Tafani - Herwig Baumgartner - E-Book

Tafani E-Book

Herwig Baumgartner

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Beschreibung

Der Autor verknüpfte reale Begebenheiten aus seiner eigenen Erinnerung mit fiktionalen Szenen und erzählt aus seiner Agenda de Liaison. Doch entsprangen die zentral handelnden Figuren, selbst wenn jemand sich wiederzufinden glauben sollte, fast ausschließlich allein der Phantasie des Autors, mit Ausnahme von historischen Personen. Wer zwischen den Zeilen mehr zu finden glaubt als im Text, sei willkommen im Club der toten Dichter. Wer benannte Orte und geschilderte Szenen in anderen Perioden vermutet, darf sich gratulieren. Wer trotzdem bis zum Ende durchhält, muss als konsequent gelten. Viel Spaß!

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Der Dichter Joseph Eichendorff diente mit seinem Werk: „Aus dem Leben eines Taugenichts“ als Vorbild zu diesem modernen Schelmenroman, mit seinen Versen:

„Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt …“

Copyright ® Herwig Baumgartner, 2014 & 2023 Österreich

Der Autor verknüpfte reale Begebenheiten aus seiner Erinnerung mit fiktionalen Szenen und erzählt aus seiner „Agenda de Liaison.“ Doch entsprangen die zentral handelnden Figuren, selbst wenn jemand sich wiederzufinden glauben sollte, allein der Phantasie des Autors, mit Ausnahme von historischen Personen.

Wer zwischen den Zeilen mehr zu finden glaubt als im Text, sei willkommen im ‚Club der toten Dichter‘. Wer benannte Orte und geschilderte Szenen in anderen Perioden vermutet, darf sich gratulieren. Wer trotzdem bis zum Ende durchhält, muss als konsequent gelten.

Viel Spaß!

Inhalt

Prologue

Gaudeamus Igitur

Sacré-Cœur

Safari

Au-Pair

Consigliere

Evolution

Consilium

Mañana

Papillon

Boudoir

Kismet

Aventures

Epilogue

Prologue

Er erwachte erneut. Düster flogen seine Gedanken um Stunden bis zu jenem Augenblick zurück, als sie gekommen war. Unvermutet drängten sich ihm wieder alle Eindrücke auf, die schlaffe Haut, die müden Bewegungen, das plötzlich so leere Gefühl im Magen. Das Gekeife hallte weiter in seinen Ohren. Als ob er in der Schweizer Bergwelt stehen würde, wo Berge und Täler jeden Laut zurückposaunen, bis im Echo ein jeder Ton den anderen überlagert.

Wie im Parlament, mit der einzigen Ausnahme, dass hier nur Frauen debattierten. Er glaubte zu träumen, bis er leicht blinzelte und die kleine Gruppe erblickte, die zu heiligsten Zeiten, um 10:30 vormittags, sein Heiligstes, das kombinierte Arbeits- und Wohnzimmer, besetzt hatte. Seufzend wankte er ins Bad, in dem er an der Position der Klobrille erkannte, wer zuletzt dort sein Werk getan haben musste. Sie war nicht hochgeklappt. Der Feind hatte seine Markierung hinterlassen, das unheilvolle Zeichen deutete auf hohe Emanzen-Schule hin.

War es schon soweit? Hatte er sich bereits so schwer domestizieren lassen, dass er die genetisch bedingten Handlungsweisen nicht mehr instinkt- und reflexkettenhaft ausführte? Hatte er sich vielleicht schon in eine Graugans des Konrad Lorenz verwandelt, wie jener in der Verwandlung von Franz Kafka nach dem Erwachen? Oder hatte eine der Besetzerinnen des Wohnzimmers schon innert der ersten Minuten nach ihrem Eintritt ihre Duftmarke zwanghaft absondern müssen, wie ein alter Rüde, der an jede Straßenecke hinpinkelt, noch immer Reviergrenzen setzt. Das in seiner Junggesellenbehausung! So sehen die Weibsen den hochgeklappten Klodeckel in Herrenhausen als Macho-Totempfahl an und reagieren instinktiv.

Seufzend betrachtete er sich im Spiegel. Er registrierte reif werdende Schläfen hingegen noch straffe Haut. Bartstoppeln, die auf bedachten Umgang mit dem Messer hinwiesen, schienen etwas über drei Tage alt und umrahmten sein Grinsen. Als er den beschlagenen Spiegel sauber wischte, passierte es. Fast fremd lächelte ihm seine Fresse entgegen, wobei ihn sein Atem nervte, der stank, als hätte er aus der Kloschüssel getrunken.

Vorsichtig nahm er die Zahnbürste, drückte aus der selbstverständlich niemals zugeschraubten Tube einen weißen Klecks Paste auf die Borsten, verjagte den Präriehund, sich an den bezaubernden Film „Coyote ugly“ erinnernd. Dabei erwachte er endgültig, als er Schaum vor dem Mund hatte. Seufzend beurteilte er den Geschmack nach Spearmint und vollendete seine tägliche Pflege. Nach kurzer Spülung schmierte er sich Rasierseife mit dem Dachshaar-Pinsel in seine Visage, ergriff den Drei-Klingen-Gillette Sensor 3, ein uraltes Stück, und rückte den Stoppeln auf den Leib. Er schabte das Gestrüpp von Wangen und Kinn bis zum Halsansatz, wo vorwitzige Stängel wilderten. Noch glaubte er, verräterische Düfte der Nacht an sich wahrzunehmen und trat in die Dusche. Bald würde er sich wieder wie ein Mensch fühlen.

Da riss ihn die Erinnerung vom Hocker.

Da war doch etwas Grausames geschehen, ein unglaublicher Fehler war ihm passiert, ihm, dem langjährigen und absoluten Junggesellen. Nicht vor dem überaus hitzigen Gefecht. Nein, danach, als er schon längst mit Wichtigerem beschäftigt war, hatte sich ein gewisser Satz auf seine sonst so verschlossenen Lippen geschlichen, hinterhältig und intrigant, war fort, entfleucht, bevor er noch zu stoppen gewesen war, in die reale Welt entwischt. „Willst Du zu mir ziehen?“

Das erklärte den Auflauf in seinem Tempel, dem Heiligtum einer berüchtigten Junggesellenbude, dieser Stätte erfolgreicher Debatten über die optimale Nutzung von Verhütungsmitteln, Alternativen während des Besuchs der roten Tante oder freiwilligen Schiedsgerichten bei unerwarteten Kranzgeldforderungen. Diese hasste er besonders, wie die mittelalterliche Pest.

Wer sollte denn ernsthaft vermuten, dass ein Mädel über 23 noch nicht das Geheimnis des Ali Baba kannte und Sesam nur vom Süßgebäck aus Marokko? Die unvermeidlichen und unwiderlegbaren Spuren am Altar bezeugten ihre Beichte. Seine berechtigte Frage, warum sie sich als Wild angeboten habe, wurde geschickt umschifft durch ihr Wehklagen ob der Schande, verführt, mental missbraucht worden zu sein.

Dies im 21-ten Jahrhundert. In modernen Zeiten wie diesen sollte das Innere der der ‚Brazilian-Waxing-Zone‘ noch mit organischer Frischhaltefolie überzogen gewesen sein? Dies bei einem Gesicht für eine Set-Card und dem hinreißenden Körper einer versierten Konkubine in aufreizenden Hüllen, der auf roten Manolos stolzierte, jeden auf seinen Ruf bedachten Hengst brünstig werden ließ?

Doch da war es schon viel zu spät gewesen. Wer sich im Angriff auf das Wasserschloss von vorwitzigen Torflügeln behindern lässt, verdient nicht den Namen eines Kriegers. Außerdem hätte er mit einem schmählichen Rückzug entweder eine tödliche Beleidigung begangen oder wäre als zum Softie mutiert bezeichnet worden. Welche Schmach für einen Eroberer. Beides stand absolut jenseits jeder Überlegung und somit außer Debatte. So hatte er die vermeintliche Festung im ersten Anlauf erstürmt und keine Gefangenen hinterlassen. Hatte gnadenlos aufgeräumt mit den Überresten der Verteidigung, von deren ehemaligen Existenz nur mehr einige dunkle Flecken zeugten.

Das Burgfräulein hatte sich auch anfangs noch theatralisch geziert, hingegen bald dargeboten, was Küche und Keller boten, und dem künftigen Burgvogt, eher wohl seiner blanken Waffe, den gebotenen Respekt erwiesen, seine Lanze gereinigt, sie wieder zum Strahlen gebracht. Schließlich hatten ihm als dem neuen Burgvogt alle Türen offen zu stehen. Sollten diese zu Beginn noch leicht klemmen, würde sich dies durch mannigfache Begehung von selbst beheben.

Die kurze Phase von leichtem Widerstand hatte er mit altgewohnten Mitteln gebrochen. Sollte er denn jedesmal fragen, ob er denn eintreten dürfe in die eroberte Kemenate, das Gemach seiner Wünsche? Seine kräftige Hand hatte klargelegt, dass nur einer die Führung habe, nur einer die Hosen an und derjenige mit den heruntergelassenen seine Rolle selbst erkannt. Zumindest sollte sich das zu Beginn als wahr erweisen.

Es hatte bereits einige Wochen gedauert, das eigenartige Verhältnis mit Suzette, wie sie von ihm genannt werden wollte. Ihren Taufnamen konnte sie nicht riechen und passte dieser auch nicht wirklich zu ihrer Persönlichkeit. Nicht auf ein so selbstbewusstes Geschöpf, das sein Junggesellenleben schlagartig beenden zu wollen schien.

Nichts war mehr geblieben von seinen träumerischen Vorstellungen, als weiser Alter in freiwilliger Askese für jugendliche Erfahrungssuchende zur Verfügung zu stehen, als Art lexikalisches Orakel und Kompetenz-Zentrum. Es würde keine Geschichte zu erzählen sein, wie sie sich begründet hatte, nichts über die wahre

Genese seiner Askese.

Vom Überholen auf dem Gehsteig wird gewarnt!

Er war fasziniert vom Schwung der Hüften, dem Stakkato der High-Heels am Pflaster, von der Anziehungskraft, welche ein gutgebauter weiblicher Achtersteven auf Männer ausübt.

