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Mit Lu Xun begann die moderne chinesische Literatur, und bis heute ist er ihre prägende Leitfigur geblieben. Gleichzeitig ist er ein Intellektueller unserer eigenen Moderne, den Europa seit Jahrzehnten immer wieder neu entdeckt: ein Erzähler und Denker von stupender Aktualität, in dessen Werk Melancholie und Militanz, Ironie und Trauer verschmelzen. Dieser Sammelband bietet eine Auswahl der bedeutendsten Erzählungen aus Lu Xuns Werk. Sie sind der sechsbändigen, 1994 im Unionsverlag erschienen Werkausgabe entnommen, die im deutschen Sprachraum als Referenz gilt.
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Seitenzahl: 362
Veröffentlichungsjahr: 2020
Mit Lu Xun begann die moderne chinesische Literatur, und bis heute ist er ihre prägende Leitfigur geblieben. Gleichzeitig ist er ein Intellektueller unserer eigenen Moderne, den Europa immer wieder neu entdeckt: ein Erzähler und Denker von stupender Aktualität, in dessen Werk Melancholie und Militanz, Ironie und Trauer verschmelzen.
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Lu Xun (1881–1936) gilt als einer der bedeutendsten modernen chinesischen Autoren. Er war Redakteur und eine einflussreiche Persönlichkeit in der Bewegung des 4. Mai, die ab 1919 die geistige, politische und soziale Erneuerung Chinas und die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten anstrebte.
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Lu Xun
Tagebuch eines Verrückten
und andere Erzählungen
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Erzählungen sind entnommen der deutschsprachigen sechsbändigen Werkausgabe von Lu Xun, herausgegeben von Wolfgang Kubin, erschienen 1994 im Unionsverlag, Zürich.
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Keith Corrigan (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-30989-0
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
TAGEBUCH EINES VERRÜCKTEN
Das Tagebuch eines VerrücktenI – Ein schöner Mond heute AbendII – Heute gibt es überhaupt kein Mondlicht, ich weiß …III – Ich kann nachts nicht schlafen. Alles muss erwogen …IV – In der Frühe saß ich einen Moment still …V – In den letzten Tagen habe ich meine Gedanken …VI – Pechschwarze Finsternis, ich weiß nicht, ob es Tag …VII – Ich kenne ihre Vorgehensweise: Sie sind weder bereit …VIII – Ja, die Wahrheit sollte inzwischen auch von ihnen …IX – Ein jeder möchte Menschen fressen und lebt dabei …X – In aller Frühe suchte ich meinen Bruder auf …XI – Die Sonne kommt nicht heraus, die Tür öffnet …XII – Ich darf nicht mehr daran denkenXIII – Vielleicht gibt es Kinder, die noch keine Menschen …Kong YijiEine BagatelleHeimatDie wahre Geschichte des Herrn JedermannI – Schon lange wollte ich die wahre Geschichte des …II Von überlegenen SiegenIII Von weiteren überlegenen SiegenIV Tragödie einer LiebeV Probleme des LebensunterhaltsVI Aufstieg und FallVII RevolutionVIII Revolution verbotenIX Das große Happy EndEin heller GlanzDie Ewige LampeEin Gelehrter namens GaoDer EinsameI – Wenn ich jetzt zurückdenke, so erscheint mir meine …II – Zum dritten Mal begegneten wir einander in einer …III – Obwohl sein Leben so düster und trostlos war …IV – Die Situation der Lehrer in Shanyang war sehr …V – Von Shanyang ging ich nach Licheng, dann nach …Unwiederbringlich – Die Aufzeichnungen des JuanshengMama Chang und das »Buch der Berge und Meere«Die Krankheit meines VatersDie Reise über den PassWider den AngriffskriegI – Gongsun Gao, ein Schüler von Zixia, hatte bereits …II – Als Mozi die Grenze von Song erreicht hatte …III – Ying, die Hauptstadt von Chu, hatte wenig Ähnlichkeit …IV – Der König von Chu hatte schon längst von …V – Nachdem Mozi so den Angriff auf Song verhindert …Es sind so viele DornenbüscheAnmerkungenQuellenErstveröffentlichungenÜbersetzungenMehr über dieses Buch
Über Lu Xun
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Die Herren X, zwei Brüder, deren Namen ich jetzt unerwähnt lasse, sind mir in früheren Tagen auf der Mittelschule gute Freunde gewesen. Doch mit den Jahren der Trennung waren die Nachrichten immer spärlicher geworden. Vor einigen Tagen hörte ich zufällig von der schweren Erkrankung des einen. Es traf sich nun, dass ich mich auf dem Weg in die Heimat befand, und so machte ich einen Umweg, um sie aufzusuchen. Ich fand jedoch nur einen von beiden vor, der mir erklärte, dass der jüngere Bruder der Kranke sei. »Sie sind«, sagte er, »von weit her gekommen, um uns mit Ihrem Besuch zu beehren. Doch mein Bruder ist nun schon seit Langem wieder genesen und hat sich nach X zur Übernahme eines Amtes begeben.« Daraufhin holte er unter großem Gelächter zwei Bände eines Tagebuches hervor, die er mir in die Hand drückte. Man könne darin Aufschluss über den damaligen Krankheitszustand gewinnen. Mir als einem alten Freunde vertraue er sie ohne Weiteres an. So nahm ich sie mit auf den Weg, und nach der Lektüre war mir klar, dass der betreffende Bruder an einer Art Verfolgungswahn gelitten haben musste.
Sprachlich waren die Tagebücher verworren und zusammenhanglos, vieles wirkte ganz einfach absurd. Auch hatte es ihr Verfasser versäumt, Daten anzugeben, sodass man nur aufgrund der Uneinheitlichkeit von Tusche und Zeichen auf unterschiedliche Zeiten der Abfassung schließen konnte. Es gab jedoch auch zusammenhängende Teile, die ich nun in einer Auswahl der medizinischen Fachwelt zum Studium vorlege. Fehler in den Aufzeichnungen habe ich grundsätzlich nicht verbessert. Lediglich die Personennamen habe ich geändert, obwohl es sich bei den Betreffenden um Leute vom Lande handelt, welche in der Öffentlichkeit unbekannt und ohne jeden Belang sind. Den Titel hat der Verfasser nach seiner Genesung gewählt, ich habe nichts daran geändert.
