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Diplomarbeit aus dem Jahr 1999 im Fachbereich Medien / Kommunikation - Journalismus, Publizistik, Note: 1,5, Technische Universität Dortmund (Institut für Journalistik), Sprache: Deutsch, Abstract: Abstract Die vorliegende Arbeit untersucht, wie die Aufführungen des Wuppertaler Tanztheaters von Kritikern deutscher Tageszeitungen rezensiert wurden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, was die Autoren beschreiben, in welchem Kontext sie die Stücke betrachten und was bzw. wie sie interpretieren und werten. Die stilistischen und inhaltlichen Besonderheiten des Wuppertaler Tanztheaters werden vor dem Hintergrund wesentlicher Entwicklungen der Tanzgeschichte erörtert. Ein Rückblick auf die Geschichte der Tanzkritik macht zudem grundlegende Positionen und Veränderungen dieser journalistischen Disziplin deutlich. Die Analyse zeigt, daß Beschreibungen der Choreographie und einzelner Szenen in den Rezensionen stark dominieren, während Interpretation und Evaluation nur einen geringen Stellenwert haben. Die Tanzabende wurden mehrheitlich positiv, aber durchaus differenziert bewertet. Die Wertungstendenzen variieren sowohl zwischen den Zeitungen als auch im Laufe der Geschichte des Wuppertaler Tanztheaters. Kontextualisierungen machen etwa ein Viertel eines durchschnittlichen Artikels aus und beziehen sich meist auf frühere Werke der Choreographin, selten auf die anderer Künstler. Hinsichtlich der Anteile, den die kritischen Operationen in den Rezensionen haben, unterscheiden sich die verschiedenen Zeitungen nur minimal, allerdings verändert sich die Gewichtung im Laufe der Jahre analog zum Stil des Wuppertaler Tanztheaters. Dies deutet darauf hin, daß die Gewichtung der Operationen weder ein Qualitätskriterium noch eine Frage des persönlichen Stils eines Kritikers ist, sondern abhängig von der rezensierten Tanzform. Dagegen zeigen sich beim sprachlichen Stil und der Argumentation große Unterschiede. Die Bereitschaft (und wohl auch die Fähigkeit), das Bühnengeschehen für den Leser "nacherlebbar" zu machen, ist bei den Autoren sehr unterschiedlich ausgeprägt, ebenso die Strukturierung der Artikel und die Plausibilität der Argumentation. Die Untersuchung der kritischen Operationen erfolgte mit den Methoden der quantitativen Inhaltsanalyse. Es wurden 149 Rezension untersucht, die in fünf deutschen Tageszeitungen über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren erschienen sind. Einzelne Artikel wurden zusätzlich einer qualitativen Analyse unterzogen.
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Tanzende Wörter?
Eine Untersuchung zur Tanzkritik unter besonderer Berücksichtigung der kritischen Rezeption des Wuppertaler Tanztheaters in deutschen
Andreas Becker
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Kurzzusammenfassung
Die vorliegende Arbeit untersucht, wie die Aufführungen des Wuppertaler Tanztheaters von Kritikern deutscher Tageszeitungen rezensiert wurden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, was die Autoren beschreiben, in welchem Kontext sie die Stücke betrachten und was bzw. wie sie interpretieren und werten. Die stilistischen und inhaltlichen Besonderheiten des Wuppertaler Tanztheaters werden vor dem Hintergrund wesentlicher Entwicklungen der Tanzgeschichte erörtert. Ein Rückblick auf die Geschichte der Tanzkritik macht zudem grundlegende Positionen und Veränderungen dieser journalistischen Disziplin deutlich. Die Analyse zeigt, daß Beschreibungen der Choreographie und einzelner Szenen in den Rezensionen stark dominieren, während Interpretation und Evaluation nur einen geringen Stellenwert haben. Die Tanzabende wurden mehrheitlich positiv, aber durchaus differenziert bewertet. Die Wertungstendenzen variieren sowohl zwischen den Zeitungen als auch im Laufe der Geschichte des Wuppertaler Tanztheaters. Kontextualisierungen machen etwa ein Viertel eines durchschnittlichen Artikels aus und beziehen sich meist auf frühere Werke der Choreographin, selten auf die anderer Künstler.
Hinsichtlich der Anteile, den die kritischen Operationen in den Rezensionen haben, unterscheiden sich die verschiedenen Zeitungen nur minimal, allerdings verändert sich die Gewichtung im Laufe der Jahre analog zum Stil des Wuppertaler Tanztheaters. Dies deutet darauf hin, daß die Gewichtung der Operationen weder ein Qualitätskriterium noch eine Frage des persönlichen Stils eines Kritikers ist, sondern abhängig von der rezensierten Tanzform.
Dagegen zeigen sich beim sprachlichen Stil und der Argumentation große Unterschiede. Die Bereitschaft (und wohl auch die Fähigkeit), das Bühnengeschehen für den Leser "nacherlebbar" zu machen, ist bei den Autoren sehr unterschiedlich ausgeprägt, ebenso die Strukturierung der Artikel und die Plausibilität der Argumentation.