Umgekehrt schätzte er der Bleistift-Test und straffe Linien, sodass kaum ein zweiter Blick nötig war, das restliche Umfeld zu beurteilen. Frauen waren begeistert, dass er ihnen in die Augen blickte und offen ihre verdeckten Qualitäten ansprach, anstatt Tiefenschürfung im Ausschnitt zu betreiben. Leider hinderte ihn ein Handicap, wirklich erfolgreich zu handeln, da ein instinktiver Zwang jedes Mal Enttäuschungen verursachte.

Wer beim Überholen begeisterungswürdiger Rückansichten den Blick auf die Frontpartie riskiert, stellt immer wieder fest, dass die Verteilung der Gaben im Gleichgewicht liegt, die Natur niemanden nur bevorzugt. So stand er zeitlebens vor der Qual der Wahl, die Wahl der Qual zu entscheiden, bis er als vertrockneter Junggeselle enden sollte. So entwickeln sich eben mangelhafte Prioritätensetzung und höfliches Zögern gegenläufig zur Attraktivität eigener Merkmale, bis am Ende Askese verbleibt.

Kein Hagestolz eines Adalbert Stifters würde er werden, der sich mit lüsternen Jungfrauen für das Leben mit 72 Huri im siebten Himmel vorbereiten konnte, keine Zeit als alternder Playboy war ihm bestimmt. Über kurz oder lang würde er wohl in die Hochzeitsmaschinerie geworfen werden wie ein Charlie Chaplin in ‚Moderne Zeiten‘, von ihr verschlungen und als Pantoffelheld wieder auferstehen, wie so viele vor ihm, einem Odysseus bei Circe vergleichbar.

Der Taugfastnichts der Jahre ungebundenen Streunens in der Welt würde sich in einen ehrbarer Pater familiae wandeln, wenn es ihm nicht gelänge, noch einmal elegant die Kurve zu kratzen. Noch ein einziges Mal. Solange noch Zeit verbliebe. Solange er sich jung fühlte, mit seinen über dreißig Jahren.

Gaudeamus Igitur

Obrigkeitshörig war er nie gewesen. Es konnte sich auch keiner seiner Verwandten an eine solche Charakter-Eigenschaft bei ihm erinnern. Nennen wir ihn einfach Martin, unseren Strawanzer, der sich in späteren Jahren als Taugfastnichts bezeichnen sollte. Verbote waren für ihn als Aufforderung gedacht, einen direkten, machbaren Weg oder eine Umgehung zu finden, eine Lücke, ob im Zaun zu den schwarzroten Süßkirschen in Nachbars Garten oder im Gesetz.

Das alte Studentenlied – ‚gaudeamus igitur‘ – fordert ja auf dazu, uns über unsere Jugend zu freuen, bis uns im Alter die Erde wiederhaben will. Danach, nachdem uns das Älterwerden molestiert hat. Die Jugend ähnelt dem Goldenen Zeitalter – der ‚aurea prima‘ - des Publius Ovidius Naso, dessen Regeln ebenso nicht in eherne Lettern gegossen waren wie jene der Kindheit. „Fall nicht unnötig auf und lass‘ Dich nicht bei etwas Fragwürdigem erwischen“, fasste der elterliche Gesetzgeber der Kindheit in den 80-er Jahren bestens zusammen.

Die Streiche waren harmlos, wenn auch etwas gewagt. Das Kitzeln von bloßfüßigen, germanischen Touristinnen im Park, die Produktion von Wasserbomben aus Pariser Luftballons oder das absichtliche in die Irre Senden von herrisch nach dem Weg fragenden Deutschen im dicken Mercedes gehörte zum Landleben wie das Wasser zum Fisch.

Solche gab es neben dem fasten-täglichen Dorsch oder seltenen, ‚verirrten‘ Regenbogen-Forellen aus Alpenbächen meist nur als Bratheringe, die mit dem in einem der acht umliegenden Gasthäuser frisch gezapften Bier im großen Krug nach Hause getragen und abends verspeist wurden, meist begleitet von heißen, frisch gekochten, mehligen Kartoffeln.

So vergingen die Jahre, bis sich herausstellte, dass Martin für das Gymnasium geeignet war, das allerdings nur mit dem Frühschicht-Arbeiterzug zu erreichen war, etwa 20 km entfernt vom kleinen Städtchen, in dem er Kindheit und Volksschule verbracht hatte.

Schnell etablierten sich Gewohnheiten, die einen kreativen Umgang mit dem Regelwerk des Lebens und der Behörden verrieten. Da der letzte Zug zu Mittag nach der sechsten Unterrichtstunde schon um 13:50 Uhr abfuhr, die Schulstunde jedoch erst um 13:40 endete, mussten die geplagten Fahrschüler schon um 13:25 zum Abmarsch antreten, sonst hätten sie ohne Mittagessen bis 15:20 keine Verbindung mehr gehabt. Bei etwa 50 bis 120 Minuten Reisezeit galt dies den Behörden als unzumutbar.

Der Fahrschüler, der um etwa 6:15 das Haus Richtung des Schulortes verließ, kam erst um circa 14:45, also achteinhalb Stunden später zum Essen nach Hause. Da leuchtete die vorzeitig nötige Abreise allen Professoren ein, vor allem jenen, die selbst mit dem genannten Zug abreisen wollten und berufsbedingtes Opfer dieser Regelung der Bundesbahnen geworden waren. Die Bahn sah das Problem und ein Jahr später passte sie die Fahrpläne an die Unterrichtszeiten an.

Nicht jedoch änderten die pfiffigen Fahrschüler ihre Abreisezeiten. Dies ersparte ihnen jahrelang gute zwanzig, bei mancher gutgläubigen Lehrkraft sogar bis zu dreißig Minuten öden Unterrichts in der letzten Stunde. Schließlich gab es ja auch behinderte Schüler, denen man auf dem Schulweg Hilfestellung und Gesellschaft leisten musste oder es wurden andere schwachsinnige Ausreden in Hülle und Fülle geboten.

Der Morgen und insbesondere die erste Stunde waren besonders verhasst. Es hatte sich eingebürgert, dass Schüler in den ersten 5, 10 Minuten überraschend geprüft wurden, was es zu vermeiden galt. Wer geht schon gerne unvorbereitet unters pädagogische Schlachtbeil? Ideen schwirrten im kreativen Zirkel der Zeit-Pfadfinder und bald bot – wieder - die staatliche Bahngesellschaft eine geniale Lösung.

Da neben dem Arbeiterzug, der in jeder Station als quasi Sammler hielt, auch ein Schnellzug um etwa 7:10 Uhr im Städtchen hielt, der gerade rechtzeitig, wenn der Schüler schnellen Schrittes in Richtung Bildungsstätte eilte, die pünktliche Ankunft im Unterricht ermöglichte, eröffnete sich eine Chance par excellence. Ein Professor nutzte selbst diese für ihn einzig mögliche Verbindung, sodass über den Wahrheitsgehalt der äußeren Umstände, Ankunftszeit und Nutzbarkeit für Schüler, nicht der geringste Zweifel aufkommen konnte.

So bildeten sich letztlich am Hauptbahnhof der Schul- und Universitätsstadt mehrere Grüppchen von hoffnungsvoll Wartenden, welche die fast tägliche Verspätung dieser Verbindung freudig begrüßten, bot sie doch eine Vermeidung von 5 bis 15 Minuten Unterricht und Prüfungsstress gegen eine lauschige Unterhaltung mit gleichgesinnten moderat Bildungshungrigen. Alles war felsenfest abgesichert durch jenes Unbill, das die öffentlichen Verkehrsbetriebe wegen dieser Fahrplanabweichungen und freudig beklatschter, gelegentlicher Totalausfälle des D-Zuges zu verantworten hatten. Dafür gab es dann noch heiß geliebte offizielle Bestätigungen mit prachtvollem Amtssiegel, welche die pedantische Obrigkeit über die versäumten Lehrminuten hinweg trösteten.

Zusammengerechnet fehlten somit dem Bildungshungrigen etwa 30 bis 50 Minuten Unterricht täglich, also an guten Tagen fast eine ganze Schulstunde. Nur wenige abgefeimte Pädagogen waren bösartig genug, die Fahrpläne zu studieren und dem Zeitmanagement der angehenden Studenten Hürden in den Weg zu legen. Die Ausnahme bestätigt bekanntlich überall die Regel.

Martin war ein aufgewecktes Bürschchen, das die Reisezeit im Zug dafür nutzte, alle Hausübungen fertig zu stellen, um, zu Hause angekommen, von solch lästigen Pflichten enthoben zu sein und außerdem den pädagogisch manchmal interessierten Eltern den Einblick in die Geheimnisse der häuslichen Fort- und Weiterbildung zur Festigung des Lehrstoffes zu verwehren.

Dies gelang fast in allen Gegenständen, außer bei Geometrisch Zeichnen, denn das Rattern des Zuges verhinderte ausreichend saubere Linien oder den schnörkellosen Zirkeleinsatz. Die Verweilzeit in den Haltestellen fiel zusätzlich zu kurz aus. Auf der Schultasche auf den Knien entstanden so nur wenige der geforderten Konstruktionszeichnungen, deretwegen die wenigen Hausübungen in der spärlichen Freizeit zu tolerieren waren.

Mit der Zeit decodierten die Jungkommissare hauptsächlich der ersten Sitzreihen die Schnörkel und Kürzel der einzelnen Professoren in deren Notizbüchern, sodass die nervösen Mitschüler zeitnah vor einer drohenden Gefahr von Prüfungen verständigt werden konnten, was besonders bei den gerade angesagten Übersetzungen im Lateinunterricht oder bei Mathematik-Problemen hilfreich schien. So konnte der Notendurchschnitt gehoben werden, was eine klassische „win-win-situation“ ermöglichte.

„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen“, dem Wahrspruch der Professoren wurde angepasst entsprochen, Martin übte sich in der pragmatisch-praktischen Anwendung dieses Mottos in aufwandsoptimierender Kreativität. So gingen die Schuljahre vorüber, bis die Matura dem Theater ein Ende setzte und die Bildungs-Verwahranstalt die erfolgreichen Absolventen als universitätsreif auf den weiteren Lebensweg sandte.

Inzwischen war dem sportlichen Jüngling der Durchbruch gelungen und hatte er in einigen Disziplinen in einer Randsportart Österreichische Vize-Meistertitel errungen. Das führte zum Dienst ohne Waffe in der Sportkompanie des Bundesheeres, wo er ein Jahr lang die Großstadt kennenlernte und eine weitere Lebensabschnittsbildung erhielt, als die Provinzpflanze, für die er beim Heer gehalten wurde.

