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Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Nur 24 Stunden, um einen Täter zu stellen – die Wasserschutz Hamburg ermittelt bei Sturmflut! »Tatort Hafen – Tod im Schatten der Elbflut« ist der 2. Band der rasanten Krimi-Reihe rund um den Hamburger Hafen: Dem Team bleiben nur 24 Stunden, um ein Leben zu retten – während Hamburg von einem Jahrhundert-Unwetter bedroht wird. Ein gewaltiges Orkantief wühlt die Nordsee auf und zieht auf Hamburg zu. Wasserschutz-Polizist Tom Bendixen bereitet den Hafen unter Hochdruck auf eine Sturmflut vor. Währenddessen wird in der Elbe die Leiche eines Afrikaners gefunden. Mordermittlerin Jonna Jacobi findet heraus, dass der Tote auf einem Containerschiff war, das eben in den Hafen eingelaufen ist. Bei der Durchsuchung des Schiffes entdeckt die Wasserschutzpolizei eine blinde Passagierin mit einem kleinen Kind – außerdem scheint ein Crewmitglied zu fehlen. Jonna bittet Charlotte Severin vom Opferschutz, die verängstigte Mutter zu betreuen und zu befragen. Inzwischen gilt Warnstufe 3, der Hafen wird evakuiert. Doch irgendwo auf dem Gelände schwebt ein weiterer blinder Passagier in Lebensgefahr: Das Wasser steigt unerbittlich – und der Mann wird als Zeuge nicht nur von der Polizei gesucht … Dramatischer Krimi mit echter Hafen-Atmosphäre und True-Crime-Elementen Die Autoren Angélique und Andreas Kästner bürgen für authentische Ermittlungen: Der gelernte Vollmatrose und Hauptkommissar a. D. Andreas Kästner war über 30 Jahre bei der Wasserschutzpolizei Hamburg. Angélique Kästner ist Psychologin und Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Krisenintervention. Ihren ersten Fall lösten Hafen-Kommissar Tom, Mord-Ermittlerin Jonna und Krisen-Psychologin Charlotte im Krimi »Tatort Hafen – Tod an den Landungsbrücken«.
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Seitenzahl: 455
Kästner & Kästner
Tod im Schatten der Elbflut
Kriminalroman
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Ein gewaltiges Orkantief zieht auf Hamburg zu. Während Wasserschutzpolizist Tom Bendixen den Hafen unter Hochdruck auf eine Sturmflut vorbereitet, wird in der Elbe die Leiche eines Afrikaners gefunden. Mordermittlerin Jonna Jacobi findet heraus, dass der Tote auf einem Containerschiff war, das eben in den Hafen eingelaufen ist. Bei der Durchsuchung des Schiffes entdeckt die Wasserschutzpolizei eine Blinde Passagierin mit einem kleinen Kind – außerdem scheint ein Crewmitglied zu fehlen. Jonna bittet Charlotte vom Opferschutz, die verängstigte Mutter zu betreuen. Inzwischen gilt Warnstufe 3, der Hafen wird evakuiert. Doch irgendwo auf dem Gelände schwebt ein weiterer Blinder Passagier in Lebensgefahr, der nicht nur von der Polizei als Zeuge gesucht wird …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Prolog
Kapitel 1
Radio Hamburg
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Funksprüche
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Funksprüche
Kapitel 13
Radio Hamburg
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Radio Hamburg
Kapitel 24
Funksprüche
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Funksprüche
Kapitel 35
Radio Hamburg
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Radio Hamburg
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Glossar
Dank
Leseprobe: Tatort Hafen Band 3
Die letzte Fähre nach Dockland
Global Endeavour, Nordsee, Deutsche Bucht – 01.22 Uhr
Der Sturm nahm keine Rücksicht auf ihr Leben. Mit dem Mut des Verzweifelten hangelte sich Tarik hinter Ebo die Ankerkette hinauf.
Der Westwind hatte seit Tagen stetig zugenommen und sich zu einem Unwetter mit beachtlichem Seegang ausgewachsen. Der Bug des riesigen Frachters schraubte sich mit jeder Welle steil in die Höhe, bevor er zurück in das Wellental krachte. Tarik krallte sich, so fest er konnte, an die Metallschäkel der Ankerkette.
Ebo, der über ihm hing, hob vorsichtig die Luke an und versuchte, sich im Dunkel der Nacht zu orientieren. Das Oberdeck lag verlassen da. Tarik beschleunigte seine Bemühungen, hochzuklettern. Er sehnte sich danach, endlich wieder einen sicheren Stand zu haben. Brecher überrollten die Reling, eisiger Wind schlug ihm ins Gesicht. Bis zum Deckshaus, das Schutz und Wärme versprach, waren es nur wenige Meter – zum Greifen nah und doch unerreichbar.
Seit zehn Tagen hatten sie eng aneinandergeschmiegt auf der Ankerkette gehockt, waren abwechselnd aufgestanden und hatten sich, so gut es ging, bewegt, um in der Kälte nicht zu erstarren. Sie hatten all die Qualen erduldet, weil ihnen keine andere Wahl blieb.
Dann war der Sturm aufgezogen. Und was für ein Ungetüm! Schnell wurde es unerträglich in dem engen Kettenkasten.
Das Wetter hatte Tariks Berechnungen über den Haufen geworfen. Sie hätten schon vor Tagen den Hamburger Hafen erreichen müssen, stattdessen war ihnen das Trinkwasser ausgegangen. Reflexhaft blickte er auf seine Uhr, doch in der Dunkelheit war das Ziffernblatt nicht zu erkennen.
Die Nacht tauchte den Himmel und die Nordsee in undurchdringliche Schwärze. Der Wind toste, und krachend schlugen die Wellen gegen die Bordwand, um ihn daran zu erinnern, dass sie schnellstmöglich ins Schiffsinnere gelangen mussten. Er wusste, dass es hier draußen im vorderen Deckbereich für sie lebensgefährlich war. Die Reling war niedrig, und jeder Brecher hatte das Potenzial, sie über Bord zu spülen.
Ebo schloss hinter Tarik die Luke und taumelte ein paar Schritte zur Seite, als eine Windböe ihn erfasste. In der tiefen Finsternis erkannte Tarik ihn vor allem an seinen blendend weißen Zähnen. Ebo lachte. Für ihn war die Flucht ein einziges Abenteuer.
Tarik griff nach ihm und schob ihn am Schanzkleid entlang vor sich her. Sie stemmten sich gegen den Wind und setzten tastend einen Fuß vor den anderen. Die Gischt der Wellen hatte sie in wenigen Sekunden durchnässt, und die Erschöpfung zwang ihn in die Knie. Er krabbelte weiter mittschiffs, was sich nicht nur sicherer anfühlte, sondern auch schneller war als im aufrechten Gang.
Bis zu den Aufbauten war es ein ganzes Stück. Sie robbten keuchend voran. Tarik hatte sich die Bauweise des Frachters eingeprägt, bevor sie ihre Flucht gewagt hatten. Er hatte alle Informationen gelesen, die er über das Schiff bekommen konnte, und für Essen, Trinken und Medikamente gesorgt. Er hatte das Risiko eingehen müssen. Es gab keinen Plan B, er hatte keine andere Wahl mehr gehabt, als sein Land zu verlassen, wenn er nicht sterben wollte.
Dann kam Ebo.
Und dann kam der Sturm.
Es war nur zu wahr: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Warum hatte er …
Sie erreichten ein Schott, das sie direkt ins Innere des Containerriesen führte. Sie schafften es nur zu zweit, den langen Stahlriegel nach oben zu drücken und die Eisentür so behutsam wie möglich aufzuziehen. Drinnen blendete sie das Neonlicht, doch wohltuende Wärme und Ruhe umfingen sie. Erleichtert atmete Tarik tief ein. Es roch nicht mehr nur nach salziger Meeresluft, sondern nach Diesel und Rost. Bis hierher hatten sie es geschafft. Dann sah er auf die Uhr. Ein Uhr sechsundzwanzig – mitten in der Nacht. Weiter, nur weiter! Wenn jemand von der Crew in diesem Moment um eine Ecke biegen würde, stünden sie im Rampenlicht wie bei einer Oscarverleihung. Und ganz sicher kämen sie zu trauriger Berühmtheit.
Aber sie mussten das Wagnis eingehen, um Wasser und Nahrung aufzutreiben. Ebo und er hatten entschieden, ihr Versteck heute Nacht zu verlassen. Tarik hatte noch nie in seinem Leben einen solchen Durst verspürt. Sie brauchten dringend etwas zu trinken, sonst würden ihre letzten Kräfte schwinden! Die Seekrankheit hatte dazu geführt, dass sie sich erbrachen, und viel Flüssigkeit verloren. Tarik fror erbärmlich und wünschte sich nichts sehnlicher als eine heiße Dusche, eine Wolldecke, etwas zu trinken – Dinge, die noch vor Kurzem zu Hause selbstverständlich gewesen waren.
