eine Notiz in ihr Handy.
»Könnte es ein Unfall gewesen sein?«, fragte Bente.
»Unwahrscheinlich«, erwiderte Flackner. »Selbst wenn sie in den Dünen einen Unfall oder Herzinfarkt gehabt hätte, wären Wochen vergangen, bevor der Sand die Leiche überdeckt hätte.«
»Na ja, hier in den Dünen dürfen keine Spaziergänger rumlaufen, da kann es doch sein, dass niemand die Leiche gefunden hat, oder?«, gab Heike zu bedenken.
»Ja, aber auch hier auf Sylt gibt es wie im Wilden Westen Aasfresser. Die Möwen hätten sich wie Geier auf die Leiche gestürzt. Ein Schwarm kreischender Möwen, über mehrere Tage hinweg, immer an derselben Stelle, das wäre ganz sicher aufgefallen.«
Unwillkürlich fragte Bente sich, ob Günther Flackner schon als kleiner Junge von ekelerregenden Szenarien fasziniert gewesen war und deshalb diesen Beruf ergriffen hatte. Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder der fressgierigen Möwen zu vertreiben.
»Je nachdem, wie lange sie schon tot ist, könnte auch der Mörder mittlerweile verstorben sein«, murmelte sie nachdenklich.
»Handelt es sich zwingend um Mord?«, fragte Heike.
Bente und Flackner nickten stumm.
»Ich meine ja nur, die Frau könnte ja auch Selbstmord begangen haben, oder?«
»Sich ein Loch graben und dann hineinsteigen und warten, dass das Gift wirkt, so in der Art?« Bente versuchte, Heikes Theorie zu folgen. »Schwer vorstellbar und auch qualvoll langsam. Außerdem haben Selbstmörder kein Interesse daran, dass ihre Leiche nicht gefunden wird.«
Heike nickte. »Ich musste nur gerade an Kapitän Sörensen denken, deshalb dieser Selbstmordgedanke«, seufzte sie.
»Der arme Kerl!«, murmelte Flackner. Er hatte Sörensen gekannt. »Er ist nie über Astrids Tod hinweggekommen.«
Bente blickte abwechseln zwischen den beiden hin und her. »Habe ich irgendwas verpasst?«
»Der Kapitän des Seebestattungsschiffes hat sich vor vier Tagen erschossen.«
»Auf seiner Brücke, da will ein Kapitän wohl sterben!«, schob Flackner hinterher.
»Wieso weiß ich davon nichts?« Bentes Stimme schnellte eine Oktave höher.
»Weil du endlich mal Urlaub hattest und eigentlich auch noch hast. Die Akte liegt auf deinem Tisch und ist bereits geschlossen«, erklärte Heike.
»Klär mich auf, jetzt!«, forderte Bente verärgert.
»Es gibt nichts aufzuklären, fünfzig Zeugen an Bord haben ausgesagt, dass Sörensen sich auf der Brücke eingeschlossen und erschossen hat. Die Tür zur Brücke musste aufgebrochen werden und das Schiff ist am Strand von Hörnum auf Grund gelaufen. Zwei der Passagiere liegen mit Knochenbrüchen im Krankenhaus.«
»Zwei Todesfälle so kurz aufeinanderfolgend können immer in einem Zusammenhang stehen!«, rief Bente pikiert und atmete tief ein. Sie hatte bei Urlaubsantritt die Anweisung gegeben, sie nur im Notfall zu kontaktieren, aber nun ärgerte es sie, nicht informiert worden zu sein.
»Zwischen den beiden Todesfällen?« Flackner schüttelte den Kopf. »Wir stehen vor einer Leiche, die vor langer Zeit ermordet wurde und es ist purer Zufall, dass dein Hund sie ausgerechnet jetzt ausgebuddelt hat. Die Wanderdünen legen bis zu zehn Meter im Jahr zurück, die Leiche ist durch diese Verschiebung relativ nah an der Oberfläche, nächstes Jahr hätte sie einige Meter tief vergraben sein können.