Tango-Guide Berlin - Ulrike Wronski - E-Book

Tango-Guide Berlin E-Book

Ulrike Wronski

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Beschreibung

Berlin ist Europas Tangometropole Nummer eins. Überall wird getanzt - in Tanzschulen und Ballhäusern, Clubs und Restaurants, Fabriketagen und Salons. Auch Tangofans von außerhalb zieht es zu Milongas und Festivals in die Hauptstadt. Dieser Guide gibt einen Überblick über die Berliner Tangoszene: Vorgestellt werden die größten Schulen, die beliebtesten Tanzveranstaltungen, alljährlich stattfindende Festivals sowie Shops und Modelabels. In Interviews erzählen Berliner Tangogrößen ihre persönlichen Geschichten rund um den Tango und geben wertvolle Tipps für Anfänger und Fortgeschrittene.

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INHALT

Warum die Berliner den Tango lieben

Einsteigertipps von Tangoprofis

Berliner Milongas der Superlative

Die Geschichte des Tangos in Berlin

Unterricht

Milongas

Wöchentlich stattfindende Milongas

Live-Musik

Festivals

Shopping

Tipps für Tanzkleidung

Tipps für Tanzschuhe

Glossar

Tango-Insider im Gespräch

Michael Rühl

Ulrike Schladebach & Stephan Wiesner

Kerstin & Jörg Buntenbach

Judith Preuss

Thomas Rieser

Susanne Opitz & Rafael Busch

Mimi Hirsch

Michael Sacher

Gaia Pisauro & Leandro Furlan

Pedram Shahyar

Fil Kirchner

Mona Isabelle Schröter

Monica Suteu & Frank Seifart

Pablo Woiz

Korey Ireland

Gustavo Colmenarejo

Judith Brandenburg

Horst Martin

Astrid Weiske

Jonas Zadow

Maria Schwarz

WARUM DIE BERLINER DEN TANGO LIEBEN

Berlin tanzt Tango – in Tanzschulen und Ballhäusern, Clubs und Restaurants, Theatersälen und Salons. Im Sommer lassen sich die Tänzerinnen und Tänzer in der Strandbar an der Museumsinsel oder im Regierungsviertel beobachten – in enger Umarmung und versunken in die Musik. Wer bei diesem Anblick denkt, das würde ich am liebsten auch mal probieren, dem sei gesagt: Nur zu! Jeden Tag gibt es Tangokurse in Berlin. Auch wer noch keinen Tanzpartner hat, ist willkommen.

Ein paar Tausend Hauptstädter sind es wohl, die regelmäßig Tango tanzen, von der Studentin bis zum Rentner. Genaue Zahlen gibt es nicht. Nach dem harten Einschnitt der Corona-Pandemie, als „Tanzlustbarkeiten“ lange Monate verboten waren, ist das Berliner Tangoleben im Frühling 2022 wieder aufgeblüht. Auch Besucher aus dem In- und Ausland zieht es wieder zum Tangotanzen in die Metropole an der Spree. Mehrere Hundert Menschen befassen sich neben- oder hauptberuflich mit dem Tango, als Lehrerinnen und Lehrer, Musikerinnen und Musiker, Veranstalterinnen und Veranstalter, DJs und Fashion-Fachleute.

Was fasziniert all diese Menschen am Tango? Warum gehen so viele Berlinerinnen und Berliner Nacht für Nacht tanzen?

Tangotanzen macht glücklich, hier bei einer Milonga im Café Tor Eins im Park am Gleisdreieck. Foto: Mirjam Zimmerli

Tango berührt das Herz

Da wäre zunächst die Musik, die es so gut versteht, komplexe Gefühle zu spiegeln, die traurig-melancholische Töne genauso kennt wie fröhlich-beschwingte. Das seufzende Bandoneon, eng verwandt mit dem Akkordeon, ist das charakteristischste Instrument des Tangos. Deutsche Auswanderer brachten es vor mehr als 100 Jahren nach Argentinien und Uruguay, in die Geburtsländer des Tangos. Selbst wenn die meisten Berliner Tangofans die spanischsprachigen Texte nicht verstehen, trifft sie die universelle Botschaft der Musik doch mitten ins Herz.

