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Lena Scholl ist 25, frisch verheiratet und dennoch viel zu oft allein: Ihr Mann Lukas ist Zeitsoldat und nicht selten für Wochen unterwegs. Auch der neu begonnene Job enttäuscht sie und keine ihrer Freundinnen steht mit einer Schulter zum Ausweinen zur Verfügung. Lena flüchtet sich ins Internet, wo sie Christoph kennenlernt, der als Tauchlehrer auf Teneriffa arbeitet. Als ihr bewusst wird, dass sie beide beginnen, mehr füreinander zu empfinden, zieht Lena sich zurück, kann aber Christoph nicht vergessen. Dann erfährt Lukas von ihrer neuen Bekanntschaft und das Chaos ist perfekt…
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Seitenzahl: 270
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Juliane Kobjolke
Tausche Brautschuh gegen Flossen
Roman
Ausgewählt von
Claudia Senghaas
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75/20 95-0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Katja Ernst
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Christophe Schmid – Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-3872-1
Für Marlo
Heute ist Tagestag. Lukas’ und mein Tagestag. Keine 20, keine 50, ganze 60 Tage sind wir verheiratet. Eine Mikro-Diamanten-Hochzeit halten wir also.
Ich lege die DVD in den Player, dimme die Lichter und geselle mich zu den Kissen auf die Couch. Vorhang auf und Bahn frei für eine Überdosis Endorphine:
Der Film beginnt mit einem winzigen roten Herz. Es bläht sich auf wie ein Luftballon. Unsere Namen, Lena und Lukas, stehen darauf. Das Herz wird größer, immer heller und steigt schließlich in einen minimal bewölkten Sommerhimmel auf.
Der Innenhof der mittelalterlichen Wartburg wird eingeblendet, es folgt ein Schwenk auf den Turm und die Burgmauern. Vor dem Eingang zum Zeremoniesaal warten die Gäste. Viele sind es nicht, denn Lukas und ich wollten eine Hochzeit ausschließlich mit den Menschen, die tatsächlichen Anteil an unserem Leben haben. Also warten dort meine Schwiegereltern, meine Großeltern sowie mein Bruder und seine Familie. Die Braut, also ich, die Brauteltern und die Freundinnen der Braut werden gleich eintreffen und perfekt im Zeitplan liegen, denn der Brautvater war so umsichtig, die zwei Kilometer lange Baustelle vor Eisenach zu umfahren.
Wenig später fährt die Limousine mit Sondergenehmigung auf den Hof. Der Brautvater steigt aus und öffnet die hintere Tür des auf Hochglanz polierten Wagens.
Und da bin ich in meinem wunderschönen Kleid. Es ist schlicht und fasziniert ganz ohne Rüschen, Perlen, Unterrock und Schnickschnack. Kaum stehe ich auf zwei Füßen, ist meine Mutter bei mir, um eines der weißen Blümchen festzustecken, das sich aus meinen hochgesteckten schwarzen Haaren gelöst hatte. Meine Mutter sagt etwas, das vom Geschnatter meiner Freundinnen übertönt wird. Ihr Auto mussten sie ein Stück weiter unten, auf dem letzten offiziellen Parkplatz der Burg stehen lassen und den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Man hört sie lange, bevor sie den Hof betreten, denn Nina und Lilly sind in eine ihrer Diskussionen verstrickt. Anlass zu Unstimmigkeiten gibt diesmal offenbar Lillys Fahrstil und ihre Angewohnheit, besonders häufig auf die Bremse zu treten. Die Worte fliegen wie Pingpongbälle zwischen den Frauen hin und her, bis Hannahs Stimme ertönt und sie dem Streit mit einem einzigen Satz ein Ende bereitet. Als der Fokus der Kamera auf sie fällt, haben die Streithähne längst Unschuldsmienen aufgesetzt und gesellen sich unter Vortäuschung eitlen Friedens zu mir.
