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Dr. Martin Goldstein, der als "Dr. Jochen Sommer" (1969 - 1984) zu Deutschlands bekanntestem Sexualaufklärer wurde, meldet sich 40 Jahre nach dem Start seiner spektakulären Bravo-Kolumne erneut zu Wort - mit einem Plädoyer zur Abschaffung des "Dr. Sommer".
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Seitenzahl: 213
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Martin Goldstein
Von der Aufklärung zur Initiation
Ein Buch für Eltern und Erzieherund ebenso für Jugendliche
Originalausgabe
© 2009 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2009
Herausgeber:
Archiv der Jugendkulturen e.V.
Fidicinstraße 3, D – 10965 Berlin
Tel.: 030 / 694 29 34; Fax: 030 / 691 30 16
E-Mail: [email protected]
Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)
Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)
Privatkunden und Mailorder: www.jugendkulturen.de
Umschlaggestaltung und Layout: Conny Agel
Cover-Foto: Archiv der Jugendkulturen e. V.
Druck: werbeproduktion bucher
ISBN Print: 978-3-940213-49-5
ISBN E-Book: 978-3-940213-88-4
archiv
der jugenkulturen e. v.
Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als bisher einzige Einrichtung dieser Art in Europa – vor allem authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der interessierten Öffentlichkeit in seinen derzeit 300 m2 umfassenden Bibliotheksräumen kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen auch eine umfangreiche eigene Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 120 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit sechs Titeln jährlich. Das Archiv der Jugendkulturen e.V. legt großen Wert auf eine enge Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Angeboten, Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich.
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Bleibe, was du jetzt schon bistWerde, was du noch nicht bistIn diesem Bleiben und diesem Werdenliegt alles Schöne hier auf Erden
Grillparzer, 1873
Dr. Martin Goldstein, Arzt, Psychotherapeut, Ehe- und Erziehungsberater sowie evangelischer Religionslehrer (Katechet), ist insbesondere durch seine Tätigkeit als „Dr. Sommer“ in der Jugendzeitschrift Bravo bekannt geworden. Er hat mit einem Team die Beratungskolumne unter seinem Pseudonym „Dr. Sommer“ gestartet und als verantwortlicher Autor von 1969 bis 1984 veröffentlicht. Auf diese Weise hat er viel zur Sexualaufklärung junger Menschen beigetragen.
Dr. Martin Goldstein wurde 1927 in Bielefeld geboren und war als Jugendlicher Mitglied im CVJM. Weil sein Vater Jude war, musste er 1942 wegen der Nürnberger Gesetze der Nationalsozialisten die Oberrealschule verlassen und begann eine Lehre zum Orthopädiemechaniker. Er überlebte die Juden-Deportation 1944/45 in mitteldeutschen Zwangsarbeitslagern.
Nach Kriegsende konnte er sein Abitur nachholen und Medizin studieren. 1952/53 absolvierte er aufgrund eines Stipendiums der Evangelischen Kirche im Rheinland ein Studienjahr an der Duke University in Durham, N.C./USA. 1954 bestand er in Düsseldorf das medizinische Staatsexamen, promovierte und erhielt nach seiner Pflichtassistentenzeit 1955 die volle Approbation als Arzt.
Im selben Jahr heiratete er. Seine drei Kinder sind inzwischen erwachsen.
Von 1955 bis 1960 widmete sich Dr. Martin Goldstein zunächst kirchlicher Jugendarbeit und leitete hauptberuflich ein „Haus der Offenen Tür“ in Düsseldorf. Innerhalb dieser Jahre erbauten seine Jugendgruppen in Eigenarbeit ein Freizeitheim im Siegerland.
Berufsbegleitend bestand er 1957 in Wuppertal das Evangelische Katecheten-Examen.
1960 wurde er mit einem befristeten Studienauftrag „Erziehung zu Ehe und Familie“ (Geschlechtserziehung) des Bundesministeriums für Familie und Jugend gemeinsam mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKiD) und der Arbeitsgemeinschaft Evangelische Jugend Deutschlands (AGEJD) beauftragt. Darüber hinaus bildete er sich weiter und erwarb 1962 das Diplom als Eheberater.