Die Untersuchung der kritischen Operationen erfolgte mit den Methoden der quantitativen Inhaltsanalyse. Es wurden 149 Rezension untersucht, die in fünf deutschen Tageszeitungen über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren erschienen sind. Einzelne Artikel wurden zusätzlich einer qualitativen Analyse unterzogen.
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Eine Art Vorwort
Um es gleich vorweg zu sagen: Ich liebe die Stücke von Pina Bausch. Im Jahre 1991 habe ich zum ersten Mal eine Vorstellung des Wuppertaler Tanztheaters gesehen, und seitdem sind zahlreiche Aufführungen hinzugekommen. Wenn auch die verschiedenen Stücke unterschiedlich auf mich wirkten, so ist eines doch immer gleich geblieben: die Sprachlosigkeit nach einer Vorstellung. Ich bin dann nicht gewillt, und vielleicht auch nicht in der Lage, das auf der Bühne Erlebte ernsthaft zu diskutieren oder gar zu analysieren. Mir ist aufgefallen, daß befreundete Bausch-Fans ganz ähnlich reagieren. Die Unterhaltung über das Gesehene beschränkt sich häufig auf das emphatische Nacherzählen von Szenen und Bildern aus dem Stück, allenfalls verbunden mit persönlichen Erinnerungen oder Assoziationen. Über den Aufbau eines Stücks, die Funktion und Bedeutung der Einzelszenen und ihre Komposition zu einem Ganzen, darüber wird so gut wie nicht gesprochen.
Dies kann mehrere Gründe haben. Vielleicht beruht die Weigerung, das Erlebte zu analysieren, auf einer vagen Angst, nachher mit leeren Händen dazustehen, das Stück mit mikroskopischem Blick zwar in seine Einzelteile zerlegt, aber dessen Zauber verloren zu haben. Möglich ist auch, daß die Schwierigkeit der Analyse nicht durch psychologische Hemmnisse bedingt ist, sondern durch die Komplexität der Tanztheater-Stücke. Im Verlauf einer Aufführung sieht der Zuschauer eine Vielzahl von Bildern und Szenen, die sich in schneller Folge abwechseln, häufig auch gleichzeitig passieren. Da es wohl unmöglich ist, diese Fülle an Aktion vollständig aufzunehmen, ist der Blick jedes Betrachters zwangsläufig selektiv und somit subjektiv. Daß die einzelnen Szenen nicht durch eine herkömmliche "Handlung" verbunden sind, kompliziert die verbale Kommunikation über das Gesehene zusätzlich. Ein weiterer Grund für die Sprachlosigkeit vieler Zuschauer mag in der Poesie von Bauschs Bildern liegen. Versteht man die Mischung aus Gesten, kurzen Texten, Spielszenen und Tanz als eine eigenständige Sprache, dann liegt die Schwierigkeit einer Analyse vor allem darin, daß das Dargestellte zuerst in Worte übersetzt werden muß. Dabei beschleicht einen nicht selten das Gefühl, daß das herkömmliche Vokabular nur bedingt geeignet ist, das Erlebte zu beschreiben, geschweige denn zu analysieren.
So bin ich nach jeder Aufführung des Wuppertaler Tanztheaters froh, nicht im Auftrag einer Redaktion gekommen zu sein, also nicht beschreiben, deuten und bewerten zu müssen.
Aus der hier dargestellten Problematik ist diese Arbeit entstanden. Ich wollte wissen, wie professionelle Kritiker über etwas schreiben, das ich zwar äußerst gerne sehe und erlebe, über das ich aber nur ungern spreche.
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Die vorliegende Arbeit untersucht, wie Tanzkritiker in deutschen Tageszeitungen über die Aufführungen des Wuppertaler Tanztheaters geschrieben haben. Die Choreographin Pina Bausch gilt heute als prominenteste Vertreterin des Tanztheaters.
Wie jeder andere künstlerische Stil, so hat auch das Tanztheater seine Vorläufer und prägenden Einflüsse. Um sowohl die Arbeiten der Choreographin als auch die Entwicklung der Tanzkritik besser zu verstehen, bietet das erste Kapitel einen Rückblick auf die Tanzgeschichte. Ausgehend vom Ballett, das in Europa jahrhundertelang die dominante Form des Bühnentanzes war, werden wesentliche Phasen in der Geschichte des europäischen und amerikanischen Tanzes dargestellt. Vor diesem Hintergrund wird dann versucht, den Begriff Tanztheater genauer zu bestimmen.