Ich erinnere mich, ich war den gesamten Morgen so aufgeregt, dass meine Mutter mir mit verrutschten Lidstrichen drohte. Daraufhin brachte ich meinen Vater im wahrsten Sinne des Wortes zur Raserei, um ihn später auf die Geschwindigkeitsbeschränkungen aufmerksam zu machen. Wahrscheinlich wäre er am liebsten ausgestiegen und hätte mir den Platz hinter dem Steuer angeboten, doch meine Mutter klopfte ihm immer wieder beschwichtigend auf das Knie. So lange, bis er sich mehr darüber aufregte, als über meine nervösen Kommentare. Wenige Kilometer vor Eisenach schob sich die Sonne durch die Wolkendecke. Die Limousine erklomm die letzte Kuppe vor der Stadt und vor uns lag die Wartburg. Meine Burg an diesem Tag. Sie hieß mich willkommen von dort oben auf ihrem Hügel, inmitten dichten Grüns und einem Meer aus Ziegeldächern. Bei diesem Anblick waren sowohl Übelkeit als auch Unruhe vergessen und mit einem leichten Kopfschütteln fragte ich mich, warum ich überhaupt nervös, ja, halb ängstlich gewesen war. Was für eine Verschwendung von Emotionen, die ich lieber darauf verwendet hätte, mich zu freuen, zu genießen, glücklich zu sein. Und das bin ich in dieser Minute, die ich gerade zum x-ten Mal über den Bildschirm flimmern sehe, weshalb mich weder die Kämpfhähnchen von Freundinnen aus der Fassung bringen noch meine Schwiegermutter, die sich zunehmend verärgert über das Fehlen ihres Sohnes zeigt.
Selbst der besorgte Blick der Standesbeamtin, die aus dem Saal kommt, um sich zu erkundigen, ob die Hochzeitsschar vollständig ist, beunruhigt mich nicht. Mit einem Lächeln lasse ich sie wissen, dass Lukas schon auftauchen wird. Mein Vater macht einen Witz, über den alle lediglich deshalb lachen, weil sie den Gedanken an die schlimmste Situation überhaupt von sich schieben möchten. Als ich mich ein wenig abseits setze und meine Familie und Freunde beobachte, findet die Sonne abermals eine Wolkenlücke und sendet ihre Strahlen exakt zu der Stelle, die ich mir zum Warten ausgesucht habe. Mit einem tiefen Atemzug öffne ich mich für das Licht und die Wärme, schließe die Augen und lächele.
Im Nachhinein berührt es mich sehr, mich selbst dort sitzen zu sehen. Fast ist es, als betrachte ich eine Fremde, so wenig scheinen die Frau in Weiß und ich momentan gemeinsam zu haben. Sie ist absolut gelassen, so im Reinen mit sich und ihrem Leben, mit ihren Entscheidungen. Für sie gibt es keinen Grund zur Besorgnis. Nicht einmal der Bräutigam, der noch immer auf sich warten lässt, bringt sie aus der Ruhe. Sie ist sich sicher, dass er da sein wird; und die Geschichte, warum er und sein Trauzeuge erst fünf Minuten nach zwölf im Hof der Wartburg erscheinen, wird er ihr später erzählen. Was sie schon jetzt weiß, ist, dass die zwei Tagträumer die Baustelle vor Eisenach nicht umfahren haben.
Genau genommen war die Verspätung der beiden besiegelt, als sie sich auf halber Strecke zwischen Mühlhausen und Eisenach auf den Brautstrauß besannen, der noch im Floristikgeschäft abgeholt werden musste. Also fuhren Sie mit Tempo 140 über gute alte ostdeutsche Landstraßen zurück und gurkten mit eingeschalteter Warnblinkanlage durch die Fußgängerzone Mühlhausens bis vors Geschäft, um daraufhin ein zweites Mal und mit noch ein paar Kilometer je Stunde mehr durchzustarten. Dass die Baustellenampel kurz vor Eisenach eine Rotphase von geschlagenen fünf Minuten hat, erfuhren sie nicht, da sie beschlossen hatten, sich nicht in der Schlage der Wartenden einzureihen, sondern über das Feld neben der Straße zu preschen. Glücklicherweise fährt Bastian einen Geländewagen – sah der auch nach dieser Fahrt nicht mehr ganz hochzeitstauglich aus.