Das verdammte Wetter … das Schiff hätte längst in Hamburg sein sollen!
Ebo stoppte so plötzlich ab, dass Tarik auf ihn auflief und erschrocken keuchte. Er hielt sich die Hand vor den Mund. Das durfte nicht noch einmal passieren, sie mussten leise sein.
Rechts stand eine Tür offen. Das Schild warnte: Restricted Area – Authorized Personal Only. Ebo wagte einen Blick durch den Türspalt und hob den Daumen. Niemand da. Glück gehabt.
Hinter der Tür versteckte sich eine Art Materialdepot, in dem neben Werkzeugen aller Art, Ersatzteilkisten, zahllosen Farbeimern und sonstigem Schiffsbedarf auch drei orangefarbene Overalls hingen. Tarik drängte sich an Ebo vorbei, riss zwei der Anzüge vom Haken und reichte Ebo einen. Schweigend zogen sie ihre durchnässte Kleidung aus und streiften die Arbeitsoveralls mit dem Logo der Reederei über. Wärme und Schutz zugleich – zumindest aus der Ferne hätte man sie für Mitglieder der Crew halten können. Vorsichtshalber steckte Tarik einen schweren Schraubenschlüssel ein. Sollte ihnen jemand von der Crew begegnen, könnte er sich verteidigen – auch wenn es ihm schwerfiel, sich das vorzustellen. Er hatte den hippokratischen Eid darauf geleistet, Menschenleben zu retten, nicht ein solches zu zerstören.
Er sah sich um und knüllte ihre Kleidung hinter eine dicht an der Wand stehende Kiste. Da würde sie so schnell niemand finden.
Es gab, welche Enttäuschung, weit und breit nichts Essbares, keine Getränke, auch keinen Wasserhahn. Ebo setzte sich einen der Helme auf, die im Regal lagen, und lächelte. So war sein Schwager. Den Schalk im Nacken. Er reichte Tarik schweigend einen Helm. Ihre Verkleidung wurde immer besser. Sicherheitsschuhe fanden sie keine, aber Ebo angelte nach Arbeitshandschuhen. Leider nur ein Paar. Tarik winkte ab, sollte Ebo sie nehmen, er drängte weiter.
Hier drinnen ächzte und zitterte der Containerfrachter in der schweren See. Das Vibrieren des Schiffsrumpfs war deutlich zu spüren. Welch Hohn, wenn der Kahn nach all den erlittenen Strapazen so kurz vor dem Ende ihrer Reise auseinanderbräche und sie ein Opfer der Wellen würden. Als Arzt wusste Tarik, dass es kaum einen qualvolleren Tod gab, als zu ertrinken. Rasch schob er den Gedanken von sich.
Er warf einen Blick in den Gang und winkte Ebo, ihm zu folgen. Links und rechts des Ganges hingen in regelmäßigen Abständen Feuerlöscher und Anschlagtafeln mit Hinweisen in englischer Sprache. Verhaltensregeln im Gefahrenfall. Tarik, der sein Studium auf Englisch absolviert hatte, streifte sie mit einem flüchtigen Blick. Er hatte keine Zeit, sich damit aufzuhalten. Linker Hand trafen sie auf eine Tür, die mit einem Treppensymbol markiert war. Sollten sie es ein Deck höher probieren? Je näher sie den Aufenthaltsräumen kamen, desto eher mussten sie mit unangenehmen Begegnungen rechnen. Auch nach Mitternacht lebte ein solches Schiff, dessen Maschinen niemals schliefen. Aber nur so konnten sie hoffen, auf Nahrung und Wasser zu stoßen.
Ebo hatte Tariks Gedanken erraten, er öffnete vorsichtig die Tür und schlüpfte ins Treppenhaus. Die Wände waren gelb gestrichen, der steile Niedergang nach oben und unten hatte an jeder Seite runde Handläufe aus Stahl. Ebo stoppte und hob warnend die Hand. Über ihnen waren Stimmen zu hören.
Tariks Puls raste. Sie durften nicht entdeckt werden. Er lauschte für eine Sekunde und identifizierte eine weibliche und eine männliche Stimme, die in englischer Sprache heftig stritten. Was in Gottes Namen hatte eine Frau auf einem Containerschiff zu suchen? Die beiden Streitenden versuchten, ihre Erregung zu unterdrücken, denn sie pressten ihre Argumente zwischen den Zähnen hervor.
Tarik hielt noch immer die Tür in der Hand. Er drängte darauf umzukehren, doch Ebo starrte wie paralysiert nach oben.
Sie, so konnte Tarik verstehen, wollte es auf keinen Fall auf sich beruhen lassen. Er würde das zu verhindern wissen.
Was warf sie ihm vor? Sie klangen nicht wie ein Liebespaar, eher so, als wären sie sich fremd und doch aufeinander angewiesen.
Er drohte, dass ihre Karriere beendet sei, bevor sie überhaupt mit ihrem Studium angefangen habe. Ob es das sei, was sie wolle? Es sei gängige Praxis, und sie würde sich schon daran gewöhnen. Es ginge schließlich um Geld, viel Geld. Apropos Geld, er brauche seinen Job, dringender, als sie es sich vielleicht vorstellen könne. Sie sei ja so verdammt naiv.
Wenn es ums Geld geht, hört Freundschaft auf, dachte Tarik. Das war überall auf der Welt so. Und diese beiden Streithähne waren soeben zu erbitterten Feinden geworden, denn die Frau hatte für den Appell ihres Gegenübers kein Verständnis. Sie verlangte Gerechtigkeit.
Das ist wirklich naiv, dachte Tarik und atmete leise durch den Mund ein und aus. Gerechtigkeit war auf dieser Welt nicht zu haben. Davon konnte er ein Lied singen, aber das war nicht der geeignete Zeitpunkt. Er wollte zurück, doch Ebo stand zu weit entfernt, um ihn am Overall zu packen und mit sich zu ziehen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als in der Tür zu warten, bis Ebo sich umdrehen würde. Warum kam der Idiot nicht, worauf wartete er?
Der Streit eine Treppe höher eskalierte. Sie sprach von der Presse. Er nannte sie eine Bitch.
Ebo, komm, lass uns verschwinden! Tarik versuchte es mit der Kraft seiner Gedanken.
Ein unterdrückter Ruf ertönte. Kurz darauf erzitterte das Treppengeländer. Erneut ein Schrei, lauter, gellender diesmal, es war die Frau, die schrie.
Zu unvorstellbar war das, was Tarik hörte. Er musste handeln, auch wenn er sich und Ebo in Gefahr brachte.
Er lehnte die Tür an und wagte einen Blick – ein Fehler.
Er sah, wie die Fausthiebe des Mannes auf die Frau einprasselten. Wie sie versuchte, sich zu wehren, aber das Treppenhaus war zu eng, es gab kein Entkommen. Sie knickte ein, unternahm alles, um sich unter den Schlägen wegzuducken. Vergeblich.
Tarik griff nach dem Schraubenschlüssel, schwer lag er in seiner Hand. Ihm stieg Magensäure in die Kehle.
Die Frau war wieder auf die Beine gekommen, stand nun aber eine Stufe unter dem Mann. Sie rammte ihm den Kopf in den Bauch, aber er schien es kaum zu spüren. Mit der rechten Hand hielt er sich am Geländer fest und holte mit der linken Hand aus. Wie das Schlagholz eines Baseballspielers krachte seine Faust in das Gesicht seines Opfers. Tarik hörte den Wangenknochen brechen, der Kopf der Frau prallte gegen die Wand. Erneut ein knackendes Geräusch, das ihn für einen Moment erstarren ließ.
Es ging alles rasend schnell, doch dieser Laut entschied es. Tarik schob sich an Ebo vorbei, sprang die Stufen hinauf, den Schraubenschlüssel in der erhobenen Faust.
In diesem Moment packte der Mann den Körper der leblosen Frau und warf ihn die Treppe hinab, ihm direkt vor die Füße. Tarik blickte in das tote Antlitz der Frau und Sekunden später in die schreckgeweiteten Augen des Mörders.
Für einen Atemzug hielten beide die Luft an.
»Lauf!«, schrie Ebo. »Lauf!«
Hamburg, Travehaven – 07.10 Uhr, Montag
Wat’n Schietwedder!« Tom sah aus dem Fenster des Streifenwagens hinaus in die Dunkelheit. Er und sein Kollege Tilo Andersen fuhren im Schritttempo den Ellerholzweg entlang.
Der Westwind hatte in den letzten Stunden deutlich aufgefrischt. In Böen fegte er von der Nordsee her über Land und drückte das Elbwasser immer stärker in den Hafen. Die Bäume beugten sich weit hinunter Richtung Asphalt, gezwungen von dem stürmischen Novemberwind, der das Wasser vor sich hertrieb.