1962 bis 1967 baute er als Dozent für Psychologie und Soziologie die Studienarbeit der neuen Jugendakademie Radevormwald der Evangelischen Kirche im Rheinland auf. 1967 bis 1979 war er ärztlicher Mitarbeiter der Evangelischen Beratungsstelle für Familien-, Ehe-, Erziehungs- und Jugendberatung in Düsseldorf und absolvierte gleichzeitig eine berufsbegleitende Weiterbildung in Psychoanalyse und Psychotherapie in Köln.
Ab 1969 bis 1984 arbeitete Dr. Martin Goldstein als freier Mitarbeiter und Kolumnist als „Dr. Sommer“ der Jugendzeitschrift Bravo.
Nach seiner Zulassung als Psychoanalytiker ließ er sich ab 1975 als ärztlicher Psychotherapeut in eigener Praxis in Düsseldorf nieder, absolvierte 1976-78 eine klinische Zusatzausbildung in „Gestalt-Therapie“ in den USA und erwarb das Diplom für die Gruppenlern-Methode „Themenzentrierte Interaktion“ nach Ruth Cohn. Die letzten 15 Jahre seiner Praxis arbeitete er nur fast noch mit männlichen Klienten. 2000 ging er in den Ruhestand.
1994-2000 war er Mitbegründer und Mitglied des „Männerhaus Hilden“, kommunikatives Männer-Wohnen und offener Männer-Treffpunkt.
Seit 2000 ist er Freund und Begleiter des EUROTOPIA-Projektes (www.oekodorf7linden.de) in Sachsen-Anhalt und diesem mehr und mehr zugehörig geworden.
Buch-Veröffentlichungen:
Goldstein: Die Beziehung der Geschlechter, Wuppertal 1966
Goldstein/Edelmann: Anders als bei Schmetterlingen, Wuppertal 1967
Goldstein/McBride: Lexikon der Sexualität, Wuppertal, New York, Tokio, Madrid 1970
Beitrag in Kentler (Hrsg.): „Für eine Revision der Sexualpädagogik“ München 1969
Beiträge in Gegendenkschrift „Das Gesetz der Moral und die staatliche Ordnung“ Wuppertal 1971
Einzelne Beiträge erschienen in Schulbüchern, 1975
Dr. Martin Goldstein lebt heute in Kaarst bei Neuss/Düsseldorf und im Ökodorf.
Vorwort
Verzeiht uns
Erster Brief
Zweiter Brief
Dritter Brief
Drei weitere Teachings über mein Verlieben, Geschlechtsverkehr und sinnlich lieben lernen
Das ERSTE MAL. In jedem Alter
Nachwort
Anhang
Detail-Fragen. Eine kleine Sammlung Einzelwissen
Quellen
Danksagung
von Djamila Kathrin Raunitschka
die küssende liebe
ich küsse die liebe, ich liebe die küsse.ich küsse die liebe, ich küsse dich.ich liebe die küsse, ich liebe dich.ich küsse die liebe, die liebe küsst mich.ich und die liebe küssen dich.
Julia, fast 12 Jahre
Im Frühjahr des Jahres 2008 bekam ich Post von Dr. Sommer. Martin Goldstein schrieb mir von seinem Vorhaben, nochmals ein Buch zu veröffentlichen. Er wendete sich an mich mit der Bitte, Gedichte von Kindern über die Liebe zu verwenden, die wir vor einiger Zeit veröffentlicht hatten.
Ich freute mich über diese Anfrage und schrieb ihm über unsere Arbeit.
Im Frühsommer trafen wir uns ein erstes Mal. Ich traf einen sehr feinfühligen Mann mit einem gelebten Leben, einen Mann mit schlohweißem Haar, einen, der viel über das Leben, seine Arbeit und seine Liebe spricht – ein Mann, dem ich gerne zuhörte und den ich um Rat bitten würde – in einer anderen Kultur würde er sicher zum Rat der alten Weisen gehören.
