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Einblicke in eine ganz eigene, oft geheimnisvolle und nur schwer zugängliche Welt: »Tatort Hafen – Tod an den Landungsbrücken« – der erste Band einer neuen norddeutschen Krimireihe aus dem Hamburger Hafen Am Touristenmagnet St. Pauli-Landungsbrücken wird der Barkassen-Kapitän Dominic Lutteroth erschlagen auf seinem Ausflugsschiff gefunden. Der Fall, der sofort für große mediale Aufmerksamkeit sorgt, landet auf dem Schreibtisch der erfahrenen Kriminalhauptkommissarin Jonna Jacobi – die kurz vor ihrer Pensionierung eigentlich kürzertreten wollte. Stattdessen muss nun eine junge Mutter über den Tod ihres Ehemannes informiert werden, bevor sie aus den Nachrichten davon erfährt. Zusammen mit dem Wasserschutzpolizisten Tom Bendixen beginnt Jonna zu ermitteln und ist schnell fasziniert vom Mikrokosmos Hamburger Hafen mit seinen ureigenen Regeln und althergebrachten Traditionen. Doch als Jonna und Tom eben glauben, einer Art Barkassen-Krieg auf die Spur gekommen zu sein, der den Kapitän das Leben kostete, verschwindet Lutteroths Ehefrau … Ein hochspannender Mix aus Regio-Feeling mit True-Crime-Elementen Der atmosphärische Regionalkrimi bietet exklusive Einblicke in die faszinierende Welt des Hamburger Hafens und der Wasserschutzpolizei. Denn Angélique und Andreas Kästner wissen genau, wovon sie schreiben: Autorin Angélique Kästner ist Spezialistin für Krisenintervention, und Hauptkommissar a. D. Andreas Kästner war über 30 Jahre bei der Hamburger Wasserschutzpolizei. »Wer Hamburg liebt, wird Kästner & Kästner lieben! Eine raffiniert neue Stimme am Krimihimmel - starker Sound, starke Geschichte, ganz nah am Wasser. MEHR DAVON!« Bernhard Aichner
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Kästner & Kästner
Tod an den Landungsbrücken
Kriminalroman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Am Touristenmagnet St. Pauli-Landungsbrücken wird der Barkassen-Kapitän Dominic Lutteroth erschlagen auf seinem Ausflugsschiff gefunden. Der Fall, der sofort für große mediale Aufmerksamkeit sorgt, landet auf dem Schreibtisch der erfahrenen Kriminalhauptkommissarin Jonna Jacobi – die kurz vor ihrer Pensionierung eigentlich kürzertreten wollte. Stattdessen muss nun eine junge Mutter über den Tod ihres Ehemannes informiert werden, bevor diese aus den Nachrichten davon erfährt.
Zusammen mit dem Wasserschutzpolizisten Tom Bendixen beginnt Jonna zu ermitteln und ist schnell fasziniert vom Mikrokosmos Hamburger Hafen mit seinen ureigenen Regeln und althergebrachten Traditionen. Doch als Jonna und Tom eben glauben, einer Art Barkassen-Krieg auf die Spur gekommen zu sein, der den Kapitän das Leben kostete, verschwindet Lutteroths Ehefrau …
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Dank
Leseprobe: Tatort Hafen Band 2
Tod im Schatten der Elbflut
Er lag auf dem Rücken wie ein aufgeklapptes Buch, das jemand achtlos zurückgelassen hatte.
Die Arme von sich gestreckt und außerstande, sich auf die Seite zu drehen. Ein Bein aufzustellen, war unmöglich, denn seine Gliedmaßen gehorchten ihm nicht mehr. Ein dumpfes Pochen hämmerte in seinem Kopf, und er hätte sich gerne an die Stirn gegriffen, um nachzusehen, ob er blutete. Aber seine von der harten Arbeit raue Hand ruhte nutzlos und schlaff auf dem Schiffsboden.
Seine Augen hatten Mühe, das Innere der Kajüte zu fokussieren, und das kam nicht von dem dichten Nebel, der Hamburg seit dem Nachmittag genauso gnadenlos überschwemmte wie das schmerzhafte Dröhnen seinen Kopf. Die Nebelschwaden dämpften alle Geräusche, und eine beinahe magische Stille lag über dem sonst so pulsierenden Hafen. Sein Geruchssinn schien noch tadellos in Ordnung. Deutlich nahm er die öl- und dieselgeschwängerte Luft wahr, die aus dem Schiffsinneren drang.
Und wenn seine Verletzung womöglich tödlich war?
Seine Antwort fiel ebenso kurz wie schockierend aus: Der Streit war eskaliert. Der Schlag hatte ihn bewegungsunfähig zu Boden geschickt. Er war allein, und keine Menschenseele würde ihn finden. Ja, so konnte sich Sterben anfühlen. Mitten im Hamburger Hafen, an einem nebligen Nachmittag im Oktober.
Nur über seine Leiche!
Fast hätte er gelacht, aber das Pochen im Kopf wandelte sich zu schmerzhaften Stichen, ließ nicht nach, und so reichte es nur für ein schmales Lächeln. Er dämmerte einen Moment in der Dunkelheit vor sich hin, bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte.
Liegen zu bleiben und zu sterben, war keine Option. Er hatte sein ganzes Leben lang gekämpft und würde jetzt nicht damit aufhören. Er musste versuchen, sich aufzurichten … Da! Waren das Schritte auf dem Bodenblech der Barkasse?
Er zwang die müden Augen auf. Gab es da nicht eine Bewegung hinter dem Seitenfenster? Er starrte ins Grau.
»Hilfe!«, schrie er.
Erstaunt bemerkte er, dass kein Ton aus seinem Mund kam.
Es hieß doch, das ganze Leben würde an einem vorbeiziehen, bevor man starb. Das stimmte nicht. Er dachte nur daran, dass sein Appell nicht genug gewesen war und seine Erklärung nur ein dreckiges Lachen ausgelöst hatte. Selbst sein Betteln um Verständnis war ungehört verhallt. Er war gescheitert. Er hatte den Hieb auf den Kopf nicht kommen sehen und war unvorbereitet davon getroffen worden.
Hätte er doch nur schneller reagiert! Selbst zugeschlagen, als es noch möglich war. Aber er hatte ja nicht geahnt … Das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Er schob den Gedanken zurück zu den anderen. Zu denen, die er nie zu Ende gedacht hatte. Alles hübsch in die hinterste Schublade seines Gehirns. Weit genug weg, damit er nicht daran rütteln konnte.
Lieber Gott, hilf mir, flehte er im Stillen. Schick jemanden, der mich findet. Bitte!
Es funktionierte nicht. Weil er nicht an Gott glaubte und weil er im hintersten Winkel seiner Barkasse zusammengebrochen war. Weil Hamburg im Nebel ertrank, weil kein Schiff mehr im Hafen unterwegs war und weil keiner wusste, dass er hier lag. Dabei musste das Licht aus der Kajüte wie eine Insel der Wärme in dem feuchten Grau aussehen. Aber wenn niemand da war, den es anlocken konnte?
Immerhin spürte er die Feuchtigkeit durch seine Kleidung dringen, den kalten Boden unter sich und die schaukelnden Bewegungen seiner Barkasse. Seiner geliebten Rike. Sie hatte ihm treue Dienste erwiesen, und er hatte sie stets sicher durch den Hafen manövriert.