»Willst du, Lukas Scholl, die hier anwesende Lena Bachmann zu deiner Frau nehmen?«, fragt die Standesbeamtin, und ich mache, auf der Couch sitzend, das Kissen umarmend, die Lippensynchronisation. »Willst du sie lieben, ehren und achten, willst du bei ihr sein in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod euch scheidet, so antworte mit: Ja!«
»Ja, klar«, sagt Lukas und von den Plätzen hinter uns ertönt vielstimmiges Grunzen.
Seine Antwort klingt ein wenig verwundert, so als wolle er fragen, warum sonst wir alle versammelt seien, und ich lache, obwohl ich eigentlich gerade mit Weinen beschäftig bin. Nachdem auch ich mein schlichtes Ja gegeben habe, küsst mich Lukas, noch bevor er dazu aufgefordert wird. Er zieht mich an sich, legt seine Hände auf meine Taille. Meine Hände umschließen sein Gesicht, mein kleiner Finger spürt den Pulsschlag seiner Halsschlagader, das Leben, was hindurchgepumpt wird. Sein Leben, von dem er einen Teil offiziell mir geschenkt hat.
Mein Lukas, groß, sportlich, gut aussehend, 28 Jahre, Soldat auf Zeit, ist nun mein Mann. Und ich, Lena, 25 Jahre, Ex-Studentin, bin seine Frau. Für immer, haben wir uns versprochen.
Unsere Gäste klatschen und jubeln. Heute vor 60 Tagen hörte ich nichts davon, denn in meinen Ohren lag ein Summen wie von Starkstrom, und ein Kribbeln prickelte in meinem Bauch.
Eine neue Filmsequenz zeigt die Feier zu fortgeschrittener Stunde. Meine Großmutter stülpt sich den Blumen-Tischschmuck auf die frisch dauergewellte Frisur und sieht aus wie Julius Cäsar. Meine Schwiegermutter hat ihre Nervosität und Rührung in Sekt ertränkt und tanzt mit meinem Bruder Salsa. Mein Großvater verschafft sich Gehör, um das Chinesen-Lied zu singen. Es ist nicht jugendfrei, wird auf jeder guten Feier von ihm – ausschließlich von ihm – zum Besten gegeben und kommt wie immer grandios an.
Als ich um Mitternacht den Brautstrauß werfe, stehen vier Junggesellinnen hinter mir. Hannah bewegt sich nicht einmal, als der Strauß in die Höhe fliegt, und verschränkt zudem die Arme vor der Brust, damit das Teil im Notfall von ihr abprallt. Nina macht ein paar Schritte, bleibt dann abrupt stehen, um über Lilly und Theresa, die Freundin meines Bruders, zu lachen, denn die zwei sprinten, als ginge es um ihr Leben. Beide bekommen den Strauß zu fassen, doch Theresa schnappt sich das feste untere Ende und reißt die Blumen triumphierend in die Höhe, während Lilly mit nur einer Blüte Vorlieb nehmen muss.
An die stimmige Atmosphäre des Restaurants gewöhnt, muss ich bei der folgenden Filmpassage ein paarmal blinzeln, bis sich meine Augen mit dem Lichtwechsel abgefunden haben. Alles ist plötzlich grellblau, grellweiß, grellgrün.
Je länger ich hinsehe, desto deutlicher meine ich, die Hitze auf meiner Haut zu spüren und den würzigen Duft einzuatmen, der mir entgegenschlug, als ich das Flughafengebäude der Seychellen verlassen habe.
Nun filmen Lukas und ich abwechselnd. Die Kamera wackelt in meinen Händen, als ich ihn beim Knacken einer Kokosnuss filme. Auch nachdem Lukas das widerspenstige Obst 20-mal auf den Stein gedonnert hat, geht die äußere Schale nicht zu Bruch. Bald schreit er nach einer Axt und will sich zu den Hütten des Personals aufmachen, um sich eine zu besorgen. Meine weder ernst noch gut gemeinten Tipps quittiert er mit Grollen und schmettert die Frucht gegen eine Palme, woraufhin es weitere Kokosnüsse regnet, von denen zwei so günstig fallen, dass ihre Schalen Risse bekommen. Selig macht sich Lukas daran, die dicken Hülsen zu entfernen. Die braunen Kokosnüsse darin sind nicht nur viel kleiner als die, die man im Supermarkt zu kaufen bekommt, sondern geben meinem Mann auch wieder das Rätsel des Knackens auf. Zwar ist unser Bungalow mit allem möglichen luxuriösen Krempel ausgestattet, einen Bohrer oder etwas anderes, womit man die widerspenstige Nuss durchlöchern könnte, finden wir jedoch nicht. Lukas sucht einen spitzen Stein im Wasser und beginnt in bester Neandertalermanier auf die Kokosnuss einzuhämmern. Nach etwa einer Stunde knackt er die erste, eine halbe Stunde später und mit deutlich mehr Übung die zweite. Wir essen den ganzen Nachmittag Kokosnuss.