Ich traf einen betagten Mann, der neben vielen Antworten Fragen an die Welt hat und sich sorgt um die nachfolgenden Generationen, denen er etwas zu „hinterlassen“ hat. Nach diesem Treffen bat mich Martin, ein Vorwort für sein Buch zu schreiben. Ich fühlte mich beehrt und sagte zu, ohne das Buch gelesen zu haben.
Martin Goldstein, der als Dr. Sommer als der „Urvater“ der Aufklärung vor allem für junge Menschen galt, nennt sein autobiografisches Buch „von Aufklärung zur Initiation“. Bei unserem Treffen erzählte er uns von seiner vierzehnjährigen Arbeit mit der Redaktion Bravo, von der unglaublichen Flut an Briefen und Fragen und davon, was ihm diese Fragen erzählten. Dr. Sommer lebt heute weiter, ist er doch der Inbegriff dafür, dass es einen Raum und die Möglichkeit gibt, Fragen zu stellen – zu einem der heißesten, brisantesten Themen des Lebens – Sex. In unserer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gibt es „Dr.-Sommer-Fragerunden“ – hier antworten „echte“ Frauen und Männer, erzählen aus ihrem Leben und von ihren Erfahrungen – Geschichten, die das Leben schreibt, manchmal süß und manchmal bitter – Geschichten vom ersten Mal, von der „großen Liebe“, von Zärtlichkeit, vom Scheitern, von Lust und Sehnsüchten ...
Es brauchte diesen Zwischenschritt des „anonymen“ Fragens und Antwortens - dass überhaupt öffentlich über Sexualität gesprochen und geschrieben wurde – in einer angstfreien, deutlichen Sprache. Das wird in dem, was Martin Goldstein über seine Erfahrungen in seiner Kindheit und Jugend schreibt noch einmal mehr deutlich. Und hier gilt es einen Dank auszusprechen. Einen Dank für den Teil seines Lebenswerkes, in der redaktionellen Tätigkeit Martin Goldsteins, in der zwar anonym, aber mit sehr viel Sorgfalt und Feingefühl, öffentlich klar über Fragen der Sexualität geschrieben und gesprochen wurde.
Ich gehöre zu der Generation, die genau davon profitiert hat, auch wenn ich mir aus der heutigen Sicht mehr gelebtes Wissen und direktes Gespräch vor allem mit älteren Frauen gewünscht hätte. Und dies tue ich heute, wenn ich Mädchen im Übergang zur jungen Frau begleite. Auch wenn ich in dieser Arbeit merke, dass die „Scham noch nicht vorbei“ ist, so wissen heute viele Männer und Frauen, wie wichtig ein Hineinwachsen in eine gesunde, offene Körperlichkeit und Sexualität ist.
Wir wissen heute, dass Kinder von Anfang an sexuelle Wesen sind, die eine liebe- und vertrauensvolle Umgebung und unseren Beistand brauchen.
Die Gedichte, die in dem Buch von Martin Goldstein zu finden sind, sind Ergebnis einer wundervollen Arbeit mit Kindern einer Freien Schule Potsdam, mit neun- bis dreizehnjährigen Jungen und Mädchen. Ich fragte mich, was ich diesen Kindern übers Empfinden „beibringen“ soll. Die Kinder schreiben von der Liebe, der Sehnsucht, vom Verlassenwerden, der Sonne und den Sternen, von Tränen und Schmerz, vom Anfassen und Küssen, roten Rosen und gelben Bommelmützen – zarte wissende Worte über das Leben, wie sie es empfinden und bewältigen, über die Lust und Schönheit zu leben und zu lieben. Ich bin verzaubert von der Magie ihrer Worte und ihrer Sprache und denke, diese Schule ist ein Ort, an dem sie ihren Empfindungen trauen und diesen Ausdruck verleihen. Martin Goldsteins Buch ist ein guter Platz für diese Gedichte.
Heute werden in jeder Zeitung, auf jedem Werbeplakat sexuelle Bedürfnisse angesprochen, beschrieben und geweckt – uns umgeben perfekte Menschen mit perfekten Körpern, in perfekten Umgebungen und perfekten Beziehungen. Kinder und Jugendliche wachsen mit dieser Überflutung an Informationen auf, die oft wenig mit gelebtem Leben zu tun haben. Mir gefällt die deutliche, klare Sprache, mit der Martin Goldstein in seinem Buch seine Lebenserfahrungen und Auffassungen über Sexualität beschreibt.