Sein Atem wurde flacher, seine Kräfte schwanden, doch er spürte eine seltsame Gelassenheit. Er hörte ein Nebelhorn tuten, und ein Schauer durchfuhr ihn. Alles wird gut, dachte er. Jedes Wetter klarte auf. Immer.
Und plötzlich sah er einen hellen, warmen Lichtschimmer. Das musste die Sonne hinter dem Nebel sein, sie schien ja auch hinter den Wolken.
Sie blinzelte ihm durch die Nebelschwaden zu – und zauberte ihm ein letztes Lächeln ins Gesicht.
Die schweren Nebelschleier des Oktoberabends verschluckten alle Kontraste der HafenCity. Tom fuhr langsam durch die leeren Straßen. Das Zwielicht tauchte die Speicherstadt in eine gespenstische Stimmung, und er genoss die Fahrt zum Nachtdienst. Er hatte in einem Zeitungsartikel gelesen, dass viele Menschen den Übergang vom Tag zur Nacht nicht ertrugen oder Probleme mit Veränderungen hatten. Für ihn galt das nicht. Ihn faszinierten sowohl Umbrüche im Leben als auch die Dunstschleier, die den runden Mond hinter einem Trauerflor versteckten und heute eine düstere Kulisse für die nächtliche Streifenfahrt auf dem Boot bilden würden.
Er freute sich auf die Abwechslung des zwölfstündigen Nachtdienstes. Nachts war der Hafen weniger schrill und ächzend. Es fuhren nur vereinzelt Lkws, die Krane quietschten dumpf auf den Schienen, das Wasser schwappte leise vor sich hin, die Telefone standen still, und in den Fenstern der Firmen brannte kein Licht mehr. Ruhe war eingekehrt.
Tom rollte auf den Parkplatz des WSPK2 in Steinwerder. Das Wasserschutzpolizeikommissariat 2 am Travehafen, ein langer Flachbau, lag mitten im Hochwassergebiet und war auf Pfählen gebaut, um vor Hochwasser und Sturmflut geschützt zu sein. Auf der Rückseite hatte die Wache direkten Wasserzugang, und dort lagen ihre Boote.
Er erklomm die Stahltreppe zur Dienststelle mit einiger Verspätung. Über dem Wachtresen lehnte ein Kollege der vorherigen Schicht und hängte einen Autoschlüssel zurück an die Leiste. Mit einem Blick sah Tom, dass sich alle Streifenwagen und die beiden Boote am Stützpunkt befanden.
»Du bist überfällig!«, meckerte der Wachhabende und schob seine Brille höher, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war. »Dein Vorgänger hat längst Feierabend … Ich mach die Übergabe.«
»Ich zieh mich schnell um, dann geht’s los.« Tom klopfte auf den Tresen und eilte in sein Büro.
Er hatte die Verspätung, mit der er zu Hause losgefahren war, nicht aufholen können. Er hatte Lisa so lange im Arm gehalten, wie sie brauchte, um ihn gehen zu lassen. Natürlich hatte er gehört, wie ihre Stimme bebte, und das Zittern ihres Körpers wahrgenommen. Er hatte mit sich gerungen. Die Entscheidung war ihm schwergefallen, aber die Personaldecke war so dünn, dass er es sich als Dienstgruppenleiter nicht leisten konnte, ohne triftigen Grund zu Hause zu bleiben. Lisa war ein solcher Grund, aber sie war stärker, als sie glaubte, und die inneren Dämonen wichen nicht, nur weil er neben ihr auf dem Sofa saß.
»Mach es dir kuschelig, und ich rufe dich an, wenn du zu Abend gegessen hast, um dir Gute Nacht zu sagen.« Er hatte sie sanft von sich geschoben.
»Wenn nur dieser Nebel nicht wäre«, hatte sie geflüstert. »Er begräbt mich in seinem Grau.«
Er seufzte und streifte die Schutzweste über das T-Shirt, knöpfte das weiße Hemd darüber und steckte sich sein Notizbuch in die Hemdtasche. Dann griff er nach der Lederjacke und dem Becher, der auf dem Schreibtisch stand. Pfeifend spurtete er einen Stock höher in die Waffenkammer, um seine Heckler & Koch P2000 aus dem Schließfach mit der Nummer sechs zu holen. Erst mit der Waffe im Holster und einem Becher Kaffee in der Hand war er einsatzbereit.
Er eilte zurück an den Wachtresen und schenkte sich aus der Kaffeekanne ein. Nach dem gemeinsamen Abendessen mit den Kollegen gegen neun Uhr trank er nur noch Mineralwasser. Er wünschte, er könnte auch von der Schokolade lassen, aber ein bis zwei Tafeln pro Nachtschicht waren es immer. Er konnte nichts für seine Leidenschaften. Der Hafen, die Elbe, das Meer, Boote, Schokolade …
»War was Wichtiges?«
»Wagen 52/1 ist drin, die Einsatzzentrale hat nichts für uns – der Michel-Sprecher schweigt«, sagte der Wachhabende. »Die sind mit der Einsatzlage am Fußballstadion beschäftigt.«
Tom nickte. An diesem Abend trat der HSV gegen seinen Erzrivalen Hansa Rostock an. Ein Hochrisikospiel, das alle Einsatzkräfte vor dem Volksparkstadion und auf dem Kiez forderte, da die Hansa-Ultras nach dem Spiel sicher noch die direkte Auseinandersetzung mit den gegnerischen Fans auf der sündigen Meile suchten.
»Wagen 52/2 ist zurück von der Grenzkontrolle am Containerterminal Tollerort, die MSC Adelaide hat Teile ihrer Besatzung gewechselt, und wir haben die Pässe der neuen Crew gestempelt. Das Boot fährt nach dem Essen auf Streife«, schloss er seinen Bericht und schlug das Übergabebuch mit einem Knall zu. »Der Schiffsführer für die WS23 hat sich krankgemeldet. Mit Ansage, wenn du mich fragst. Er wollte sein Wochenende verlängern, und wir haben ihm nicht freigegeben. Schwups … hat er sich verkühlt, der arme Junge.«
Tom grinste. Sein Kollege ließ keinen Zweifel aufkommen, was er von dem neuen Schiffsführer hielt. Er war eingestellt worden, um das Boot zu fahren und die Schicht zu entlasten, meldete sich aber auffallend häufig ab.
»Noch weitere Krankmeldungen?«
Der Wachhabende schüttelte den Kopf.
»Habt ihr auf der Adelaide die Schiffszeugnisse kontrolliert?«
»Na logo, die waren alle gültig.«
Tom nickte zufrieden. »Ich fahre das Streifenboot. Den Nebel lasse ich mir nicht entgehen!« Er schlängelte sich um den Wachtresen herum und griff sich die Bootsschlüssel von der Leiste. »Wie hast du eingeteilt?«
»Volker und Rüdiger besetzen den 52/1. Die beiden Grünschnäbel den 52/2, und wenn du willst, verstärkst du Gunnar und Quetsche auf dem Streifenboot. Passt.«
Tom nickte. »Wer kocht?«
Da im Hafen die letzten Kantinen wie der Heiße Reifen dichtgemacht hatten und auch die Kaffeeklappen mittags schlossen, bereitete sich jede Schicht ihr Abendessen selbst zu, und diese gemeinsame Zeit war allen heilig. Auch Tom liebte dieses alte Ritual der Seefahrt.