Ein schöner Mond heute Abend.
Mehr als dreißig Jahre habe ich ihn nicht gesehen. Sein Anblick heute ist ein seltenes Vergnügen. Nun erst weiß ich: Die letzten mehr als dreißig Jahre waren ausnahmslos eine Zeit der Finsternis. Aber ich muss auf der Hut sein. Wieso hätte sonst der Hund der Familie Zhao ein Auge auf mich geworfen?
Ich habe Grund zur Furcht.
Heute gibt es überhaupt kein Mondlicht, ich weiß, das ist ein schlechtes Zeichen. Als ich heute Morgen mit aller Vorsicht aus dem Haus trat, schaute mich Altwürden Zhao seltsam an: als wenn er mich fürchtete, als wenn er daran dächte, mir ein Leid anzutun. Da waren dann noch sieben oder acht, die steckten die Köpfe zusammen und tuschelten über mich, doch fürchteten sie, ich könnte es bemerken. Die Leute auf der Straße verhielten sich alle so. Der Bösartigste unter ihnen hatte sein Maul aufgesperrt und grinste mich an. Eiskalt lief es mir den Rücken hinunter. Mir war klar, sie hatten ihre Vorbereitungen bereits getroffen.
Doch ich hatte keine Angst und setzte meinen Weg gelassen fort. Ein paar kleine Kinder vor mir tuschelten ebenfalls über mich. Sie hatten denselben Blick wie Altwürden Zhao, und auch ihre Miene war von abweisender Kälte. Ich überlegte, was diese Kinder wohl gegen mich haben mochten, dass sie sich so benahmen. Ich konnte nicht mehr an mich halten und fuhr sie mit lauter Stimme an: »Sagt es mir!« Doch sie machten sich auf und davon.
Was mag Altwürden Zhao gegen mich haben, was erst recht die Leute auf der Straße?, frage ich mich. Dass ich vor zwanzig Jahren die Geschäftsbücher des Herrn Feudal mit Füßen getreten habe, scheint mir die einzig plausible Erklärung, denn Herr Feudal war darüber äußerst ungehalten. Wenn Altwürden Zhao mit ihm auch nicht bekannt war, so muss er dennoch von der Sache Wind bekommen und sie als persönliche Schmach empfunden haben, sodass er sich mit den Leuten auf der Straße gegen mich verschworen hat. Aber die kleinen Kinder? Sie waren doch noch gar nicht geboren, wieso schauen sie mich heute ebenfalls so seltsam an, als wenn sie mich fürchteten, als wenn sie mir ein Leid antun wollten? Das alles macht mir Angst, es schreckt mich und schmerzt.
Ich begreife. Die Eltern haben es ihnen beigebracht.
Ich kann nachts nicht schlafen. Alles muss erwogen werden, dann erst lässt sichs verstehen.
Sie haben sich vom Landrat ins Joch stecken lassen, sie haben sich von der Gentry ins Gesicht schlagen lassen, ihre Frauen wurden ein Opfer der Amtsbüttel, ihre Eltern wurden von den Gläubigern in den Tod getrieben, aber nie waren ihre Mienen so ängstlich und böse wie gestern. Am merkwürdigsten war die Frau gestern auf der Straße. Sie schlug ihren Sohn und schrie ihn an: »Du bist wie der Alte! Ich könnte dich zerfleischen, erst dann hätte ich Ruhe!« Dabei hielt sie jedoch ihre Augen auf mich gerichtet. Ich war bestürzt und unfähig, mich zu verstellen. Die Leute mit den schwarz-grünen Gesichtern und den Hauerzähnen grölten vor Lachen. Chen Laowu preschte nach vorn und begann, mich mit festem Griff heimwärts zu ziehen.
Nachdem er mich nach Hause gezerrt hatte, taten die daheim alle so, als würden sie mich nicht kennen. Ihr Blick unterschied sich in nichts von dem der anderen. Nachdem ich mich ins Studierzimmer begeben hatte, wurde hinter mir die Tür zugeschlossen, als sperrte man ein Huhn oder eine Ente ein. Das alles gab mir noch mehr Rätsel auf.
Vor ein paar Tagen ist der Pächter aus Wolfsjungendorf gekommen, um über die dortige Dürre Bericht zu erstatten. Meinem Bruder erzählte er bei der Gelegenheit, man habe einen äußerst üblen Kerl im Dorf zu Tode geprügelt. Einige hätten sein Herz und seine Leber herausgerissen, in Öl gebraten und aufgegessen, um so ihren Mut zu stärken. Als ich mir eine Bemerkung erlaubte, warfen mir der Pächter und mein Bruder ein paar Blicke zu. Heute erst weiß ich, ihre Augen waren genauso wie die der Leute auf der Straße.
Der bloße Gedanke daran jagt mir eiskalten Schauer über den Rücken. Sie sind in der Lage, Menschen zu fressen, warum dann nicht auch mich? Ganz offensichtlich handelt es sich bei den Worten jener Frau (»Ich könnte dich zerfleischen!«), bei dem Gelächter der Leute mit den schwarz-grünen Gesichtern und den Hauerzähnen und auch bei dem, was der Pächter sagte, um Geheimzeichen. Ja, ich habe es erkannt, ihre Worte sind nichts als Gift, in ihrem Lachen lauern die Messer, ihre Zähne, diese weiß blitzenden Reihen, sind nur dazu da, um Menschen zu fressen.
Wenn ich mich auch für keinen schlechten Menschen halte, so scheint mein Ruf doch angeschlagen zu sein, seit ich die Geschäftsbücher der Familie Feudal mit Füßen getreten habe. In den Leuten geht etwas vor, auf das ich mir einfach keinen Vers machen kann. Überdies ist in ihren Augen jeder, der ihnen nicht genehm ist, ein Übeltäter. Ich erinnere mich noch, wie mein Bruder, der mich im Aufsatz unterrichtete, immer die Passagen mit einem Kringel versah, in denen ich jemanden, und war er noch so gut, schlechtmachte. Fand ich jedoch für einen Tunichtgut Worte der Entschuldigung, dann sagte er: »Du stellst die Dinge auf den Kopf, das ist ungewöhnlich.« Wie kann ich wissen, was eigentlich in ihnen vorgeht, zumal sie Menschen fressen wollen?