So geht er geht in seinem Buch einen weiteren, notwendigen Schritt. Er schreibt von sich, seinen Erfahrungen, vom Lieben und vom Sex als Ausdruck von der Lust am Leben – er schreibt von seinem ganz persönlichem „Lernen“ – er schreibt von einer geistigen Utopie, die zu seiner Freude längst Eingang gefunden hat in das Leben und die Herzen von Menschen, die sich heute für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zuständig fühlen.
Martin Goldstein schreibt als alter Mann an ein 13-jähriges Mädchen und versucht vielleicht damit, die Distanz des Dr. Sommer aufzuheben. Er berührt damit in meinem Empfinden ein uraltes Tabu, und es entsteht eine Provokation, die Fragen aufwirft. Die Kombination „alter Mann – junges Mädchen“ löst Befremden aus. In meinem Verständnis ist nicht der Großvater die erste Instanz für ein dreizehnjähriges Mädchen, wenn es um Sex geht, aber bevor es niemand tut ...?!
Anlass für sein Buch war u. a. die Geschichte der 13-jährigen Britin Charlotte, welche mit dem deutschen Marco W. in der Türkei eine Liebesgeschichte hatte, deren Problematik nicht besprochen, sondern in die Justizebene geschoben wurde. Martin Goldsteins Buch ergänzt alles, was an Charlotte versäumt wurde. So ist diese Provokation vor allem auch eine Anfrage und Aufforderung an uns ältere Frauen und Männer, unserer Verantwortung gegenüber den nachwachsenden jungen Menschen gerecht zu werden.
In meinem Leben und unserer Arbeit gibt es Mädchen und junge Frauen, die Fragen stellen:
Wann und wo hattest du dein erstes Mal? Wie war das für dich, als du deine erste Regel bekommen hast? Und wie stehst du heute dazu? Was war der ausgefallenste Ort, an dem du Sex hattest? In welcher Stellung kommt man am schnellsten? Wie findest du es, dass heute viele Jugendliche schon sehr früh (12/13) Sex haben? Bist du von deinen Eltern beim Sex erwischt worden? Hast du dich schon mal mit einer Frau geküsst (mit Zunge)? Was ist dir wichtig in einer Beziehung? Hattest du schon einmal Sex mit mehr als einer Person (gleichzeitig)? Hast du dir früher auch einen (richtigen) Freund gewünscht, wenn du keinen hattest? Könntest du dir Sex mit einer Frau vorstellen?
Und es gibt Frauen, die ihnen darauf antworten, sehr sehr ehrlich – manchmal überlegen sie ein Weilchen, was und wie sie es preisgeben – auch sie brauchen einen vertrauensvollen Raum – und das, was sie sagen, kann man in keinem Buch nachlesen, in keiner Zeitschrift – diese Antworten finde ich nicht im Internet – sie kommen in einer Runde zwischen zwölf- bis fünfzehnjährigen Mädchen und Frauen ganz unterschiedlichen Alters mit ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen – am Lagerfeuer in der Nacht. Und ich kenne Männer, die die Fragen der Jungen beantworten.
Einweihen statt Aufklären – wir brauchen heute eine Kultur, in die wir unsere Mädchen und Jungen einweihen – eine Einweihung in die „Geheimnisse“ des Lebens, der Liebe, der Sexualität – es ist heute wichtig, dass unsere Kinder ganz verschiedene Stimmen hören, um ihren ganz eigenen Weg gehen zu können. Das ist sicher ein Unterschied zu traditionellen Einweihungen, in denen es darum geht, festgelegte Regeln und Rollen zu erlernen.