Das zweite Kapitel behandelt die Besonderheiten des Wuppertaler Tanztheaters. Nach einem Überblick über Pina Bauschs Werdegang, ihre Choreographien und ihr Ensemble werden ihre Arbeitsweise und wesentliche Merkmale ihres künstlerischen Stils untersucht. Die in den Anfangsjahren teilweise empörten Reaktionen des Publikums werden am Ende dieses Kapitels ebenfalls kurz dargestellt. Während in den ersten beiden Kapiteln der Tanz selbst im Mittelpunkt steht, konzentriert sich das dritte Kapitel auf die journalistische Tanzkritik - jene Disziplin also, deren Vertreter nach Worten für eine Kunstform suchen, deren Sprache vor allem non-verbal ist. Weil die journalistische Tanzkritik in Deutschland ein kaum erforschtes Gebiet ist, stützen sich die Darstellungen in diesem Kapitel vor allem auf amerikanische und englische, gelegentlich auch auf französische Quellen. Der Blick auf die geschichtliche Entwicklung und einige prominente Vertreter zeigt, wie sich die Tanzkritik analog zu ihrem Gegenstand, dem Tanz, im Laufe der Jahre verändert hat. Besondere Anforderungen an die Tanzkritik werden dabei ebenso behandelt wie die spezifische Problematik dieser Kritikform.
Anschließend werden die vier kritischen Operationen vorgestellt, die Autoren beim Schreiben einer Tanzrezension ausüben können. Es sind dies Deskription, Kontextualisierung, Interpretation und Evaluation. Auf der Basis dieser Operationen und vor dem Hintergrund des spezifischen Stils des Wuppertaler Tanztheaters wird das Instrumentarium entwickelt, mit dem die für diese Arbeit ausgewählten Rezensionen analysiert werden.
Die Methodik der Untersuchung wird in Kapitel vier ausführlich vorgestellt. Untersuchungsgegenstand sind die Rezensionen sämtlicher Premieren des Wupper-
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taler Tanztheaters, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, der Stuttgarter Zeitung, der Westdeutschen Zeitung und der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung erschienen sind. Die Artikel werden sowohl mit quantitativen als auch mit qualitativen Methoden untersucht.
Die Ergebnisse der quantitativen Inhaltsanalyse werden im fünften Kapitel detailliert vorgestellt und vor dem Hintergrund der Geschichte des Wuppertaler Tanztheaters diskutiert. Anschließend werden einige Artikel einer qualitativen Einzelanalyse unterzogen (Kapitel 6). Besonderes Interesse gilt dabei dem sprachlichen Stil und der Argumentationsstruktur, da diese Kriterien in der quantitativen Untersuchung nicht berücksichtigt werden.
Im siebten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefaßt und die sich daraus ergebenden Forderungen an die Tanzkritik und die Journalistenausbildung diskutiert. Außerdem erfolgt eine kritische Reflexion der vorliegenden Arbeit.
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Das Ziel dieses Kapitels ist die tanzgeschichtliche Einordnung des Tanztheaters, nicht aber ein umfassender Überblick über sämtliche Tanzformen. Aus diesem Grunde bleiben Tänze, die nicht primär für die Bühnenaufführung konzipiert sind, wie z.B. rituelle Tänze oder Volkstänze, hier ebenso unberücksichtigt wie Tanzgattungen, die nicht aus dem europäischen oder nordamerikanischen Kulturkreis kommen, wie beispielsweise der indische Tanz oder der japanische Butoh-Tanz. Es wird gezeigt, daß das Tanztheater in der Tradition des europäischen und nordamerikanischen Bühnentanzes steht. Die kulturhistorische und tanzstilistische Einschränkung scheint mir vertretbar, auch wenn sich in Pina Bauschs Stücken durchaus Elemente und Tanzstile anderer Kulturkreise finden lassen.
Die Tanzliteratur ist voller Definitions- und Kategorisierungsversuche, nicht nur das Ballett betreffend. Leider sind diese häufig wenig systematisch und zum Teil widersprüchlich. Um Irritationen in dieser Arbeit vorzubeugen, werden einige Ausdrücke kurz erläutert.