Alles muss erwogen werden, erst dann lässt sichs verstehen. Dass man seit alters Menschen gefressen hat, war mir noch in Erinnerung, allerdings nur vage. Ich bin daher die Geschichtsbücher durchgegangen; sie waren ohne Jahresangaben, und auf jeder Seite standen krumm und schief die Worte »Humanität, Rechtlichkeit, Wahrheit und Tugend« gekritzelt. Da ich ohnehin nicht schlafen konnte, las ich aufmerksam die halbe Nacht, bis ich zwischen den Zeilen die zwei Worte erkannte, aus denen jedes Buch bestand: »Menschen fressen«!
All die Zeichen in den Büchern, all die Worte des Pächters starren mich mit einem seltsamen Grinsen an.
Ich bin auch ein Mensch, sie wollen mich fressen!
In der Frühe saß ich einen Moment still für mich da. Chen Laowu brachte das Essen herein, eine Schale Gemüse, eine Schale gedämpfter Fisch. Die Augen des Fisches waren weiß und hart. Mit seinem geöffneten Maul glich er Leuten, die Menschen zu fressen gedenken. Nach ein paar Bissen wusste ich nicht, ob das glitschige Zeug in meinem Mund Fisch oder Mensch war, so erbrach ich alles.
»Laowu, sag dem Bruder, mir fällt die Decke auf den Kopf, ich möchte im Garten ein wenig auf und ab gehen.« Laowu zeigte keinerlei Reaktion und ging weg. Nach einer Weile kam er jedoch wieder und öffnete die Tür. Doch ich machte keinerlei Anstalten, in den Garten zu gehen, sondern überlegte, welche Maßnahmen sie wohl für mich treffen würden, wusste ich doch, dass sie keinesfalls zur Nachgiebigkeit bereit waren. Tatsächlich! Mein Bruder kam behutsam mit einem alten Mann ins Studierzimmer. Aus Furcht, ich könnte den wölfischen Blick in seinen Augen sehen, hielt er den Kopf gesenkt und betrachtete mich heimlich über die Ränder seiner Brille. »Dir scheint es heute gut zu gehen«, meinte mein Bruder.
»Ja«, antwortete ich.
»Ich habe heute Dr. He hergebeten«, fuhr mein Bruder fort, »um dich einmal untersuchen zu lassen.«
»In Ordnung!«, stimmte ich zu, ohne mir etwas anmerken zu lassen. In Wirklichkeit wusste ich jedoch ganz genau, dass der Alte niemand anders als der Henker in Verkleidung war! Er wollte doch nur meinen Puls fühlen, um einmal abzutasten, wie fett ich war: Als Gegenleistung würde auch ihm ein Stück Fleisch zugeteilt werden. Doch das ließ mich kalt. Wenn ich auch kein Menschenfleisch fresse, so bin ich doch mutiger als sie. Ich streckte ihm meine beiden Fäuste entgegen und schaute, wie er vorgehen würde.
Der Alte setzte sich und schloss die Augen. Nachdem er mich eine Weile betastet und anschließend ebenso lange still dagesessen hatte, öffnete er seine dämonischen Augen und sagte: »Lass das Grübeln. Gönn dir ein paar Tage Ruhe, dann geht es dir besser!«
Kein Grübeln, sich Ruhe gönnen! Wenn ich erst einmal fett geworden bin, haben sie natürlich mehr zu essen. Aber was bringt mir das, wieso würde es mir dann »besser gehen«? All diese Leute wollen Menschen fressen, aber sie wollen dabei heimlich zu Werke gehen. Daher lassen sie sich nicht in die Karten schauen und wagen nicht, offen vorzugehen. Darüber hätte ich mich ausschütten mögen vor Lachen. Ich konnte einfach nicht mehr an mich halten und prustete lauthals los, ganz außer mir vor Freude. Ich wusste, in diesem Gelächter waren Mut und Energie. Der Alte und mein Bruder erblassten, meine wilde Entschlossenheit hatte sie eingeschüchtert. Doch je größer mein Mut, desto mehr trachteten sie zur Stärkung ihres eigenen Mutes danach, mich zu fressen.
Der Alte ging hinaus, er war noch nicht weit gekommen, als er leise zu meinem Bruder sagte: »Auf der Stelle zu essen!« Der nickte leicht mit dem Kopf. Also auch du! Obwohl diese Entdeckung alle Vorstellungen zu sprengen schien, lag sie doch im Bereich des Erwarteten: Mein Bruder gehörte also auch zu denen, die mich zu fressen gedachten!
Mein Bruder ist ein Menschenfresser!
Ich bin der Bruder eines Menschenfressers! Nicht nur, dass mich meine Mitmenschen auffressen werden, ich bin obendrein der Bruder eines Menschenfressers!
In den letzten Tagen habe ich meine Gedanken zurückschweifen lassen: Angenommen, der Alte war kein Henker in Verkleidung, sondern ein Arzt, so war er trotzdem ein Menschenfresser. Im »Abriss der Heilpflanzen«, von ihrem Ahnherrn Li Shizhen oder so verfasst, steht ganz klar geschrieben, dass man Menschenfleisch essen kann. Wie konnte er da noch behaupten, er fräße keine Menschen?
Die Anschuldigungen gegen meinen Bruder waren keinesfalls aus der Luft gegriffen. Als er mir Unterricht erteilte, hat er einmal selbst verlauten lassen, man könne »Kinder tauschen und essen«. Ein anderes Mal, als er seine Meinung über einen Bösewicht kundtat, sagte er beiläufig, man solle ihn nicht nur töten, sondern müsse auch »sein Fleisch essen und auf seiner Haut schlafen«. Damals war ich noch klein, und das Herz pochte mir lange Zeit wie wild. Als vorgestern der Pächter aus Wolfsjungendorf kam und berichtete, man habe dort das Herz und die Leber eines Menschen gegessen, war er gar nicht verwundert, sondern nickte nur unentwegt. Ganz offensichtlich ist er immer noch so grausam wie früher. Wenn man schon »Kinder tauschen und essen« kann, lässt sich doch alles tauschen, sodass man auch jeden Menschen fressen kann. Früher habe ich ihm einfach zugehört, ohne seinen Worten eine besondere Bedeutung beizumessen. Nun jedoch weiß ich, nicht nur seine Lippen triefen vom Fett der Menschen, sondern sein ganzes Herz ist auch von dem Wunsch erfüllt, Menschen zu fressen.