Kesse, langbeinige Mädel auf hohen Stöckeln am Weg zur Kaserne boten Anreiz genug, sich in ein Bratkartoffelverhältnis zu stürzen, das einer Mitt-Dreißigerin Frischfleisch aufs Lager und Martin Praxis-Erfahrung im Austausch von intensiver Körperpflege brachten.

Die Großstadt lässt junge Menschen schneller reifen, heißt es. Für eine Landpomeranze bewegte sich der Erfahrungsgewinn im exponentiellen Bereich und so wurde er unerwartet schnell erwachsen, findiger und fündiger, wenn es sich um zeit- und kostensparende Lösungen drehte, weil seine finanziellen Mittel stark begrenzt waren. Vor allem lernte er die Mentalität der Hauptstädter besser kennen und berichtete zu Hause über diverse Aspekte des täglichen Lebens, denn das gibt es allein in dieser Kulturhauptstadt, ein

Goldenes Wienerherz

Weltbekannt ist diese Charaktereigenschaft der zentraleuropäischen Führungsmacht mit ihren Idolen Faymann1 und Spindelegger2. In ihrer Beliebtheit gerade noch nicht geschlagen vom „Goldenen Wienerglück“, dem feuchten Hundekot am Gehsteig, in den zu treten angeblich wahres Glück bringen soll. Daher stammt diese euphemistische Bezeichnung.

Vertreter dieser Spezies mit Goldenem Herzen sind oft schwerstgewichtige Matronen, welche die Last ihrer meist mehr als 40 Jahre keuchend in den Alltagsverkehr einbringen, Platz heischen für Hintern im Ausmaß derer von Kutschergäulen, ihre Stimme ein drohender Ton, dem Motorenlärm einer Schubraupe gleich. Dies vorrangig im täglichen Kampf um einen Sitzplatz in der ‚Bim‘, der Wiener Straßenbahn, und in allen anderen ‚Öffis‘.3

Gleichfalls zauberhaft und feengleich beleben Grundschülerinnen die Szene, da deren Schulwege sich oft mit den Einkaufs- und Arbeitsrouten des geschäftigen Völkleins der Wiener kreuzen. Dabei ist noch anzumerken, dass ein Großteil der Eingeborenen auf einen historischen Migrantenhintergrund verweisen kann. Diesen fällt die Adaption an die spezielle Lebenskultur als Ausländer, oder schon voll integriert als Staatsbürger, kaum noch schwer. So erheitern manchmal theaterreife Szenen, wie sie sich in den Öffis abspielen, die morgendliche Völkerwanderung.

Donatellis Putti gleich, Skulpturen, die in Kirchen güldern und kindlich bezaubernd die Altäre zieren, begeben sich Volksschüler zur Tränke des Wissens und entzücken das Publikum in den Verkehrsmitteln. Viele Passagiere stehen in der Rush-Hour, denn Sitzplätze sind im Verhältnis rar.

„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ und belegt den begehrten Sessel, den aufzugeben um keinen Preis der Welt einem Wiener nahezulegen ist. Weder gebrechlichen Greisen noch Hochschwangeren oder Müttern mit Kleinkindern wird das Labsal des Ruhens gegönnt. Die Pfadfinder-Ehre endet am Sitzfleisch. Sesselkleben wurde als die weltweit bekannteste Eigenschaft des gelernten Wieners berühmt.

Manieren gibt es bei Bedarf zum Kaufen. Der ‚Neue Ellmayer‘ bringt angeblich wieder Rekordumsätze, doch seinen Sitzplatz einem Bedürftigeren anzubieten, hat äußersten Raritätswert in der Donaustadt. Allein muntere Greise mit Johannistrieb wittern ihre Chance, sich bei hübschen Mädchen oder rassigen Damen gentlemanlike anzubiedern. Dafür holen sie diese Geste aus ihrem Schatzkästlein vergessener Erinnerungen an dem einem Kavalier gebotenem Gebaren, bei älteren Damen noch mit einem angedeuteten Handkuss begleitet.

So geschah es eines Morgens im Verkehrsstau, als in der Linie 6 ein goldiges Mäderl im Volksschulalter saß. Diese Straßenbahnlinie führt von Simmering über Favoriten bis zum Westbahnhof, kreuzt dabei die anliegenden Arbeiterbezirke mit ihren lokalen Grätzl-Kulturen.

Etwa auf der Höhe Absberggasse, also an der Grenze zwischen 10-tem und 11-tem ‚Hieb4‘, kurz nach der Station Geiereckstraße, hatte sich der massige Körper eines schwitzenden Kampfpanzers in Schlachtbereitschaft bis zu den vorderen Sitzreihen vorgewuchtet und fauchte dieser die dunkelhaarige Ausländerin an, die sich gerade anschickte, den letzten Sitz zu okkupieren, mit „das ist mein Platz!“

„Ehret das Alter“, diese Höflichkeitsgeste beherzigen Migranten noch, so wich die junge Dame der Gewalt schwabbelnder Weiblichkeit. Heftiges Atmen nach erfolgreicher Schlacht regenerierte den schwerathletischen Körper. Bald darauf begann die lebende Moral in bestem Favoritner Dialekt zu geifern, dass heutzutage die Jugendlichen keine Manieren mehr besäßen und schwerst arbeitenden Müttern die Sitzplätze wegstehlen würden. Ja nicht einmal mehr in gelebtem Respekt vor der Weisheit des Alters das schwerst arbeitende Volk zu unterstützen gedachten.

Der kleine Engel in Blond ihr gegenüber musterte die Megäre mit langem, kritischem Blick.

„Na G’schropp, was ist mit Dir?“ schnappte Miss Kutschergaul das feengleiche Mäderl an. „Du sitzt auch und stiehlst der arbeitenden Bevölkerung die verdienten Sessel!“

Nachdenklich schwieg die Kleine, ihr Lächeln wie weggeblasen von den kindlichen Lippen.

„Keine Erziehung, keine Manieren haben sie heute mehr. Wahrscheinlich so ein Ausländerbastard, der bei unseren Kindern die Schulerfolge verhindert“ geiferte der Ausbund an Grazie im Pelz der Wiener Lady weiter.

Plötzlich hob das Kind das hübsche Köpfchen und strahlte voller Inbrunst sein Gegenüber an. Es öffnete sich der zarte Mund und flötete:

„Blade5, geh scheiß’n!“

Ohne eine Veränderung der Miene schloss die engelsgleiche Erscheinung ihre Lippen. Augenblicklich trat absolute Stille ein. Der gesamte Waggon erstarrte. Sekundenlang glich die Szenerie einer Stummfilm-Sequenz aus einem Buster Keaton Film.

Dann brach die Begeisterung los. Die Spannung entlud sich in heftigstem Gelächter. Witze wurden auf Kosten des Brauereipferd-Hinterns der holden Weiblichkeit gerissen, die zuvor so erziehungswertvolle Anregungen gegeben hatte.

In der Masse wird der Wiener zum Parade-Mobber und aus allen Ecken und Kehlen tönten Anregungen an die lebende Kampfmaschine, mit Diätvorschlägen oder Sporttipps aus der untersten Schublade milieubedingter Redensarten.

Ein Witzbold wollte nachsehen, ob der Kampfpanzer vielleicht auch auf Ketten rollen würde oder Zwillingsreifen führe, um die angefutterten Kalorien schonend weiter zu befördern, ein Anderer ortete optimale Eigenschaften als Rettungsfloß am Donaustrand, da Fett bekanntlich immer oben schwimme und weiteres mehr.

Den Weg zur nächsten Station, also knapp eine Minute lang, dauerte es, bis Miss Adipositas ihre Megatonnen in die Luft stemmte und die unfreundlich gewordene Umgebung verließ, mit Oscar-prämierungsreifer Miene ausstieg unter dem höhnischen Gelächter des Volksmobs und folgendem Bambi-Preis-verdächtigem Sturmlauf in Richtung des Böhmischen Praters.

Martin als unbedarfter Zuseher dieser Begebenheit dokumentierte die Trilogie an Gold in Herz, verbalem Glück und Locken einer Wiener Elfe. Es gelang ihm problemlos, sich diese, selbst etwa 40 Jahre älter, in der Rolle ihrer Kontrahentin vorzustellen. Schließlich schlägt die Generationenfalle bei der Vererbung körperlicher und charakterlicher Eigenschaften immer wieder erbarmungslos zu.

Eines hatte die Szene erreicht. Fahren sonst nur mürrische Gesichter in den Öffis, hatten viele Leute gelacht und gescherzt. Dies zu erleben und das in Wien, bedeutet unvorstellbares Glück. Dass der Tritt in den verbalen Kot den Anlass dazu geliefert hatte, zeigt, dass die Legende vom Goldenen Wienerglück wahr spricht.

Es mag ein Fingerzeig des Schicksals gewesen sein, das hier mit einem zu Wort gewordenem Hundedreck einen spontanen Stopp der Ausländerfeindlichkeit erzielt hatte.

Gläubigere Menschen würden vermuten, dass dem Schutzengel der Migranten die Hutschnur gerissen sein mag, und er sich der Gestalt des unschuldigen Elfchens bedient hatte. Nun, der Zweck heiligt eben die Mittel.

Nach dem Dienst im Heer, der hauptsächlich im Vermeiden der Anwesenheit in der Kaserne durch laufend stattzufinden behauptete Trainingslager im Umfeld der Heimat oder Reisen zu Wettkämpfen bestand, wählte der junge Athlet ein Studium nach seine Lebensziele optimierenden Gesichtspunkten.

Reale Berufschance, Rückkehr in die Hauptstadt und ein ‚Plan B‘- bei Scheitern des Projekts waren die drei Musskriterien für die Fächerwahl. Somit fielen Sport oder Sportwissenschaften flach, denn als frustrierter Animator pickel-gesichtiger Bewegungs-Abstinenzler zu dienen, konnte er sich niemals als Beruf vorstellen. Ein zwingend vorgeschriebenes zweites Lehrfach, das ihn nicht im Geringsten reizte, hätte er sowieso nur alibihalber abzuschließen gedacht.