Als Hauptkommissar und Dienstgruppenleiter des Wasserschutzpolizeikommissariats 2, kurz WSPK2 genannt, musste Tom nicht selbst die Hochwasserstreife fahren. Aber er war mit einem mulmigen Gefühl zum Dienst gekommen und hatte beschlossen, sich die Lage und die Schäden, die der aufziehende Sturm bereits angerichtet hatte, persönlich anzusehen. Zu zweit fuhren er und Tilo, wegen seiner Kraft auch Quetsche genannt, die niedrig gelegenen Straßen ab, um ein Gespür für den Ernst der Lage zu bekommen. Waren erste Straßenzüge überspült? Oder war damit in absehbarer Zeit zu rechnen? Noch hielten sich die Schäden in diesem wenig befahrenen Teil des Travehafens in Grenzen, doch das war kein Grund, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. »Es wüten schwere Stürme über der Nordsee, so was hat es schon lange nicht mehr gegeben!«, murmelte Tom. »Wir müssen uns auf hässliche vierundzwanzig Stunden gefasst machen.«
Der Wetterbericht im Radio hatte eindringlich vor Orkanböen gewarnt und die Bürger aufgefordert, das Haus nicht zu verlassen, und wenn, dann nur aus triftigem Grund.
Quetsche stoppte den Wagen abrupt. Aus der Nippoldstraße, die parallel zur Köhlbrandbrücke verlief, schwappte ihnen das Wasser entgegen. Zwei Lkw parkten am Straßenrand und standen mit einer Fahrzeugseite bereits in tiefen Pfützen.
»Na, bin ich froh, wenn um achtzehn Uhr Schicht ist«, meinte Quetsche. »Ich werde mich zu Hause einmuckeln, meine Frau kocht uns was Leckeres, und dann schauen wir ganz entspannt, was die Nachrichten so bringen. Gehst du, oder soll ich?«
Tom sah ihn an. Alles an Quetsche war groß: seine Hände, seine Füße, seine Loyalität und sein Herz.
»Da würde ich keinen Cent drauf verwetten«, antwortete er. »Wenn das passiert, was ich befürchte, und danach sieht es aus, gibt’s heute für niemanden Dienstende. Nix ist mit Feierabend.« Er hielt Quetsche die Faust hin. »Schnick, Schnack, Schnuck! Wer verliert, muss raus in den Sturm.«
»Meine Frau hat mich gestern Abend wuschig gemacht, als sie gehört hat, dass ein Orkan über der Nordsee tobt.« Quetsche löste den Anschnallgurt und drehte sich zu Tom. »Sie hat sofort angefangen, Brot zu backen. Legt Vorräte an wie ein Eichhörnchen!«
»Recht hat sie! Schau, überall blubbert schon die Brühe aus den Gullys.« Tom wies durch die Windschutzscheibe nach vorn. Im Licht der Scheinwerfer war zu sehen, wie die Wassermassen durch die Siele nach oben drückten. Sie würden sowohl den Ellerholzweg als auch die Nippoldstraße für den Verkehr sperren müssen.
»Ist doch prima«, unkte Quetsche. »Endlich können wir unsere Fluttore mal wieder ausprobieren. Das letzte anständige Hochwasser ist lange her, 2013, wenn ich nicht irre.«
Sie bewegten ihre Fäuste dreimal hin und her. Schnick – Schnack – Schnuck. Tom zeigte eine flache Hand, Quetsche deutete die Schere an.
»Schere schneidet Papier. Gewonnen!« Quetsche rieb sich die Hände. »Du gehst! Tschüss! Pass auf dich auf!«
Tom stöhnte enttäuscht auf und öffnete die Beifahrertür. Der kalte Morgenwind traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht und nahm ihm kurz den Atem. Die Luft roch nach muffigem Wasser. Er zog seine Wollmütze über die Ohren und stapfte Richtung des ersten Sattelschleppers. An der Fahrerseite war die Gardine zugezogen. Die Straße war ein beliebter Übernachtungsparkplatz für die Brummifahrer, die auf ihre Ladung warteten und darauf, dass die Dispatcher der Containerterminals ihnen ein Zeitfenster zuwiesen, in dem sie abgefertigt wurden. Erst dann durften sie auf das Terminal fahren. Die Zeitkorridore waren eng, und wer es versäumte, hatte Pech und musste warten.
Tom sah sich um. Auch wenn es noch dunkel war, bemerkte er, wie die kahlen Äste der Bäume wild um sich schlugen. Siedend heiß fiel ihm ein, dass seine Terrassenmöbel ungeschützt im Garten standen. Wie oft hatte Lisa ihn schon gebeten, die in den Schuppen zu räumen. Er musste Lisa anrufen, damit sie alles in den Verschlag im Garten brachte, sonst gäbe es nur noch Kaminholz, wenn er nach Hause kam.
Tom sprang über eine Pfütze, näherte sich dem Lkw und klopfte an die Fahrertür.
Nichts passierte.
Gegen den Wind gestemmt, fummelte er seine Taschenlampe aus dem Gürtel und leuchtete durch die Windschutzscheibe ins Innere. Im hinteren Teil der Fahrerkabine tauchte ein Mann mit verstrubbelten Haaren auf, offensichtlich hatte das Klopfen ihn aus dem Schlaf gerissen.
Tom hielt die Taschenlampe auf sich selbst gerichtet, um ihm zu zeigen, dass er Polizist war, und gab mit der Hand Zeichen, die Tür zu öffnen. Der Mann kletterte weiter auf den Fahrersitz und öffnete die Tür.
»Good Morning! Do you speak German? English?«
Der Mann schüttelte den Kopf. Tom hatte damit gerechnet. Die Lkw-Fahrer kamen meist aus Bulgarien oder Weißrussland und hatten kein Geld, um irgendwo in einem richtigen Bett zu übernachten. Die armen Kerle fuhren tagelang durchs Land, wohnten, aßen und schliefen in ihren Fahrerkabinen.
Tom zeigte mit der Taschenlampe auf den blubbernden Gully und die Wasserlachen vor ihm. »High water is coming. You have to leave this place!«
Der Fahrer verstand sofort, denn er langte ins Handschuhfach und holte eine zerknitterte Straßenkarte heraus. Als er sie Tom hinhielt, riss ihm eine Böe beinahe das Papier aus den Händen. Tom richtete seine Taschenlampe auf die Karte und erklärte ihm, wo sein Sattelschlepper parkte und wohin er ausweichen konnte.
In diesem Stadium des Unwetters galt es, Lkw und geparkte Fahrzeuge aus den niedrig gelegenen Gebieten des Hafens in Sicherheit zu bringen. Bald würden die Straßen überflutet werden und wären nicht mehr passierbar. Entweder verließen die Brummis den Hafen, oder sie suchten Schutz innerhalb der Polder. Diese besonders ausgewiesenen Areale waren durch Fluttore und Flutschutzmauern vor den Wassermassen geschützt. Dort blieben die Fahrzeuge zwar trocken und sicher – kamen aber nicht wieder heraus, bis das Wasser abgelaufen war.
Der Fahrer nickte Tom zu und ließ den Motor an. Offenbar hatte er vor dem steigenden Wasser den allergrößten Respekt und beabsichtigte nicht, noch eine Minute länger hier stehen zu bleiben.
Tom grüßte und hetzte zum nächsten Lastwagen. Er strauchelte kurz, als ein Windstoß ihn erfasste. Der Sturm nahm an Gewalt zu. Wenn er sich zum Orkan auswachsen würde, hätten sie alle Hände voll zu tun, um den Hafen abzusperren. Dann kam hier niemand mehr herein oder heraus. Er seufzte. So weit musste es ja nicht kommen.
Auch der zweite Lkw-Fahrer machte sich eilig davon, und Tom lief geduckt zurück zum Streifenwagen.
Quetsche starrte auf das erleuchtete Display seines Handys und las vor, dass die Meteorologen den Sturm Zephyr getauft hatten.
Tom rieb die kalten Hände aneinander.
»Zephyr ist eine Windgottheit aus der griechischen Mythologie, die den milden Westwind verkörpert.« Quetsche lachte amüsiert auf. »Wer denkt sich denn so was aus?«
»Ich dachte, Stürme bekämen männliche oder weibliche Vornamen?« Tom zuckte mit den Schultern. »Was mich viel mehr irritiert, ist, warum das Wasser nicht abfließt, wir haben schließlich Ebbe. Und die nächste Flut drängt bald nach. Dieser verdammte Westwind nervt.« Mittags würde sie ihren Höchststand erreichen, und Tom schätzte, dass es fünf Meter über Normalnull werden könnten. Wenn nicht mehr.
»Angst, nasse Füße zu bekommen?«
»Hast du den neusten Pegelstand abgerufen?«, fragte Tom.