Mädchen und Jungen brauchen erwachsene Männer und Frauen, die sich ihnen als Orientierung anbieten, die da sind, wenn es Fragen gibt, und sie brauchen Freiräume, in denen sie sich entfalten können. Es ist alles in ihnen angelegt und sie haben die Möglichkeit, über uns hinauszuwachsen. Die Kinder in unserer Kultur sind heute wohl die erste Generation, die nicht mehr unmittelbar von der Schuld und den Schmerzen des Krieges betroffen sind, die frei davon aufwachsen. Und sie erleben einen anderen Umgang mit Sexualität und Liebe, auch wenn es unter den Frauen und Männern Verunsicherungen in Bezug auf ihre Rollen gibt. In den Zeilen von Martin Goldstein und dazwischen lese ich eine große Achtung den Frauen gegenüber, mit denen er gelebt, die er geliebt hat und heute noch liebt. Er schreibt ihnen ein weitreichendes, intuitives Wissen im Sex zu. Er hat sich von Frauen bereichern lassen und bekennt sich dazu. Martin Goldstein erwartet von der Frau eine führende Rolle in der Sexualität. Manchmal wirkt es auf mich so, als wären Frauen in seinem Weltbild das bessere Geschlecht.
Für mich ist das Männliche und Weibliche vor allem in seiner jeweiligen Andersartigkeit wertvoll. Aus meiner Sicht braucht es neben der Ehrung des Weiblichen in der Frau die Ehrung des Männlichen im Mann. Ich achte die Männer, die voll und ganz für ihre Männlichkeit einstehen und die Aspekte ihrer Sexualität ohne Angst in die Begegnung mit der Frau einbringen. Und ich achte die Frauen, die ihre Weiblichkeit und ihr Wissen darum der Welt schenken und ihre Verantwortung in der Sexualität nehmen. Mädchen und Jungen brauchen Frauen und Männer, die das Männliche und Weibliche in sich kennen und ehren, Frauen und Männer, die in der Begegnung miteinander und voneinander lernen, die über die Andersartigkeit staunen und diese als Bereicherung erleben können. Das gibt guten Boden für die neue Saat.
In seinem Buch beginnt Martin Goldstein mit „Verzeiht uns ...“, einer eindrücklichen fiktiven Besinnung von Eltern, welche damit schließt, dass sie ihren Kindern ihre offen ausgestreckte Hand reichen. Danach wird in aller Offenheit erklärt, geantwortet, eingeladen und ermutigt, immer weniger genital, zielt auf Beziehung und endet schließlich zärtlich sinnlich.
Er erzählt in Form wahrer Erlebnisse von Jugendlichen und als Großvater, was er selbst zwischen zehn und fünfzehn und achtzig mit Sex und Liebe erlebt hat.
Wenn das Wissen und der Umgang über und mit der Liebe und Sex in den unterschiedlichen Generationen in achtsamen und vertrauensvollen Räumen – nicht im Verborgenen – ihren Platz finden, wenn es Weitergeben und Voneinanderlernen, Zuhören und eine Sprache frei von Scham gibt, wenn die Sexualität und Lust als Bedürfnisse des Lebendigsein frei fließen kann, wenn Liebesschulen, Einweihungen ins Frau- und Mannsein entstehen, wenn Jungen und Mädchen Frauen und Männer in einem respektvollem Umgang erfahren, dann wird die Utopie, von der Goldstein schreibt, mehr und mehr in unserem Leben zur Realität.
Eine junge achtzehnjährige Frau hat im Rahmen einer Visionssuche in diesem Herbst zu mir gesagt:
„Sex ist schön!“, mit leuchtenden, wissenden Augen, offenherzig ohne Scham.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin,
eine aufregende Reisedurch das PlädoyerMartin Goldsteinszu seiner Ablösung als Dr. Sommer!
Mögen sie sich berührt, herausgefordert, provoziert, gerufen, erinnert fühlen!
Djamila Kathrin Raunitschka, Jahrgang 1971, Mutter von zwei Töchtern, arbeitet freiberuflich als Lehrerin und Naturpädagogin und ist die Initiatorin der „Drachinzeit“, der „Liebesschule“ und der Wildnisschule Potsdam.
Wir wollen zu euch sprechen:
zu euch, unseren Kindern,zu euch, unseren jugendlichen Kindern,zu euch, unseren Kindern in der Schule,zu allen Kindern.