So ergab sich die Wahl des betriebswirtschaftlichen Studiengangs mit dem optionalen Ausweg, als Lehrer in der Handelsakademie oder anderen berufsbildenden Schulen zu unterrichten, sollte er in realen Berufen nicht unterkommen. Der Lehrbetrieb, ohne Gefahr einer Kündigung, sollte er in der freien Wirtschaft versagen, bot den angestrebten Gürtel mit gleichzeitig Hosenträgern. Außerdem wurde dieses Studium nur in Wien oder Graz angeboten, was Auflage drei seiner Prämissen erfüllte.

Mit der Optimierung zufrieden, unterbreitete er seinen Eltern die Ziele einer akademischen Laufbahn, die schon sein Bruder eingeschlagen hatte, also eine reibungsarme Diskussion versprach. Er erhielt die Zusage, was ihm das Verlassen des heimatlichen Nests und Zwangs ermöglichte. Er befreite sich von engem Provinzdenken und gluckenhafter Obsorge.

Als Dorfball-Freak und Tanzwütiger lernte er, sich in den Ballveranstaltungen reinem Spaß zu widmen und erlebte seine zweite Ära an risikolosem Game-Hunting, beispielsweise in der Wiener Hofburg, dafür ausstaffiert mit Smoking und Mascherl, beispielweise am

Rosenmontag.

Die Rudolfina-Redoute gehört zu den interessantesten Ball-Veranstaltungen in der Hofburg. Am Rosenmontag, wenn in Köln die Innenstadt mit etwa 20.000 Weibsen und gerade mal 4.000 Jecken hormonell und alkoholisch verseucht wird, begibt es sich in der Ballstadt Wien, dass die letzte lebende Fledermaus-Operette live geht.

Die Karneval-Idee aus vergangenen Tagen des Fasching-Trubels existiert noch als Retro-Veranstaltung, die an Zeiten erinnert, als nur wenig Anderes den akademischen Nachwuchs und dessen Vorfahren erfreute.

Den Charme dieses besonderen Maskenballs kann man jährlich, meist im ORF-TV, in einer der alten, kitschumflorten Inszenierungen zu Silvester bewundern. Alle Damen erscheinen im Abendkleid, jedoch mit Maske, und es herrscht Damenwahl bis Mitternacht. Mit dem Schlag zur Geisterstunde, so sie noch anwesend sein sollten, entlarven sich die Schönen der Nacht und geben ihre wahre Identität preis.

Für Freunde von Burka und Tschador ist dies eigentlich nichts Besonderes, sieht man davon ab, dass in deren Gefilden die holde Gattin aus Respekt vor Ehe und Mann nach den herrschenden fundamentalistischen Sitten ihr Haupthaar zu opfern hat und ihre Glatze in der Brautnacht dem Herrn ihres Hauses entgegenglänzt.

Bis Mitternacht, also etwa 2 1/2 Stunden lang nach der Eröffnung durch das Staatsballett, gebietet allein die Gunst der Damen und ihre Wahl an befrackten Herren mag von manchem Partner argwöhnisch beobachten werden, sollte Eifersucht im Spiel sein. Doch auch andere Motive können vorherrschen. So erlebte es Martin, als er einmal mehr die Wonnen des ‚Taxitänzers‘ zu erleben suchte.

Das Schöne an diesem Fest ist, dass der bunte Reigen auch jeder als apart bezeichneten Dame oder anderen Schreckschraube mit verschleiertem Äußeren gelegentlich einen Tanzherrn verschafft. Daher ist die Beteiligung mehr als leicht damenlastig, zumindest bis Mitternacht. Schnitzlers ‚Traumnovelle‘ stellt die gedankliche Fortsetzung der zugrunde liegenden Idee dieses frivolen Maskenballs dar.

In ‚Kölle am Rhein‘ hingegen gelten die Gesetze des Ehelebens zwischen Weiberfasnacht und Faschingsdienstag als aufgehoben. Generell beweist auch die Bevölkerungsstatistik, dass etwa neun Monate nach dem Aschermittwoch gehäuft Geburten zu vermelden und somit Interdependenzen klar nachweisbar sind. Ebenso soll der Verbrauch an ‚Kamelle‘, der Süßigkeiten, die beim Rosenmontags-Umzug in die Menge der Zuschauer geworfen werden, wie jener der Luftballons verschiedener Bauart, ungeheuer sein. Mit Speck fängt man Mäuse, heißt es passend.

Dass solche Schlüsse zum Geburtenregister in der Donau-Metropole ebenfalls gezogen werden könnten, verhindern sowohl die Beschränkung auf das Fassungsvermögen der Hofburg-Säle als auch die Errungenschaften der Chemie in der Medizin. Zumindest, was statistisch gesicherte Aussagen betrifft.

Jedenfalls sind gute Tänzer heiß begehrt und nicht nur Martin sah sich permanent im Nahkampf mit einer Odaliske in Maske, sondern auch jeder Einzelne seiner Bekanntschaft, der ebenfalls dem Laster der Tanzwut verfallen war.

Ein fantastisches Figürchen mit leidenschaftlichem Temperament vergnügte sich gerade mit ihm und zog ihn von Saal zu Saal, von einem Tanz zum anderen. Die rassige Ballerina bezauberte ihn mit ihrer Jugend, sportlicher Ästhetik und überwältigendem Charme. Sie zog ihn in ihren Bann, ließ sich liebend gerne munter im Takt herumschwenken.

Ihre Zigeunerinnenmentalität äußerte sich im grell-bunten Abendkleid, prachtvollen schwarzen Haar und in einem göttlichen Hintern. Mit südamerikanischem Temperament trommelte sie ihre Samba-Schritte aufs Parkett, der Hüftschwung und das Beben ihrer Globen zeugten von feuriger Leidenschaft und fesselten die Blicke so manchen Galans.

Sie sprach Französisch mit Martin, obgleich ein Wiener Akzent hörbar durchschlug. Dennoch spielte sie bei jeder Anmache auf Deutsch durch begehrliche Konkurrenten die Ausländerin, die unverständige Naive. „Ma chére Joséphine“ taufte er sie insgeheim in Gedenken an die berüchtigte kreolische Geliebte des Roi der Franzosen und nannte sie „ma petite Haitienne“, da sie kaum mehr als 1,66 m hoch auf ihren Stöckeln stand.

Irgendwann drückte sie sich plötzlich ganz eng an ihn und spielte ‚la grande tempteuse‘, die ihn öffentlich beim Tanze zu ‚vergenusswurzeln‘ suchte. Ihre Wange schmiegte sich im Clinch an seine, so dass sie kaum mehr als ein Paar denn gleichsam als Siamesische Zwillinge durch den Saal glitten.

„Sorry, dass ich Dich gerade missbrauche“ flüsterte sie ihm ins Ohr, „das gegenüber mit der roten Bolero-Jacke ist die aktuelle Geliebte meines Mannes. Der Schurke hat sie wirklich hierher eingeladen und mir verschwiegen, dass er schon zurück in Wien ist. Er sei noch auf Geschäftsreise, log er mich an.“

Martin war neugierig geworden, wenn auch leicht irritiert. „Warum erkennt er Dich dann nicht?“ fragte er, nichtsahnend von weiblicher List und angewandter Schauspielkunst.

„Weil er dieses Kleid nicht kennt und ich meine Haare neu gefärbt habe. Ich bin von Natur aus kastanienbraun. Es wird teuer für ihn enden. Die Rechnung allein für Coiffeur, Abendrobe von Balenciaga, Accessoires und die High-Heels mit all dem sonstigen Schnick-Schnack beläuft sich auf mehrere Tausend Euro. Dazu wird er auf seiner Kredit-Karte den Schmuck finden. Die Abrechnung wird ihn lehren, dass eine findige Gattin teuer kommt, wenn er sich eine Zufallsmätresse anlächelt.“

Jetzt war sein Jagdtrieb erwacht. „Wie lange weißt Du schon von seinen Seitenspielen?“ wollte er wissen.

„Nun, solange die Flittchen regelmäßig wechseln, ist mir das schnurzpiepegal“, gestand sie „denn ich bin auch kein Mauerblümchen und liebe die Sitte der Französinnen, sich entsprechend zu amüsieren. Gefahr wittere ich nur bei Regelmäßigkeit und die Erfahrung lehrt, dagegen rechtzeitig etwas zu tun. Diese hier dürfte noch ziemlich neu und mental einfach gestrickt sein, da sie seinem Charme bereits beim Ball erliegt, wie Du leicht erkennen kannst. Ihr Kleid ist teuer genug, dass sie verheiratet sein dürfte, wie auch der Glanz am Ringfinger bestätigt. Somit scheint jede Gefahr gebannt, denn solche Garderobe kostet. Der möglicherweise gebotene Gedanke an Englands Prinzen statt dem eigenen Frosch im Ehebett als honorierte Gegenleistung für die regelmäßige Ausweitung des Kontenrahmens verhindert meist eine nervenaufreibende Trennung. Jedenfalls habe ich aufschlussreiche Erkenntnisse gewonnen.“

Damit zog sie Ihren Eintänzer in den benachbarten Spiegelsaal und ließ sich ausgelassen in Pirouetten drehen, genoss die feurige Musik. Es nahte die Mitternacht und alle drängten in Richtung des Hauptsaals, um der Enthüllung der Geheimnisse nach der Balletteinlage beizuwohnen.

Mitten im Getümmel merkte Martin, dass ihm seine Rassefrau entfloh. Er verlor sie durch eine Gruppe von Damen, durch die sie sich anmutig geschlängelt hatte. Offenbar dies nicht unaufgefordert, wich die Phalanx der Roben keinen Fußbreit, um das Geheimnis der Schönen zu wahren.

Erst nach längerer Zeit gelang es ihm, die Suche wieder aufzunehmen, was allerdings erfolglos bleiben sollte. Aschenputtel hatte die Stätte zur Geisterstunde verlassen, kein gläserner Schuh erlaubte eine Verfolgung. La Criolla blieb verschwunden. Ob ihres Gatten willens oder um einer Versuchung zu entgehen, sollte für immer unerforscht bleiben.

Der bunte Schmetterling war weitergeflattert und hinterließ im Herzen Martins eine Lücke. Erst viel später, nach diversen Tanzpartnerinnen, stellte sich mit einer begeisterten Ballratte das unbeschwerte Vergnügen wieder ein. Er widmete ihr seinen Charme und erzählte von den Fallen, denen ein armer Gatte im Geschirr der Ehefrau gewahr sein müsse. Dass er missbraucht worden sei durch die besagte Schöne der Nacht, einer Scheherazade, der mit Geschichten ihr Leben zu fristen geboten erschienen war. Als wäre er der Sultan Scharyâr der Legende, überzeugt, dass es keine treue Frau auf Erden gibt.