Der Kollege ließ seine Augenbrauen hüpfen und leckte sich die Lippen. »Volker hat seine neue Flamme gebeten, etwas für die Schicht vorzukochen. Er hat drei Töpfe mit Chili con Carne mitgebracht. Das wird ein Festschmaus!«
»Davon hattest du ja schon einige, oder?« Tom zeigte mit dem Becher auf die Wampe seines Kollegen und war froh, dass er trotz seiner Vorliebe für Mandelschokolade so schlank war. Er schickte einen stillen Dank an die Gene seines Vaters, dem er seinen athletischen Körperbau zu verdanken hatte.
Sein Gegenüber grinste. »Jo! Alles selbst bezahlt.«
»Ich mache eine kurze Streifenfahrt vor dem Abendessen. Gunnar und Quetsche sollen direkt zum Anleger runterkommen.«
»Bei der Waschküche?«
»Gerade deswegen!«
Auf der Rückseite der Wache dümpelte das Streifenboot am Steg. Es roch metallisch nach den Kranen des Schrottumschlags an einer nahe gelegenen Pier. Tom zog den Stecker des Landanschlusses, der das Boot mit Strom versorgte, bevor er an Bord sprang. Er verharrte einen Moment am Ruder und atmete den Duft der Elbe ein, ehe er den Zündschlüssel drehte. Er liebte alle Bootstypen, die so verschieden waren wie die Fische in der Elbe: die leichten und die schweren Streifenboote, die Alsterboote, die Katastrophenschutzboote aus Alu oder die ultraschnellen Schlauchboote. Er fuhr sie alle mit Begeisterung. Heute nahm er das leichte Streifenboot, mit dem er nicht nur in die finsteren Hafenecken kam, sondern aufgrund des geringen Tiefgangs auch in die meisten Kanäle und Fleete der Hamburger Speicherstadt.
Der Motor sprang sofort an und tuckerte vor sich hin. Tom kannte sein Baby so genau, dass er jeden falschen Ton gehört hätte. Er schaltete erst die Positionslampen ein, dann den Polizei- und Seefunk. Anschließend drückte er die Statustaste eins auf dem Polizeifunkgerät und war damit für den Michel-Sprecher als einsatzbereit an Bord des Schiffes gemeldet. Alle Kanäle blieben still.
»Moin«, rief Gunnar ihm entgegen, als er an Deck sprang. Dicht dahinter folgte Tilo Andersen, den sie, wegen seines eisenharten Händedrucks und seiner perfektionierten Zug- und Drucktechnik, die jeden renitenten Straftäter zum Aufgeben zwang, Quetsche nannten.
Toms Crew für diese Nacht.
»Moin.« Er nickte ihnen kurz zu. »Schmeißt los.«
Gunnar gab dem Boot einen Stoß, und es bewegte sich langsam vom Anleger weg. Durch den wabernden Nebel war das Schwappen des Wassers kaum zu hören. Sie glitten durch den Roßhafen in die Dunkelheit, und Tom schaltete vorsichtshalber das Radargerät ein.
Im Vorhafen ließen sie steuerbord das schemenhaft zu erkennende Kreuzfahrtterminal Steinwerder liegen und passierten backbord das Containerterminal Tollerort. Ein Schiffsriese lag an der Pier, und die Greifer der Containerbrücken löschten einen der farbigen Container nach dem anderen – das würden sie die ganze Nacht hindurch tun. Der Nebel dämpfte das leise Surren der Greifer, das Quietschen der Containerbrücken und das Rumpeln der Stahlkisten, die auf einen Lkw abgesetzt wurden.
Tom atmete tief ein – gab es Faszinierenderes als den Duft des Wassers, ein wenig Schiffsdiesel und die leisen Töne des Hamburger Hafens bei Nacht? Kein Nebel des Grauens, nur kondensierte Wassertropfen in der Luft, die sich mit einem kühlen Schleier auf sein Gesicht legten. Der Schrei einer Möwe tönte durch den Nebel. Tom seufzte – wie konnte er Lisa die Schönheit der Natur näherbringen, damit sie sich nicht länger so einigelte? Sie verlor langsam ihre Fröhlichkeit.
»Elbe 23 für Michel«, tönte plötzlich die verzerrte Stimme des Michel-Sprechers der Einsatzzentrale aus dem Funkgerät. »Leblose Person auf Hafenbarkasse an den Landungsbrücken. Rettungswagen und Notarzt sind ausgerückt.«
Quetsche runzelte die Brauen und sah Tom fragend an.
Er nickte und erhöhte die Fahrt, warf einen Blick auf das Radar, da er draußen kaum noch Umrisse erkannte. Sie würden nicht lange brauchen, die Norderelbe lag direkt vor ihnen.
»Michel. Hast du für uns einen Barkassennamen?«, sprach Quetsche ins Funkgerät.
»Fehlanzeige, aber soll Brücke 4 sein.«
»Michel, Dienstgruppenleiter ist an Bord!«
»Verstanden.«
Tom hielt sich steuerbord und glitt an der ehrwürdigen Schiffswerft Blume & Lorrenzen vorbei direkt auf die Landungsbrücken zu.
Gunnar langte nach dem Fernglas. »Man sieht die Hand vor Augen nicht.«
Das Dunkel erstreckte sich nahtlos vom Wasser in den Himmel. Kein Unterschied war zu erkennen, doch Tom gefiel der Auftakt in die Nachtschicht, auch wenn es sich vermutlich nur um einen Betrunkenen handelte, der seinen Rausch an Bord einer Rundfahrtbarkasse ausschlief. Routinearbeit war gut, aber er brauchte mal wieder ein richtiges Abenteuer.
»Blaulicht an«, informierte er die beiden Kollegen. Das war für andere Bootsführer das Zeichen, unbedingt auf Abstand zu bleiben und den Weg freizugeben. Da sie nicht weit von den Landungsbrücken entfernt unterwegs waren, näherten sie sich bereits der ersten Brücke und erkannten schemenhaft ein paar letzte Touristen auf dem Ponton, die auf die Abfahrt zur Lichterrundfahrt warteten. Tom fragte sich insgeheim, ob die bei dem Nebel überhaupt stattfinden würde.
Die über sechshundert Meter lange, schwimmende Pontonanlage an der Wasserkante von St. Pauli war mit neun Zugängen über Treppen oder Rampen zur höher gelegenen Straße verbunden und eine der beliebtesten Touristenattraktionen Hamburgs. Egal, wie der Wasserstand der Elbe war, die Landungsbrückenpontons passten sich an und ermöglichten den Fahrgästen das unkomplizierte Besteigen der verschiedenen Barkassen und Fähren. Das war bei einem maximalen Unterschied der Wasserhöhe von drei Metern siebzig auch nötig. Eine geniale Konstruktion, um den Tidenhub abzufangen.
Tom verlangsamte die Fahrt und steuerte dicht den Schwimmanleger entlang.
»Da!« Quetsche zeigte voraus nach backbord. »Der Rettungswagen!«
Oben an der Straße konnte Tom durch den Nebel das rotierende Blaulicht sehen. Die Vorderseite der Pier war an dieser Stelle frei von Menschen und Fahrzeugen. Hier war kein Ausflugsdampfer mit Gästen an Bord vertäut. Wo war der Notfall?
An der Innenseite des Pontons lagen einige Barkassen. Dorthin eilten die Rettungssanitäter mit ihren schweren Rucksäcken.