Pechschwarze Finsternis, ich weiß nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Der Hund der Familie Zhao hat wieder zu bellen begonnen.
Die Grausamkeit eines Löwen, die Ängstlichkeit eines Hasen, die Verschlagenheit eines Fuchses …
Ich kenne ihre Vorgehensweise: Sie sind weder bereit, jemanden direkt zu töten, noch wagen sie es, aus Furcht vor der Vergeltung der Geister. Daher haben sie sich miteinander verbündet und überall Netze ausgespannt, um mich in den Selbstmord zu treiben. Das Verhalten der Leute neulich auf der Straße und das Benehmen meines Bruders in den letzten Tagen sind dafür hinreichende Beweise. Am liebsten wäre es ihnen, ich nähme meinen Gürtel und hängte mich an einem Balken auf. So bliebe ihnen der Vorwurf erspart, einen Menschen getötet zu haben, und ihr Herzenswunsch wäre dennoch in Erfüllung gegangen. Welche Freude würde da herrschen, welch dämonisches Gelächter laut werden. Sie könnten mich aber auch zu Tode erschrecken. Selbst wenn ich in der Folge abmagerte, würden sie sich nicht scheuen, wohlgefällig mit dem Kopf zu nicken.
Sie vermögen nur das Fleisch von Toten zu fressen! – Ich erinnere mich, dass es in irgendeinem Buch heißt, es gebe ein Lebewesen mit dem Namen »hyena«, dessen Blick und dessen Aussehen abstoßend wirkten; es fresse oft das Fleisch toter Tiere; selbst die größten Knochen zermalme und schlinge es mühelos hinunter. Allein der Gedanke jagt einem Furcht ein. Die »hyena« ist eine Verwandte des Wolfs, der Wolf wiederum gehört zu derselben Familie wie der Hund. Vorgestern hat der Hund der Familie Zhao ein Auge auf mich geworfen, er steckt also mit ihnen unter einer Decke und hat schon längst gemeinsame Sache mit ihnen gemacht. Der Alte hielt zwar seinen Blick gesenkt, doch damit hat er mich nicht täuschen können.
Am bedauernswertesten ist mein Bruder. Auch er ist ein Mensch, warum hat er dann keinerlei Scheu, sondern tut sich mit anderen zusammen, um mich zu fressen? Ist er schon so sehr an Unrecht gewöhnt? Oder ist sein Gewissen derart abgestumpft, dass er ganz bewusst ein Verbrechen begeht?
Verflucht seien die Menschenfresser. Da gilt es, bei ihm zu beginnen; und will ich Menschen, welche Menschen fressen, bekehren, werde ich mit ihm den Anfang machen müssen.
Ja, die Wahrheit sollte inzwischen auch von ihnen begriffen sein …
Überraschend bekam ich Besuch. Es war jemand erst um die zwanzig. Sein Äußeres nahm ich nur verschwommen wahr, aber auch sein Lächeln war nicht echt, als er mir zunickte.
»Ist es richtig, Menschen zu fressen?«, wollte ich wissen.
»Es herrscht doch keine Hungersnot«, antwortete er, ohne von seinem Lächeln zu lassen, »wie könnte man da Menschen fressen?«
Da wurde mir mit einem Male klar, auch er war einer von ihnen und liebte es, Menschen zu fressen.
»Ist das denn richtig?«, fragte ich nochmals, wobei ich all meinen Mut zusammennahm.
»Wie kannst du nur eine solche Frage stellen. Du verstehst dich wirklich … auf Späße … Heute ist ein prächtiges Wetter.«
Ja, das Wetter war prächtig, der Mond schien auch sehr hell. Aber ich will von dir wissen: »Ist das denn richtig?«
Er schien unangenehm berührt zu sein und murmelte undeutlich: »Nein …«
»Ja, wenn es nicht richtig ist, warum beharrt man also darauf?!«
»So etwas gibt es doch gar nicht …«
»Gibt es nicht? In Wolfsjungendorf frisst man doch jetzt noch Menschen. Außerdem steht es auch in Büchern geschrieben, überall in frischen roten Lettern!«
Er wurde aschfahl. »Das kann sein, das kommt vielleicht vor«, antwortete er mit starrem Blick, »das ist schon immer so gewesen …«
»Wenn es schon immer so gewesen ist, ist es dann richtig?«
»Ich mag mit dir nicht über diese Dinge reden. Du solltest darüber auch nicht sprechen. So etwas zur Sprache zu bringen setzt einen ins Unrecht!«
Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Ich riss die Augen auf, aber da war der Besuch schon verschwunden. Ich troff am ganzen Körper vor Schweiß. Er war doch so viel jünger als mein Bruder, und dennoch war er einer von ihnen. Das hat er sicherlich der Erziehung seiner Eltern zu verdanken. Ich fürchte, er hat auch seinen Sohn schon unterwiesen. Daher schauen mich selbst die kleinen Kinder so böse an.
Ein jeder möchte Menschen fressen und lebt dabei in der Angst, von anderen gefressen zu werden. Voller Argwohn schaut jeder in des anderen Gesicht.
Wie angenehm wäre ein Leben frei von diesen Zwängen. Man könnte unbeschwert arbeiten, seines Weges gehen, essen und schlafen. Dabei bedarf es doch nur weniger Schritte, wie bei einer Türschwelle oder einem Pass. Aber Väter und Söhne, jüngerer Bruder und älterer Bruder, Mann und Frau, Freunde und Feinde, Lehrer und Schüler, ja, selbst Leute, die einander gar nicht einmal kennen, haben sich zusammengefunden, um sich gegenseitig aufzuhetzen und in Schach zu halten, selbst im Anblick des Todes unwillig, diese wenigen Schritte zu tun.