Der Unterschied zwischen Kölle am Rhein und der Wiener Hofburg besteht darin, dass Kölsch gegen Champagner und bittere Winterkälte gegen heimelige Hofburg-Alkoven aufzuwiegen sind, von den kakanischen Nachfahren nahe dem Orient jedoch kein gnadenloses Durchfeiern von Weiberfasnacht bis zum Faschings-Dienstag um Mitternacht gefordert wird.

Anstrengend sind beide Städte im Trubel der Fasnacht. Es steht der Maskerade im Frack jene im Karneval-Kostüm gegenüber. Statistisch überwiegt in der Kölner Innenstadt das weibliche Geschlecht im Verhältnis 5:1, ähnlich hoch sollen Alkoholspiegel und Grad der Überfüllung der angesagten Lokalitäten punkten.

Der Rat des Globetrotters lautet: Ein jeder sollte beides kennenlernen, denn Reisen bildet bekanntlich und in beiden Städten gilt am Rosenmontag eine andere Regel als für den Rest des Jahres. Manchmal bleibt sie danach sogar aus.

1 Kanzler von Lipizzanien

2 Vizekanzler von Lipizzanien

3 Öffentliche Verkehrsmittel

4 Bezirk – Wiener Mundartausdruck für die Arbeiterbezirke

5 Wiener Dialekt für: ‚sehr beleibt‘

Sacré-Cœur

Tabernakel-Schwalben nannte ihre Großmutter sie verächtlich, die strengen Nonnen, welche den heranwachsenden Mädchen Unterricht gaben. Schuluniform war Pflicht, mit dunklem Rock und heller Bluse, denn die züchtige Hausfrau hat feminin und adrett auszusehen, ihre Pflichten zu erfüllen, Haus, Garten und Gatten in Schuss zu bringen und zu halten. Das traditionelle Ideal des Marianismo reinsten Wassers im beginnenden 21-ten Jahrhundert mit der Frau am Herd verkörpern.

Die einzigen Lichtblicke im katholischen Internat waren die Ferienaufenthalte bei ihrer Oma, die leidgeprüft aus der Nachkriegszeit doch gewitzt durch das Leben stieg. An der Kirche ließ diese kein gutes Haar, was ihr im scheinheiligen Bundesland Tirol, in dem der Sonntag dem öffentlichen Auftrieb zum gemeinschaftlichen Kirchgang jener Hosenträger-Christen gewidmet ist, die sich die Religion wie solche zum Tag des Herrn umhängen, viel Ärger einbrachte. Gelegentliche Umzüge wie zur Feier des ‚Herz Jesu‘ zwangen die Elevinnen des Sacré-Cœur zum Leiden mit dem Erlöser, wenn sie als Teenager in ihren Schuluniformen das mitleidige Grinsen der pickelgesichtigen Jungs ohne Makeup ertragen mussten.

Als Suzette in die Pubertät gekommen war, lernte sie eine ganz neue Seite an ihrer Großmutter kennen. Die nahm sich kein Blatt vor den Mund und gab ihre Lebensweisheit an die Enkelin ungeschminkt weiter. Einhundert Jahre zuvor wäre sie vermutlich als Suffragette beschimpft worden. Doch auch lange nach der Flower-Power-Ära, den Ausläufern der Hippie-Bewegung, bemühte sie sich, ihrer Nachfahrin etwas von der hilfreichen Chuzpe auf den Weg zu geben und sie für alles zu interessieren, was die penibel auf mädchenhafte Scheu versessene Schule im Wesentlichen elegant umschiffte.

Keineswegs wollte sie aus ihrer Enkelin eine moderne Wohlstands-Verwahrloste werden lassen. So motivierte sie mit sanfter Hand und gestaltete ihre Kleine unbewusst nach ihrem Vorbild. So würde man ihren Führungsstil in modernen Management-Zeitschriften nennen. Gleichzeitig animierte sie Suzette, jeder Kultur mit offenen Augen zu begegnen und nichts einfach als Blödsinn zu bezeichnen, ohne sich damit zuerst auseinanderzusetzen.

Sie rügte jedes Abtun á priori mit dem Hinweis: „Ein bisher unerkanntes Juwel liegt beim Schatz der Nibelungen. Wer nicht danach sucht, wird nicht wirklich reich.“ Zu finden sei ein wahres

Kleinod.

„Pfui Teufel“ schimpfte Suzette und warf das Buch auf den Tisch „wie kann man nur so einen Schwachsinn verzapfen und das noch dazu Kunst nennen?“

Der Grund ihres Missmuts lag aufgeschlagen beim vierten Akt: Shakespeares King Lear spricht zu Gloster: „Sieh dort die ziere Dame, ihr Antlitz weissagt Schnee in ihrem Schoß; sie spreizt sich tugendhaft und dreht sich weg, hört sie die Lust nur nennen und doch sind Iltis nicht und hitzige Stute so ungestüm in ihrer Brunst.“

„Du hast´s gefunden, Du hast den Schlüssel zum Schatz gefunden!“ Lächelnd blickte Clara, ihre Großmutter, auf die Enkelin. „Sieh die Markierung im Text.“ Das Wort ‚ziere‘ war gelb gefärbt.

Die Maturantin, verständnislos: „Was sagst Dir das?“

„Interpretier‘ doch den Text“, forderte die alte Dame sie auf.

„Es scheint der alte Lüstling sich lustig zu machen, über jene, die ihre Jungfernschaft mit allen Mitteln zu verteidigen scheinen, bis alles zu spät ist, sie weiße Haare kriegen. Diese überall, plastisch ausgedrückt. Offenbar ein Schlüssel zum Erfolg, denn welche selbstbewusste Frau möchte schon als vertrocknetes Jüngferlein in die ewigen Jagdgründe eingehen? Der Galan bedient sich aller verbalen Mittel, die Holde zur Minne zu bewegen, mittelalterlich gedacht“, meinte Suzette „dabei reizt ihn sichtlich die abweisende Art, mit der sich seine Angebetete ziert, obwohl beiden klar ist, dass alles nur vorgeschoben ist. Die Gute scheint äußerst willig werden zu wollen, scheut jedoch das Risiko, mit einem unehelichen Balg gesegnet zu werden, denn mit Pille und so war damals ja nix!“

„Na so viel hat sich da bis heute wohl nicht geändert. Wenn eine Frau einen Ehemann sucht, wird eine Strategie nötig sein, denn mit dem Sprung in die Federn bei Lust und Laune kriegt das Mädel zwar oft Spaß, in den seltensten Fällen jedoch einen Bräutigam, der noch ernsthaft an eine Verlobung denkt“ seufzte die alte Dame.

„Und was faselst Du von Schatz und so?“ wollte die Enkelin mit funkelnden Augen wissen. Es gelingt wohl keinem, sich solchen Fantasien zu entziehen, und schließlich darf man bei der Oma ja noch an Märchen Spaß haben oder gar dran glauben wollen - unabhängig vom eigenen Lebensalter.

„Je nachdem, was Du als Kleinod ansiehst“ schmunzelte die Greisin. „Die Eine möchte einen Schatz, der in Geld dargestellt werden kann, die Andere meint ein bestimmtes Ziel im Leben, eine Dritte glaubt ganz profan daran, dass der Mann zuerst seinen Finger in einen Verlobungs- oder Ehering stecken soll, bevor er auf Marderpelzjagd gehen darf. Der Möglichkeiten sind viele.“

„Das klingt wie einen Mahnung, so lange als möglich unversehrt zu bleiben“ rügte die Neugierige.

„Nein, warum?“ grinste die Alte, drehte genüsslich am herrlichen Ring an ihrem Mittelfinger. „Das bedeutet, dass kein echter Gentleman einen Verlobungsring zurückhaben will. Wie sonst kommt ein armes Mädel zu etwas schönem Schmuck?“

„Oma!“ mit großen Augen fixierte die Kleine ihre Ahnin. „Du willst doch nicht sagen, dass ...“

„Suzette, glaubst Du, Eure Generation hat nunmehr den Stein der Weisen entdeckt, indem sie alles an pharmazeutischen Optionen ausreizt?“ rügte die alte Dame, blickte nachdenklich auf den goldgefassten, tiefblauen Saphir am Finger und setzte fort: „Spatzen sind viel leichter zu fangen, wenn sie auf der Hand sitzen. An den Schwan auf dem Teich kommst Du kaum heran. Bei Machos heißt das: Das Täubchen in den Fingern ist weit besser als die Taube auf dem Dach. Vor allem, weil die Dich ja nicht hören kann.“

Jetzt war die Enkelin sprachlos. „Oma! Heißt das, dass Du …?“

„Ehre das Alter“, forderte diese: „Glaub‘ mir Eines. Auch früher stellte sich in den bitterkalten Winternächten ein wechselwarmes Unterbett mit Zehen dran bedeutend wohliger und kuscheliger heraus als eine Wärmeflasche, die langsam doch stetig erkaltet.“

„Du verdirbst mich noch“ lachte Suzette und fragte „nach welchem Schatz soll ich suchen, wie sehr soll ich mich denn zieren, um als Schmuck meiner Finger Abschuss-Ringe zu präsentieren wie ein Gunman des Wilden Westens eben Kerben in den Kolben schneidet?“

„Hübsche Finger zieren nur zwei Ringe. Die am Ringfinger. Man nennt sie Verlobungs- und Ehering. Daher lohnt es nicht, beringt wie eine Taube auf die Jagd zu gehen. Besser ist, den Platz frei zu halten für die einzige Handschelle, die ein Mädchen von seinem Galan akzeptieren darf, wenn es eigenständig bleiben will. Was er sonst noch an sie hängt, bis er seinen Reif verpasst kriegt, hängt von der Klugheit seiner Verlobten ab. Auch sollte sie diesen Zierat nur spärlich tragen, dass immer eine Lücke verbleibe, die zu füllen es gelten mag, am Ohr, am Hals oder wo immer es Freude machen und verschönern kann.“

„Kluge Idee“ - nachdenklich rieb Suzette an ihrer Nase. „Das Ganze ist doch nichts anderes als eine einfache Instrumentalisierung der alten Weisheit, die Männer so gerne zitieren: Verliebe Dich häufig, verlobe dich selten, heirate nie!“

„Nicht unbedingt das Letztere, verheiraten solltest Du Dich hingegen nur ein, zweimal, je nach Erfolg der Ehe“ erwiderte die Greisin. „Es sollte Dir jedoch immer klar sein, dass ein Mann, der seinen Finger in den Ring stecken will, dies freiwillig nur dann macht, wenn er glaubt, dass dieser Anblick ihm auf Dauer nicht langweilig werde.“

„Jetzt sind wir wohl beim zweiten Teil des Zitats angelangt“ schloss die Enkelin aus der Miene ihrer Oma.