Der Begriff Ballett hat drei Bedeutungen: Zum einen ist damit das getanzte Bühnenwerk selbst gemeint, z.B. das Ballett "Schwanensee". Zum anderen kann Ballett in Zusammenhang mit einer Orts- oder Namensangabe auch für ein bestimmtes Ensemble stehen, wie das Bolschoij-Ballett, die Ballets Russes oder die Ballets Jooss. Drittens bezeichnet Ballett die theatralische Gattung des Bühnentanzes, die in der Renaissancezeit entstanden ist und seitdem viele stilistische Wandlungen durchlaufen hat. So unterscheiden sich frühe Ballette des 17. oder 18. Jahrhunderts erheblich von den romantischen Handlungsballetten des 19. und den modernen des 20. Jahrhunderts. Adjektive wie romantisch oder modern bezeichnen in diesem Falle also unterschiedliche Stile derselben theatralischen Gattung.1Im Gegensatz dazu steht der Begriff klassischer Tanz (seltener, aber ebenfalls gebräuchlich, ist die synonyme BezeichnungDanse d'école)für eine Tanztechnik. Diese basiert auf dem Regelkanon der Pariser Tanzakademie aus dem 17. Jahrhundert und hat sich, im Gegensatz zur theatralischen Gattung Ballett, nur geringfügig verändert. Noch heute sind die Grundpositionen der Füße dieselben wie vor über 300 Jahren. Wegen ihrer Beständigkeit wird diese Tanztechnik klassisch genannt, auch wenn damit nicht eine kunsthistorische Periode gemeint ist.2
1Zacharias, Gerhard: Ballett - Gestalt und Wesen: Die Symbolsprache im europäischen Schautanz der Neuzeit. Köln 1962, S. 9-11
2Nadel, Myron Howard: The Ballet. IN: Nadel, Myron Howard & Nadel Miller, Constance (Hg.): The Dance Experience. Readings in Dance Appreciation. New York 1978, S. 93-100
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Den Balletten der unterschiedlichen Stilrichtungen (also romantisches Ballett, modernes Ballett etc.) ist gemein, daß sie sich alle derselben Tanztechnik bedienen und die Tänzer alle eine Ausbildung im klassischen Tanz genossen haben. In der Umgangssprache, in Zeitungsartikeln, aber auch in der Tanzliteratur wird häufig der Ausdruck klassisches Ballett gebraucht. Meistens (auch hier gibt es, je nach Autor, Unterschiede) ist damit das romantische Ballett des 19. Jahrhunderts gemeint, weil aus dieser Zeit die wohl bekanntesten Ballettwerke stammen (z.B. "Giselle" oder "Schwanensee"). So schreibt der britische Autor Adrian Stokes 1935: "Das romantische Ballettistdas klassische Ballett."3Andere Autoren halten den Begriff dagegen für ungeeignet und verweisen darauf, daß im Französischen - aus dem, mit Ausnahme weniger italienischer Wörter wie z.B.Ballerina,sämtliche Ballettermini stammen - die Bezeichnungballet classiqueebenfalls ungebräuchlich ist.4Der häufigen Verwendung des Ausdrucks klassisches Ballett hat Kritik dieser Art jedoch keinen Abbruch getan.
Hinzu kommt, daß einige Autoren und Nachschlagewerke unter dem Begriff Ballett "jede Art von Bühnentanz in künstlerischer Form"5subsumieren. Eine solche Definition läßt natürlich keine Trennung zwischen Ballett und Modern Dance zu und muß deshalb auf Hilfskonstruktionen wie klassisches Ballett zurückgreifen. Die vorliegende Arbeit folgt diesem Ansatz nicht, sondern definiert, wie oben dargelegt, Ballett als künstlerischen Bühnentanz, der auf den Elementen des klassischen Tanzes basiert.
Ausgangspunkt der frühen Ballette waren die aristokratischen Gesellschaftstänze an den Höfen Italiens im 15. Jahrhundert. Auch etymologisch ist das Wort italienischer Abstammung.Ballobezeichnet, ganz allgemein, einen Tanz.Balletto,der Diminutiv vonballo,heißt also schlicht Tänzchen.6Diese Tänzchen waren jedoch kaum mehr als getanzte Einschübe in Schau- und Singspielen, Maskenbällen oder sonstigen höfischen Festen. Die Choreographie unterlag anfangs noch keiner starren Ordnung, und das Einfühlungs- und Übertragungsvermögen der tanzenden Höflinge war ein wesentlicher Bestandteil dieser Ballette. Später wichen diese freien Tanzformen
3Stokes, Adrian: The Classical Ballet. IN: Copeland, Roger & Cohen, Marshall (Hg.): What is Dance? Readings in Theory and Criticism. New York 1983, S. 251 (Hervorhebung Stokes, Übersetzung A.B.)4Zacharias: a.a.O., S. 11f.
5Schneider, Otto (Hg.): Tanzlexikon: der Gesellschafts-, Volks- und Kunsttanz von den Anfängen bis zur Gegenwart mit Bibliographie und Notenbeispielen. Mainz 1985, S. 38. Nadel schlägt vor, daß sämtliche Aktivitäten des Establishment, also der Ensembles an Staats- und Stadttheatern, Ballett genannt werden sollten, die Produktionen der freien Gruppen dagegen schlicht Tanz. Nadel: a.a.O., S. 100
6Otterbach, Friedmann: Einführung in die Geschichte des europäischen Tanzes. Ein Überblick. Wilhelmshaven 1992, S. 65
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einer zunehmenden Geometrisierung der Tänze, und Regeln legten die verschiedenen Schritte des Repertoires fest. Als "schön" galt eine bestimmte Raumordnung und der einheitliche Maßstab der Proportionen. Der Tanztheoretiker Walter Sorell schreibt über die Frühzeit des Balletts:
"[...] [D]er Mensch [erwarb sich] ein besonderes Gefühl, wenn nicht Verständnis, für alles Geometrische. Und Geometrie wurde im 16. Jahrhundert das Modewort, es war wie ein weithin leuchtendes Licht, das auch auf den ersten choreographischen Versuch fiel."7In der Frühzeit des Balletts waren die Grenzen zu anderen Bühnenkünsten fließend. Im 1608 aufgeführten "Il ballo delle ingrate" ("Der Tanz der Spröden") des italienischen Komponisten Claudio Monteverde (1567-1643) wurde gleichzeitig getanzt und gesungen, er galt daher alsballet mélodramatique.Dagegen wurde imballet dramatiqueoderballet comiqueder Tanz mittels dichterischer Einschübe erweitert oder unterbrochen.8
Ab 1533, nach der Heirat Katharinas von Medici (1519-89) mit dem Herzog von Orléans, dem späteren französischen König Heinrich II., entwickelte sich Frankreich zum Zentrum der Ballettgeschichte. Der florentinische Ballettmeister Baldassarino de Belgiojoso wurde an den Hof nach Paris berufen, und in seinem Gefolge kamen auch viele italienische Musikanten und Tänzer nach Paris. 1581 schuf Belgiojoso, der sich in Frankreich Balthasar de Beaujoyeux nannte, das mehrstündige "Ballet comique de la Reine". Dieses Ballett wird heute als Ausgangspunkt für den klassischen Tanz gewertet.9Gleichzeitig ist es das erste Ballett, von dem detailliertere Aufzeichnungen überliefert sind.10Die Titelbezeichnung weist bereits darauf hin, daß es sich um eine Verbindung von Tanz und Theater handelte. In einem Prolog, zwei Hauptteilen und einem abschließenden "grand ballet" wurde die Geschichte von Odysseus und Circe erzählt. Dabei nahmen erstmals auch Hofdamen am sonst nur männlichen Höflingen vorbehaltenen Tanzgeschehen teil und formten so das ersteCorps de ballet.11Wie für höfische Tänze dieser Zeit üblich, war auch das "Ballet comique de la Reine" nach streng geometrischen Strukturen aufgebaut. Dies erforderte genaue Schrittfolgen, außerdem durften sich die Tanzenden nur in
7Sorell, Walter: Kulturgeschichte des Tanzes. Wilhelmshaven 1995, S. 778Otterbach: a.a.O., S. 70f.
9Stüber, Werner Jacob: Geschichte des Modern Dance. Zur Selbsterfahrung und Körperaneignung im modernen Tanztheater. Wilhelmshaven 1984, S. 26
10Haskell, Arnold L.: Ballet Panorama. An Illustrated Chronicle of Three Centuries. London 1938, S. 10f.
11AlsCorps de balletwerden die Tänzerinnen und Tänzer bezeichnet, die nur in Gruppenszenen tanzen und keine Soloauftritte haben. Vgl.: Koegler, Horst: Kleines Wörterbuch des Tanzes, Stuttgart 1999
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der Horizontalen bewegen. Sprünge, wie sie in den Volkstänzen der niederen Schichten praktiziert wurden, galten als unfein und waren noch nicht gestattet. Im Laufe der Zeit verschwanden die Vorbehalte gegenüber Sprüngen im Tanz, und es kam zu einer Unterscheidung in "hohes" Tanzen (hautedanse)und "niedriges" Tanzen (bassedanseoderdanse par terre).Diese Einteilung war wesentlich für die Entwicklung einer eigenständigen Ballettkunst, die losgelöst von den höfischen Gesellschaftstänzen verlief. Letztere waren, in Abgrenzung vom als vulgär angesehenen Volkstanz, immer noch durch den Verzicht auf Sprünge und das "Schleifen auf den Zehen"12gekennzeichnet. Das Ballett dagegen fiel fortan in die Rubrik der "hohen theatralischen Täntze [sic!]", wie der Leipziger Tanzmeister Gottfried Taubert in seiner 1717 veröffentlichten Abhandlung über die französische Tanzkunst schrieb.13Die Einführung derhaute danseeröffnete dem Ballett nicht nur neue Bewegungsformen, sondern machte es auch komplexer und schwieriger zu erlernen. Dieser gesteigerte Anspruch an die Kunstfertigkeit der Tanzenden führte letztlich zu einer Professionalisierung des Tanzes. Schon bald wurden die Ballette nicht mehr nur von aristokratischen Laien getanzt, sondern zunehmend von Berufstänzern - ein bedeutender Schritt in der Tanzgeschichte: "Das Ballett, wie wir es heute kennen, entstand, als sich die professionelle Akrobatik und die aristokratische Grazie des Höflings vereinigten."14
Unter Ludwig XIV. wurde die Trennung in Amateure und Berufstänzer weiter vorangetrieben und führte schließlich zur Gründung der Königlichen Tanzakademie (Académie Royale de Danse) im Jahre 1661.15Sie sollte klare Regeln für das Ballett festlegen, über deren Einhaltung wachen und die so definierte Technik unterrichten. Pierre Beauchamp (1636-1705), bis 1680 erster Leiter der Akademie, entwickelte einen systematisch aufgebauten Bewegungskatalog, wobei er Wert legte auf Schritte und Bewegungsfolgen, die technisch anspruchsvoller waren als die zu dieser Zeit modischen und eher einfachen geometrischen Bewegungen.16Beauchamp definierte auch fünf Ausgangspositionen, die noch heute die Basis jeden Ballettunterrichts bilden. Füße und Beine der Tänzer stehen dabei nicht, wie beim normalen Gehen,
12Otterbach, a.a.O., S. 9813Zit. nach: ebenda, S. 9714Zit. nach: Stüber: a.a.O., S. 2715Otterbach: a.a.O., S. 99
Ludwig XIV. war selbst ein aktiver Tänzer. Seinen Beinamen Sonnenkönig soll er erhalten haben, als er 1653, im Alter von 15 Jahren, im "Ballet de la Nuit" die Sonne spielte. Vgl.: ebenda, S. 8416Bland, J.: A History of Ballet and Dance. New York 1920, S.48f.