In aller Frühe suchte ich meinen Bruder auf. Er stand vor der Haupthalle und betrachtete den Himmel. Ich trat von hinten an ihn heran, mit dem Rücken zum Tor. Die Ruhe und Freundlichkeit in Person, sagte ich zu ihm: »Bruder, ich habe dir etwas zu sagen.«
»Dann sprich!« Er hatte sich eilig umgewandt und zustimmend genickt.
»Es sind nur ein paar Sätze, aber sie fallen mir schwer. Bruder, am Anfang haben wahrscheinlich alle Wilden Menschen gefressen. Später haben einige von ihnen neue Einsichten gewonnen und damit aufgehört, und da sie sich von ganzem Herzen zu vervollkommnen suchten, wurden sie zu Menschen, zu wahren Menschen. Andere aber konnten sich nicht umstellen – sie waren wie die Insekten. Wieder andere wurden zu Fischen, Vögeln, Affen und schließlich zu Menschen. Aber es gab auch welche, die nach keinerlei Vervollkommnung strebten, sie sind bis heute Insekten geblieben. Wie beschämend muss doch hier ein Vergleich ausfallen, vielleicht noch krasser als im Falle von Insekten und Affen.
Yi Ya kochte seinen Sohn und tischte ihn Jie und Zhou auf. Das ist eine alte Begebenheit. Wer hätte gedacht, dass nach der Erschaffung von Himmel und Erde durch Pan Gu die Menschenfresserei bis zum Sohn von Yi Ya fortgesetzt würde und von diesem bis zu Xu Xilin und von Xu Xilin wiederum bis zu dem Mann, der in Wolfsjungendorf gefangen genommen wurde. Als man im letzten Jahr in der Stadt einen Verbrecher hinrichtete, hat ein Schwindsüchtiger gar noch sein Dampfbrötchen in dessen Blut getaucht und abgeleckt.
Sie wollen mich fressen. Und natürlich kannst du allein sie nicht daran hindern, wenn es ihnen ernst ist. Aber warum machst du mit? Menschenfresser schrecken vor nichts zurück. Sie können mich fressen, aber auch dich. Selbst Gesinnungsgenossen sind imstande, einander zu fressen. Aber es bedarf nur eines Schrittes, einer unverzüglichen Änderung, und schon hätten alle Menschen Frieden miteinander. Auch wenn es seit Urzeiten so gewesen ist, dass die Menschen einander fraßen, so haben wir doch heute mehr Anlass denn je, nach Vervollkommnung zu streben. Und da sagt ihr, das ginge nicht! Ja, Bruder, du bist so einer. Vorgestern, als der Pächter um die Herabsetzung der Pacht bat, sagtest du, es ginge nicht.«
Zunächst hatte er nur kalt gelächelt, bis sein Blick schließlich böse zu werden begann, und als ich ihr Geheimnis aufgedeckt hatte, war er ganz fahl geworden. Vor dem Tor stand eine Gruppe von Leuten, unter denen sich auch Altwürden Zhao mit seinem Hund befand. Mit gespitzten Ohren und gestreckten Hälsen drängten sie herein. Einige waren kaum zu erkennen, als ob sie sich maskiert hätten, andere dagegen, die ihr Lachen zurückzuhalten suchten, zeigten in ihren Gesichtern nach wie vor das Schwarzgrün und ihre Hauerzähne. Ich wusste, sie machten gemeinsame Sache, es waren Menschenfresser. Aber ich wusste auch, dass sie nicht alle eines Sinnes waren. Die einen meinten, es sei schon immer so gewesen, daher soll man Menschen fressen; die anderen waren sich im Klaren darüber, dass man keine Menschen fressen sollte, aber trotzdem stand ihnen immer noch der Sinn danach. So lebten sie in der Furcht, von anderen entdeckt zu werden. Daher waren sie bei meinen Worten außer sich vor Wut geraten. Nun standen sie da mit dem kalten Lächeln auf ihren zusammengekniffenen Lippen.
Auf einmal nahm das Gesicht meines Bruders ebenfalls einen bösen Ausdruck an. Mit lauter Stimme schrie er: »Macht, dass ihr wegkommt! Alle! Was ist an einem Verrückten so interessant?« Da ging mir ein weiterer Zug in ihrem Ränkespiel auf. Sie waren nicht nur fest entschlossen, sondern es war längst schon alles abgekartet! Sie hatten Vorkehrungen getroffen, mich zu einem Verrückten zu stempeln. Wenn sie mich irgendwann fressen würden, kämen sie nicht nur ungeschoren davon, sondern könnten auch noch auf die Dankbarkeit der Leute zählen. Die Behauptung des Pächters, sie hätten einen bösen Menschen gefressen, entspricht ganz ihrer Methode. So gehen sie seit jeher vor!
Voller Wut war nun auch Chen Laowu schnurstracks hereingelaufen gekommen. Doch ungeachtet dessen, wie er mir den Mund zu stopfen suchte, ich musste vor diesen Leuten meine Sache vorbringen.
»Ihr könnt euch ändern, von Grund auf ändern! Ihr müsst wissen, in Zukunft wird es für Menschenfresser auf der Erde keinen Platz mehr geben. Wenn ihr euch nicht ändert, werdet ihr euch gegenseitig auffressen! Und auch bei noch so großer Nachkommenschaft würdet ihr vom wahren Menschen ausgelöscht werden wie Wölfe von den Jägern. Oder wie Insekten!«
Die Menge wurde von Chen Laowu davongejagt. Auch mein Bruder zog sich zurück. Chen Laowu mahnte mich, ins Zimmer zu gehen. Hier war es stockfinster. Die Querbalken und Dachsparren über mir zitterten. Nach einer Weile begannen sie größer zu werden, bis sie mich unter sich begruben.
Das Gewicht lastete so schwer auf mir, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Auch das Dachgebälk wollte meinen Tod. Aber ich wusste, dass mit dem Gewicht etwas nicht stimmte, daher kämpfte ich mich frei, schweißüberströmt. Doch ich musste meine Sache vorbringen: »Ändert euch sofort, ändert euch von Grund auf! Ihr müsst wissen, die Zukunft wird für Menschenfresser keinen Platz mehr haben …«
Die Sonne kommt nicht heraus, die Tür öffnet sich nicht, Tag für Tag zwei Mahlzeiten.