„Nun, nicht ohne Grund heißt es, dass die unterkühlt wirkenden Damen zwischen den Laken heiß wie Lava glühen sollen. Obwohl sie so abweisend agieren. Oder gerade deshalb, weil sie wissen, was passiert, wenn sie einmal in Fahrt geraten. Das Wegdrehen entspricht der Einladung der Stute, die vom Hengst in den Nacken gebissen werden will. Wer die Kulturen vergleicht, wird feststellen, dass die Missionare sehr klug handelten. Wer seinem Opfer in die Augen schaut, wird weniger stark seine Gefühle ausleben, als jemand, der gerade den ‚mort doux‘ spendet. So versuchen die Botschafter der scheinheiligen Kirche die eigene Prüderie weiter zu geben, statt an Stelle des Segens vom Papst verbotene Kondome zu verteilen.“

„Alles so nachvollziehbar“ grübelte Suzette „doch warum handeln heute alle anders, endet jede Party im Bett?“

„Weil die Menschen oft zwei Dinge verwechseln. Die sogenannte Spaßgesellschaft hat nicht wirklich Spaß. Wenn Du jemals aufwachst, mit dem Gefühl, ein Iltis habe sich in Deinem Mund eingenistet und neben Dir liegt jemand, den Du mit Erschrecken ansiehst, weißt Du, woran die Lust krankt. Es gibt keine Katharsis mehr, die Frist zwischen Erwartung und Erfüllung des Begehrens. Wer sein Kleinod als Mädchen nicht schätzt, wird keine Freude dran finden, es zu bürsten und zum Glänzen zu bringen. Dass es – selten ausgeführt – Begeisterung hervorrufe und den schönsten Schmuck darstelle, den eine junge Dame besitzt.“

„Verstehe, deswegen haben früher die Fräuleins am Hof klug geheiratet, um damit danach frei zu werden.“ Sie hatte es gerafft. „Man sagte in manchen Zeitperioden, es sei unzüchtig, mit seinem eigenen Gatten zu schlafen. Das heutige Eherecht hat nichts daran geändert. Ein eheliches Kind stammt zu hohem Prozentsatz aus der Ehe, doch das ist nur in zeitlicher Hinsicht zu verstehen.“ Die kleinen Weisheiten aus den Broschüren der Frauenbewegung hatten sich im Hirn der jungen Frau fest eingenistet. „Die Brut muss versorgt sein, daran hat sich nichts geändert. Wer zuletzt den Samen spendet, ist meist egal, wenn die Dame des Hauses geschickt wählt. Wer verheiratet ist, der darf tun und lassen, was er will. Sein Ehering ist der Schatz, des Kleinod mit der ‚Heraus aus dem Arrest-Karte‘, dem Schlüssel zur Befreiung. So hat sich eigentlich nichts wirklich geändert. Nur heute überlassen es die selbstbewussten Frauen leichtsinnigerweise oft, rechtzeitig für den zukünftigen Ernährer ihres Wurfes zu sorgen.“

„Die Menschen ändern sich nie, der Kampf der Geschlechter war nie fair für die Männer“ grinste die alte Dame. „Doch sollte Dir daran liegen, den Gatten im eigenen Bett zu behalten, dann halte Dich an King Lears letzten Satz. Fußbodenfliesen und Ehemänner sind einfach zu pflegen. Sie müssen nur vorher einmal richtig flachgelegt werden. Tausche Kleinod gegen Juwel, so behältst Du immer Deinen Schatz, nur die Pretiose ändert sich.“

Später, im Bett, überdachte Suzette, was sie gelernt hatte. Nicht nur, dass der alte Brite in seinen Stücken forsch heraus Klartext sprach, sondern, dass es sich lohne, hinter die Kulissen solcher öden Stücke zu blicken. Schließlich waren Narren früher die willkommenen Berater von umsichtigen Königen und Volks-Theaterstücke die Anleitungen zu Moral und Rechtsempfinden.

Die heutigen Hofräte sind deshalb kaum mit den alten Hofnarren vergleichbar, denn diese wussten dem Herrscher zu helfen, während jenen beim Abzocken auf eigene Rechnung geholfen wird. Jedenfalls beschloss das Mädel, seine Erkenntnisse nutzbringend einzusetzen und dankte im Stillen der Weisheit des Alters.

Suzettes Mutter war früh gestorben und sie erinnerte sich noch eher vage an diese, war sie doch bei der Oma aufgewachsen. Vor ihrem Maturaball allerdings hatte die Vergangenheit wieder Macht über das Mädchen erlangt. Manche Begegnungen bleiben über Generationen hin unvergesslich.

Tanzmäuse

„Oma, ich hab´s getan, ich habe ihn angerufen.“ Der quirlige Teenager wuselte um die Dame mit dem weißen Haar aufgeregt herum.

„Du hoffnungslose Romantikerin, erzähl!“ forderte diese das Mädchen auf und liebkoste ihre Enkelin mit neugierigen Blicken.

„Mit ‚Martin‘ meldete er sich, seine Stimme klang nett, jung, dabei muss er schon weit über dreißig sein. ‚Ich bin die Tochter von Charlotte‘.

Lange Stille herrschte, dann kam ‚das gibt es nicht‘. Sein Staunen konnte man direkt greifen, schließlich waren über zehn Jahre vergangen.

‚Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Sie haben meine Mama wieder zum Lachen gebracht‘. Ich konnte nicht anders, ich musste ihm das erzählen“ gestand das Mädchen.

„‚Wie geht es ihr‘ kam die Frage.

‚Sie können es nicht wissen, Charlotte ist kurz nach dem Ball gestorben, sie war todkrank. Ihre letzten Worte waren ‚Ich war seine Capa‘. Ich dachte, Sie sollten das wissen. Meine Mama ist glücklich eingeschlafen‘. Dann legte ich auf. Was denkst Du, Oma?“

„Es muss ein wunderbares Gefühl sein, des letzten schönen Gedankens einer Sterbenden würdig gewesen zu sein.“ Sie umarmte den Teenager. „Ich werde es niemals vergessen. Charlotte wollte unbedingt noch einmal auf den Wiener Zuckerbäckerball vor ihrem Tod. Deine resolute Tante hat nicht lange gefackelt und den PC aufgedreht. Du hast mit Barbie und Ken Hofball gespielt und bist wie immer ausgelassen herumgehopst.

‚Tanzmaus, etwas weniger wild‘ wehrte Deine Mama Dich ab.

Da fiel bei mir der Groschen und der Titel des Inserats stand vor meinen Augen.

‚Verrückt‘ urteilten unisono beide Mädels.

‚Und was Ihr wollt, soll normal sein‘ erwiderte ich.“

„So hat alles begonnen, die ganze Story, die Du mir tausende Male erzählt hast“ frohlockte die Kleine. „Ich konnte nicht auf meinen Maturaball gehen, ohne ihn anzurufen, es ging nicht anders.“

„Charlotte ist glücklich gestorben, das war alles das wert“, seufzten beide mit feuchten Augen, Oma und Enkelin.

Martin

Er war erschüttert. So viele Jahre war es her und er hatte sie nie vergessen können. Von ihr zu träumen fühlte sich an, als wäre alles gestern passiert. Er ging in die Küche, nahm sich ein Glas Burgunder, setzte sich auf die Terrasse und überließ sich seinen Erinnerungen.

Es war ihm fade, dem jugendlichen User der Website love.at, so stöberte er in der Lustrecherche, die, oft als Beziehungssuche getarnt, das jeweils andere Geschlecht neugierig machen sollte.

Die Fundgrube witziger bis nervtötender Inserate gefrusteter Prinzessinnen und Vorzeigekerle war schnell gefiltert. Die „Fisch-sucht-Fahrrad“-Kategorie, die Suche nach „echten Männern auf Augenhöhe“ lässt zweifelsarmen Aufschluss über die jeweilige Persönlichkeitsstruktur der Pfadfinderinnen zu.

„Mit Jeans und Abendkleid zum Pferdestehlen“ warnt eindringlich davor, die Inserentin mit echter Natur oder gar Tieren zu konfrontieren, außer es geschieht in Form eines massiv-goldenen Leoparden-Anhängers an einer Sklavenkette gleichen Karat-Gewichts von Bulgari.

Gestohlen wird dann der vermeintliche Hengst aus Mamis Stall, damit er sich als williges Reittier für die Principessa bereiten lasse, vor allem durch Einkaufsstraßen der Mode-Metropolen.

Das bedeutet: „Perlen vor die Säue“ zu werfen, denn „Männer sind Schweine“, tönt es aus dem Emanzen-Lager, dessen Insassen selbstverständlich nie solche Sites - öfter als täglich - nutzen würden.

Heureka!

Da war sie, die ‚schwarze Perle‘, das Kleinod in den Tiefen der ‚Wünsche-See‘.

„Zwei Tanzmäuse suchen Eintänzer“, titelte das Inserat, klang seriös, frech, trotzdem zweideutig genug, um Fliegen anzulocken, denen die Beine auszureißen möglich wäre.

Marin las heraus, zwei reife Ballratten um die Dreißig wollten zum Tanz geführt werden, im Duo, zum Schutz vor dem bösen Wolf mit gegenseitiger Gouvernance. Seine Replik war dem schnoddrigen Ton angeglichen: „Liebend gerne, ob am Lande oder in der Hofburg, es reizen mich Flair und Bewegung im Takt zu passender Musikbegleitung. Bei Charme und ähnlicher Größe, wichtig bei Boogie und Figurentänzen, übers Parkett zu toben, den Sohlenabdruck bei Hofe zu hinterlassen mit – noch – bekannten Schritten, finde ich eine hervorragende Idee. Habt Dank für Euren Einfall, ich gehe jedenfalls dorthin, auf eine oder mehrere Ballveranstaltungen, das hat mir gefehlt. Eintänzer sind heute zwar schon ausgestorben, nur mehr aus Nostalgiefilmen bekannt, deshalb schufte ich allein um Gottes Lohn, honoriert durch die Grazie meiner Tanzpartnerin und die sportlichen Aspekte von Aerobic in Frack oder Smoking.“

Der Vorteil beim Internet-Dating liegt in schneller Antwort und Anonymität der Körbe. Doch siehe da, ein kurzfristiges Treffen in einem Café nahe Mariahilf brachte sie zusammen. Beide, brünett, etwa 1,65 cm auf Stöckeln, Ulrike, schlank, Typ Geschäftsfrau und Charlotte, femininer, ähnlich unscheinbar gekleidet, ruhiger wirkend, erwarteten Martin, blond, etwa 1,70 cm in Schuhen, sportlich leger in Sakko und Jeans gekleidet.