Wir bitten euch: Verzeiht uns, dass wir versäumt haben, euch als sexuelle Wesen zu erkennen.
Wir haben allzu oft versäumt, euch in das Mysterium der Liebe einzuweihen.
Mit anderen Worten: Wir haben euch eine Sexual-Pädagogik angeboten, welche eure Sexualität wohl eher betäubt als belebt hat.
Wir wollten euch, mühsam, eine Sexualkunde anbieten, weil wir der irrigen Meinung waren, wir wüssten besser, ab wann ihr „Bescheid wissen“ müsstet. Ihr wusstet es längst.
Wir haben euch mit Wissen belehrt, welches wir ausgesucht und aussortiert, für wichtig befunden haben.
Wir haben euch weder als sexuelle Wesen erkannt noch uns nach euren sexuellen Bedürfnissen gerichtet. Das tut uns jetzt leid, und
wir bitten euch: Verzeiht uns.
Wir wollten gern, dass Beschreibung von Fortpflanzung, also Schwangerschaft und Geburt, ausreicht, als wenn das bereits das Sexuelle wäre.
In „Wie ein Kind entsteht“ und „Woher kommen die kleinen Jungen und Mädchen?“ oder „Aus Gottes heimlicher Werkstatt“ haben wir angefangen, euch die Gebärfähigkeit als geheimnisvolles Geschehen nahe zu bringen und euch zu erklären. (Dabei ging es manchmal so weit, dass ihr auch zu lernen hattet, was „Mutterkuchen“ bedeutet.)
Wir haben uns eingebildet, damit sei der sexuelle Lebensbereich „Wir sind doch alle Kinder der Liebe“ genügend zum Ausdruck gebracht worden.
Selbst dieses eingegrenzte Wissen weiterzugeben, ist nicht wenigen von uns schon schwer gefallen.
Tatsächlich: Sexuelles Erleben kam darin nicht vor, und wir haben meist verschwiegen, dass beim menschlichen Körper Liebeslust und Fortpflanzung nahe beieinander liegen, aber zweierlei sind.
Und es war nicht zu erwarten, dass ihr auch noch danach gefragt hättet.
Vielleicht waren wir froh, dass ihr nicht weitergefragt habt.
Es wäre uns peinlich gewesen, darauf zu antworten.
Als wenn „in Gottes Werkstatt“ Peinliches geschähe.
An dieser Stelle kamen wir nicht weiter.
Wir bitten euch: Vergebt uns das. Wir bedauern das jetzt.
Wenn es um Sexualität ging, haben wir immer zuerst Wert darauf gelegt, euch mit Gefahren und wie man sich davor schützt, bekannt zu machen, als da sind: unerwünschte Schwangerschaft, Verhütung, Geschlechtskrankheiten, HIV-Infektionen (AIDS) und sexueller Missbrauch.
Wir haben Gesetze erfunden, in welchem Alter ihr mit begrenztem Wissen bekannt gemacht werden würdet, oder in welchem Alter euch kein sexuelles Erlebnis erlaubt sein durfte. Wir haben dies mit dem Fach Biologie begründet und von Gesundheit, Benehmen und Sittsamkeit gesprochen.
Wir haben gemeint, es sei für euch umso besser, je später ihr vom sexuellen Leben erfahrt, und das sollte ganz besonders für sexuelle Erlebnisse gelten.
Wir waren einig, euch für „zu jung zum ...“ zu halten, und erwarteten, dadurch so wenig wie möglich sexuelle Gedanken und Gefühle in euch zu wecken. Dazu ermutigt haben wir am wenigsten. Das konnte euch nichts nützen. Es tut uns leid, dass es so war.
Haltet uns das nicht vor. Wir bitten euch: Seht uns das nach.
Wir haben Sexualität nur in Mischungen erwähnt, denn wir scheuten die pure Sexualität.
Mischungen waren: Sexual-Pädagogik, Sexual-Probleme, Sexual-Beratung, Sexual-Therapie, Sexual-Kunde, Sexual-Aufklärung, Geschlechtskrankheiten.