»Jo. Waren um sieben Uhr bei drei Meter neunzig über Normalnull. Der Fischmarkt steht seit heute Nacht unter Wasser.«
Tom rechnete nach. Gegen dreizehn Uhr erreichte der Wasserpegel seinen höchsten Stand. Aber sollte sich der Sturm auf der Nordsee zum Orkan aufbauen, würde der die Tidewelle die Elbe hochschwingen lassen. Und das Wasser würde steigen und steigen. »Fangen wir an, alles hochzufahren, sonst sind wir am Arsch, wenn das Wetter so derb wird wie angesagt.«
»Ich fände das ganz cool. Seit der Ermordung des Barkassenführers hatten wir keine wirklich aufregenden Einsätze mehr. Wird Zeit, dass mal wieder richtig Party im Hafen ist. Dafür bin ich schließlich Polizist geworden!«
Tom dachte an den gemeinsamen Einsatz mit den Kollegen von der Mordkommission. Der Fall, den er zusammen mit Jonna Jacobi, Daan Van der Waal und Charlotte Severin aus der Opferschutzabteilung der Polizei bearbeitet hatte, war mit Sicherheit einer der spannendsten seit Jahren gewesen. So hatte er sich übergreifende Polizeiarbeit immer vorgestellt. Sie hatten gemeinsam den Tod von Dominic Lutteroth aufgeklärt. Was zunächst wie ein Kleinkrieg unter den Barkassenbetreibern ausgesehen hatte, war in einer menschlichen Tragödie geendet.
Lange Zeit hatte er keine so intensiven Gefühle mehr empfunden. Aufregung und Jagdfieber, aber auch Sorge – und einen Funken Neid. Wenn es die Wasserschutzpolizei nicht gäbe, hätte er Lust auf die Mordkommission gehabt. Da waren die Kommissare Jonna und ihr Kollege, der Holländer Daan Van der Waal, die er beide bewunderte und deren Ermittlungstätigkeit ihn begeistert hatte. Er schüttelte den Kopf. Der Fall war abgeschlossen, und Jonna hatte er seither leider nur kurz am Telefon gesprochen. Ihr Alltag hatte sie alle wieder fest im Griff.
Er langte nach seinem Handy und rief seinen Wachhabenden am WSPK2 an. »Wir verfahren weiter nach Wasserstandsstufe 0«, sagte er. »Gib mir Rückmeldung, ob Revier 1 die Böllerschüsse zur Warnung der Bevölkerung wiederholt hat.«
»Jawoll, wir schießen von der Ernst-August-Schleuse, Teufelsbrück, Maakenwerder Höft, Hafentor und Stadtdeich.«
Der Mann ratterte die Straßennamen herunter. Offensichtlich hatte er den Hochwasserordner vor sich liegen und amüsierte sich.
»Ist das Boot hinter die Freihafenelbbrücke verlegt? Die Kollegen sollen vor Entenwerder Warteposition beziehen!«
»Jo! Wollen wir die Rundfunkansagen wiederholen?«, fragte der Kollege.
»Ja, wir fahren noch die restlichen Straßen laut Plan ab und kommen dann rein. Haben sich die ansässigen Firmen gemeldet?«
»Nein, hier ist alles ruhig. Die wissen Bescheid. Ist ja nicht das erste Hochwasser.«
Tom überlegte. Sobald er wieder im Warmen säße, würde er sich die Windstärken der Windanlage Schaarhörn und die der Wetterstation Cuxhaven ansehen. Dann wüsste er, ob der Wasserstau mit dem höchsten Tidenhub zusammentreffen würde. Das hatte es seit über zehn Jahren nicht mehr gegeben. »Und was ist, wenn wir auf eine Flutkatastrophe wie 1962 zusteuern?«, murmelte Tom mehr zu sich selbst als zu seinem Kollegen.
»Du spinnst! Unsere Deiche sind hoch genug für jedes Unwetter!«
Das stimmte nicht, irgendwann wäre es so weit, dass hoch nicht mehr hoch genug war. Nicht umsonst lagen die Pläne zur Deicherhöhung in den Schubladen des Hamburger Senats. Nicht ohne Grund sprach die Welt über den Klimawandel und steigende Meeresspiegel. Irgendwann kam der Tag der Abrechnung – und was, wenn dieser Tag heute war?
Bald würde er wissen, ob sein Bauchgefühl ihn trog. Ob das Orkantief Hamburg an seine Grenzen bringen würde.
Oder sogar darüber hinaus.
»Liebe Hörer von Radio Hamburg.
Die Wetteraussichten könnten durchaus verlockender klingen. Hamburg bekommt mal wieder den Sturm von der Nordsee ab. Hanseatische Gelassenheit ist gefragt. Hören Sie bitte die Gefahreninformation der Polizei am Ende des Wetterberichts.
Für Hamburg besteht Sturmflutgefahr, aber das haben Sie vielleicht schon mitbekommen. Der Fischmarkt steht unter Wasser, wer da noch geparkt hat, nun ja, der sollte sich schnell um sein Auto kümmern.
Dazu gesellt sich ein Sturm mit Windgeschwindigkeiten zwischen 65 bis 70 Kilometer pro Stunde, das ist Windstärke 8. Mann, Mann, Mann, dat is ’n Schietwedder. Bleiben Sie heute am besten zu Hause, halten Sie Türen und Fenster geschlossen, und sichern Sie Gegenstände im Freien. Es besteht Lebensgefahr durch umstürzende Bäume.
Hören Sie jetzt die amtliche Gefahrenmeldung der Polizei Hamburg: Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie warnt vor einer Sturmflut im Verlauf des Montags!
Der Hochwasserscheitel wird mittags gegen 13.00 am Pegel St. Pauli mit einer Höhe von plus 3,65 bis 4,15 Metern über Normalhöhennull, das entspricht 1,5 bis 2,0 Meter über dem mittleren Hochwasser, erwartet.
Verlassen Sie tief liegende Gebiete, insbesondere im Hafen, in der HafenCity, am Fischmarkt und in elbnahen Orten. Bringen Sie Ihre Fahrzeuge in höher gelegene Gebiete. Sichern Sie tief liegende Gebäude vor dem Hochwasser.
Verständigen Sie bitte auch Ihre Nachbarn, insbesondere diejenigen, die aufgrund von Behinderungen, Sprachbarrieren oder eingeschränkter Mobilität möglicherweise Unterstützung brauchen.«
Global Endeavour, Elbe, Höhe Teufelsbrück – 07.40 Uhr
Hatte Tarik vor einigen Stunden noch geglaubt, sie würden ein Risiko eingehen, fehlten ihm für ihre aktuelle Lage die Worte. Es war eine Katastrophe! Seine Gedanken rasten, und Angst krallte sich in seinen Nacken. Was, wenn der Mann sie aufspürte?
Der Mann, der die Frau erschlagen hatte.
Der Mann, dem der Hass aus den Augen sprühte.
Der Mann, dem klar sein musste, dass Ebo und er Zeugen seiner schrecklichen Tat geworden waren.
Er war ihnen nicht hinterhergelaufen, oder Tarik hatte es nicht mitbekommen, da er nur das Blut in seinen Ohren rauschen gehört hatte. Sie waren gerannt. Den Gang entlang, durch verschiedene Schotten und Türen, immer weiter, ohne Sinn und Verstand. Getrieben von einem Fluchtreflex, der sie erst anhalten ließ, als ihnen die Puste ausging.
Keuchend und mit den Händen auf den Knien lehnten sie sich vornübergebeugt an eine Wand. Es war pures Glück, dass sie niemandem begegneten. Tariks Plan löste sich in Luft auf. Er hatte sich bei der Crew melden wollen, sobald die Lotsen an der Lotsenstation an Bord gekommen wären. Dann wären sie dem Hamburger Hafen schon ganz nah gewesen, und kein Kapitän hätte sich ihrer noch entledigen können. Aber die grauenhafte Tat veränderte alles!
Was war aus der toten Frau geworden? Als Arzt erkannte Tarik ein gebrochenes Genick, wenn er einen Kopf in dieser unnatürlichen Stellung sah. Und diese Frau war an den Folgen des Sturzes gestorben, das war die Realität.
Tarik versuchte, sich zu orientieren. Sie waren achterdecks nach draußen gekommen und hatten beinahe die Kraft des Sturms vergessen.
Sollten sie versuchen, zum Kettenkasten zurückzufinden? Das Schiff war knapp dreihundert Meter lang. Viel zu lang, um den Weg zurückzulaufen. Oder sich in den Gängen zwischen den Containern verstecken? Aber wenn die Stahlboxen bei dem Sturm verrutschten, würden sie zerquetscht werden wie eine gekochte Kartoffel unter dem Stampfer.
Dann hatten sie eine Möglichkeit entdeckt.