Die Damen schienen um je etwa dreißig Jahre, sein jugendlicher Charme wirkte. Keine störten seine nur etwa 25 Jahre. Die beiderseitigen generellen Beuteschemata schienen zu passen. Man kam sich im Gespräch näher und frei heraus schilderte er seine Vorstellungen und Gründe für das Interesse.

„Ich ging schon als Student gerne auf Bälle. Die Stimmung im Abendanzug ist toll. Die gezierten Typen, welche auch noch nach Mitternacht steif – meist durch Alkohol – ihre Würde zu bewahren suchen, überlassen bereitwilligst ihre tanzhungrigen Gattinnen jedem Galan. Ein Eldorado für Tänzer wie mich, der Spaß an Musik, Ausdauer im Nahkampf in der Öffentlichkeit mitbringt und den darbenden Ehe-Gesponsinnen nebst deren Töchtern Anreize bietet, sich lustvoll auszutoben.“

Dabei verschweigend die wahren Gedanken.

„Öffentliche Akte auf dem Parkett bei Tango oder Mambo, wahrhaft eine Kopulation im Kostüm, mit lateinamerikanischen Rhythmen untermalte Trocken-Orgasmen sexuell gereizter Damen, öffnen Herz und anderes, ohne Gefahr ehelicher Eifersucht. Der Gemahl als Herr der Schöpfung beglückwünscht sich sogar, wenn die ‚Beste aller Ehefrauen‘ (danke Ephraim, für diese Phrase) im Kreis geschwenkt, die Beherrschung der Fliehkraft Pflicht des Tänzers wird und dem Angetrauten die schweißtreibende Gymnastik erspart bleibt. Auch darf die Chance nicht unerwähnt bleiben, dass die Folgen stürmischer Bewegungsfreude die vielleicht eigene verborgene Liaison großteils exkulpieren helfen, sollte der heiße Nahkampf im Ballsaal in weiteren Arenen fortgesetzt werden, weswegen ja früher gewisse Tänze verboten waren. Zwei leckere Ballratten zum Musik-Futtertrog zu führen macht immensen Spaß, da keinerlei Zwang besteht, den Weg auch zu Ende zu gehen, wenn´s nicht mit der Nachbarin klappt.“

Prelude

„Wir wollen zum Zuckerbäcker-Ball in den Musikvereins-Saal“ legte Ulrike forsch die Marschrichtung fest, wartete sichtlich auf die Frage nach dem Grund.

„Ich liebe diese Örtlichkeit mit der phantastischen Akustik, die jedes Jahr beim Neujahrskonzerts zum Erlebnis wird“ freute sich Martin. „Was hat Ihre Suche eigentlich sonst noch für Ergebnisse gebracht?“

„Oh Gott“, rutschte es Charlotte heraus. Ihrer Miene konnte man leicht entnehmen, dass eine Mehrzahl ‚einfühlsamer Cowboys‘ bis zum herrischen ‚Penetrator‘ den Mailserver gefüllt haben dürfte.

„Es war sozusagen stark durchwachsen“ fasste Ulrike zusammen und wechselte schnell das Thema, um den Interpretationsspielraum des Inserate-Titels nicht genauer erläutern zu müssen.

„Wichtig sehe ich eine Probe vorab an, um das gegenseitige Verständnis für Bewegung und Takt zur Musik zu testen. Die Hofburg mit ihren zahlreichen Sälen und Bands bei Bällen, jetzt gerade Samstag beim Ball der Wiener Wirtschaft, bietet sich optimal an. Ich besorge den Tisch, jeder für sich seine Eintrittskarte. Beim Tanz zu harmonieren ist essentiell, es wäre schade, dabei Probleme erst bei Ihrem Wunschball zu erkennen. Temperamente, die sich beim Tanzen nicht vertragen oder zwei gleichzeitig Führungswillige im Paar zerstören jede Chance auf Spaß“, regte Martin an.

Es ward beschlossen und nach längerem Plaudern über Gott und die Welt, allzu Privates dabei ausklammernd, trennte sich das Trio. Die Hektik war zu spüren. Zwei Bälle besuchen zu müssen, stellt für Frauen eine Herausforderung dar, die sie in Furcht und Unruhe versetzt, vor allem in Fragen zu Kleidung und Frisur. Konferenzen zwischen Freundinnen und über Generationsklüfte hinweg sind nötig, um das Problem in allen Aspekten auszudiskutieren, bis zuletzt aus Kostengründen dasselbe Kleid zu tragen statt eines auszuborgen und Nachbarschaftshilfe gegen einen Coiffeur-Besuch gegeneinander abgewogen werden.

Der gewiefte Herr regelt mit der chemischen Reinigung Abgabe- und Abholtermine, checkt kurz die Frage, ob die Frisur noch kurz genug, oder der Abstecher zu Edward mit den Scherenhänden angebracht sei. Dies je nach Einstufung seiner Partnerin auf der Perfekt-10-Skala. Machismo krönt jeden begnadeten Tänzer. Ohne ausgelebte Dominanz ist das Führen der Partnerin nicht wirklich per ‚Method Acting‘ sichtbar, dem wichtigsten Aspekt der Rolle des Tarzan bei Tango und Mambo.

So sehr emanzipierte Ladys diese Eigenschaften an und für sich verabscheuen, so sehr sehnen sie sich, in den Armen eines Tanzpartners quasi als Schauobjekt dem Publikum dargeboten zu werden. Exhibitionistisch, mental nackt der Menge vorgeführt, wobei die erotische Grazie der Evita in ihren Bewegungen liegt. Einer Eva Duarte in Juan Peróns Clinch beim Tango gleich.

Wer seine Diva fließend in Pirouetten gleiten lässt, Front und Heck seiner Margot Fonteyn wie Rudolf Nurejew oder wie Fred Astaire seine Leslie Caron den gierigen Blicken auszuliefern vermag, dass brünstige Adams sich auf ihren Rippen-Clone stürzen möchten, kann Herz und mehr seiner Dame erobern, seinen Lohn abholen, denn die Festung wird damit sturmreif geschossen. Die Gunst der Stunde scheint ohne Grenzen.

Im selben Moment, in dem sich ein Paar so tief versteht, dass der Harmonie seiner Bewegungen öffentlich applaudiert wird, setzt alle Vernunft aus. Die Dame wirkt wie eine Katze nach dem Griff in den Sahnetopf, das spüren alle. Wer Eisläufer oder Tänzer im Fernsehen beobachtet, kennt diese intensive Ausstrahlung gelebter Intimität zwischen den beiden.

‚Er ist reif‘, sagt ihre Miene.

Training ist alles und nur mehr eine Frage von Zeit und Gelegenheit, zu klären, ob Mister Macho seine Stärke am Parkett auch in anderen Lebenslagen beweisen kann. Frauen lieben die Go-Go-Stange als Body-Shaping-Trainingsgerät. Solange sie, fest verankert, keine Gefahr eines Absturzes birgt.

Diese Sportart härtet wesentliche Muskelgruppen, formt den Körper in harmonischem Einklang von Seele und Begleitmusik. So gefährdet sich die Spezies Tanzmaus selbst und gilt die Unschuldsvermutung für den Tanzherren, der als Opfer weiblicher Instinkte und Leidenschaft eigentlich zu bedauern ist, sollte er seine Pflichtleistungen am Parkett nicht auch bei der alles entscheidenden Kür erbringen, wenn die Ballratte heiß auf Pirouette und Tangowiege getanzt ist. Da wird jede Eva zur Gottesanbeterin, das ist genetisch vorprogrammiert.

Aufgalopp

In der Hofburg, dem Heim der prächtigen Lipizzaner, rüstete die Wirtschaft zum Ball. In einem Nebensaal fand sich der bestellte Tisch und Martin erwartete dort, ganz Kavalier, sein Damen-Duo. Sie würden rechtzeitig vor der Polonaise erscheinen, war er sich sicher. Frauen sind dann pünktlich, wenn externe Zwänge sie selbst berühren, oder exhibitionistische Motive sie leiten, vor Hintergrund zu glänzen.

„Wie der heilige Martin seinen Mantel, so teile ich gerecht meine Tänze zwischen Euch beiden“, schlug der befrackte Eintänzer vor, während er aus den Augenwinkeln die Roben der Ladies auf deren Tanztauglichkeit prüfte. Ulrike trug ein tief ausgeschnittenes Abendkleid mit Korsage-Oberteil, passend zu ihrem Auftreten als selbstbewusste Managerin. Charlotte hingegen reizte hochgeschlossen die Fantasie des Betrachters mit sanften Linien, die ihre Kurven mehr enthüllten als verbargen. Somit behielten beide ihr ursprüngliches Erscheinungsbild bei. Unverkennbar dominierte Ulrike das Geschehen.

„Links und rechts die Rosenstöcke, ich fühle mich als Sieger“ scherzte er. „Sehen wir uns die Eröffnung an? Das Staatsballett tanzt heute.“

Interessanterweise hielten sich beide Ladies auch anschließend mit Kommentaren zurück, eine bewundernswerte Leistung ob der Darbietung der jungen Debütanten, die sich teilweise sehr mit dem Linkswalzer quälten, vor allem die Jungs.

„Der Körperschluss fehlt“ dachte Martin „die innere Hemmschwelle bei zentraler Feindberührung lässt das Becken unselbstverständlich steif werden, ein Hohlkreuz folgt und die nötige Folgebewegung zum Schritt des Führenden lässt sich dann mehr erahnen als wirklich fühlen. Nur geübten Tänzern oder Liebespaaren fehlt diese Scheu im Walzerclinch. Das fällt sofort auf, ungeachtet aller Tanzkunst des Einzelnen. Der Oberschenkel kündigt dem Becken des Partners den nächsten Schritt an. Diese intime Kommunikation muss erst erduldet werden können, bevor es mit der Harmonie klappt. Deshalb bewegen sich erfahrene Frauen viel anschmiegsamer, reagieren auf jeden Wink des Führenden. Reife Instrumente klingen am schönsten, die Stradivari dient als bestes Beispiel“, war ihr Tänzer einst von seiner eigenen Lehrmeisterin unterwiesen worden.