»Jemand winkt«, sagte Tom, als er die Umrisse eines Mannes ausmachte. Er legte das Boot problemlos an. »Gunnar, du übernimmst. Pass auf die Leinen auf. Quetsche, wir schauen uns das näher an.«
Tom zog den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch, nahm die Taschenlampe vom Steuerpult und folgte Quetsche auf den Ponton.
Das Boot mit dem Namen Rike dümpelte fest vertäut an der Rückseite der Ladungsbrückenpontons in Höhe der Brücke 4. Gedämpftes Licht brannte im vorderen Teil der Rundfahrtbarkasse. Ein Mann tippelte davor von einem Fuß auf den anderen. Im Inneren sah Tom durch das Kajütenfenster zwei Sanitäter und den Notarzt.
»Haben Sie die Polizei alarmiert?«
Der vierschrötige Mann, der schätzungsweise Anfang sechzig war, zuckte zusammen, als habe er Tom nicht kommen hören, dabei hatte er ihm zugewunken. Ihm liefen Tränen über die Wangen.
»Er liegt da drin. Ich hab ihn gesucht, das Licht gesehen und wollte fragen, ob er ein Bier mit mir trinkt.«
»Wer liegt da?«
»Die Augen, sie haben mich angesehen … und … er hat fast gelächelt! Dominic. Dominic Lutteroth. Ihm gehört die Rike.«
Tom runzelte die Stirn. In seinem Kopf klingelte etwas. Wo hatte er den Namen Lutteroth schon gehört?
Er sah sich um. Außer ihnen war an diesem Ende der Landungsbrücken niemand auszumachen. Die anderen Barkassen lagen dunkel und verlassen da.
»Mein Kollege nimmt Ihre Personalien auf. Ich schaue schnell nach dem Verletzten.«
»Er ist tot!«
»Wie heißen Sie?«
»Hans Kruger, ich bin auch Skipper.«
Der Alte bebte am ganzen Körper. Tom legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Der Notarzt ist da, er kümmert sich um Ihren Freund. Warten Sie bitte hier.« Er nickte Quetsche zu und wandte sich zur Barkasse. Während der wenigen Schritte bis zum Ruderhaus tönte seine innere Stimme unüberhörbar, dass es hier um mehr ging als um einen Betrunkenen oder einen Verletzten. Ein Blick nach vorn in den Fahrstand der Hafenbarkasse gab ihm recht. Die Sanitäter packten ihre Rucksäcke gar nicht erst aus.
»Der Mann ist tot«, erklärte der Notarzt. »Es haben sich bereits Totenflecken gebildet, und der Rigor mortis ist fortgeschritten. Das war kein natürlicher Tod, er hat einen eingeschlagenen Schädel. Das ist eine Sache für die Kripo.«
»Okay, ich veranlasse alles Weitere, bleibt bitte noch da, bis das LKA eintrifft!«
Tom hatte Mühe, sich von dem toten Schiffsführer abzuwenden, der ihn mit geöffneten Augen ansah und tatsächlich beinahe anlächelte. Der bullige Mann lag auf dem Rücken. Er trug einen dunkelblauen Troyer, darunter lugte am Hals ein blau-weiß gestreiftes T-Shirt hervor. An seiner linken Kopfseite klebte direkt unterhalb der Strickmütze Blut. Tom hatte in seinem Polizistenleben schon einige Leichen gesehen, aber der Anblick dieses Seemannes beunruhigte ihn. Der Mann lächelte nicht wirklich, aber er wirkte, als ob er im Moment des Todes an etwas Schönes gedacht hätte. Tom wünschte es ihm.
»Warte!« Er hielt einen der Sanitäter auf, der seinen Rucksack schulterte. »Ich komme wegen der Spuren nicht rein, liest du mir bitte mal vor, was auf der Plakette steht? Da rechts auf dem Schaltpult. Siehst du?« Er lehnte sich an den Türrahmen und zog sich Einmalhandschuhe über.
»Eigner: Dominic Lutteroth. Meinst du das?«
Tom nickte. »Ein letzter Gefallen. Schau mal nach, ob in der Jacke, die da rechts hängt, ein Portemonnaie oder eine Brieftasche steckt.«
Nach kurzem Griff erst in die eine, dann die andere Seitentasche förderte der Mann ein Lederetui zutage und reichte es Tom.
Tom fand einen Führerschein und sah sich das Foto an. Es handelte sich bei dem Toten zweifelsfrei um den Schiffsführer, den fünfundvierzigjährigen Dominic Lutteroth. Der schlotternde Mann auf der Pier hatte recht gehabt. Sein Kumpel war tot und würde nie wieder ein Feierabendbier mit ihm trinken.
Tom griff nach seinem Handy, um den Lagedienst der Polizei zu informieren. Er brauchte einen weiteren Streifenwagen für die Absperrung, das LKA und die Spurensicherung. Streng genommen hatte er keine Zeit für den Zeugen, und doch drängte alles in ihm, Kruger von hier wegzuschaffen und zu befragen, bevor der die ganze Tragweite seiner Entdeckung begriff. Das war allerdings Aufgabe des LKA, und er fing sich vermutlich einen Rüffel ein, aber der alte Barkassenführer hatte auf eine Art und Weise gezittert, wie er sie von Lisa kannte, wenn sie innerlich kämpfte, und das lag nicht am Schock oder an den Temperaturen.
Was also verbarg der Mann?
Kriminalhauptkommissarin Jonna Jacobi musterte die Hände des Asiaten, der ihr im Vernehmungszimmer gegenübersaß. Sie waren kurz und schmal, beinahe Kinderhände.
»Ich habe mich gewehrt!«
Der Mann wischte mit zitternden Fingern langsam über die graue Tischplatte, als könne er damit die Gedanken vertreiben, die ihn marterten.
»Ich hätte schon viel eher handeln müssen. Ich habe das Messer geworfen«, fuhr der Mann fort.
»Auf Ihren Kollegen?«
»Nein.«
»Nein?«, Jonna hob fragend eine Augenbraue.
»Nicht auf ihn. In seine Richtung.«
»Welches Messer?«
Der Asiate sah kurz auf. Dann senkte er wieder den Kopf, bis sein Kinn beinahe die Brust berührte.
»Das Santoku. Er hat mir gestern mein bestes Wasabi-Yanagiba-Messer gestohlen. Seit Jahren schikaniert er mich.« Er ließ die Hände von der Tischkante in den Schoß gleiten und knetete sie. »Ich konnte mir das nicht länger gefallen lassen!«
Da war es. Das Geständnis. Jonna wartete auf das Gefühl der Erleichterung, doch stattdessen drückte trockenharte Desillusionierung auf ihren Brustkorb. Wieder einmal überkam sie die tiefe Müdigkeit der jahrzehntelangen Arbeit in der Mordkommission. Die unzähligen Geständnisse, die sie im Laufe ihrer Karriere gehört hatte. Die vielen Male, die das Schicksal eine Wendung für die Betroffenen bereithielt, die sie nie und nimmer für möglich gehalten hatten und die ihr bisheriges Leben für immer veränderte. Ihr gefiel der Sushi-Koch aus dem Hotel Adlus, der Asiate mit der sanften Stimme und den Kinderhänden, der ihr im Vernehmungsraum im dritten Stock des Polizeipräsidiums gegenübersaß. Ihm das Geständnis entlockt zu haben, war traurig und hinterließ einen schalen Beigeschmack, denn Jonna sah in ihm auch ein Opfer. Ein geschundener Mann, der den ständigen Mobbingattacken und Anfeindungen seines Chefs ausgesetzt gewesen war und dem offenbar wenig entgegenzusetzen hatte.