Und dann ist es dunkel. Gerade noch bin ich über dem Korallenriff geschnorchelt, habe mich auf der Sonnenterrasse geaalt und jetzt ist mir kalt. Der Fernseher ist so schwarz wie die Nacht vor dem Fenster, und wenngleich ich die farbenfrohen Bilder in meinen Gedanken zu halten versuche, verblassen sie doch.
Missmutig plumpse ich auf die Seite und umarme das Kissen fester. Habe ich mich nur wenige Monate zuvor gefreut, nicht mehr zur Uni fahren zu müssen, ginge es mir jetzt sehr viel besser mit der Gewissheit, morgen eine Vorlesung zu besuchen. Doch mein Grafikdesign-Studium ist vorbei, abgeschlossen mit Auszeichnung. ›Hurra, Karriere, ich komme‹, habe ich gerufen und bin losgerannt. Wahrscheinlich in die falsche Richtung, schließlich gibt es für den nächsten Tag nicht eine einzige Verpflichtung, nicht eine Herausforderung, kein Problem, das einer Lösung bedarf. Lukas hingegen muss wieder zur Bundeswehr. Zu allem Überfluss steht eine dreiwöchige Übung an. Die drei Wochen haben vorgestern begonnen.
Tolle Aussichten sind das.
Zweifellos ist ein Job die erste und eine zumeist recht wirkungsvolle Methode gegen Langeweile. Theoretisch habe ich einen. Ich bin Teamleiterin eines großartigen, zukunftsorientierten Projektes zur elektronischen Archivierung von Daten und dürfte nicht wissen, wo mir der Kopf steht vor lauter Verantwortung. Der Haken ist: Mein Büro in der Firma wurde noch nicht renoviert, weshalb ich von zu Hause aus arbeite, was prinzipiell optimal ist. Nicht optimal allerdings ohne Team. Noch weniger optimal ohne fundierten Auftrag. Momentan definiert sich mein Job durch eine einzige Tätigkeit. Das Warten.
Vor zwei Monaten wurde ich eingestellt, um den Dienstleistungsbereich Grafikdesign abzudecken. Mit Datenarchivierung hat das nicht wirklich zu tun. Offenbar hält mein Chef den Begriff EDV für ein längst nicht so weites Feld, wie es EDVler tun; doch flexibel, wie ich bin, sehe ich ihm diese Unwissenheit nach und bin gern bereit, diese Aufgaben zu erledigen. Nur soll er sie mir endlich geben! Ein finanzielles Entgelt, Gehalt im Fachjargon, wäre auch nicht schlecht. Dies ist der zweite Monat auf Entzug, und allmählich lechzt mein Bankkonto wie ein Verdurstender bei Sichtung einer Fata Morgana.
Ein Trostpflaster wäre es, könnte ich meinem Unmut darüber Luft machen. Bei meinen Freundinnen beispielsweise. Bei wenigstens einer von ihnen. Eine Freundin ist schließlich Vertraute, Seelenverwandte, Retterin in der Not, Lästerschwester, Trinkkumpanin und so vieles mehr. Eine Freundin ist nicht ersetzbar, nicht wegzudenken und ich darf mich glücklich schätzen, drei solche Frauen in meinem Leben zu haben. Nein, keine Bekannten, die ich alle paar Monate treffe, sondern richtige Freundinnen, wie oben beschrieben. Das ist Luxus.
Dummerweise befindet sich Lilly im Urlaub, Hannah auf Geschäftsreise und Nina hat Nachtdienst, weshalb sie den ganzen Tag schläft. Von allen unglücklichen Umständen ist dies derjenige, der mich am meisten frustriert.