Berlin hat eine eigene Tangomusikszene, wenn auch eine überschaubare. Die Hauptstädter sind stolz auf ihr „Community Tango Orchestra“, in dem Profi- und Laienmusiker gemeinsam musizieren (mehr dazu im Interview auf S. →). Daneben gibt es kleinere und größere Ensembles, die Tanzveranstaltungen mit Live-Musik bereichern (S. →).

Tango bietet Raum zur Entfaltung

Am wichtigsten für die Berliner Tangofans ist der Tanz. Das Besondere dabei: Im Gegensatz zu den meisten anderen Paartänzen wird der südamerikanische Tango improvisiert. Es gibt keine vorgegebene Schrittfolge und das Tempo ist variabel. Das eröffnet Tänzerinnen und Tänzern unendlich viele Möglichkeiten, sich individuell auszudrücken. Ein und dasselbe Musikstück wird von jedem Paar anders interpretiert. Kein Tanz gleicht dem anderen. Und doch können alle, die die nonverbale Sprache des Tangos beherrschen, miteinander tanzen. Menschen, die sich nie zuvor begegnet sind, bewegen sich gemeinsam zur Musik, als hätten sie es vorher Hunderte Male geübt.

Die Freiheit, die der Tango bietet, passt zu Berlin und den experimentierfreudigen Menschen, die hier leben. Es gibt eine große Szene, die sich den traditionellen Tangos der Dreißiger- und Vierzigerjahre verschrieben hat. Daneben gibt es aber auch eine Szene, die immer wieder nach neuen musikalischen und tänzerischen Ausdrucksformen sucht. Den Tango aus Buenos Aires bloß imitieren? Das reicht Berlin nicht! Die Menschen hier fügen dem Tango mit Respekt für seine Wurzeln eigene Verästelungen hinzu. So entstehen in Berlin auch neue Tangos, komponiert zum Beispiel von Judith Brandenburg (Interview S. →).

Tango macht fit und glücklich

Die Bewegung zur Musik und der Körperkontakt mit einer Tanzpartnerin oder einem Tanzpartner setzen Glückshormone frei. Viele Tänzer sprechen deshalb von einer Sucht, empfinden den Tango als Droge. Gesünder als andere Rauschmittel ist er ganz sicher: Der Tango bringt den Körper in Bewegung, stärkt Ausdauer, Kraft, Gleichgewichtssinn und Flexibilität. Wer mehrmals die Woche tanzen geht, kann sich die Mitgliedschaft im Fitnessstudio sparen.

Studien zeigen, dass Tanzen das Gedächtnis trainiert und dem Abbau von Nervenzellen entgegenwirkt, wovon Patientinnen und Patienten mit Alzheimer oder Parkinson profitieren können. „Die gesundheitliche Dimension des Tangos, seine heilende Wirkung ist bislang kaum erforscht“, sagt Tanzschulbetreiber Thomas Rieser. Er geht für seine Doktorarbeit an der Charité der Frage nach, inwieweit der Tango Krebspatientinnen dabei helfen kann, besser mit den Nebenwirkungen einer Chemotherapie fertigzuwerden (Interview S. →).

Tango verbindet Menschen

Der Tango bringt Menschen zusammen und das nicht nur auf der Tanzfläche. Im Unterricht wird diskutiert und gelacht. Man verabredet sich zum Üben, geht gemeinsam auf Reisen, Freundschaften entstehen. Manche finden die große Liebe. Wer den ganzen Tag allein am Schreibtisch verbringt, kann abends in der Tanzschule oder bei einer Milonga auf Gesellschaft zählen. Wer gerade keine Lust auf Gespräche hat, lauscht der Musik und sieht den Tanzenden zu, ist aber trotzdem unter Leuten.

Die Umarmung, die Verständigung ganz ohne Worte – das kann süchtig machen. Foto: Maddalena Zampitelli

Ganz allgemein könne der Tango dabei helfen, Vorbehalte abzubauen, ist Veranstalter Fil Kirchner überzeugt. „Als Tänzer umarmen wir ständig fremde Menschen und das trägt sicher auch zu einem besseren Miteinander fernab der Tanzfläche bei.“ (Interview S. →)

Fátima Vitale und Javier Rodríguez begeisterten mit einem Showtanz bei der Milonga Pippo. Foto: Viktoria Fedirko

WAS ERWARTET DICH IN DIESEM GUIDE?