Hättet ihr auf der Empore gesessen, während wir unten über diese Themen, die wir für unsere Aufgabe hielten, diskutiert haben, etwa: „Darf unsere Tochter, 16, bei ihrem Freund übernachten?“ oder: „Dürfen wir erlauben, wenn unser Sohn mit einer Gruppe aus Mädchen und Jungen Zelten will?“ oder, und das ist immer noch unser Problem: „Sollen unsere Kinder bis zur Ehe keusch bleiben?“
Während wir uns die Köpfe heiß redeten und zu häufig genug einig wurden, hättet ihr als unbefangene Zuhörer bei all dem Für und Wider denken können: „Ja, wenn das alles derart kompliziert ist, ist es wohl besser, wir lassen es ganz.“
Wobei wir nicht wahrhaben wollten, dass das Weglassen gar nicht geht.
Wir haben über sexuelle Fragen anderer geredet und diskutiert, weil wir darin stets nur eins gesehen haben: das Problem. Privat haben wir nicht darüber geredet, weil wir nie gelernt hatten, persönlich darüber ein Wörtlein zu verlieren.
Wir hofften, dass gelernte Experten das übernähmen, und manche von uns wollten für euch selbst nicht einmal das.
Wir haben zwar überlegt, was uns betr. Sexualität bewegt, jedoch nicht, was euch bewegt oder bewegen muss und wie es euch bewegt.
Wir hielten uns für die allein Verantwortlichen und fangen jetzt erst an, einzusehen, dass wir euch damit außen vor gelassen haben.
Wir bitten euch: Habt Nachsicht mit uns.
Wir haben es etwa einem Dr. Sommer überlassen, der würde es schon machen, oder wir haben euch verboten, Dr. Sommer zu lesen, dessen Aussagen wir selbst nicht einmal aufmerksam verfolgt hatten.
Das kam aus unserer Überzeugung, dass Sexualität und Jugend nicht zusammenpassen würden und, noch stärker, dass Sexualität etwas Bedrohliches sei, vor dem wir euch zu bewahren hätten.
Wir haben sehr wohl unser eigenes Sexualleben gehabt und das möglichst perfekt verheimlicht. Wir haben so leise wie möglich miteinander geschlafen, damit ihr nebenan im Kinderzimmer nichts davon merkt. Und es war für uns unvorstellbar, dass nebenan du, unsere Tochter, und dein Freund leidenschaftlich miteinander schlafen würden. Wir haben irgendwie geahnt, dass sexuelles Leben und Reden über Sexualität sich der Familiensphäre entziehen will, sodass bei uns so etwas wie eine Einweihung umso weniger hätte stattfinden können.
Allenfalls konnten wir deine erste Regel mit ernster Miene erwähnen, obwohl wir das nicht genauer erklären konnten als: „Das ist von jetzt ab immer so, und nun könntest du schwanger werden.“
Den ersten Samenerguss und die weiteren unseres Sohnes haben wir geflissentlich übersehen, manche Jungen sind auch dafür wegen „Verdacht auf Unzucht“ („Selbstbefriedigung“) bestraft worden. Wir waren nicht stolz darauf, dass unser Kind sexueller wurde.
An dem Zwischenruf, wir hätten immer mehr auf die Asche der Absicherung hingewiesen, anstatt vom Feuer der Gefühle zu erzählen, kommen wir nicht vorbei.
Wir haben zugelassen, dass die Reinlichkeits-Industrie mit ihrer Reklame dafür sorgte, dass „die Tage“, die „Monats-Hygiene“ und die „Intim-Zone“ (alles Deck-Worte) so gut wie unbemerkt, ja, unmerklich bleiben sollten.
Auch damit, dass der Sohn seine Vorhaut und was darunter ist, täglich waschen soll, hatten wir Schwierigkeiten, entweder darüber zu sprechen oder aus Besorgnis, dass er dann damit seine Lustgefühle würde entdecken können.