Beim Auftakt zum Publikumstanz schnappte Ulrike sich ihren Kavalier und zog ihn auf die Tanzfläche.

„Drei Tänze und dann Wechsel“ schlug Martin vor „sowohl der Dame als auch - nach Geschmack - des Tanzsaals, damit der Musikrichtung. Nur Discogymnastik im Frack liegt mir nicht.“

Mit Foxtrott ging es los im Hauptsaal, gefolgt von Walzer und Polka. Wie erwartet wollte Ulrike führen und gab sich voll kontrolliert, versteifte sich leicht bei jedem Versuch ihres Tanzherren, einen etwas unkonventionelleren Tanzschritt einzufügen. Eine Unterhaltung kam nur mühsam in Gang, zu konzentriert mühte sich die Lady um Stil und Tritt. Trotzdem zeigte sich das Showgirl-Gen in ihr und die Tanzhaltung wäre jeder britischen Tea-Party angemessen gewesen, schmunzelte er in sich hinein.

„Wirst Du das bis zum Schluss durchhalten?“ neckte sie ihn.

„Wenn ihr beide nicht zuvor aufgebt, tanze ich Euch in Grund und Boden, bevor der Morgen graut“ versprach er, wieder ohne wirklichen Erfolg, die Spannung zu mindern. So entblößte er schnell den Kern der Situation. „Ein Tanzschulabend, verlängert“ urteilte Martin in seinen Gedanken. Ähnlich zu denken unterstellte er auch Ulrike, da Worte zwischen ihnen weiterhin nur stockend flossen. „Das wird noch ziemlich spannend“ warnte sein Unterbewusstsein.

„Und es begab sich“, wie die Bibel so berichtet. Charlotte lächelte freundlich, als er sie auf die Tanzfläche führte.

„Du hast Dir da Einiges vorgenommen. Woher nimmst Du diese Ausdauer?“ stöhnte sie nach Landler, Galopp und Quick-Step.

„Ich liebe es, zu tanzen. Das ist ausgedrückte Emotion. Erinnere Dich an Alexis Sorbas, an Anthony Quinn im Film, wie er seine Gefühle in den Sand stampft. Ich denke ähnlich, bewege mich, wie es mir passend erscheint, unabhängig von Stil und Schule. Freie Interpretation, private Choreographie. Bis jetzt hast Du bei allem einfach mitgehalten, ohne zu zögern. Warum?“

Martin war begeistert. War Ulrike eine schwer zu betanzende Dame, bewegte Charlotte sich locker und natürlich, folgte anmutig den Bewegungen, die ihr Tanzherr durch seine Schrittfolgen vorgab.

Puppet-on-a-String

„Ich kann gar nicht tanzen“ gestand sie „daher lasse ich mich einfach führen, vertraue auf meinen Herrn und hoffe das Beste.“

„Fantastisch“ freute sich ihr Eintänzer auf dem Weg zurück zum Tisch, zum Rest des Trios.

„Niemand fordert mich auf. Ich sitz‘ hier wie bestellt und nicht abgeholt“ fuhr sie die beiden an, Ulrike in Zickenlaune pur.

Innerlich seufzte Martin. Kaum eine Stunde hatte es gedauert. ‚Short fused‘ schien die Emanze. So nennen die Amerikaner treffend eine solche ‚kurze Zündschnur‘. Sprengmeistersprache bei Dynamit-Arbeiten, so vergleichbar in Situation und Gefahrenpotential.

Eine ‚Ménage-à-trois‘ ist in Wahrheit immer eine ‚Manege für drei‘, ein Schlachtfeld für kalten und heißen Krieg zwischen Zicken und Geschlechtern.

„Gut“ dachte er und geleitete die erregte Dame am Arm in den anderen Saal mit Latino-Musik in der Hoffnung, ihr die Puste aus dem Leib zu jagen, um mit schnellen Rhythmen wie Salsa, Bossa Nova, Boogie-Woogie die Gute außer Atem und damit still zu kriegen. Es klappte vorzüglich, die mangelnde Kondition nagte an ihrem Selbstbewusstsein. Den Weg zurück schlenderte sie vorsichtig, da grinste er sich eins. Wenn selbst auch schon durchgängig verschwitzt, mit schiefem Kummerbund, die Gute daneben sah leicht ramponiert aus.

„Rache ist süß – mit Salz fängt man Rehe“ lächelte er im Stillen. „Die wird jetzt bald Auszeit nehmen.“

Zwei Stunden später waren beide geschafft. Zwar saß die jeweils Unbetanzte am Katzentisch, doch hatte es jetzt Ulrike die Sprache verschlagen. „So durch die Mangel gedreht hat mich noch niemand“ gestand sie. „Ich brauche eine Pause.“

„Ich tanze gerne in dieser Zeit weiter“ lachte Charlotte.

Aus der Grimasse ihrer Freundin konnte man den schweren Fehler ablesen. „Geh nur, ich muss mich frisch machen da wird ‘ne Schlange warten, sicher 7 bis 8 Tänze lang“ verabschiedete sie sich. Martin konnte den Schwefelgeruch hinter ihr fast riechen. Das Mädel hätte den Vulkan Krakatau bei seinem Ausbruch 1883 locker übertrumpft.

Lakonisch wählte er den Weg in den Saal, in dem eine Oldies-Band aufspielte. Nach Slow-Fox und English-Waltz versuchten beide ihren ersten Tango, der recht brauchbar gelang.

Erschöpft schmiegte sich Charlotte beim folgenden „L´amour-Hatscher“ an ihren Partner und stöhnte „ich bin fertig.“

„Du wirst doch durchhalten. Jetzt geht es in den Aufgalopp“ grinste er und nahm sie beim Rock ’n’ Roll her, dass ihr Kleid nur so flog. Jitterbug, Twist und - „für Dich allein“ - Charleston raubten ihr die letzten Reserven. Doch ein glückliches Mädchen fand den Weg zum Tisch zurück, wo die Megäre schon lauerte.

„Welchen Saal darf ich anbieten“ nahm Martin ihr sofort den Wind aus den Segeln. „Du hast jetzt die Chance, mich zu erledigen. Charlotte hat mich fertig gemacht. Ich laufe auf dem letzten Zylinder.“

„Zum Zuckerbäckerball werde ich einen eigenen Begleiter mitnehmen. Du kannst dann mit ihr allein herumtoben“ wies Ulrike ihren Eintänzer in die vermeintlichen Schranken. Entsprechend mechanisch und tanzschulartig verliefen die Tänze. Es war bald 3 Uhr früh und Charlotte drängte zum Ende. Sie fühle sich total ausgepowert und komplett erledigt.

Capa

Bestens schien die Stimmung beim Zuckerbäcker-Ball. Meist Smoking statt Frack und nur zwei Säle, beide rammelvoll, zeigten den Unterschied in Flair und Gästen. Ulrikes Galan schien nett, doch schnell entpuppte er sich als Opfer ihrer Pläne zu seinem Platz unter ihrem Pantoffel. „Als Weg des geringsten Widerstands unter den Rock“ schmunzelte Martin. „Das hat keine Zukunft. Der tanzt nur auf Zuruf und bis die Jungfrau erlegt ist, dann reizt ihn die Bar“ wettete er mit sich, da der etwas rundliche Herr sich im Ausschnitt seiner Nachbarin zu verlieren schien. „Bestes Emanzen-Ross zum Bereiten“ folgerte er politisch unkorrekt, „mit Karotten-Dressur im Gange.“

Nach der Eröffnung absolvierten beide Herren ihre Pflichttänze mit der jeweiligen Partnerin des Anderen. Danach zog Martin mit Charlotte in den kleineren Saal, wo weit weniger Leute die eher modernere und lateinamerikanische Musik genießen konnten.

Schnell gewöhnten beide sich wieder aneinander. Etwa um Mitternacht fühlten sie wieder die Harmonie wie am Ende des letzten Balls. Sie folgte seinen Schritten, er führte mit Verve und beide schafften sich Platz. Wenige der anderen Paare wagten sich in ihren eroberten Bereich vor, nahe der Band.

Da passierte es. Plötzlich fühlte Martin kühle Luft auf der Fußsohle und kippte fast um. Die Ledersohle am Schuh war abgelöst. „Ich bin in dreißig Minuten wieder hier“ versprach er und eilte zum Ausgang. Das Taxi ließ er vor dem Wohnblock warten, wechselte die Schuhe und war wieder zur Stelle. Man darf eine warm getanzte Partnerin nicht mehr aus den Tatzen lassen, wusste er.

Auch Charlotte war glücklich. Sie hatte in der Mitternachts-Tombola der Konditor-Innung eine Torte gewonnen, ein Prachtstück der Zuckerbäckerkunst.

„Glück im Spiel, Pech in der Liebe“ hänselte er sie und reihte sich in die Schlange vor dem Sektstand, um zur Halbzeit des Balls die anbrechende Geisterstunde zu begrüßen.

„Wieso, ich liebe das Tanzen“ gab sie keck zurück.

Die nächste Stunde hatte sie dazu beste Gelegenheit. Er tanzte seine Tanzmaus heiß. Zumindest war er sich sicher, dass nun auch ihre Sohlen glühten, kein trockener Fleck an ihrem Körper mehr existierte.

„Ich brauch‘ ‘ne Pause“ stöhnte sie.

„Nein, jetzt der Cha-Cha-Cha für die flotte Lotte“ führte Martin sein Opfer aufs Sternparkett. Im folgenden Rumba hob sich ihre Brust wie ein Blasbalg. Merengue kühlte sie etwas ab, ein Blues erlaubte Erholung für das Mädel.

„Jetzt geht‘s los“ befahl er sich, nutzte Czárdás, Salsa und Mambo, bevor er mit dem Tango Charlotte als Prima Ballerina aufbaute. Herrlich, wie sie den Körperschluss hielt, schwer atmend bei allen Figuren des argentinischen Volkstanzes, den kein Europäer jemals so auszuleben verstehen wird wie jede einzelne Señora aus der Nation der Evita.