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Die griechische Religion wird vor allem unter drei Gesichtspunkten greifbar: den religiösen Orten, den religiösen Handlungen und den Vorstellungen über die übermenschlichen Mächte, wie sie sich in den Götterbildern manifestieren.Im Zentrum stehen die Bedeutung der Tempel, die Opferriten, durch die der Mensch mit dem Göttlichen in Verbindung trat und es als omnipräsenten Teil seiner Lebenswelt erfuhr sowie die einzelnen Gottheiten, die sich in überirdisch schönen Bildern des Menschen verkörperten.Prof. Dr. Michael Stahlhatte bis 2011 den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Sein Lehrbuch "Gesellschaft und Staat bei den Griechen" erschien 2003 in zwei Bänden, 2008 präsentierte er "Botschaften des Schönen", Bilder aus der antiken Kultur.
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Seitenzahl: 38
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Fachbereich
ALTE GESCHICHTE
TEMPEL, KULTE, GÖTTER
Die Religionen der Griechen
Von Prof. Dr. Michael Stahl
Tempel, Kulte, Götter
Die Religion der Griechen
Der christliche Blick auf die antike Religion – Die Gottheit und ihr Tempel – Die Idee der Säule – Tempel und Bürgerkommunikation – Tempelbau und Polisgemeinde – Der heilige Bezirk – Das religiöse Opfer – Die Anrufung der Götter – Kult und Bürgerstaat: Ohne Kirche und Klerus – Das Göttliche – Der Mythos – Viele göttliche Kräfte – Nach dem Bilde des Menschen – Das Göttliche und das Schöne
Der christliche Blick auf die antike Religion
Antike Religion – da mögen manchem exotisch-romantische Bilder vor Augen kommen von Dunkles murmelnden Priestern, dampfenden Altären und vom Olymp, auf dem die Götter thronen mit ewig lachenden Gesichtern und auf die Menschen herabsehen. Bei anderen wiederum mögen scheinbar selbstverständliche Vorstellungen einrasten, denn was Religion sei, das scheint aus einer bald zweitausendjährigen christlichen Tradition vertraut, und wir sind versucht, das Religiöse auch der Antike in diesen Formen wahrzunehmen und in christlichen Kategorien zu denken. Wir sollten uns diese aber zumindest bewußt machen, auch wenn sie z. T. nicht völlig abwegig sind, etwa im Blick auf die Religionen der römischen Kaiserzeit oder der christlichen Spätantike. Denn das Christentum hat viel, mehr als wir auf den ersten Blick vermuten würden, der sog. heidnischen Antike Roms zu verdanken.
Doch Empfindungen wie die allgegenwärtige seelische Bedrängnis durch Schuld und Verstrickung, Ideen von Verantwortung und Rechtfertigung vor den Augen eines göttlichen Herrn, von Hoffnung auf Vergebung im Diesseits und Erlösung im Jenseits – dieser hergebrachte Horizont religiöser Erfahrung behindert unser Verständnis, insbesondere im Hinblick auf die Religion der Griechen. Wenn wir sie in diesen Koordinaten begreifen wollten, müßten wir feststellen, daß die Griechen gar keine Religion hatten. Nichts jedoch wäre falscher.
Kaum ein Zeugnis aus den ersten, rund fünf Jahrhunderten der griechischen Kultur, also der Archaik und Klassik, ist ohne Bezug auf Mythologie und Religion, ohne Verweis auf Einwirkung des Göttlichen. Kein Gegenstand, den die Archäologen zutage gefördert haben, keine Scherbe und kein Kunstwerk, in dem nicht auch eine Ahnung vom ganz Anderen Ausdruck und Gestalt fände. In allen seinen Facetten, im Haus wie in der Öffentlichkeit der Polis, war das Leben der Griechen durchdrungen von einem stets virulenten Bewußtsein, es existiere eine Sphäre des dem Menschen nicht Verfügbaren, und von dem Versuch, mit ihr in Beziehung zu treten.
Allerdings sind Formen und Vorstellungen des Religiösen bei den Griechen weit entfernt von dem uns Gewohnten: Sie kannten weder Einheitlichkeit noch System, keine dogmatischen Glaubenssätze und keine religiöse Reflexion. Jede Frage des christlichen Theologen nach Offenbarungswahrheit oder nach Bekenntnis prallt ab von der lebendigen Inkonsequenz, von der überfließenden Kreativität der Geschichten des Mythos und von ihrer fraglosen Geltung.
Vielleicht eröffnen sich auf diese griechische Religion aber neue Blickwinkel, lassen sich, in einigen Zügen wenigstens, Brücken schlagen für ein angemesseneres Verständnis, wenn wir von religiösen Strömungen ausgehen, wie wir sie seit ein, zwei Generationen beobachten können, den Renaissancen und Erweckungen, der neuen Vielfalt und Fluidität des Religiösen und den Versuchen, es wieder von seinen anthropologischen Wurzeln her, gleichsam unvoreingenommen, neu zu erfahren.
Wir wollen uns daher mit drei Kategorien befassen, die eine universale Bedeutung beanspruchen dürfen und mit denen auch das Religiöse bei den Griechen zumindest im Äußerlichen zu erfassen ist. Wie weit wir dabei auch in Kopf und Herz des frommen Griechen einzudringen vermögen, muß dahingestellt bleiben. Jede Religion braucht, erstens, ihre Orte, sie lebt, zweitens, von individuellen oder gemeinschaftlichen Handlungen, und Orte wie Praktiken erhalten, drittens, ihre historische Besonderheit durch die Deutung, die mit ihnen der göttlichen Sphäre verliehen wird. Beginnen wir also mit dem gewissermaßen Handfesten, der Stätte, die der Begegnung zwischen Gott und Mensch geweiht ist.
Die Gottheit und ihr Tempel
Kann man die griechische Kultur eine Tempelkultur nennen? Das ist gelegentlich getan worden und hat insofern seine Berechtigung, als die Tempel tatsächlich die einprägsamsten Symbole des antiken Griechentums und vor Ort häufig seine herausragendsten baulichen Hinterlassenschaften bilden. Dieser durchgängige Befund ist gewiß kein Zufall der Überlieferung. Welche Bedeutung hatten diese Bauwerke also im Rahmen der griechischen Religion und der Polis?