Sie waren in die fest vertäuten Müllcontainer auf dem Achterdeck geklettert. Dort würde sie niemand vermuten. Ironischerweise hatten sie jetzt Lebensmittelreste, doch sowohl der Gestank nach faulendem Essen als auch die Angst ließ sie ihren Hunger vergessen. Selbst der beißende Durst ließ nach.
»Atme durch den Mund, dann riechst du es nicht!«, raunte er Ebo zu. Der reagierte nicht, hockte nur zitternd neben ihm. Sie waren unfreiwillig Zeugen eines tödlichen Streits geworden, und seine Abenteuerlust war ihm vergangen. Er bibberte vor Kälte, Angst und Erschöpfung. Tarik musste sich etwas einfallen lassen, sonst würden sie verdursten, oder der Täter fand sie und schleuderte sie kurzerhand über Bord. Die perfekte Art, die gefährlichen Augenzeugen loszuwerden. Ein tosender Sturm und die raue Nordsee, die ihre Leichen niemals wieder freigeben würde. Zwei blinde Passagiere, die nicht an Bord gewesen waren und von niemandem vermisst würden – denn es gab sie ja gar nicht. Problem gelöst.
So hatten sie ausgeharrt. Stunde um Stunde hatte Tarik auf eine Idee gewartet, wie er sie aus dieser Situation wieder hinausmanövrieren konnte. Es war ihm nichts eingefallen. Sein Denken war blockiert.
»Wir müssen von Bord«, flüsterte er Ebo zu.
»Hast du in seine Augen gesehen? Dieser unbändige Hass! Er wird uns umbringen!«
Selbst durch Ebos leises Flüstern hörte Tarik die Angst. Für Ebo war aus dem Abenteuer tödlicher Ernst geworden.
»Wir sind schon in der Elbe. Das Wasser ist ruhiger. In Hamburg schleiche ich mich runter vom Schiff und hole Hilfe!«
»Wir schaffen es nicht, Tarik! Ich hab immer an uns geglaubt, aber jetzt … wir packen das nicht.«
Ebo klang so verzweifelt, wie er ihn noch nie gehört hatte.
»Ebo?« Tarik suchte Ebos Hand in der stinkenden Dunkelheit.
Die Angst schlug in totale Erschöpfung um, als wären ihre Akkus endgültig leer. Tarik wusste, dass sie beide kurz vorm Kollabieren waren. Sie brauchten Wasser. Wenigstens hatten die Wellen nachgelassen, und das Schiff schaukelte nicht mehr. Bald wären sie in Sicherheit. Bald.
Noch eine Weile später wurde Ebo unruhig. Er zitterte und murmelte. Tarik hatte Angst, dass Ebo langsam die Nerven verlor.
»Halt durch, wir sind gleich da!«
»Wo sind wir? Wie weit ist es noch?«
Tarik überlegte. Er musste wissen, wie spät es war, um ungefähr zu errechnen, in welcher Höhe der Elbe sie fuhren. »Wir müssen kurz den Deckel der Tonne anheben, damit ich auf die Uhr sehen kann.«
Ebo war erleichtert, endlich etwas tun zu können, und rappelte sich auf.
»Vorsicht!«, mahnte Tarik. »Es darf uns niemand bemerken.«
Draußen war es immer noch stockdunkel, und Tarik konnte seine Uhr nicht ablesen. Mist. »Ich kann nichts erkennen, ich …«
Ihm blieben die Worte im Hals stecken, als er begriff, dass Ebo aus der Tonne herauskletterte. Was tat der Hitzkopf? Er griff nach seinem Bein, doch Ebo schüttelte ihn entschlossen ab.
»Da sind Lichter, sieh nur, die Küste ist ganz nah.«
»Bleib hier«, flüsterte Tarik und wusste, dass nichts und niemand Ebo zurück in die Mülltonne bringen würde. Es kostete ihn ungeheure Willensanstrengung, hinauszuklettern und Ebo zu folgen. Der stand inzwischen an der Reling, und es war ihm offenbar vollkommen egal, ob ihn jemand beobachtete oder nicht.
»Da!« Er zeigte mit der Hand voraus. »Das Ufer. Das sind höchstens zweihundert Meter! Das schwimme ich in kaum zehn Minuten.«
Tarik klammerte sich an ihn. »Bist du irre? Du kannst da nicht runterspringen!« Alle seine Instinkte schrien, Ebo von einem Sprung in die Tiefe abzuhalten.
»Ich hole Hilfe!«
»Und der Sturm? Und wenn es Strömungen gibt? Wir wissen das nicht.« Tarik würgte an dem, was ihm noch einfiel. »Ebo, ich … ich kann nicht schwimmen!«
Ebo zögerte einen Augenblick, dann griff er nach Tariks Arm. »Du hast alles für mich riskiert. Nun bin ich dran, es dir zurückzuzahlen. Ich kraule ans Ufer und hole Hilfe! Du weißt, ich bin ein ausgezeichneter Schwimmer, vertrau mir!«
»Bleib! Bitte!«, bettelte Tarik.
Ebo schob ihn weg wie einen lästigen Gedanken. Tarik hatte keine Kraft, den wesentlich stärkeren Ebo aufzuhalten.
Kurze Zeit später sah er resigniert zu, wie Ebo seine Schuhe abstreifte, einen letzten Moment innehielt, sich sammelte, auf die Reling kletterte und sprang. Er hörte das klatschende Geräusch, als Ebo auf das Wasser aufgeschlagen sein musste. Es war schwer, in dem Lärm des Sturms herauszuhören, ob er Schwimmbewegungen in der Elbe wahrnahm, aber Tarik glaubte ganz fest daran. Ebo holte Hilfe. Er schwamm wie ein Fisch, oder?
Tarik keuchte und erbrach die letzten Reste Gallensaft.
WSPK2 – 08.30 Uhr
Tom stand am Wachtresen und umklammerte seinen leeren Kaffeebecher wie ein Ertrinkender. Was er an Wassermassen gesehen und wie der Sturm ihn angesprungen hatte, ließ ihn frösteln.
»Das wird übel in den nächsten Stunden«, murmelte er, als der Wachhabende mit einer frisch aufgebrühten Kanne Kaffee hinter den Wachtresen trat. Tom ließ sich den Becher vollschenken. »Habt ihr die Böllerschüsse wiederholt?«
»Noch nicht. Der Kollege auf dem Wagen hat keine Einweisung erhalten. Ich schicke gleich einen anderen Streifenwagen, dann …«
»Herrje! Ist mir doch egal, ob der Bescheid weiß oder nicht. Ist doch kein Hexenwerk. Sofort die Böllerschüsse wiederholen, die Bevölkerung muss rechtzeitig gewarnt werden. Das ist dringender als ein fehlender Lehrgang!«
Der Wachhabende zuckte mit gerunzelter Stirn zurück. »Ist ja gut, ich veranlasse das. Kümmere du dich um deine Anrufe: Charlotte Severin und dreimal deine Frau. Beide bitten um Rückruf.«
Tom nickte, klopfte auf den Tresen und drehte ab Richtung seines Büros. Er hatte gemerkt, dass er seinen Kollegen vor den Kopf gestoßen hatte, und es tat ihm leid, aber heute mussten alle spuren, sonst würde das Wasser sie überrollen. Er holte sich erst mal die neuesten Wetterdaten von der Wetterstation in Cuxhaven, danach kämen die Frauen an die Reihe.
Er ahnte, dass Lisa das Wetter zusetzte. Sie hatten sich nach einer Krise ausgesprochen, und er hatte zugesagt, mehr auf ihre Gefühle zu achten. Er hatte sie vernachlässigt, und sie war zu sehr darauf fixiert gewesen, schwanger zu werden. Jede gescheiterte künstliche Befruchtung hatte ihre Stimmung und die Ehe belastet. Seit sie eine Pause in der ärztlichen Behandlung eingelegt hatten, lachten sie endlich wieder miteinander.
Heftige Wetterphänomene ängstigten Lisa jedoch und waren für sie die Bestätigung des Klimawandels, von dem sie seit Jahren sprach. Er plante, ihr vorzuschlagen, zu ihrer Freundin zu fahren, um dort das Unwetter zu überstehen. Und er konnte sie daran erinnern, die Terrassenmöbel unterzustellen, falls sie das nicht schon getan hatte.