In der Tango-Community duzt man sich und so halte ich es auch in diesem Buch. Also, liebe Leserin, lieber Leser, was erwartet dich in diesem Guide?

Wenn du gerade erst mit dem Tanzen anfängst, beschäftigen dich sicher viele Fragen: Wie finde ich eine passende Schule für mich? Worauf sollte ich beim Kauf von Tanzschuhen achten? Und was ist denn bloß eine Milonga? Hier findest du Antworten. Bei der Begriffsklärung hilft auch das Glossar am Ende dieses Buches.

Wenn du schon länger tanzt, geben dir die Interviews mit Tango-Professionals bestimmt den einen oder anderen überraschenden Einblick in die Berliner Tangoszene. Und vielleicht inspiriert dich dieses Buch ja zu einem Ausflug in eine dir noch unbekannte Milonga.

Wenn du noch überlegst, ob Tango der richtige Tanz für dich sein könnte, dann lass dir gesagt sein: Probieren geht in diesem Fall definitiv über Studieren. Wirf einen Blick in das Kapitel „Unterricht“, such dir eine Schule aus und los geht‘s!

EINSTEIGER-TIPPS VON TANGOPROFIS

Neun Tanzlehrerinnen und Tanzlehrer geben Tipps für die ersten Schritte auf dem Parkett:

1. Michael Rühl, Tanzlehrer und DJ: „Geduld! Tango ist eine komplexe Sache und man braucht viel Geduld, weil anfangs erst einmal nicht viel klappt.“ (Interview S. →)

2. Stephan Wiesner, Tanzlehrer und Bühnentänzer: „Es geht nicht darum, alles perfekt zu machen. Es geht um eine gute Technik und den spielerischen Dialog im Paar.“ (Interview S. →)

3. Judith Preuss, Inhaberin der Tanzschule Mala Junta: „Mach dein Tanzglück nicht von einem Partner abhängig, sondern entwickle deinen eigenen Tango!“ (Interview S. →)

4. Thomas Rieser, Inhaber der Tanschule Nou Tango Berlin: „Auf einer guten Milonga spürt man die soziale Kultur, die den Tango ausmacht. Man lernt auch beim Zuschauen und Zuhören viel, selbst wenn man nicht gleich tanzt.“ (Interview S. →)

5. Gaia Pisauro, Lehrerin und DJ: „Privatstunden sollten eher eine Ergänzung zum Gruppenunterricht sein. Wer nur mit Lehrern übt, dem fällt es schwer, sich auf andere Tänzer einzustellen.“ (Interview S. →)

6. Mimi Hirsch, Lehrerin und Gründerin der Academia de Tango: „Geht sofort auf Milongas! Egal wie viel oder wenig ihr könnt, damit solltet ihr sofort anfangen.“ (Interview S. →)

7. Michael Sacher, Lehrer: „Seid misstrauisch gegenüber Lehrern, die vorgeben, den einen ,richtigen‘ Tango zu verkörpern, blickt euch immer wieder auch mal woanders um und findet euren Tango.“ (Interview S. →).

8. Astrid Weiske, Lehrerin und Festivalveranstalterin: „Jeder sollte das Führen und das Folgen lernen, weil das das Verständnis für den Tanz und den Tanzpartner enorm verbessert.“ (Interview S. →)

9. Gustavo Colmenarejo, Lehrer und Tangomusiker: „Es geht nicht um Wissen, das man lernen kann, sondern um einen Prozess, der einen näher zu einem selbst bringt.“ (Interview S. 120)

BERLINER MILONGAS DER SUPERLATIVE

In Berlin finden ganz besondere Tangoveranstaltungen statt. Sieben Milongas mit kleinem und großem Wow-Faktor:

1. Die höchste Milonga: Beim Tanzen den Blick über die Dächer Berlins schweifen lassen – das geht bei der „Panoramico“. Im 13. Stock eines Eckturms an der Karl-Marx-Allee werden auf zwei Dancefloors klassische Tangos und Neo-Tangos gespielt. Place One, Strausberger Platz 1, Berlin-Friedrichshain, www.tango-panoramico.de