Das war eine Erklärung, aber keine Entschuldigung, und Jonnas Vorgesetzte hatte Ergebnisse gefordert. Nehmen Sie den Mann auseinander, hatte sie gesagt, ich will wissen, ob er dem Souschef das Messer in den Hals gerammt hat. Wie sich das anhörte! Als hätten sich die beiden Kontrahenten Auge in Auge gegenübergestanden. Nein, dem Sushi-Koch waren die Sicherungen durchgebrannt, als sein ewiger Widersacher ihm sein bestes Messer entwendet und ihn wie so häufig drangsaliert hatte. An diesem Tag war es das eine Mal zu viel gewesen. Der Sushi-Meister hatte sich umgedreht und ein Messer in Richtung des vier Meter entfernt stehenden Souschefs geschleudert.
Leider hatte er getroffen. In den Hals, direkt in eine Arterie. Der Souschef war im Operationssaal des Krankenhauses verstorben.
Der Asiate sah sie unvermittelt so eindringlich an, als ob er in ihren Augen etwas erkannte, von dem Jonna selbst noch nichts ahnte. Dann legte sich ein Schleier der Traurigkeit über seinen Blick.
»Laotse sagt: Das Weiche siegt über das Harte, und das Schwache triumphiert über das Starke.« Er wischte mit einer Hand über die Tischplatte. »Was passiert jetzt mit mir?«
Jonna seufzte, drückte ihren Rücken durch und schob ein paar Blätter in die Akte zurück. Der Mann war mit Anfang dreißig am Ende seines Weges angekommen. Seine Karriere als Koch vorbei. Möglicherweise verlor er seine Familie. Ganz sicher seine Freiheit.
»Die Staatsanwaltschaft wird Sie anklagen …«
Die Schultern des Asiaten zuckten. Weinte er?
»Nehmen Sie sich einen Anwalt. Vielleicht können wir etwas für Sie tun. Ihre Vorgeschichte …«
Jemand riss die Tür zum Vernehmungsraum auf.
Jonnas Kopf fuhr herum. Oh, bitte nicht. Ihre Chefin, Kriminaloberrätin Heide Meyfahrt, stand im Türrahmen wie eine Rachegöttin, und ihr Blick prügelte Jonna aus dem Vernehmungszimmer.
Sie griff nach der Akte und ihrer Brille, stoppte die Tonbandaufnahme, schob den Stuhl zurück und verließ mit einem kurzen Nicken in Richtung des Sushi-Kochs den Raum.
»Vielleicht können wir etwas für Sie tun …«, zischte Meyfahrt ihr zu, als sie sich an ihr vorbeidrückte. »Ich hör wohl nicht richtig?«
Sie wies einen Kollegen an, den Asiaten zum Erkennungsdienst zu bringen.
»Kümmern Sie sich sofort um den Haftbefehl, und in zehn Minuten ist Abschlussbesprechung.«
Nur die Meyfahrt hatte in ihrer selbstgerechten Art zusätzlich zur Morgenbesprechung noch eine Abendrunde für die Mordkommission eingeführt – damit ja niemand zu früh in den Dienstschluss verschwand. Als ob sie nicht alle ohnehin Überstunden vor sich herschoben wie ein Pflug die Schneemassen nach einem Lawinenabgang.
Bestimmt würde sie verlangen, dass Jonna die Akte für die Staatsanwaltschaft noch heute Abend fertigstellte. Eine weitere Nacht mit wenig Schlaf. Sie würde es ohne Murren erledigen, denn sie erwartete sowieso nur eine verwaiste Wohnung mit leerem Kühlschrank.
Meyfahrt liebte diese Rund-um-die Uhr-Arbeit ihrer Mitarbeiter und gab nur selten ein Lob von sich. Jonna missfiel der Führungsstil der Xanthippe, wie sie alle hinter vorgehaltener Hand nannten. Als Kriminaloberrätin war sie auf dem Sprungbrett zur Kriminaldirektorin und damit verdammt einflussreich innerhalb der Polizei. Wenngleich nicht unumstritten. Leider hatte sie in der vorherigen Abteilung entscheidende Erfolge erzielt und sich auf die Fahnen geschrieben, die Aufklärungsquote der Mordkommission weiter in die Höhe zu treiben. Dass Jonnas Erfolgsquote beeindruckend war, schien sie am meisten zu stören und eher als Konkurrenz zu empfinden. Es kam Jonna vor, als wolle die Meyfahrt alle Erfolge auf ihr eigenes Konto verbuchen. Jonna hatte sich die letzten Jahre nach der Scheidung in die Arbeit vergraben. Jetzt war sie sechsundfünfzig und bemerkte nicht nur, dass sie es langsam müde wurde, Tag und Nacht Kriminelle zu jagen, sondern auch ihr Privatleben arg vernachlässigt hatte. Heide Meyfahrt hingegen war karrieregeil und gehörte zu den Verfechtern digitaler Ermittlungsmethoden. Klar, durften einen die Straftäter nicht abhängen, aber Jonna war eher oldschool und kam damit bestens an ihr Ziel. So oder so brauchte sie eine Strategie, um die Meyfahrt abperlen zu lassen und ihr Privatleben auf Vordermann zu bringen.
Die Chefin knallte die Tür zum Vernehmungsraum zu.
Ihre nie enden wollende Energie potenzierte ihre Garstigkeit. Warum glaubten manche Frauen in der Polizei, sie müssten tougher sein als die härtesten Männer? Solidarität unter weiblichem Führungspersonal? Fehlanzeige.
Glücklicherweise begegnete Jonna auf dem Weg vom Vernehmungszimmer in ihr Büro niemandem und ließ ihren Gedanken freien Lauf.
Ob jemand die Familie des Asiaten über dessen Tat informiert hatte? Hatte die Geschäftsführung des Hotels sie angerufen? Seine Kollegen?
Ein Krankenhaus-Seelsorger betreute die Familienmitglieder des Verstorbenen. Ihr Kollege Daan Van der Waal hatte die Ehefrau in die Klinik gebracht, als das Opfer im OP noch um sein Leben kämpfte.
Und wer kümmerte sich um die Angehörigen des Täters? Waren die nicht auch Betroffene eines unüberlegten Augenblicks dieses Kochs? Der stille Asiate, der …
»Hey, pass doch auf! Träumst du?«
Jonna stoppte abrupt. Fast wäre sie mit Daan Van der Waal zusammengestoßen, der einen randvollen Becher mit Kaffee in der Hand balancierte.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte er und blies über den dampfenden Kaffee.
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat ein Geständnis abgelegt.«
»Siehst trotzdem unglücklich aus.« Van der Waals schiefer Schneidezahn verlieh seinem Lächeln eine zusätzliche charmante Note. Der Holländer der Truppe hatte nicht nur stets gute Laune, sondern war ihr in den letzten Jahren als ein ausgefuchster Ermittler und loyaler Kollege ans Herz gewachsen.
»Sein Chef hat ihn so lange gedemütigt und in die Ecke gedrängt, bis er … er wollte nur ein bisschen Anerkennung. Ist das zu viel verlangt?«
Van der Waal seufzte. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor … bis gleich.« Er schlenderte über den Flur Richtung Konferenzraum.