Und dann war da Charlotte. Charly. Die empathische Kripokollegin. Sie hatte ihn auf eine Art berührt, die ihm noch nie begegnet war. Als ob sie Seelenverwandte seien. Sie weckte seine Beschützerinstinkte und besaß doch eine innere Stärke, um die er sie beneidete. Nachdem sie sich ihm anvertraut und die hässliche Geschichte einer vergangenen Partnerbeziehung voller Gewalt offenbart hatte, machte er sich Sorgen um sie. Einerseits war er erfreut über ihr Vertrauen gewesen, andererseits bedeutete es, dass er sich verantwortlich fühlte. Der Vater ihrer Tochter verfolgte und bedrohte sie. Das Ganze hatte eine zutiefst beunruhigende Dimension, da sich sowohl der Ex wie auch Charly den gängigen Handlungsoptionen entzogen. Charlotte nahm keine Hilfe von den Kollegen an, sondern hatte den Anspruch, die Bedrohung für immer aus der Welt zu schaffen. Sie vertraute der Justiz nicht, und um das Mädchen zu schützen, war sie bereit, über den eigenen Schatten zu springen. Das Gleiche galt für ihren durchgeknallten Ex, der Charlotte und Nathalie mit dem Tod bedroht hatte. Für Charly würde Tom alles geben. Warum das so war, ließ sich nicht so einfach erklären. Sie steckte in einer Lebenssituation, in der sie seine Hilfe brauchte, basta.
Er pustete in den Kaffee, nippte daran und verbrannte sich prompt die Zunge. Er stellte den Becher auf den Schreibtisch und ließ sich auf den Bürostuhl plumpsen. Das Bullauge, das in seinem rückwärtigen Büro als Fenster diente, ermöglichte ihm freie Sicht auf den Travehafen.
Langsam dämmerte der Tag herauf, und Tom sah, dass das sonst so ruhige Wasser in angriffslustigen Wellen an die Spundwand schlug. Der Sturm brachte den Hafen in Wallung.
Er griff zum Telefonhörer und rief die Wetterstation Cuxhaven an. Minuten später starrte er wieder durch das Bullauge aufs Elbwasser. Sollten die Wetterexperten recht behalten, stand Hamburg eine Katastrophe bevor. Warum reagierte niemand? Blamierte er sich, wenn er die Alarmierung von Kräften früher als vorgesehen auslöste?
Er griff erneut zum Telefon und rief in der Stabsabteilung der Wasserschutzpolizei an, ließ sich direkt zum Stabsleiter durchstellen und stellte die Lage und deren Entwicklung so sachlich wie möglich dar. Er bat darum, frühzeitig die Maßnahmen für Wasserstandsstufe 1 hochzufahren und einen Katastrophenstab einzusetzen.
Der Stabsleiter war perplex. Das sei ja wohl überzogen.
Bevor Tom eine geeignete Entgegnung einfiel, fuhr sein Gesprächspartner fort: »Tom, drehst du mal bitte nicht ganz so an der Uhr!« Der Kollege lachte auf, als wolle er damit seinen Worten die Schärfe nehmen. »Die Innenbehörde ruft die Warnstufe 1 aus, wenn wir mehr als fünf Meter über Normalhöhennull haben. Das sind die bewährten Vorgaben. Wir sind bei knapp über vier Metern. Das Wasser sinkt bald, du wirst sehen. In drei Stunden ist alles wieder fein. Ich mache doch nicht den ganzen Hafen wild, weil Tom Bendixen Gespenster sieht!«
Dieser Ignorant! Tom war über den gönnerhaften Tonfall erbost. »… ist alles wieder fein … den Hafen wild machen …« Aber wenn es schiefging, würden alle fragen, warum er nicht reagiert hatte, warum er nicht … Tom knallte den Hörer auf und sprang auf. Nicht mit ihm. Erfahrung ging über Papierlage, und alles war besser als das übervorsichtige Agieren des Stabsleiters. Er würde sich den Rookie Marvin, den jungen Kollegen, schnappen und das Lagezentrum im ersten Stock in Betrieb nehmen. So war er in seinem Polizistenleben immer gut gefahren: vor die Lage kommen! Nicht hinterherlaufen.
Die Flut verfolgte sie, und der Sturm trieb das Wasser an.
Er musste schneller sein als die Flut.
In diesem Moment klingelte sein Handy. Er sah im Display, dass es Charlotte war, tippte auf das grüne Telefonsymbol, um das Gespräch anzunehmen, und blieb stehen.
»Hey, alles in Ordnung?« Wie bezeichnend, dass er gleich mit der Tür ins Haus fiel. Er machte sich mehr Sorgen um sie und ihre Tochter, als er zugeben wollte. Charly hatte ihn um Hilfe gebeten und offenbart, dass der Vater ihrer Tochter eindeutig ein Psychopath war. Er hatte Nathalie vor Jahren entführt, Charly vergewaltigt, verletzt und mit dem Tode bedroht. Dabei hatte er ihr eine lange Narbe im Gesicht hinterlassen.
Wie konnte Charly den Kerl, der nach über zehn Jahren Auslandsaufenthalt nach Hamburg zurückgekehrt war, loswerden?
Sie hatten überlegt, ihm Geld zu bieten, um das Land zu verlassen. Sie hatten ihm gedroht, ihn doch noch anzuzeigen, für eine Tat, die inzwischen verjährt war. Damals hatte Charlotte weder die Entführung noch die Vergewaltigung angezeigt und versucht, alles selbst zu regeln, damit ihre Tochter nie davon erfahren würde. Ein Fehler, wie sich herausstellte.
Daniel hatte Tom ins Gesicht gelacht. Und Tom hatte gespürt, was bislang kein Krimineller bei ihm ausgelöst hatte: Angst. Angst um Charlottes Leben.
»Moin, du Fleißbär, wieder an der Front?«
Er hörte förmlich ihr Lächeln durch den Telefonhörer. Charly hatte meist gute Laune, egal, wie verfahren die Lage auch war. Und in diesen Tagen hatte sie weiß Gott keinen Grund, unbekümmert zu sein.
»Meine Warn-App NINA bombardiert mich mit KatWarn-Meldungen«, sagte sie, »und ich weiß nicht, ob wir in der Wohnung vor dem Wasser sicher sind. Und dann dieser unheimliche Sturm. Soll ich Nathalie lieber zu meinem Bruder bringen? Was meinst du?«
Ging es ihr wirklich um das Wetter? Niemals. Warum fragte sie nach der Sicherheit ihrer Wohnung? Er meinte, zwischen den Zeilen etwas ganz anderes herauszuhören.
»Hat er sich gemeldet?« Tom hatte Charly und ihrer Tochter eine Zuflucht über einen Bekannten in der HafenCity besorgt, wo sie auf der Flucht vor ihrem durchgeknallten Ex für eine Weile untergekrochen waren. Charly und ihm war klar, dass das nur eine Übergangslösung war, sie durften Nathalie nicht isolieren und von der Schule fernhalten. Aber auf die Schnelle war ihnen nichts Besseres eingefallen. Inzwischen waren Wochen vergangen, und es musste eine Lösung her, damit Charly und Nathalie in ihr Leben zurückkehren konnten.
»Nein, nein, alles in Ordnung. Du hast sicher alle Hände voll zu tun, oder? Im Radio warnen sie vor einer Sturmflut im Hafen. Hab nie begriffen, warum es im Hamburger Hafen Ebbe und Flut gibt. Wir sind hundert Kilometer von der Nordsee entfernt.«
Tom schritt langsam durch den Flur in die hinteren Büros und zum Aufenthaltsraum, um den Rookie Marvin zu finden.
»Der Wind und die Windrichtung haben Einfluss auf den Wasserstand im Hafen. Der Sturm über der Nordsee drückt mit dem Westwind das Wasser die Elbe hoch. Die Elbe fungiert als eine Art Trichter, der die Flutwelle in Richtung Hamburg lenkt. Hier kann das Wasser dann nicht mehr abfließen, und wir haben den Schwarzen Peter gezogen.«
In der Küche der Wache stand Quetsche, der sich am Tisch ein Käsebrot schmierte und dabei vor sich hin summte. Tom schloss die Tür und schlenderte weiter.
»Hamburg liegt sechs Meter über dem Meeresspiegel, das ist nicht viel, und deshalb hat die Stadt weite Teile eingedeicht. Wir haben zweimal täglich Ebbe und Flut, aber den Tidenhub von über drei Metern merkst du gar nicht, wenn du nicht zufällig eine Hafenrundfahrt durch die Fleete machen willst.«
Er fand Marvin im Aufenthaltsraum und gab ihm ein Zeichen, dass er ihm folgen solle.
»Heute macht uns der Wind einen Strich durch die Rechnung, denn bei Ebbe fließt das Wasser trotzdem nicht ab und steigt alle sechs Stunden weiter an. Du kennst das, wenn der Fischmarkt unter Wasser steht. Dann haben wir so ungefähr einen Meter fünfzig über dem mittleren Hochwasser. Da kräht kein Hahn mehr nach, die ganze Infrastruktur hat sich darauf eingestellt. Hamburg ist Kummer gewohnt. Aber …«, er blieb stehen und holte tief Luft, »heute ist alles anders.« Er hielt mit der Hand das Mikrofon des Handys zu. »Marvin, los komm, wir fahren das Lagezentrum hoch!«
Marvin legte fragend die Stirn in Falten.
»Der untere Wachtresen am Eingang ist für den täglichen Dienst, im ersten Stock leiten wir die Sonderlagen!«, flüsterte Tom und wies mit den Augen nach oben.