2. Die älteste Milonga: Bei der „Tangonacht im Roten Salon“ legt Michael Rühl seit 1993 auf. Im Laufe der Jahre gab es ein paar Pausen, auch während der Pandemie, aber im September 2022 soll der Klassiker unter den Berliner Milongas wieder starten. Roter Salon der Volksbühne, Linienstr. 227, Berlin-Mitte, Facebook: Roter Tango Club

3. Die sprunghafteste Milonga: „Pippo“ wechselt die Locations schneller als andere Milongas die DJs. Veranstalter Fil Kirchner macht sich immer wieder auf die Suche nach Sälen, in denen Tango getanzt werden kann. Facebook: Pippo Tango

4. Die inklusivste Milonga: Bei „Spreefeld Tango“ treffen sich Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, um gemeinsam zu tanzen. Vorher gibt es Unterricht. Projektraum Spreefeld, Wilhelmine-Gemberg-Weg 12, Berlin-Mitte, www.inklusionstangoberlin.de

5. Die kleinste Milonga: Auf der Tanzfläche von Tango‘n‘Break in der Köpenicker Altstadt haben nicht mehr als zehn Paare Platz. Drumherum gibt es aber viel Raum zum gemütlichen Sitzen, im Sommer auch auf der Terrasse an der Spree. Bar Break, Freiheit 12, Berlin-Köpenick

6. Die postmodernste Milonga: Die Frauen von No Limits Berlin, die die Milonga „Tango zum Glück“ veranstalten, definieren ihren Tango als postmodern, frei von Rollenzuweisungen und Geschlechterklischees. Wechselnde Locations, www.no-limits-berlin.de

7. Die freizügigste Milonga: Im Keller des legendären Kit-KatClubs veranstaltet „Intimacy“ sonnabends und montags „Tango Rouge“. Am Samstag erhält nur Einlass, wer sich verspielt, kinky, verrückt, sexy oder elegant kleidet. Fetisch geht ohnehin. Montags ist auch Casual erlaubt. Köpenicker Str. 76, Berlin-Kreuzberg, tango-rouge.intimacyberlin.com

DIE GESCHICHTE DES TANGOS IN BERLIN

Die Ursprünge am Río de la Plata

Der Tango erblickte Ende des 19. Jahrhunderts an der Flussmündung des Río de la Plata das Licht der Welt. So viel ist sicher. Doch ob der Tango seine ersten Gehversuche nördlich des Grenzflusses in Uruguay oder südlich davon in Argentinien machte – darüber können die Tangofans in beiden Ländern vortrefflich streiten.

Seit 2009 zählt der Tango zum Weltkulturerbe. Die UNESCO erklärte Musik, Tanz und Poesie des Tangos zum schützenswerten Kulturgut, „geboren in Buenos Aires und Montevideo, bekannt in der ganzen Welt“. Den Antrag auf Anerkennung hatten Argentinien und Uruguay gemeinsam gestellt. Wer statt „Tango Argentino“ die Bezeichnung „Tango Rioplatense“ (oder auf Deusch: Tango vom Río de la Plata) wählt, zollt dem Umstand Respekt, dass der Tango beidseits des „Silberflusses“ entstanden ist.

Doch welche Einflüsse formten den Tango? Ein Blick zurück: Zwischen 1870 und 1900 strömen hunderttausende Menschen auf der Suche nach Arbeit und einer neuen Heimat an den Río de la Plata. Viehhüter aus der argentinischen Pampa – die Gauchos –, ehemalige Sklaven ebenso wie Immigranten aus Europa, die vor Armut und Krieg fliehen. Statt Reichtum wartet auf die meisten von ihnen auch in den schnell wachsenden Städten Buenos Aires und Montevideo ein entbehrungsreiches Leben in Elendsquartieren.

Tango in Berlin: Niki Georgewitsch gewann 1913 das Tanzturnier des Admiralspalastes. Der Name seiner Partnerin fehlt im Tanz-Brevier, aus dem dieses Foto stammt. Ihr Anteil am Erfolg galt wohl als vernachlässigbar.