Sobald ich die Stäbchen in die Hand nehme, muss ich an meinen Bruder denken. Ich weiß, dass er allein für den Tod meiner Schwester verantwortlich ist. Damals war sie erst im fünften Lebensjahr. Sie war von so liebenswerter und ergreifender Natur, dass ich sie immer noch vor Augen habe. Mutter weinte ohne Unterlass, doch er wollte ihre Tränen nicht zulassen, wahrscheinlich weil er selber die Schwester gefressen hatte; das Weinen musste ihm unvermeidlich Gewissensbisse bereiten. Wenn er doch noch welche haben könnte …
Meine Schwester ist von meinem Bruder gefressen worden, doch ob meine Mutter davon wusste oder nicht, habe ich nie erfahren.
Ich denke, Mutter wusste es auch. Aber als sie weinte, gab sie sich nicht zu erkennen; wahrscheinlich meinte selbst sie, es habe seine Richtigkeit. Ich erinnere mich einer Szene, als ich um die vier war und vor der Haupthalle saß, um mich abzukühlen; mein großer Bruder sagte, bei Krankheit der Eltern verlange die Pietät von einem Sohn, sich ein Stück Fleisch aus dem Leib zu schneiden, es zu kochen und aufzutischen. Mutter hatte dem ebenfalls nichts entgegenzusetzen. Kann man ein Stück essen, so kann man natürlich auch das Ganze essen. Doch die Tränen der Mutter tun mir heute in der Erinnerung noch immer weh. Eine wirklich höchst seltsame Angelegenheit!
Ich darf nicht mehr daran denken.
Seit viertausend Jahren sind Menschen gefressen worden, und ich habe wie ein Narr so viele Jahre meines Lebens vertan. Als meine Schwester starb, war mein Bruder mit den Familienangelegenheiten betraut. Es ist nicht auszuschließen, dass er ihr Fleisch in die Speisen mischte und uns heimlich davon zu essen gab.
Vielleicht habe ich selbst, ohne es zu merken, ein paar Stücke Fleisch von meiner Schwester gegessen, und nun ist die Reihe auch an mir … Viertausend Jahre Menschenfresserei lasten auf mir. Da mag ich anfänglich nichts gewusst haben, doch nun ist alles klar. Der wahre Mensch wird auch mich meiden.
Vielleicht gibt es Kinder, die noch keine Menschen gefressen haben?
Rettet die Kinder …
April 1918
Die Weinschenken in Luzhen haben eine Besonderheit, die anderswo nicht anzutreffen ist: Ihre winkelmesserförmigen Tresen mit dem heißen Wasser zum Anwärmen des Reisweines stehen direkt an den Straßen. Arbeiter, die gegen Mittag und Abend nach der Arbeit jedes Mal schon für vier Käsch eine Schale Wein bekommen (das war vor mehr als zwanzig Jahren so, heute muss man schon zehn Käsch zahlen), stehen, an den Tresen gelehnt, auf der Straße und entspannen sich, während sie den Wein heiß zu sich nehmen. Ist man bereit, noch einen Käsch dazuzulegen, kann man einen Teller gesalzene Bambussprossen oder Anisbohnen erwerben und zusammen mit dem Wein verzehren. Gibt man gar neunzehn Käsch aus, lässt sich auch ein Fleischgericht kaufen. Aber Gäste, die hier verkehren, gehören meist zu denen, die kurze Gewänder tragen. In der Regel verfügen sie nicht über so viel Geld. Nur diejenigen, die in lange Gewänder gekleidet sind, pflegen in die von der Ladenfront durch eine Wand abgetrennten Räumlichkeiten der Schenke zu schlendern und dort nach der Bestellung von Speis und Trank gemütlich zu sitzen und zu trinken.
Von meinem zwölften Lebensjahr an war ich Schankbursche in der Weinschenke »Zum vollkommenen Genuss«, die an der Ortseinfahrt lag. Der Wirt meinte, mein Äußeres mache einen zu schäbigen Eindruck, ich sei wohl nicht in der Lage, die Gäste in den langen Gewändern zu bedienen. Daher bediente ich am Tresen. Obwohl die Gäste dort in den kurzen Gewändern leicht zufriedenzustellen waren, kam es doch nicht selten vor, dass sie etwas auszusetzen hatten. Oft wünschten sie mit eigenen Augen zu verfolgen, wie der gelbe Wein aus dem Tonkrug geschöpft wurde, und wenn sie sich davon überzeugt hatten, dass kein Wasser beigemengt worden war, beobachteten sie noch emsig, wie der Topf ins warme Bad gestellt wurde. Erst dann waren sie beruhigt: Unter solch strenger Aufsicht war es schwierig, Wasser in den Wein zu schütten. So kam es, dass der Wirt nach einigen Tagen sagte, ich tauge nicht für diese Tätigkeit. Glücklicherweise genoss mein Patron großes Ansehen. Eine Entlassung kam daher nicht infrage. Die Aufgabe, die man mir nun zuwies, bestand einzig und allein im Wärmen des Weines. Das war eine äußerst langweilige Beschäftigung.
Ich stand von da an den ganzen Tag am Tresen und versah nur den mir zugewiesenen Dienst. Wenn ich mir auch keinerlei Pflichtversäumnis zuschulden kommen ließ, so hatte ich dennoch stets das Gefühl von Monotonie und Langeweile. Der Wirt zeigte ein finsteres Gesicht, und auch die Gäste machten keinen freundlichen Eindruck, sodass einen nichts froh stimmen konnte. Herzlich lachen konnte man erst, wenn Kong Yiji in der Schenke auftauchte. Daher habe ich ihn bis heute in Erinnerung behalten.