»Muss ich mir Sorgen machen?«, fragte Charlotte.
Tom hörte sofort, dass sie versuchte, ihre Stimme heiter klingen zu lassen, auch wenn sie sich nicht so fühlte. »Nee, davon hast du schon genug. Unsere Deiche liegen bei sieben Meter fünfzig und höher, da kommt das Wasser nicht drüber!« Er zögerte. »Allerdings könnte es sein, dass ihr in der Wohnung bleiben müsst, weil in der HafenCity ein paar Straßen überspült werden, wenn das Wasser weiter steigt. In dem Hochhaus, in dem du bist, liegt selbst das Erdgeschoss auf einem Niveau von acht Metern über Normalhöhennull. Ihr braucht keine Angst zu haben. Habt ihr genug zu essen? Sonst lasse ich euch was vorbeibringen, bevor die Supermärkte bei euch schließen. Und richte dich auf einen Stromausfall ein.«
Marvin drückte den Lichtschalter im Konferenzraum im oberen Stock. Neonröhren sprangen an, erhellten den großen Raum mit Tischen, Stühlen und einem alten Wachtresen mit erhöhter Kante, Bildschirmen, Laptops und einer Telefonleiste. Die zweite Einsatzzentrale. Mobile Trennwände und Leinwände erleichterten das Arbeiten in Gruppen. Eine überdimensionale Karte des Hafens war über die ganze Seite des Raumes gespannt. Darauf waren die Sperrstellen und Polder eingezeichnet. Die Landkarte war eine Spezialanfertigung, die es ermöglichte, mit einer Folie und einem Fadenkreuz maßstabsgerecht Sperrbereiche in verschiedenen Einsatzlagen festzulegen.
»Wir sind versorgt«, flüsterte Charlotte. »Müssen wir denn lange in der Wohnung bleiben? Nathalie bekommt sicher einen Lagerkoller, wenn die Playstation ihre Attraktivität verliert oder gar der Strom ausfällt. Wie arbeitet ihr denn ohne Strom?«
Offenbar wollte Charly verhindern, dass Nathalie hörte, welche Befürchtungen sie hatte. Wieder deckte Tom das Handy ab und wandte sich an Marvin. »Schalt alle festen Funkgeräte ein und prüfe, ob sie auf Kanal 426 eingestellt sind.« Er wies ihn auf eine Batterie von Geräten auf der Fensterbank an der Längsseite des Raumes hin.
»Länger als vierundzwanzig Stunden hält so ein Unwetter nicht an. Wir kommen klar, die Wache hat einen Hilfsgenerator und Treibstoff für einige Tage.«
Tom hörte Nathalie im Hintergrund rufen. »Was hat sie gesagt?«
Charlotte lachte. »Sie will auf dem Boot fahren!«
»Na, Angst hat sie jedenfalls nicht! Ganz die Mutter.«
»Von wegen. Ich sehne mich nach einem Leben ohne Angst!«
Tom hielt mitten in der Bewegung inne. Er hatte den ernsten Unterton sehr wohl gehört. »Charly, warte mal kurz. Marvin, besorgst du bitte zwei Wathosen und Gummistiefel Größe 43 oder 44 aus unserem Depot und legst sie in den Einser Streifenwagen?«
Tom nutzte den Moment, bis Marvin den Raum verlassen hatte, um sich zu sammeln. »Er hat Kontakt aufgenommen, oder?«
Stille. Es knisterte in der Leitung, und Tom hörte Charly atmen.
»In der Wohnung seid ihr sicher«, versuchte Tom zu trösten. »Er hat keine Idee, wo ihr euch aufhaltet. Er kommt nicht an euch heran.«
»Ich weiß, aber wir können uns nicht ewig verstecken. Nathalie muss wieder zur Schule und ich zur Arbeit. Unser Leben muss weitergehen.«
»Hat die Ansage, die wir ihm gemacht haben, keine Wirkung gezeigt?«
Tom dachte mit Schaudern daran zurück, wie er mit Quetsche den gewalttätigen Ex von Charlotte aufgesucht hatte, um ihm klarzumachen, dass er sie und seine Tochter Nathalie in Ruhe lassen musste. Quetsche hatte sich vor dem Mann aufgebaut, dass Tom ein Schauer über den Rücken gelaufen war, nur Daniel beeindruckte das überhaupt nicht. Er hatte gelächelt und sich köstlich über »Charlottchens Retter« amüsiert. Tom hätte ihm am liebsten die Fresse poliert, aber das wäre wenig zielführend gewesen. Also hatte er seine Gefährderansprache gehalten und darauf hingewiesen, dass wenn Charly oder Nathalie auch nur eine Schramme bekämen, seine Zeit in Freiheit vorbei war und die Richter aufgrund der Vorwarnung keine Gnade kannten. Beeindruckt hatte es den Kerl nicht.
Charlotte hatte recht, der war total verrückt. Wie hatte sie diesen Mann nur lieben können?
»Ich befürchte nur …«
Er meinte ein Zögern in Charlys Satz wahrzunehmen, spürte das Unbehagen in seinem Magen, doch bevor er sie darauf ansprechen konnte, lärmte es grell durch die Lautsprecheranlage:
»Einsatz für das Boot! Einmal Övelgönne. RTW, NEF, PK25, 26, Feuerwehr sind raus! Ich wiederhole: Einsatz für das Boot!«
»Charly, ich muss Schluss machen, ich rufe später noch mal zurück!« Tom lief den Gang entlang, als er das Gespräch wegwischte. Er nahm zwei Stufen auf einmal ins Erdgeschoss und hastete an den Wachtresen.
»Was ist los?«
Der Wachhabende reichte die Schlüssel für das Boot an Quetsche. »Das große Gedeck. Leblose Person treibt im Wasser vor Övelgönne! Legt den Hebel auf den Tisch!«
Tom zögerte keine Sekunde. »Dienstgruppenleiter an Bord!«
HafenCity – 08.40 Uhr
Charlotte sah aus den Panoramafenstern des fremden Wohnzimmers. Vom fünften Stock des Wohnturms sah man durch die bodentiefen Scheiben direkt auf den Grasbrookhafen. Die Aussicht der Wohnung auf der westlichen Strandkai-Halbinsel bot einen weitläufigen Hafen- und Elbblick, und der Sturm pinselte mit dunklen Wolken ein Kunstwerk an den Himmel. Wenn sie auf den Balkon trat, hatte sie einen unverstellten Blick auf die Elbphilharmonie mit ihrer beeindruckenden Glasfassade. Die Elphi war ein Chamäleon und sorgte bei jedem Wetter für Aufmerksamkeit. Je nach Sonnenlicht und Tageszeit wirkte sie beschwingt, kühl, dramatisch funkelnd oder geheimnisvoll.
Charlotte hatte die Lautsprecherdurchsage durchs Telefon gehört. Tom musste in einen Einsatz. Sie ließ das Handy sinken. Er konnte ihr nicht helfen, er hatte genug zu tun.
Was nutzte ihr der schönste Ausblick, die vier Zimmer mit über zweihundert Quadratmetern Wohnfläche, wenn sie nur daran denken konnte, was passieren würde, wenn Daniel sie hier aufspürte? Sie konnte nicht ihr Leben lang auf der Flucht bleiben, wollte sich nicht ständig umdrehen, ob er hinter ihr stand. Sie würde einen Alltag in Angst um Nathalie nicht durchhalten. Wie sie es auch drehte und wendete, wenn sie ihr Leben zurückwollte, musste er weg! Er musste für immer aus ihrem Orbit verschwinden.
Sie hatte versucht, vernünftig zu sein, und war auf Toms Hilfsangebote eingegangen. Aber sie wusste, dass Daniel mit härteren Bandagen kämpfte als Tom. Auch Charlotte focht einen Kampf aus, und sie hatte die bessere Motivation: Nathalie. Man sollte niemals eine Mutter unterschätzen, die um ihr Junges fightete. Wenn es um das eigene Kind ging, war ihr kein Gegner zu mächtig.
Ihre Schläfen pochten, und sie lehnte ihre Stirn gegen das kühle Glas des Fensters.
In ihrer eigenen Kindheit hatte Charlotte das ganz anders erlebt. Ihre Mutter hatte nicht für ihre Kinder gekämpft. Vielleicht war Charlotte deshalb so kompromisslos, wenn es um Nathalie ging.