Viel zu allmählich haben wir gemerkt, wie leicht es uns wurde, alles das, was Körper, Sexualität, Geschlecht und Genitale betraf, möglichst schattenhaft im Hintergrund zu verbergen, ganz zu schweigen von den Gefühlen, welche dazugehörten, vor allem den Lustgefühlen.
Wir haben euch auf dem Wege, die körperlichen und gefühlsmäßigen und seelischen Entwicklungen zu spüren und sich liebevoll damit vertraut zu machen, allein gelassen.
Es tut uns leid, dass wir so waren, und
wir bitten euch: Verzeiht uns. Wir wollen keine Ausreden mehr.
Unsere Eltern und Voreltern und unsere Ahnen haben uns dieses prüde Verhalten überliefert. Sie konnten uns keinerlei Fähigkeiten mitgeben, wie man sich sehnsüchtig und neugierig darum kümmert, was uns genauso wie euch bei lebendigem Leibe mit Körper, Geschlecht, Sexualität und Liebe bewegt.
Solange wir überzeugt davon waren, dass allein wir als Eltern das Recht hätten, über das, was wir unter „sexueller Aufklärung“ verstanden, zu bestimmen, und während wir uns dafür auch die Macht genommen haben, ist uns nicht klar geworden, dass das nichts anderes als eine Art von Willkür ist.
Jedenfalls haben wir uns nicht danach gerichtet, was an der Basis, und das seid ihr, vor sich ging, und was von der Basis, und das seid ihr, hätte ausgehen und respektvoll beachtet werden können.
Wir haben offenherzigen Austausch mit Freundinnen und Freunden vermieden anstatt ihn zu pflegen. Ihr hättet euch dann nämlich an vertraute (und verschwiegene) Menschen wenden können, denn solche wären auf jeden Fall und sogar eher als wir Eltern zu einem vertraulichen Kontakt bereit und fähig gewesen. Wir waren kein „Coach“.
Eltern kommen gar nicht darum herum, sich zu sorgen und bange Fragen zu stellen wie: „Hast du etwa ...?“ oder: „Bist du sicher, dass du auch ...?“, wenn unser Töchterchen einen Jungen als Freund benennt oder unser Sohn die erste Freundin gefunden hat.
Wie leicht konnte euer Versuch, uns gegenüber etwas von Liebe und Schmusen zu erwähnen, ausarten in „Vater, komm doch mal her, hast du gehört, der wollte doch tatsächlich unsere Heloise betatschen!“
Als Eltern haben wir es nicht leicht, uns zu freuen, wenn ihr euer geschlechtliches Interesse entdeckt, und es mangelt uns an Mut, euch darin zu bestärken und euch dafür Raum zu lassen. Allenfalls in völliger Stummheit.
Hier wird uns deutlich, wie wenig Vertrauen wir in euch, unsere Kinder, setzen, und wie wenig Respekt wir vor euren erotischen Bedürfnissen zeigen.
Es tut uns leid, dass wir so eingestellt waren, und
wir bitten euch: Habt Nachsicht mit uns.
Wir geben zu, dass wir ahnungslos und machtlos der Flut von sexuellen Informationen, Illusionen und Beschreibungen gegenüberstehen, welche z. B. im Internet zu finden sind, und welche ihr eher als wir gefunden habt, und in denen Sexualität in Formen dargestellt wird, welche von Agenturen erfunden werden, die euch geil machen und daraus Profit ziehen wollen, ohne auch nur das Geringste von lustvollen und liebevollen sexuellen Beziehungen zu verstehen. Wir halten das für Kokolores, weil wir Besseres erlebt haben.
Aber es sind Erwachsene, die solches verbreiten und euch glauben machen wollen, auf diese Weise müsstet ihr Liebe und Sex praktizieren.
Und das erreicht euch ausschließlich in Wort und Bild anstatt Auge in Auge oder von Angesicht zu Angesicht. Womöglich fehlt denen das menschliche Angesicht.
Wir bekennen, dass wir euch nicht durch unser wahres Erzählen vorbereitet haben, an diesen falschen Propheten zu zweifeln. Die nämlich wissen genau, wie sie eure Geilheit wecken können, der ihr gar nicht widerstehen könnt, und nutzen das schamlos aus.