Kong Yiji war der Einzige, der im Stehen Wein trank und ein langes Gewand trug. Er war groß, hatte ein blasses Gesicht, dessen Falten oft Narben aufwiesen, und sein weißer Bart war ein wirres Durcheinander. Er trug zwar ein langes Gewand, aber es war schmutzig und zerschlissen, als wäre es mehr als zehn Jahre nicht geflickt und gewaschen worden. Beim Gespräch führte er ständig Brocken der klassischen Schriftsprache im Munde, sodass man nur die Hälfte verstand. Da er mit Familiennamen Kong hieß, gaben ihm andere den Spitznamen Kong Yiji. Sie hatten der Schreibfibel für Kinder die unmittelbar auf das Zeichen Kong folgenden und in diesem Zusammenhang bedeutungslosen Zeichen yi und ji entnommen und zu einem Vornamen zusammengefügt. Sobald Kong Yiji in der Schenke angekommen war, richteten alle, die Wein tranken, ihren Blick auf ihn und lachten. Einige riefen: »Kong Yiji, du hast ja schon wieder neue Narben im Gesicht!«
Ohne zu antworten, sagte er in Richtung Tresen: »Wärm zwei Schalen Wein, dann möchte ich noch einen Teller Anisbohnen.« Daraufhin zählte er neun Käsch hin.
Und sie schrien mit absichtlich lauter Stimme: »Du hast sicherlich schon wieder anderen Leuten etwas weggenommen!«
Kong Yiji riss die Augen weit auf: »Wie kann man nur jemanden so grundlos verleumden, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen.«
»Nichts zuschulden? Ich habe doch vorgestern mit eigenen Augen gesehen, wie man dich aufgehängt und verprügelt hat, weil du im Hause der He Bücher gestohlen hast.«
Kong Yijis Gesicht lief rot an, auf der Stirn traten die blauen Adern einzeln hervor. »Bücher mitgehen lassen kann man nicht als Diebstahl bezeichnen … Bücher mitgehen lassen! … wie kann man bloß die Welt eines Gelehrten mit Diebstahl in Zusammenhang bringen!«, verteidigte sich Kong Yiji. Die nachfolgenden Sätze waren schwer verständlich. Er redete was von »Der Edle bleibt fest in der Not« und gebrauchte eine Unzahl von grammatischen Formeln aus der klassischen Schriftsprache, sodass seine Umgebung in ein schallendes Gelächter ausbrach. Eine ausgelassene Stimmung machte sich in der Schenke und auf der Straße breit.
Hinter dem Rücken hatte mir jemand zugesteckt, dass Kong Yiji früher zwar studiert, aber nicht einmal das unterste Examen bestanden habe; auch sei er gar nicht in der Lage, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Er verarmte immer mehr, sodass er kurz davor war, an den Bettelstab zu geraten. Glücklicherweise verstand er sich auf Schönschrift. So bot er anderen seine Schreibkünste an und erhielt dafür etwas zu essen. Leider hatte er jedoch noch eine schlechte Angewohnheit, er trank gern und war faul. Kaum hatte er ein paar Tage gearbeitet, verschwand er mitsamt Büchern und Schreibutensilien. So ging das mehrere Male. Niemand wollte ihn mehr zum Abschreiben von Büchern haben. Kong Yiji blieb nichts anderes übrig, als hin und wieder zu stehlen. Aber wenn er in unserer Weinschenke war, dann benahm er sich besser als andere. Es kam nämlich nie vor, dass er alte Schulden lange stehen ließ. Mitunter hatte er kein Bargeld, und zeitweise stand sein Name auf der Tafel neben anderen Schuldnern. Aber kaum einen Monat später hatte er seine Schulden mit Sicherheit beglichen, und sein Name verschwand von der Tafel.
Hatte Kong Yiji eine halbe Schale Wein getrunken und sein rot angelaufenes Gesicht allmählich wieder die ursprüngliche Farbe angenommen, wurde er von den Umstehenden gefragt: »Kong Yiji, kannst du wirklich lesen und schreiben?« Kong Yiji heftete seinen Blick auf den Frager und machte durch seine Miene deutlich, dass er ihn keiner Antwort für würdig erachtete. »Wieso hast du es denn noch nicht einmal zu einem halben Magister gebracht?«, fuhren sie fort. Kong Yiji verfiel sofort in Mutlosigkeit, sein Gesicht wurde aschgrau. Er murmelte ein paar Worte, die nur aus grammatischen Formeln der klassischen Schriftsprache zu bestehen schienen und wenig verständlich waren. Auch diesmal brach die Menge in schallendes Gelächter aus: Eine ausgelassene Stimmung machte sich in der Schenke und auf der Straße breit.
In solchen Fällen konnte ich mitlachen, ohne dass mich der Wirt tadelte; vielmehr stellte dieser, kaum hatte er Kong Yiji gesehen, dieselben Fragen, um die Leute zum Lachen zu bringen. Kong Yiji wusste, dass er mit ihnen nicht reden konnte. So blieben ihm nur die Kinder zur Unterhaltung. Einmal fragte er mich: »Hast du Schulbildung?« Ich nickte zaghaft. »Du hast also Schulbildung«, fuhr er fort, »… dann will ich dich mal prüfen. Wie wird denn das Zeichen ›Anis‹ in dem Wort Anisbohnen geschrieben?«
Ich dachte: Das wäre ja noch schöner, mich von einem Bettler prüfen zu lassen! Ich drehte den Kopf zur Seite und beachtete ihn nicht weiter.
Kong Yiji wartete eine Zeit lang und sagte dann mit ernster Miene: »Kannst doch nicht schreiben? Ich bringe es dir bei, prägs dir ein! Diese Zeichen musst du dir merken. Wenn du später mal Wirt bist, brauchst du sie, um Rechnungen auszustellen.«
Ich dachte bei mir, noch sind die Standesunterschiede zwischen dem Wirt und mir viel zu groß, außerdem hat unser Wirt noch nie Anisbohnen auf eine Rechnung gesetzt. Ich hatte Lust, darüber zu lachen, und wurde ungeduldig. Apathisch gab ich ihm zur Antwort: »Wer gibt schon etwas auf deine Belehrungen? Schreibt man Anis nicht mit dem Radikal ›Gras‹ und darunter mit dem Zeichen für ›zurückkommen‹?«
Kong Yiji strahlte vor Freude. Während er mit zwei langen Fingernägeln auf den Tresen trommelte und beifällig nickte, sagte er: »Richtig, richtig! … für das Zeichen ›zurückkommen‹ gibt es vier verschiedene Schreibweisen, kennst du sie?« Nun hatte es aber mit meiner Geduld ein Ende, und ich ging schmollend weg. Kong Yiji hatte soeben einen Fingernagel in Wein getaucht und wollte auf den Tresen Zeichen schreiben. Als er aber sah, dass mich das Ganze völlig kaltließ, stieß er wieder einen Seufzer aus und brachte sein tiefes Bedauern zum Ausdruck.