Ein Kissen in der Umarmung, ein zweites unter dem Kopf drifte ich in einen Halbschlaf, wälze mich die halbe Nacht von rechts nach links und schaffe es dennoch nicht, aufzustehen und ins Bett zu gehen. Irgendwann schlummere ich ein und werde nach nur wenigen Stunden von etwas Feuchtem auf meiner Wange geweckt. Als ich die Augen öffne, blicke ich in hungriges Grün. Momo, unser Kater, macht mit einem Miau noch deutlicher, dass er gefüttert werden möchte, gibt sich vorerst jedoch damit zufrieden, mich geweckt zu haben und kuschelt sich an mich. Immer wieder stupst er seine Nase gegen mein Kinn und schnurrt. Keine halbe Stunde später ist sein Appetit vergessen, und der Kater scheint entschlossen, den Rest des Tages mit süßem Nichtstun zu verbringen.
Das habe ich nicht vor.
Ich habe vor, an der Uhr zu drehen. Wie Paulchen Panther. Nur rückwärts.
Nachdem ich den Kater mit Whiskas und mich selbst mit Knusperflakes versorgt habe, ziehe ich meine Kuschelstrickjacke über, wickele mir einen Schal um den Hals, schnappe Bleistift, Skizzenblock und Musik und laufe eine Etage nach oben auf unsere Dachterrasse.
Endlich regnet es nicht mehr. Die Aussicht, die der Morgen präsentiert, lässt einen grandiosen Tag vermuten, einen Tag voller Euphorie und wunderbarer Dinge, die es zu entdecken und zu unternehmen gibt. Und sie lässt mich beinahe vergessen, dass ich über das sonst so triste Mühlhausen blicke.
Zu jeder Jahreszeit gibt es solche Morgen, die nichts als pur sind und bei denen jeder Vergleich mit Tristesse einer Beleidigung gleichkommt. Wie unter einem Zauber hüllt sich meine Stadt in einen Schleier aus Nebel. Die Sonne steht noch tief und legt einen goldenen Schimmer über die Dächer und Kirchtürme. Von der nahen Hauptstraße ertönt das Jaulen eines Martinhorns, das Brummen von Bussen und LKW – demnächst fordern sicher auch die Mühlhäuser eine Umgehungsstraße. Wie ungewohnt still wird es dann sein?
Ich setze die Kopfhörer auf und schalte die Musik ein. Statt der Verkehrsgeräusche gibt es Pearl Jam auf die Ohren. Nun ist die Aussicht wirklich perfekt, die Stimmung inspirierend und eine Kur für alle Sinne. Gar nichts ist mehr unerträglich. Was jetzt noch nicht gut ist, wird gut werden. Und ich bin nicht allein, bloß weil gerade niemand da ist.
›Da ist eine Wolke‹, singt Eddie Vedder mit seiner Reibeisenstimme, ›aber das Wasser bleibt ruhig.‹
Ich schließe die Augen, lege den Kopf zurück und lasse den Geist treiben, die Gedanken spinnen. Ich warte auf ein Bild, auf eine Farbe, auf einen Kuss der Muse. Lange ist es her, dass ich mein letztes Bild gemalt habe. Die Examensarbeit und die Hochzeitsvorbereitungen beanspruchten jede Stunde der vergangenen Monate und ich vermisste nichts, hatte bei all meinen Geistesblitzen und Einfällen keinen Platz in meinem Kopf für Ideen in Acryl. Wahrscheinlich hat die Muse sogar das ein oder andere Mal versucht, mich zu stoppen und mir zugerufen, dass ich eine Pause benötige, doch ich hab sie nie gesehen, weil ich viel zu schnell an ihr vorbeigejoggt bin. Jetzt schmollt sie und verweigert mir den Kuss. Sie erwartet, dass ich um sie kämpfe, was ich hiermit mache.
Oh du meine Muse!, versuche ich sie zu locken, komm zurück zu mir! Versüße mir den Tag! Lass mich malen! Ich werde dich nie wieder übersehen! Bitte, allerliebste Muse!, flehe ich sie an, sei nicht mehr böse, ich brauche dich doch.
Sie macht keine Anstalten. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Und mit ihr mein Talent.