Jonna warf die Akte auf ihren Schreibtisch und ließ sich auf den Drehstuhl plumpsen. Draußen herrschte dichter Nebel, kein Wetter, um sich bei einem Spaziergang den Kopf freipusten zu lassen. Sie konnte den Zuführbericht für den Haftrichter genauso gut gleich schreiben, damit der den Haftbefehl erließ und dann … eine Pizza vom Lieferdienst. Doch zuerst galt es, die Abschlussbesprechung hinter sich zu bringen.
Es klopfte an den Türrahmen. Emma, die neue Hospitantin vom Jugendschutz, die wahnsinnig gerne in die Mordkommission wechseln wollte, winkte ihr zu.
»Kommst du?«
Jonna brachte sie auf dem Weg zum Konferenzraum auf den neuesten Stand. Kurz kam ihr der Gedanke, Emma bei dem Bericht um Hilfe zu bitten, aber vermutlich hatte die eine bessere Verwendung für ihren Abend. Im Besprechungsraum starrten die versammelten Kollegen missmutig vor sich hin. Alle sehnten sich in den Feierabend und warteten maulfaul auf die Xanthippe.
In diesem Moment wirbelte sie herein.
Im Eiltempo besprachen sie die aktuellen Tagesgeschehnisse. Wie immer war Meyfahrt ungenießbar. Nicht einmal das Geständnis des Kochs fand lobende Erwähnung. Schließlich waren zum Tatzeitpunkt keine Zeugen anwesend, und nur durch das Eingeständnis des Verdächtigen konnten sie den Fall abschließen. Die Schwingungen im Raum erreichten ihren emotionalen Tiefpunkt.
»Die Tränen der Täter dürfen Sie nicht erweichen. Bleiben Sie distanziert und professionell!«
Jonna biss die Zähne zusammen. Nur nicht provozieren lassen. Mangelnde Professionalität konnte ihr nun wirklich niemand unterstellen.
In diesem Moment schwang die Tür zum Besprechungsraum quietschend auf, und ein Kollege vom Kriminaldauerdienst steckte den Kopf herein.
»Ah, hier seid ihr. Leichensache an den Landungsbrücken. Ein Barkassenbetreiber. Die Wasserschutz hat alarmiert und Fremdverschulden angegeben.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben Personalnotstand. Drei Leute sind im Urlaub, zwei krank, drei Einsätze parallel, und nix geht mehr.«
Ein Stöhnen wogte durch die Runde. Wessen Feierabend rückte in weite Ferne?
Ich war das letzte Mal dran, ich habe heute ein Geständnis rausgeholt, ich bin es nicht, schoss es Jonna durch den Kopf. Ich schließe die Akte des Asiaten, kuschele mich aufs Sofa, lese ein Buch und plane meine Zukunft.
Alle Blicke wanderten zur Xanthippe.
»Jacobi! Sie!«
Na klar, wer sonst? Die Meyfahrt handelte getreu dem Motto: Sie sind eine Frau, ich werde Sie knechten, und außerdem sind Sie die einzige Mordbereitschaftsleiterin. Dass sie die beiden anderen MK-Leiter erst vor Kurzem weggebissen hatte, weil diese sich offen kritisch über sie geäußert hatten, spielte keine Rolle.
Van der Waal warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie verzog entschuldigend den Mund, sie brauchte ihn, und so fand auch Daans Feierabend ein jähes Ende.
Meyfahrt wartete auf ihren Protest.
Jonna bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Sie würde der Xanthippe keine Angriffsfläche bieten. Dann nickte sie und dachte an den Sushi-Koch. Die Erkenntnis ließ sie innerlich beben: Keine Geduld war unendlich!
Wann würde ihr der Geduldsfaden reißen?
Tom stand auf dem Ponton in Höhe von Brücke 4 und wartete auf die Kollegen des LKA.
Gunnar, Quetsche und die beiden anderen Wasserschutzpolizisten von ihrer Außenstelle an den Landungsbrücken hatten inzwischen die gesamten Brückenzugänge 2 bis 6 mit Flatterband abgesperrt und allzu nähebedürftige Touristen zurückgedrängt. Nicht, dass bei diesem Wetter viele Menschen unterwegs waren, aber wie immer zog das Unglück eine Reihe von Schaulustigen an. Sie standen in Trauben an der Absperrung und versuchten mit ihren Handys, Videoaufnahmen durch den Nebel zu machen. Ein sinnloses Unterfangen. Auch ein paar Pressevertreter hatten irgendwie erfahren, dass es einen Todesfall im Hafen gab, stellten überflüssige Fragen, und ihre Fotografen warteten auf die Ankunft des Bestatters, um den Abtransport der Leiche im Zinksarg zu dokumentieren. Die immer gleiche Ansammlung von Neugierigen an Tatorten. Tom hielt Ausschau nach jemandem, der nicht in dieses Raster passte, aber er hatte auch keine bessere Sicht als diejenigen auf der anderen Seite der Absperrung. Er entdeckte nichts Auffälliges.
Er seufzte und versuchte, nicht an den Zeugen zu denken, sondern sich auf das Wasser zu konzentrieren. Das Schwappen der Elbe an den Anleger beruhigte ihn. Auf den Fluss war Verlass – seine Wogen glättete auch kein noch so dichter Nebel.
Irgendwann hielt er das Warten auf das LKA nicht mehr aus. Er brachte den Zeugen an Bord des Streifenbootes, obwohl er wusste, dass er damit seine Kompetenzen überschritt, und platzierte ihn im hinteren Teil auf der Eckbank an den Tisch. Der Mann hatte weder seine Jacke ausgezogen noch die Strickmütze vom Kopf genommen. Der Motor des Bootes war aus, und nur die Stimmen aus dem Polizei- und Seefunk waren undeutlich durch die Schiebetür zum Fahrstand zu hören.
»Herr Kruger?«
»Haben Sie was zu trinken? Ich brauch was Starkes!«
Tom schüttelte bedauernd den Kopf. Der Mann zitterte weniger, aber so deutlich, dass Tom Mitleid empfand. »Sie waren mit Herrn Lutteroth befreundet?« Eher eine sanft ausgesprochene Einladung als eine Frage.
»Wir kennen uns, seit Dominic vor fünfzehn Jahren im Hafen auftauchte. Er hatte tausend Jobs hinter sich und heuerte neu auf der Barkasse an. Er hat das Geschäft von der Pike auf gelernt, und als der alte Besitzer verkaufen wollte, machte Dominic ihm ein Angebot und hat die zwei Barkassen übernommen. Er war fleißig und hat den Hafen geliebt, hat die Fahrgäste mit seinen Döntjes amüsiert.« Die Stimme des Mannes brach. »Wir sind sozusagen Geschäftspartner.«
»Was bedeutet das?«
»Wir teilen uns ein Hafenbüro, helfen uns gegenseitig aus, fahren aber auf eigene Rechnung, haben keine gemeinsame Firma oder so …«
Kruger wischte sich mit seiner schwieligen Hand immer wieder durch den grauen Fünftagebart, als tröste ihn die Berührung.
Beide schwiegen für einen Moment, und Tom ließ sich durch den Kopf gehen, was er gehört hatte. Durch das auflaufende Wasser schaukelte das Boot und zerrte an den Leinen.
»Dominic war ein sehr guter Skipper«, brach es aus Kruger hervor.
Tom wusste, worauf Kruger hinauswollte. Es gab im Hafen unterschiedliche Schiffsführer. Einige waren früher zur See gefahren und eingefleischte Seebären, andere hatten sich ein paar Grundkenntnisse angeeignet und glaubten, sie könnten das Feld von hinten aufrollen. Die Barkassenbetreiber waren allesamt Konkurrenten.