Einige Male gesellten sich auch die Nachbarskinder hinzu, wenn sie das Lachen gehört hatten. Sie umringten Kong Yiji, der jedem von ihnen eine Anisbohne zu essen gab. Hatten die Kinder die Bohnen gegessen, blieben sie immer noch stehen und starrten auf den Teller. Voller Panik spreizte Kong Yiji fünf Finger darüber. Zu den Kindern gebückt, meinte er: »Es sind nicht mehr viele, ich habe nicht mehr viele übrig.« Er richtete sich auf, warf einen Blick auf die Bohnen und schüttelte den Kopf: »So wenig, so wenig! Oder sind das etwa viele? Nein, das sieht doch jeder, nicht mehr viele.« Daraufhin lief die Kinderschar unter Gelächter auseinander. Kong Yiji war jemand, der andere in ausgelassene Stimmung versetzen konnte, aber ohne ihn gingen die Tage auch vorüber.
Eines Tages, es war wahrscheinlich zwei, drei Tage vor dem Mittelherbstfest, war der Wirt gerade dabei, gemächlich die Endabrechnung zu schreiben. Er nahm die Tafel herunter und sagte plötzlich: »Kong Yiji ist nun schon lange nicht mehr gekommen. Er schuldet mir noch immer neunzehn Käsch.«
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er tatsächlich schon lange nicht mehr da gewesen war.
Ein Gast meinte, in den Wein vertieft: »Wie soll er denn auch? … dem sind doch beide Beine zerschlagen worden.«
Dem Wirt entfuhr ein »Oh!«.
»Er konnte das Stehlen nicht lassen. Diesmal muss er nicht ganz bei Verstand gewesen sein. Er hat sogar im Hause des Doktoranwärters Dinge zu stehlen gewagt. Da kann man doch nicht stehlen!«
»Und wie ist es ihm dann ergangen?«
»Wie es ihm ergangen ist? Zuerst hat er ein Schuldbekenntnis geschrieben, dann wurde er geschlagen, fast die ganze Nacht, bis seine Beine gebrochen waren.«
»Und dann?«
»Dann waren seine Beine eben gebrochen.«
»Was heißt ›gebrochen‹?«
»Na … Wer weiß das? Vielleicht ist er tot.«
Der Wirt fragte nicht weiter, er fuhr fort, gemächlich seine Rechnung aufzusetzen.
Nach dem Mittherbstfest blies der Herbstwind von Tag zu Tag kälter, es ging sichtlich auf den Winter zu. Den ganzen Tag kauerte ich am Feuer, musste aber auch noch eine gefütterte Jacke anziehen. Eines Nachmittags, als keine Gäste anwesend waren und ich gerade mit geschlossenen Augen dasaß, vernahm ich plötzlich eine Stimme: »Mach eine Schale Wein heiß.«
Obwohl die Stimme leise war, kam sie mir doch vertraut vor. Aber als ich aufsah, war niemand da. Ich erhob mich und warf einen Blick nach draußen. Am unteren Teil des Tresens, der Türschwelle gegenüber, hockte Kong Yiji. Sein Gesicht war schwarz und eingefallen, es hatte bereits alle menschlichen Züge verloren. Die gefütterte Jacke, die er trug, war zerschlissen. Mit untergeschlagenen Beinen saß er auf einem Reisigbeutel, der mit einem Strohseil an seinen Schultern befestigt war.
Als er mich sah, sagte er noch einmal: »Mach eine Schale Wein heiß.«
Nun streckte auch der Wirt seinen Kopf heraus: »Kong Yiji? Du schuldest mir immer noch neunzehn Käsch!«
Kong Yiji schaute betrübt auf: »Das … lasst es mich das nächste Mal begleichen. Diesmal habe ich Bargeld, da muss der Wein gut sein.«
Wie immer wandte sich der Wirt lachend an Kong Yiji: »Kong Yiji, du hast ja schon wieder gestohlen!«
Aber diesmal versuchte sich Kong Yiji nicht zu rechtfertigen, er sagte nur einen Satz: »Mach dich nicht lustig über mich!«
»Ich und mich lustig machen? Wenn du nicht gestohlen hättest, warum wären dir dann die Beine zerschlagen worden?«
Mit leiser Stimme antwortete Kong Yiji: »Ich habe sie mir beim Fallen gebrochen, beim Fallen, beim Fallen …« Seine Blicke schienen den Wirt anzuflehen, von diesem Thema abzulassen. Inzwischen hatte sich eine Reihe von Gästen eingefunden, die ohne Unterschied in das laute Gelächter des Wirts einstimmten. Ich wärmte den Wein und stellte ihn, nachdem ich ihn hinausgetragen hatte, auf die Türschwelle.
Kong Yiji fingerte in einer zerschlissenen Jackentasche nach vier Käsch. Als er sie mir in die Hand gab, merkte ich, dass seine Hände über und über mit Dreck beschmutzt waren. Er benutzte sie also, um sich vorwärtszubewegen. Im Nu hatte er seinen Wein ausgetrunken, und während die Umstehenden erneut in Lachen ausbrachen, machte er sich im Sitzen mithilfe seiner Hände langsam davon.
Seitdem ist eine lange Zeit verstrichen, ohne dass ich Kong Yiji gesehen hätte. Als es aufs Jahresende zuging, nahm der Wirt die Tafel herunter und sagte: »Kong Yiji schuldet mir immer noch neunzehn Käsch!« Und als im nächsten Jahr das Drachenbootfest bevorstand, sagte er wieder: »Kong Yiji schuldet mir noch immer neunzehn Käsch!« Kurz vor dem Mittherbstfest sagte er jedoch nichts mehr, und auch als es erneut auf das Jahresende zuging, bekamen wir Kong Yiji nicht zu Gesicht.
Bis heute habe ich ihn nicht wiedergesehen. Wahrscheinlich ist Kong Yiji längst gestorben.
März 1919
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