Plötzlich war der Tango überall: Die Berliner Parfümfabrik Leichner veröffentlichte Reklamemarken mit Tangomotiven.

Der Tango ist ein Kind dieser multikulturellen Umgebung: Um 1880 entwickelt sich aus dem Candombe – der Musik, die die Nachkommen ehemaliger Sklaven spielen – ein rhythmisch-kraftvoller Tanz namens Milonga. Dieser Urtango wird in den Folgejahren von anderen Musikrichtungen wie der kubanischen Habanera, der Polka oder dem Flamenco beeinflusst. In den Hafenvierteln von Buenos Aires und Montevideo trifft ein Wirrwarr aus Sprachen und Kulturen aufeinander. Die Menschen wohnen dichtgedrängt in Mietskasernen und führen ein Leben zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. So wächst der Tango heran – genährt vom Wunsch der vielen Heimatlosen nach Zerstreuung und nach wortloser Verständigung. Zumindest für die Dauer eines Liedes erlaubt es der Tango den Tanzenden, der Einsamkeit zu entfliehen.

Noch vor der Jahrhundertwende wird der Tango fester Bestandteil der Volkskultur am Río de la Plata. Die Mitglieder der Mittel- und Oberschicht machen einen großen Bogen um den Tanz. Sie halten ihn wegen seiner Herkunft für anrüchig, für moralisch verkommen; der Zugang zu den Salons bleibt ihm verwehrt. Das ändert sich erst, als die Europäer den Tango für sich entdecken.

1910er:Berlin erliegt dem Tango

Anfang des 20. Jahrhunderts verfallen die Menschen in Paris dem völlig neuartigen Tanz aus Südamerika. Musiker aus Buenos Aires reisen 1907 in die französische Hauptstadt, um Schellackplatten aufzunehmen – und bringen so den Tango nach Europa. Ihnen folgen weitere Musiker und Tänzer über den großen Teich.

Während die Oberschicht am Río de la Plata den Tango verpönt, heißen ihn die freigeistigen Pariserinnen und Pariser in ihren Salons willkommen und lassen sich von der traurig-schönen Musik und dem lasziven Tanz anstecken. Auch in London wird Tango getanzt, am liebsten nachmittags zum Five o‘Clock Tea in einem angesagten Hotel.

In den Zehnerjahren erliegt dann auch Berlin dem Tango. 1913 findet im Admiralspalast in der Friedrichstraße das erste Tangoturnier statt. Die Berlinerinnen schlitzen sich die Kleider auf, um in den Ballhäusern im Stadtzentrum die neuen Schritte tanzen zu können, oder tragen Hosenröcke, wie sie in Paris en vogue sind. Wange an Wange schmiegen sich Männer und Frauen aneinander und interpretieren diesen als verrucht geltenden Tanz „frei Schnauze“.

„Tango – dieses einzige Wort hat es zuwege gebracht, daß ältere, ganz vernünftige Menschen plötzlich Tanzstunde nehmen, daß eine ganze Gesellschaftsklasse ihre Zeiteinteilung verändert hat, um Tango zu tanzen [...]“, so beschreibt Franz Wolfgang Koebner die Auswirkungen des Tangowahns in seinem 1913 veröffentlichten „Tanz-Brevier“.1

Kritik bleibt freilich nicht aus. Tugendwächter sehen die guten Sitten in Gefahr. Tanzlehrer verunglimpfen den Tango, auch weil sie die Konkurrenz aus Südamerika fürchten. Von „Schiebeund Wackeltänzen“ ist die Rede.

Dass sich auch Offiziere in Uniform munter unters Tangovolk mischen, darunter sein eigener Sohn, bringt Kaiser Wilhelm II. in Rage. Im November 1913 befiehlt er seinen Soldaten, sich dieses „ausgesprochen widerwärtigen Tanzes zu enthalten“. Doch deren Tanzfreude tut das keinen Abbruch; da fröhnen sie ihrer neuen Leidenschaft eben heimlich.