War das wirklich ich, die all die Bilder gemalt hat? Bin ich überhaupt gerade ich selbst oder ein alternatives Ich? Wer ist diese trübsinnige Person, die mein Inneres belagert?! Wieso verschwindet sie nicht und gibt mir mein Selbst zurück? Mein überholspursüchtiges, spritziges Tausendsassa-Selbst.
Per Knopfdruck bringe ich Eddie zum Schweigen und öffne die Augen. Das Licht ist noch das gleiche, doch die Stimmung ist dahin. Alles andere als glücklich schiele ich auf den leeren Skizzenblock zu meinen Füßen. Ein Murren ausstoßend ziehe ich die Kopfhörer von meinen Ohren und kicke den Bleistift fort. Einen Pinsel werde ich mit Sicherheit nicht anrühren.
Am Nachmittag tröste ich Momo mit dem Versprechen, nicht lange weg zu sein, und ziehe die Haustür hinter mir ins Schloss.
Nach Ladenschluss bin ich zurück und schleppe prall gefüllte Einkaufstaschen ins Schlafzimmer. Auf Momos Miau antworte ich mit: »Ja doch, gleich.« Herr Nimmersatt hat Hunger, doch ich war auf Beutezug. Nun muss ich meinen Fang in Augenschein nehmen und eine Hymne auf die Shoppingmeile von Erfurt anstimmen. Ich habe meine letzten Hunderter auf den Kopf gehauen, aber das war es wert. Was sind schon 500 Euro, wenn man ohnehin pleite ist?
Ich kenne nicht viele Frauen, die nicht gern einkaufen. In Abhängigkeit von der Tagesform sind Shopping-Eskapaden mal Vergnügen, mal Therapie, mal Zeitgeist. Nicht selten sind sie eine Kombination aus allem. Ist der Strand tabu, weil es im Urlaub regnet, kann man immer noch shoppen gehen. Hat man eine Prüfung in den Sand gesetzt, ein liebes Haustier beerdigt oder das Gegenteil von Mamas Vorstellungen getan – das ultimative Heilmittel für jede miese, durch was auch immer verursachte Stimmung ist Shopping. Durch regelmäßige Ausflüge läuft man zudem nie Gefahr, eine gute Kollektion zu verpassen.
Zum Einkaufen brauche ich nicht zwingend Gesellschaft. Ich bin ebenso gern allein unterwegs und mein eigener Berater. Ohnehin ist mein Geschmack selten der von anderen, und so vermeide ich den Vorschlag, es zur Abwechslung mit einer Farbe zu versuchen.
Auch heute hatte ich eine richtig gute Zeit, wie man an der Anzahl der Tüten unschwer erkennen kann.
Während ich auspacke, die Preisschilder abschnippele und die Sachen im Schrank verstaue, nachdem ich alles noch einmal anprobiert habe, kommen mir erste Zweifel. Brauchte ich unbedingt eine neue schwarze Hose? Mussten es zwei Paar Stiefel sein, hätte nichts eines gereicht? Und ist die graue Tunika nicht eigentlich viel zu lang?
Mit einem Ruck werfe ich die Schranktür zu und lasse mich rücklings auf das Bett fallen. Ich habe heute 500 Euro ausgegeben! Bekäme ich endlich ein Gehalt überwiesen, wäre das völlig okay, aber so? Wie viele Dosen Katzenfutter hätte ich für 500 Euro kaufen können? 1.200?
Momo springt aufs Bett, um mich abermals anzumiauen, und wieder antworte ich ihm, als spräche ich kätzisch. Oder er deutsch.
Meine eigenen Gedanken gehen mir auf den Geist. Ich brauche jemand anderen als meinen Kater, egal wie verständnisvoll er mich anschaut. Ich muss reden. Nicht jammern, sondern ein normales Gespräch führen, und nicht miauen.
Der nächste Tag bringt endgültige Ernüchterung. Es regnet wieder. Kleine Regenbäche träufeln die Fensterscheiben hinab. Dahinter dunkelt es bereits. Zehn Stunden sind vergangen, seit ich mich aus den Federn gequält habe. Zehn Stunden, in denen ich absolut nichts getan habe. Zumindest nichts, was ich als sinnvoll bezeichnen möchte. Ich habe versucht fernzusehen, versucht zu lesen und meine Muse verflucht.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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