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parallel zueinander, sondern sind nach außen gedreht. Diese Auswärtsdrehung oderen dehorsist eine der fundamentalsten Anforderungen des klassischen Tanzes. Das hat zum einen technische Gründe, denn der Spielraum der Beinbewegungen wird so erheblich vergrößert. Ein weiterer Grund für dasen dehorsliegt in der Ästhetik. Da im 17. Jahrhundert bereits auf erhöhten Bühnen und frontal zum Publikum getanzt wurde, diente das Ausdrehen dazu, den Zuschauern immer das "geöffnete" Antlitz des Körpers zu präsentieren und körperlich-seelische Verschlossenheit der Tanzenden zu überwinden. So gilt in der Ästhetik des Balletts die knochige Vorderansicht eines Beines als trocken und reizlos, seine nach außen gedrehte Innenfläche dagegen als weich, lebendig, elastisch, kurz: als schöner. Die Armhaltung (portde bras)wurde ebenfalls entsprechend kodifiziert.171669 gründete Ludwig XIV. die Königliche Musikakademie (Académie Royale de Musique), die Vorläuferin der Opéra de Paris. Schon in den ersten Produktionen wirkten Tänzer mit, so daß das Ballettensemble der Pariser Oper als das älteste der Welt gilt. Um sicherzustellen, daß ihrem Ensemble genügend gut ausgebildete, professionelle Tänzer zur Verfügung standen, eröffnete die Pariser Oper 1713 eine eigene Ballettschule.18Die Tatsache, daß Ballettaufführungen nicht mehr nur auf der königlichen Privatbühne, sondern zunehmend auf öffentlichen Bühnen gegeben wurden, begünstigte die Entwicklung des Berufsstandes der Tänzer zusätzlich.19Die in Frankreich betriebene zentralistische Reglementierung der Tanztechnik führte nicht nur zu einer Erhöhung der technischen Virtuosität, sondern auch zu einer Vernachlässigung der inhaltlichen Handlung und des künstlerischen Ausdrucks. Ballette im 18. Jahrhundert glichen häufig einer Aneinanderreihung von technischen Schwierigkeitsgraden und akrobatischen Einlagen, die nur lose durch einen, meist aus der griechischen Mythologie entlehnten Handlungsstrang verknüpft waren. Der französische Tanzforscher Roger Garaudy schreibt über diese Zeit: "Die Kodifizierung des Tanzes durch Pierre Beauchamp und die Académie de Danse, wie die der Sprache durch die Académie française und die der Malerei durch die Académie de peinture, führte, wie in allen Bereichen, zu einem 'Akademismus' und zur Verkrustung. Die technische Perfektion wurde zum Selbstzweck: Das Wesentliche waren von nun an Klarheit, Gleichgewicht, Ordnung, selbst um den Preis der Steifheit. Die Kunst trennte sich vom Leben und dessen Ausdruck."20
17Zacharias: a.a.O., S. 24-32
18Anderson, Jack: Ballet & Modern Dance. A Concise History. Princeton 1986, S. 33-4019Schneider: a.a.O., S. 38
20Garaudy, Roger: Danser sa vie. Paris 1973, S. 34 (Übersetzung A.B.)