Ihr Vater war ein Goliath gewesen. Unbesiegbar. Herr über Licht und Schatten. Lachen und Weinen. Leben und Tod. Der Chirurg, der Gott in Weiß, war so dominant, dass seine Ehefrau und Charlottes Mutter die Kinder nicht genügend vor seinen gewalttätigen Ausbrüchen geschützt hatte. Ihre Mutter hatte ohnehin kaum mehr Rückgrat als eine Krabbe aus der Nordsee gehabt. Erst recht nicht, wenn der Vater den Alkohol wieder einmal mehr liebte als seine Familie. Sie hatte Charlotte und ihrem fünf Jahre jüngeren Bruder Lars eingeschärft, dass sie sich still verhalten müssten, gehorsam, unterwürfig … als wären das Attribute, die sich mit dem Kindsein vereinbaren ließen. Wenn nicht ihre Großmutter gewesen wäre, wer weiß, wo Charlotte heute stünde. Sie war gutherzig und hatte immer ein liebes Wort, einen Rat oder eine Tasse warmen Kakao für Charlotte. Zu ihr waren sie und ihre beste Freundin Ada geflüchtet, wenn der Vater wütete. So hatte Charlotte begriffen, dass Menschen nicht von Natur aus gut oder böse waren, sondern ihren Anteil dazu beitrugen, wie sie über die Welt dachten, handelten und mit anderen Menschen umgingen. Sie eiferte ihrer Großmutter nach, und als sie nach dem Abitur verkündete, Psychologie studieren zu wollen, wusste sie, dass ihr Vater sie für verrückt erklären würde. Allerdings konnte er da keinen Einfluss mehr auf ihre Entscheidung nehmen.
Was Daniel zu dem Psychopathen gemacht hatte, der er heute war, hatte sie nie herausgefunden. Er sprach nicht über seine Kindheit, und das hätte sie verdammt argwöhnisch machen sollen. Sie öffnete die Glastür und ging hinaus auf den die ganze Wohnung umlaufenden Balkon. Sofort schlug ihr eisiger Wind entgegen und ließ sie dichter an die Wand herantreten. Der Sturm nahm immer noch an Stärke zu, und es war keine gute Idee, sich im fünften Stock draußen aufzuhalten. Schnell schlüpfte sie zurück ins Wohnzimmer und schloss die Tür.
Leider war sie erst Jahre später zum Psychologiestudium gekommen, denn ihre Eltern verunglückten bei einem Autounfall tödlich. Die Großmutter überlebte die beiden nur um vier Monate. Charlotte war allein mit ihrem Bruder Lars zurückgeblieben und musste sofort Geld verdienen, um sie über die Runden zu bringen. Nur ihre Freundin Ada und die als Alternative zum Studium gewählte Ausbildung zur Polizistin gaben ihr Halt.
Charlotte sah sich in dem Wohnzimmer um. Ein langer Holztisch mit acht Stühlen, überall Kerzenständer und teuer aussehende Bilder an den Wänden. Bücherregale und eine Sofalandschaft … ein goldener Käfig. Sie legte das Handy auf den massiven Tisch aus Akazienholz und fuhr mit der Hand über die dicke Platte, die den natürlichen Formen eines Baumstamms nachempfunden waren. Was so eine Luxuswohnung wohl kostete? Eigentumswohnungen, die von russischen Oligarchen als Wertanlage gekauft, pompös eingerichtet, aber nie bezogen wurden. Eine Verschwendung dieser prachtvollen Heime.
»Was gibt es zum Frühstück?«, rief Nathalie aus dem Badezimmer, das zu einem ihrer Lieblingsräume avanciert war. Vor allem die Badewanne hatte es ihr angetan. In ihrer Wohnung in Winterhude hatten sie nur eine Dusche, und Nat liebte lange Schaumbäder.
»Nutella-Brötchen, Rührei und Kakao?«
»Mami!«, kreischte sie entsetzt. »Ich bin doch nicht mehr fünf Jahre alt.«
Das stimmte natürlich, außerdem verbot Nathalies vegane Ernährung Hühnereier.
»Müsli mit Sojamilch und einen Tee?«
»Besser!«
Sie rieb sich mit der Hand den schmerzenden Nacken. Schloss die Augen. Wenn das ihr einziges Problem wäre … Sie hatte Tom nicht alles erzählt. Er sorgte sich schon genug. Sie bewunderte ihn für seine Fähigkeit, im Chaos souverän zu bleiben und eine Entscheidung nach der anderen zu treffen. Und in Windeseile alle Details und Fakten im Kopf gegeneinander abzuwägen. Nachdem er mit Daniel gesprochen und sich selbst einen Eindruck von ihm verschafft hatte, war er noch am gleichen Tag mit der Idee gekommen, sie in eine sichere Wohnung zu bringen. Das hatte eine Verschnaufpause verschafft, war aber keine Lösung.
Tom wusste nicht, dass sie Daniel am Tag vor ihrer überhasteten Flucht begegnet war.
Zuerst hatte sie einen Zettel hinter dem Scheibenwischer am Auto gefunden. Die Drohung war identisch mit der, die er ihr ein paar Tage vorher in den Briefkasten gelegt hatte:
Hast du gedacht, wir wären fertig miteinander?
Du hast mir meine Tochter genommen!
Ich hole sie mir zurück!
Dann kommst du dran, du Schlampe!
Er signalisierte ihr damit, dass er wusste, welches Auto sie fuhr. Observierte er sie? Sie hatte aufgepasst, war Umwege nach Hause gefahren, aber sie hatte ihn nicht entdeckt. Dann wurden die Botschaften kürzer und steckten am Auto, im Briefkasten oder unter der Fußmatte vor ihrer alten Wohnung in Winterhude.
Ich beobachte dich, Tag und Nacht.
Du kannst dich nirgendwo verstecken.
Bald nehme ich dir alles, was du liebst.
Du wirst mich niemals los.
Trotzdem war es ein Schock gewesen, ihn vor ihrer Dienststelle auf sie warten zu sehen. Er hatte sie mit ein paar lausigen Zetteln so aufgerieben, dass sie beinahe geschrien hätte, als er an einem Laternenpfahl neben ihrem Auto lehnte.
Sie hatte die Luft angehalten, gegen ihren Fluchtimpuls angekämpft, die Zähne zusammengebissen und war langsam auf ihn zugegangen. Der Kollege, der hinter einem Auto hervortrat, sie von der Seite ansprach und am Arm hielt, brachte sie vollkommen aus der Fassung. Er hatte nur eine Auskunft gebraucht und hatte sie befremdet angesehen, als sie ihren Arm mit einem erschreckten Schrei losgerissen hatte. Als sie ihm die Frage beantwortet hatte und sich wieder zu ihrem Auto herumdrehte, war von Daniel nichts mehr zu sehen.
Sie war auf dem Parkplatz auf und ab gelaufen, hatte ihn gesucht und nicht gefunden. Auch diese Tatsache zerrte an ihren Nerven. Wohin war er so schnell verschwunden?
Sie hatte eine halbe Stunde in ihrem Auto gesessen, bevor sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie nach Hause fahren konnte. Die Bilder von damals waren über sie hereingebrochen wie das Hochwasser in den Hafen. Daniel, der sie grob ins Gesicht geschlagen und auf das Bett geworfen hatte. Seine Hände, die brutal auf sie eindroschen. Der tiefe Schnitt von dem Cuttermesser, der höllisch schmerzte und ihr für immer das Gesicht entstellt hatte.
»Was ist denn nun mit Frühstück?«
Charlotte zuckte zusammen. Sie stand mit dem Kopf an die Balkontür gelehnt und hatte Nathalie nicht kommen hören.
»Geht sofort los, ich habe nur nach dem Sturm gesehen! Ist ganz schön heftig, heute kriegt mich nichts mehr vor die Tür.«
»Ich will aber raus! Ich hätte es nie gedacht, aber ich vermisse die Schule. Meine Freundinnen. Wie lange muss ich denn noch hier versauern?«
»Gefällt dir der Luxus nicht mehr?« Charlotte bemühte sich um einen fröhlichen Tonfall und drehte sich mit ausgebreiteten Armen im Kreis. Vor dieser Frage hatte sie sich gefürchtet, denn es gab keine gute Antwort.
»Wohnen bleiben können wir gerne, aber ich werde ab morgen wieder in die Schule gehen!«
»Freiwillig?« Charlotte verdrehte die Augen und zog eine Grimasse. Ihr letzter Versuch.
»Goofy, Mami! Bibi holt mich ab.«
Charlotte erstarrte. »Morgen? Hast du ihr gesagt, wo wir wohnen? Ich hatte dich doch gebeten, es niemandem zu verraten!«
»Noch nicht, aber morgen früh werde ich es ihr sagen. Du kannst doch nicht von mir verlangen, Geheimnisse vor meiner besten Freundin zu haben. Wenn Papa wirklich hier aufkreuzt, spreche ich mit ihm. Nur weil ihr euch nicht riechen könnt, heißt das nicht, dass ich in Gefahr bin, oder?«
Klamme Kälte kroch Charlotte den Nacken hoch.
Morgen. Nathalie hatte es entschieden.
Sie musste nachziehen.
Morgen.
Sie würde Daniel stellen und die Sache zu Ende bringen.
Morgen.
»Elbe 52/10 für Elbe 52