»Können Sie sich irgendeinen Reim darauf machen, was an Bord der Rike passiert ist?« Für einen Moment war sich Tom nicht sicher, ob Kruger ihm antwortete oder hustete, so brüchig klang dessen Stimme.
»Elendszeiten.« Er schüttelte den Kopf. »Die Touristen bleiben wegen dieser Scheiß-Pandemie weg. Nix mehr mit Bordpartys oder Firmenfeiern, zwei Jahre kein Hafengeburtstag.« Er rieb sich mit seiner tellergroßen Hand über die Augen. »Unsere Boote sind zwar etwas lütter als die anderen, aber wir haben immerhin Platz für fünfzig Personen. Dominic hat sich richtig reingehängt, um über die Runden zu kommen. Trotzdem musste er zwei seiner Mitarbeiter entlassen. Jetzt hat er nur noch einen Matrosen und eine Barkasse laufen. Die andere fährt er im Moment nicht mehr. Die dicken Pötte mit dem lecker Fresschen an Bord nehmen uns nicht nur die Fahrgäste weg!« Die Abscheu tropfte von jedem seiner Worte. »Die staatlichen Coronahilfen haben kaum die Fixkosten gedeckt. Als es wieder anfing mit den Hafentouren, mussten alle Touristen Masken tragen, weil auf Schiffen nicht zwischen drinnen und draußen unterschieden wird. Es kommen immer weniger Menschen … Wir sind finanziell so klamm, dass es keinen Spaß mehr macht. Aber wat mutt, dat mutt!«
Kruger sah arg mitgenommen aus, ob wegen Lutteroths Tod oder der finanziellen Misere oder beidem, wusste Tom nicht.
»Wer profitiert denn von Lutteroths Tod?«
Kruger zuckte mit den Schultern. »Keinen Schimmer.«
Viel weiter war er nicht gekommen und hatte den verstörten Mann sitzen lassen, um wieder auf die Pier zu treten. Alles war ruhig, niemand versuchte, durch die Absperrung zu gelangen, oder war anderweitig auffällig geworden.
Der Wachhabende am WSPK2 hatte sich ins System des Einwohnermeldeamtes eingeloggt und Tom informiert, dass der Tote eine Ehefrau und eine dreijährige Tochter hatte. Er hatte gefragt, ob er einen Wagen hinschicken solle, die Frau wohne ganz in der Nähe. Das hatte Tom abgelehnt. Er wartete noch immer auf das LKA. Die entschieden, wer wann den Angehörigen die Todesnachricht überbrachte. Er dachte daran, dass nicht weit von hier eine Frau ihr Kind in den Schlaf sang und nicht ahnte, dass ihr bisheriges Leben für immer vorbei war, dass ihr Mann nicht mehr atmete, dass sie an einem nebligen Oktoberabend Witwe geworden war. Er beneidete die Kollegen nicht, die gezwungen waren, die Worte auszusprechen.
In diesem Moment sah er zwei zivile Fahrzeuge mit Blaulicht an der Brücke 4 halten. Er streckte den Rücken durch und beschloss, die Karten gleich auf den Tisch zu legen.
Eine schlanke Frau mit schulterlangen weiß-grauen Haaren und ein Mann, ungefähr in seinem Alter, kamen auf ihn zu. Sie sahen in Jeans und Outdoorjacken aus wie x-beliebige Touristen, und doch identifizierte er den schlaksigen Mann sofort an seinem Schritt als Bulle. Der Bauer erkennt seine Schweine eben am Gang, dachte er.
Ihm gefiel die respektvolle Geste, mit der die Frau ihre Dienstmarke zückte und ihm ungefragt hinhielt, als sie vor ihm standen.
»’n Abend. Jonna Jacobi und Daan Van der Waal von der Mordkommission. Du bist der Dienstgruppenleiter?«
Tom nickte, wies auf die Barkasse und berichtete alles, was es bisher an Fakten gab. »Der Notarzt wartet im Rettungswagen, und den befreundeten Barkassenführer, der den Toten gefunden hat, habe ich auf unser Streifenboot gebracht.«
»Ist er irgendjemandem begegnet? Hat sich jemand auffällig benommen?«, fragte die Kollegin.
Tom mochte ihre sanfte Stimme. Sie klang behutsam, und doch ahnte er, sie zu belügen oder ihr nicht zu antworten, wäre keine Option. Sie war sicher knallhart, wenn es darauf ankam. Das machte es ihm nicht leichter, von seinem Alleingang zu berichten. Er zögerte eine Sekunde zu lange, denn Van der Waal feuerte die nächste Frage ab, ohne seine Antwort abzuwarten.
»Kann man so mir nichts, dir nichts auf das Schiff raufspazieren?«
Er sah sich ratlos um.
Tom folgte dem Blick. »Wenn man sich traut.«
Die beiden Kollegen vom LKA schienen über seine Worte nachzudenken, als wägten sie das Fazit seiner Bemerkung sorgsam ab. Van der Waal sah Tom aus seinen tief liegenden Augen an, als ob die Antwort in seinem Gesicht geschrieben stünde. »Ich hole die Einsatzkoffer und spreche mit dem Notarzt«, sagte er dann und verschwand im Nebel.
Die Frau drehte sich zu Tom um und steckte die Hände in die Jackentaschen. »Ist ein bisschen gespenstisch, wenn man das Wasser hört, aber nicht sieht. Warum will man da eine Hafenrundfahrt machen?«
Tom zuckte mit den Schultern.
»Na, dann los. Ich möchte mit dem Zeugen sprechen, der den Toten gefunden hat.« Sie zog ein Paar Einweghandschuhe aus ihrer Jackentasche. »Kümmert ihr euch bitte noch etwas um ihn? Ich muss mir erst den Tatort und die Leiche ansehen.«
»Mir nach!« Tom eilte voraus, um ihr den Weg auf die Barkasse zu zeigen. Die Rike war eine kleine Hamburger Hafenbarkasse: ein offenes Motorschiff von fünfzehn Metern Länge und einem Deckshaus im vorderen Bereich des Rumpfes. Sie schritten zwischen den Sitzreihen mit den Holzbänken entlang und blieben vor dem Ruderhaus stehen. Schummeriges Licht drang von dort in die leere Passagierkabine, und eine solche Ruhe hüllte sie ein, als ob sie sich unter Wasser befänden. Es wirkte surreal, denn sie blickten aus der Kabine heraus auf die Beine des Toten und wussten, dass dieser friedlichen Stille ein gewalttätiger Moment vorausgegangen war.
»Da, im Ruderhaus.« Tom zeigte auf die geöffnete Tür und das hölzerne Steuerrad. Er beobachtete, wie die Mordermittlerin sich in aller Ruhe umsah. Ähnlich wie er vor Kurzem vermied sie es, dem Toten zu nahe zu kommen. Gott sei Dank roch es mehr nach Öl als nach Leiche.
»Van der Waal kommt gleich mit den Schutzanzügen. Er ist wirklich Holländer.« Sie lächelte ihn an.
Woher hatte sie gewusst, dass Tom genau diese Frage im Kopf herumspukte. Van der Waal sprach Deutsch ohne jeden Akzent, und der Name sagte heutzutage gar nichts aus.