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Der Choreograph und Ballett-Theoretiker Jean-Georges Noverre (1727-1810) gehörte zu den stärksten Kritikern einer seelenlosen Virtuosität. In seinen "Briefe[n] über den Tanz" forderte er eine Reform der Ballettkunst.21Ballette sollten nicht mehr, wie zu seiner Zeit noch üblich, nur choreographische Umsetzungen der musikalischen Vorgaben sein, sondern die tänzerische Umsetzung einer dramatischen Idee, einer Handlung. Die Musik sollte eigens für das Ballett geschrieben werden. Während seiner aktiven Zeit als Choreograph an der Pariser Oper konnte sich Noverre mit seinen Ideen nicht durchsetzen. Dennoch übten seine Schriften einen großen Einfluß auf die Entwicklung des Balletts aus und führten dazu, daß die starre Einteilung im technischen und dramatischen Ablauf des Barockballetts von einem natürlicheren Ausdruck und Geschehen abgelöst wurde.22
Die romantische Kunst im 19. Jahrhundert war von dem Gedanken fasziniert, sich der Fesseln, mit denen der Mensch an den Alltag gebunden ist, zu entledigen. Die durch die industrielle Revolution ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen waren gewaltig, und die enorme Popularität, der sich das Ballett im 19. Jahrhundert erfreute, läßt sich darauf zurückführen. Das aufgestiegene Bürgertum imitierte aristokratische Geschmacksvorstellungen, indem es einer Kunst huldigte, deren wesentliches Merkmal höfische Eleganz war. Gleichzeitig spiegelten die romantischen Ballette den Wunsch wider, die Beschränkungen der Realität zu überwinden. Dies zeigte sich in den Handlungen, den Kostümen und der Tanztechnik. Märchen, Mythen und Legenden waren beliebte Ausgangsmaterialien für Balletthandlungen, die auf der Bühne nicht nur durch Tanz, sondern auch pantomimische Elemente umgesetzt wurden. In luftigen Kleidern und flatternden Schleiern stellten die Tänzerinnen Elfen, Nymphen und andere ätherische Fabelwesen dar, aber auch anmutige Tiere wie Schwäne oder Schmetterlinge. Der Versuch, eine Illusion von Leichtigkeit und Unangestrengtheit zu vermitteln, wurde im romantischen Ballett buchstäblich auf die Spitze getrieben: Die Tänzerinnen sollten "fliegen" lernen und den Anschein erwecken, nicht an die Gesetze der Schwerkraft gebunden zu sein. Dies wurde möglich durch die Einführung des Spitzentanzes, die wesentliche tanztechnische Neuerung im 19. Jahrhundert. Dabei berühren die Tänzerinnen den Boden nur noch mit den Spitzen ihrer Füße, so daß der Eindruck entsteht, als schwebten sie über die Bühne.23Die anatomische Unmöglichkeit, das ganze Körpergewicht allein auf den Zehenspitzen zu tragen, wird durch eine Leder- oder Korkverstärkung im Ballettschuh umgangen.
21Jean-Georges Noverre: Lettres sur la danse. Paris 1978 (Nachdruck der Erstausgabe von 1760)22Schneider: a.a.O., S. 3923Otterbach: a.a.O., S. 106-115
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Der Spitzentanz stellt höchste Anforderungen an Gleichgewicht und Körperkontrolle einer Tänzerin. Die im 19. Jahrhundert gezeigte technische Virtuosität führte, verbunden mit romantischer Rollengestaltung, zu einer Idealisierung der Tänzerin als Inbegriff von überirdischer Anmut und Eleganz. Dies schlug sich auch in einer Aufwertung der weiblichen Rollen nieder, männliche Parts hatten häufig nur unterstützende Funktion. So nimmt in den Choreographien des Franzosen Marius Petipa (1819-1910) die Primaballerina meist den Mittelpunkt ein. Petipa wurde 1862 erster Ballettmeister des Marijinsky-Theaters in Sankt Petersburg, und unter seiner Leitung entwickelte sich das zaristische Rußland neben Frankreich und Italien zu einem weiteren Zentrum des klassischen Tanzes.24
Die große Beliebtheit des Balletts im 19. Jahrhundert führte dazu, daß sich der Tanz zunehmend von der Oper löste und als eigenständiges Kunstwerk aufgeführt wurde. Auch die Musik wurde meist speziell für die Ballette komponiert. Petipa arbeitete sehr eng mit Peter Tschaikowsky (1840-1893) zusammen, der u.a. die Musik zu den Balletten "Dornröschen", "Nußknacker" und "Schwanensee" schrieb. Kennzeichnend für das Verhältnis von Choreographie und Musik im romantischen Ballett ist das Bemühen um strikte Parallelität. So wurden auf schnelle musikalische Passagen meist kleine und schnelle Schritte getanzt, während langsame Passagen durch großflächige Figuren umgesetzt wurden. Ein extremes Beispiel für die Doppelung von Musik und Tanz sind die Arbeiten Petipas, von dem die russische Tänzerin Jekaterina Gelzer sagte, es habe bei ihm "keine einzige Bewegung [gegeben], die nicht der Musik entsprungen wäre."25
Wegen unzureichend entwickelter Notationssysteme und auch mangelnden tanzhistorischen Interesses sind die meisten Choreographien vergangener Jahrhunderte unwiederbringlich verlorengegangen.26Auch von den romantischen Balletten gibt es nur wenige, deren Originalform überliefert oder zumindest annäherungsweise rekonstruierbar ist. Die bekanntesten von ihnen gehören auch heute noch zum festen Repertoire der großen Ensembles, wenn auch nicht unbedingt in der Originalversion: "La Sylphide" (Choreographie: Filippo Taglioni, Paris 1832), "Giselle" (Chor.: Jean Coralli und Jules Perrot, Paris 1841), "Dornröschen" (St. Petersburg 1890) und "Schwanensee" (Chor.: Marius Petipa und Lew Iwanow, St. Petersburg 1895).27
24ebenda, S. 12225Zit. nach: Otterbach, a.a.O., S. 125
26Zu den Problemen der Rekonstruktion siehe den Beitrag von Hall, Fernau: Dance Notation and Choreology. IN: Copeland & Cohen: a.a.O., S. 390-399.