Alles, was mit Tangobildern versehen ist oder Tango im Namen trägt, findet reißenden Absatz. „Plötzlich war alles nur noch ‚Tango‘: die Bluse, das Briefpapier, das Parfum, der Tango schmückte Filmtitel wie Postkartenmotive – sogar eine Farbe wurde so benannt“, schreibt Marion Kiesow in ihrem Buch „Berlin tanzt in Clärchens Ballhaus“.2

Nicht viel wissen wollen die Deutschen allerdings von den sehn suchtsvollen Texten oder den melancholischen Kompositionen vom Río de la Plata.

Diese Postkarte von 1914 hat der in Berlin lebende Künstler Luis Usabal illustriert.

Probleme? Keen Interesse! So entsteht eine Art Tangoschlager von der Spree. Hugo Hirsch liefert 1914 – noch vor Beginn des ersten Weltkrieges – den Text3 für einen solchen Gassenhauer (siehe nächste Seite).

Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein

Strophe 1:

Der Tanz in frühern Zeiten, das läßt sich nicht bestreiten, war wirklich etwas nüchtern, man war da noch zu schüchtern.

In Menuett, Gavotten, im Walzertakt, im flotten, selbst wenn man Polka hopste, das Menschenkind sich mopste.

Beim Cakewalktanz der Neger war schon die Stimmung reger. Man kam auf seine Kosten beim Twostep und beim Boston.

Doch noch bedeutend lieber da wackelte man Schieber, bis daß expreß der Tango kam und uns in Fesseln nahm.

Refrain:

Mit Tango, da fängt man kleine Mädels ein, beim Tango, da tanzt man in ihr Herz hinein. Im Tango, da kann man selig sein zu zwei’n. Auf Tango, auf Tango fällt jeder sicher rein.

Strophe 2:

Es blüht im Tanzgewimmel Berlin der Tangofimmel. Auf deinen Bummelreisen hörst du nur Tangoweisen.

Auf allen Straßen, Wegen grüßt ein Plakat entgegen, wo Tango wird empfohlen, es ist zum Teufel holen.

Zu Haus jedoch nicht minder tanzt Tango Frau und Kinder. Du siehst selbst hinterm Ofen Großmuttern Tango schwofen.

Dir brummt wie eine Hummel der Kopf im Tangorummel, bis daß als Kluger nach du gibst, und selbst Tango schiebst.

Strophe 3:

Seit Tango uns bekannt ist, Berlin ganz plümerant ist. Es wird der Großberliner zum Tangoargentiner.

Selbst dort, wo Tempelhof ist, der Tango jetzt sehr schwof ist. Der Tango ist mal heute der Tanz für bess’re Leute.

Tanzt Schieber Donna Rieke, Ruft Senor Ede: „Stieke“. „Paß uff und häng’ dir, Kleene, man in die Tangobeene.“ Bald kann man beide sehen sich argentinisch drehen; auf Tango hat der Ede Mumm für’n Groschen einmal rum.

(Text und Musik: Hugo Hirsch, 1914)

1920er:Der Tango wird standardisiert

Während des Ersten Weltkriegs sind öffentliche Tanzveranstaltungen verboten. „Mit dem Fallen des Tanzverbots stürzt sich das Volk wie ein Rudel hungriger Wölfe auf die langentbehrte Lust“, schreibt am Neujahrsmorgen 1919 das Berliner Tageblatt.

In den „Goldenen Zwanzigern“ verdrängen der Jazz und die US-amerikanischen Tänze Swing, Shimmy und Foxtrott den Tango als Modetanz. Der Tango bleibt jedoch fester Bestandteil der Gesellschaftstänze in den europäischen Hauptstädten Berlin, London und Paris. Und nicht nur dort: Auch in Skandinavien, Russland, Ost- und Südeuropa wird Tango getanzt.

Eine allgemeingültige Choreografie erhält der Tango 1929 in London: Vertreter nationaler Tanzverbände standardisieren den Tango auf einer internationalen Konferenz und etablieren ihn endgültig als Wettkampftanz. Mit seinem großen Bruder vom Río de la Plata hat der europäische Standardtango allerdings nicht mehr viel gemein.

1980er:Westberlin entdeckt den Tango wieder

Erst in den Achtzigerjahren entdeckt Westberlin den südamerikanischen Tango wieder – diesmal allerdings nicht mit voller Wucht, sondern eher behutsam. Jörg Buntenbach schreibt in seinem Buch „Tango Metropole Berlin“4