Sie richtete sich auf und wies mit der Hand vage über das Wasser. »Du kennst dich bestimmt bestens aus … im Hafen?«
»Fünfundsiebzig Quadratkilometer. Das Herz Hamburgs ist groß. Das sind mehr als zehntausend Fußballfelder, da sollte man Bescheid wissen«, antwortete er lakonisch und wartete ab. Worauf wollte sie hinaus?
»Wonach sieht das für dich aus?«
Sie sah ihn auffordernd an, und Tom suchte nach Worten, so überrascht war er, dass sie seine Meinung interessierte.
»Der Täter … er hat sich ausgekannt.«
»Erschlagen oder gestürzt?«
Tom dachte an die Augen des Toten, und wie er auf dem Rücken lag. Er runzelte die Stirn. »Erschlagen! Von einem Kerl. Lutteroth ist eine Kante, groß, muskulös … das war keine zufällige Begegnung.«
Sie lächelte. »Tom, ja? Also, Tom, wann hast du mit dem Zeugen gesprochen?«
Tom spürte, dass er rot wurde, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Er hatte zu lange gezögert, und sie hatte ihn durchschaut. Mist.
»Er ist ein alter Skipper, weißt du, er übernimmt Verantwortung. Wenn er zu viel Zeit zum Nachdenken hat … wer weiß, welche Details er für sich behält.« Ein müder Versuch, sich zu erklären.
»Ihr Hafenleute … ihr seid ein ganz besonderes Völkchen, oder?«
Tom unterdrückte ein Grinsen, denn das erschien ihm unpassend. »Wir haben so unsere Eigenheiten und Traditionen … es ist eine alte Welt.«
»Dann erzähl mal!«
War sie sauer? Tom entdeckte in ihrer Mimik nichts, was darauf hindeutete. Er nickte und begann, von seiner Befragung zu berichten.
Er hielt inne, als er aus den Augenwinkeln jemanden sah, der sich unter der Absperrung duckte. Es war Van der Waal mit zwei silbernen Koffern in den Händen.
»Gibt es Angehörige?«, fragte Van der Waal.
Er sieht müde aus, strahlt aber etwas Aufgeregtes aus, dachte Tom, als ob er einen anstrengenden Tag hinter sich hätte und sich doch auf das neue Rätsel freute. Der Holländer war ihm wirklich sympathisch.
»Im Einwohnerzentralregister ist eine Ehefrau mit dreijähriger Tochter gemeldet«, fuhr Tom fort. »Schanzenweg 10. Man kann es von hier aus fast sehen.« Er wies mit der Hand auf die gegenüberliegende Uferseite. »Jedenfalls, wenn kein Nebel ist. Sollen die Kollegen hinfahren und die Todesnachricht überbringen?«
Erstmals schlug die Mordermittlerin einen harten Tonfall an: »Sie wohnt im Hafen?«
»In Steinwerder. Direkt am anderen Ausgang des Alten Elbtunnels. Da stehen zwei Wohnblöcke.«
»Das übernehmen wir!« Sie ließ keinen Zweifel an ihrer Entscheidung. »Daan, du fährst. Am besten mit Charlotte Severin. Ich versuche, sie zu erreichen. Mich interessieren die spontanen Reaktionen der Ehefrau und ihre ungeplanten Antworten. Charly hilft dir.«
Tom runzelte die Stirn. »Charly? Die mit der Narbe im Gesicht? Aus unserer Opferschutzabteilung?«
»Kennst du sie?«
»Nicht wirklich. Ich bin ihr einmal begegnet und war beeindruckt. Also nicht von ihrer …« Er malte mit dem Zeigefinger eine Linie von der Wange zum Kinn. »… sondern von ihrer Art, mit dem Betroffenen zu sprechen.« Er zögerte. »Sie war irgendwie … hypnotisierend!«
»Interessante Wortwahl. Das Dingsda«, sie imitierte seine Geste, »ist eine Narbe, die sie von einer Messerattacke übrig behalten hat, und Charly – sie ist die Beste.«
Tom erstarrte. Das Schwärmen für die Kollegin vom Polizeilichen Opferschutz löste eine ganz andere Assoziation bei ihm aus. Die Beste … er hatte vergessen, Lisa anzurufen!
Charlotte stellte die Auflaufform mit der übrig gebliebenen Lasagne in den Kühlschrank. Sie war furchtbar enttäuscht vom Verlauf des Abends und überlegte, was die Stimmung zerstört hatte.
Am Nachmittag hatte sich ihre Tochter noch gefreut, dass Charlotte für sie beide eine vegane Gemüselasagne zubereitet und damit der seit wenigen Wochen angesagten Ernährungsform Nathalies Rechnung getragen hatte. Am Abend war es ihr dann plötzlich peinlich, mit ihrer Mutter am gedeckten Tisch zu sitzen. Nathalie hatte kaum ein Wort gesprochen und in ihrem Lieblingsessen gestochert. Diese Stimmungsumbrüche häuften sich, und Nathalie entwickelte sich mit ihren dreizehn Jahren zu einem Pubertätspanzer auf zwei Beinen. Kein Wort war aus ihr herauszubekommen, welche Laus ihr über die Leber gelaufen war, außer dass Charlotte mit ihrer Fragerei nerve. Damit hatte sie ja vielleicht recht, aber warum erzählte sie nicht, was sie beschäftigte? Dann hätte Charlotte Anteil nehmen, trösten können. War es ein Fehler, Kerzen anzuzünden und Leinenservietten auf den Holztisch zu decken? Vermutlich sah es für die Jugendliche mehr nach einem piekfeinen Date als nach Abendbrot mit der Mutter aus. Definitiv ein Fehler. Schon wieder einer …
Charlottes Handy klingelte, und als sie danach griff und aufs Display schaute, sprang Nathalie mit einem übertriebenen Stöhnen auf, lief in ihr Zimmer und knallte die Tür zu.
Pubertät mochte ja nötig sein, um sich von der Kindheit zu verabschieden, aber sie war eine Zumutung für die Jugendlichen und ihre Eltern.
Die Nummer im Display gehörte der Mordbereitschaft, und sie nahm das Gespräch an.
»Jonna hier«, drang eine melodiöse Stimme durch das Telefon. »Charly, ich brauche deine Unterstützung. Wir müssen eine Todesnachricht überbringen. Ich würde dich nicht zu so später Stunde bitten, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.«
Charlotte war hin- und hergerissen. Sie half Jonna gerne, aber diese nächtlichen Einsätze mussten aufhören. Kein Wunder, dass Nathalie sich immer mehr einigelte, wenn Charlotte sie so oft im Stich ließ. Sie hatte erst vor Kurzem ihre Wochenarbeitszeit im Polizeidienst von zwanzig auf dreißig Stunden erhöht und ahnte, dass dies zu früh gewesen war. Andererseits klang Jonna, als sei sie unter Druck und wäre auf ihre Hilfe angewiesen.
»Was ist passiert?«
»An den Landungsbrücken liegt ein Barkassenführer mit schwerer Kopfverletzung tot auf seinem Boot. Es sieht danach aus, als habe ihm jemand den Schädel eingeschlagen. Er hinterlässt eine Ehefrau und eine dreijährige Tochter.«
Jonna wusste genau, dass Charly nicht Nein sagen konnte, wenn ein Kind involviert war. Die Mutter wäre unter Umständen nicht mehr in der Lage, sich um die Kleine zu kümmern, wenn sie vom gewaltsamen Tod ihres Mannes erfuhr.