Zum Problem der Werktreue rekonstruierter Aufführungen siehe Anderson, Jack: Idealists, Materialists, and the thirty-two Fouettés. IN: Copeland & Cohen: a.a.O., S. 410-41927Otterbach: a.a.O., S. 108 und 125
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Aus Rußland kamen nicht nur die letzten großen romantischen Bühnenwerke, sondern auch ein Tanzensemble, das zum bedeutendsten seiner Zeit wurde und dessen Arbeiten das Ballett grundlegend veränderten: die Ballets Russes des Impresarios Serge Diaghilew (1872-1929). 1909 trat die Truppe erstmals in Paris auf, wo sie in den folgenden Jahren mit wichtigen Premieren für Furore sorgte. Gastspiele führten das Ensemble zudem durch ganz Europa und in die USA. Diaghilew konnte herausragende Künstler für seine Ballets Russes gewinnen. Michail Fokine (1880-1942) war der erste Choreograph der Truppe, später kamen Léonide Massine (1895-1979) und George Balanchine (1904-1983) hinzu. Solisten waren u.a. Waslaw Nijinsky (1889-1950), der auch selbst choreographierte, Tamara Karsavina (1885-1978) und Serge Lifar (1905-1983). Die Musik wurde von bekannten Komponisten wie Igor Strawinsky (1882-1971), Claude Debussy (1862-1918) und Maurice Ravel (1875-1937) geschrieben, und für die Bühnenbilder zeichneten Künstler wie Léon Bakst (1866-1924) und Pablo Picasso (1881-1973) verantwortlich.
Mehr als 60 Werke brachten die Ballets Russes zur Aufführung, bevor die Truppe mit dem Tod Diaghilews im Jahre 1929 zerfiel. Zu den bekanntesten Produktionen zählen "L'Oiseau de Feu" ("Der Feuervogel", Choreographie: Fokine, Musik: Strawinsky, Paris 1910), "Petruschka" (Chor.: Fokine, Musik: Strawinsky, Paris 1911), "Daphnis et Chloé" (Chor.: Fokine, Musik: Ravel, Paris 1912), "L'Après-Midi d'un Faune" ("Nachmittag eines Fauns", Chor.: Nijinsky, Musik: Debussy, Paris 1912), "Le Sacre du Printemps" ("Das Frühlingsopfer", Chor.: Nijinsky, Musik: Strawinsky, Paris 1913) und "Apollon Musagète" (Chor.: Balanchine, Musik: Strawinsky).28
Die Werke der Ballets Russes standen für eine Theaterkunst, die tänzerische Bewegung, Handlung, Musik und Bühnenbild zu einer künstlerischen Einheit verband. Die Choreographen und Tänzer der Ballets Russes hatten ihre Wurzeln alle im klassischen Tanz, brachen aber in ihren Werken mit sämtlichen Ballett-Konventionen. Deutlich wird dies in den fünf Regeln, die Michail Fokine für das "neue Ballett" aufstellte und die einem Manifest gleichkamen:29Erstens lehnte er die herkömmliche Ballett-Ästhetik mit ihren Kombinationen aus immer gleichen Tanzschritten ab und forderte, sich nur solcher Formen zu bedienen, die der dargestellten Kultur und Epoche am stärksten Ausdruck verleihen. Zweitens sprach er sich gegen Tänze und pantomimische Elemente mit rein dekorativer oder unterhaltender Funktion aus. Jedes Element, daß nicht dem Ausdruck der
28Otterbach: a.a.O., S. 166f.
29Fokine, Michel: Letter to "The Times," July 6th, 1914. IN: Copeland & Cohen: a.a.O., S. 257-261
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dramatischen Handlung diene, habe in einem Ballett nichts zu suchen. Drittens wollte Fokine die Gestik, die im konventionellen Ballett auf die Hände beschränkt war, auf den gesamten Körper ausweiten: "Der Mensch kann und sollte von Kopf bis Fuß expressiv sein."30Analog dazu besagte die vierte Regel, daß dasCorps de balletnicht mehr nur als schmückendes Beiwerk fungieren, sondern, ähnlich den Solisten, Gefühle ausdrücken und Handlung tragen sollte. Die fünfte Regel schließlich forderte eine Allianz der Künste. Der Tanz, so Fokine, sei den anderen Künsten gleichrangig und habe sich daher weder der Musik noch den Kostümen noch dem Bühnenbild unterzuordnen. Umgekehrt lasse der Choreograph den anderen Künstlern völlig freie Hand. Im Gegensatz zum bisherigen Ballett wolle man keine "Ballettmusik", die als Begleitung für den Tanz dient, sondern jede Art von Musik, wenn sie nur gut und ausdrucksstark ist.
Die Aufwertung der Expressivität auf Kosten konventioneller Ästhetik verstörte viele Ballettliebhaber. Die Uraufführung von Nijinskys "Le Sacre du Printemps" geriet zum Skandal, viele Zuschauer protestierten lautstark, andere beschimpften die Störer. Die Theaterdirektion ließ das Licht im Saal mehrfach an- und wieder ausmachen, um das Publikum zur Ruhe zu bringen, während die Vorstellung weiterlief.31Die Anspannung mancher Zuschauer kannte keine Grenzen, wie ein Premierengast berichtete: