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Teil 1 - Im Bann der Anziehungskraft Die Studentin Stella McDuffington wacht nach einem Date-Fiasko auf der Couch des angesagtesten inkognito Künstlers von York auf. Tage später begegnet sie dem charismatischen Tom, der fortan für pures Gefühlschaos sorgt. Nach einem Bandauftritt mit ihrer besten Freundin, der Partyqueen Summer, lernt sie den scheinbar unkomplizierten Biker Dan kennen. Es läuft perfekt, bis das Paar in große Gefahr gerät. Ausgerechnet Tom erweist sich unerwartet mit seinen Freunden als Retter in letzter Sekunde. In seiner Nähe fühlt sie sich sicher. Je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, umso mehr Fragen kommen auf. Wer ist dieser außergewöhnliche Mann eigentlich, der sich so um sie sorgt, aber sich dennoch so geheimnisvoll distanziert gibt? In York führt der Fund einer blutleeren Leiche zu wildesten Spekulationen. Kaum ist wieder Normalität eingekehrt, bestimmt eine weitere übel zugerichtete Leiche die lokalen Schlagzeilen. Obwohl Stellas Leben schon kompliziert genug ist, steht die Freundschaft zu Summer plötzlich auf der Kippe, dann taucht auch noch Toms super attraktive Ex auf und hat ganz eigene Pläne. Seit ihrer Bekanntschaft mit Tom und Dan, scheint es jemand auf sie abgesehen zu haben. Doch warum? - schließlich hat sie keinem etwas getan. Zur Ablenkung stürzt sich Stella kopfüber in ihr Abschlusspraktikum. Zudem plant sie die bislang erfolglose Spurensuche nach ihren leiblichen Wurzeln fortzusetzen. Eins ist klar: Sie wird nicht aufgeben, bis das Puzzle vollständig zusammengesetzt ist ...
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Seitenzahl: 696
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Vorwort
Kapitel eins
Kapitel zwei
Kapitel drei
Kapitel vier
Kapitel fünf
Bereits im Jahr 2018 entwickelte ich die Idee zu der Fantasy-Romanreihe „The Gravity of Destiny“. Ich freue mich, mit der Fertigstellung der ersten beiden Bände, die Leserschaft nun ganz „Im Bann der Anziehungskraft“ mit Stella McDuffington auf die Schicksalsreise entsenden zu können. Der Pilotroman der Reihe besteht somit direkt aus zwei Teilen.
Ich hoffe, es ist mir gelungen mit Worten Bilder zu malen, um der Leserschaft ein buntes und unterhaltsames Leseerlebnis zu ermöglichen. Es war mir ein Vergnügen die große kreative Verantwortung wahrzunehmen, denn schließlich bestimmt der Autor über „Glück & Unglück“, über „Gut & Böse“, „himmelhochjauchzend“ oder „zu Tode betrübt“.
Ich blicke zurück auf eine aufregende, aufreibende, stressige Zeit, die meiner Familie und mir viel abverlangte. Desto stolzer bin ich nun, nach so viel investierter Arbeit, die 1. Veröffentlichung der Romanreihe zu realisieren. Mein besonderer Dank gilt, meinem Mann und unseren zwei gemeinsamen Töchtern, die oft viel zu kurz kommen, da ich die Schreiberei neben meinem Hauptberuf ausschließlich in der Freizeit ausübe. Doch nur wer sich auf den Weg begibt und dabei hartnäckig, ehrgeizig und geduldig bleibt, kann schließlich sein Ziel auch erreichen.
Unfreiwillig kämpfte ich mit der übernatürlichen Anziehungskraft, die mein mollig warmes Bett auf mich ausübte. Es war Dienstagmorgen, was bedeutete, dass wichtige Vorlesungen auf dem heutigen Stundenplan standen. Ich hatte mich vor drei Jahren in die Kurse englische Literatur, Philosophie sowie Pädagogik eingeschrieben, mit dem Ziel, selber bald zu unterrichten. Professor McFord gab erfreulicherweise den Großteil meiner Kurse. Fachlich gesehen, sah ich in ihm ein großes Vorbild. Seine unkonventionelle Sichtweise auf das Leben, faszinierte mich vom ersten Vorlesungsbesuch an. Zugegebenermaßen wirkte er durch seine durchtrainierte Figur äußerst anziehend auf weibliche Subjekte. McFord war keiner von diesen stocksteifen abgestumpften Lehrkräften. Häufig kam er mit seinem schwarzen schnittigen Motorrad zur Arbeit, was recht cool war für einen Dozenten. Keiner hätte den angesagt gekleideten Sunny-Boy auf Ende vierzig geschätzt. Studentinnen klebten ihm reihenweise an den Lippen, obwohl er bekanntermaßen verheiratet war. Auf den Fluren kursierte seit Monaten das Gerücht, er habe letztes Semester gleich zwei Affären parallel unterhalten. Ein verheirateter älterer Mann mit zwei Kindern, wie McFord, stellte für mich ein absolutes Tabuthema dar. Tante Mabel sagte mal, dass wir Frauen zusammenhalten müssten, anstatt uns gegenseitig in den Rücken zu fallen! Die Vorstellung, eine Frau mit zwei Kindern, so zu hintergehen, verstieß eindeutig gegen meine moralischen Prinzipien. Nicht, dass ich ernsthaftes Interesse an ihm hegte, aber seine unterschwelligen Flirts hübschten meinen Studienalltag durchaus auf. Mein spärliches Liebesleben bestand lediglich aus wenigen Beziehungen, die fast immer chaotisch endeten. Paradoxerweise zog ich ausschließlich männliche Exemplare an, die entweder eifersüchtig klammerten oder es mit der eigenen Treue nicht so eng sahen. Resultierend daraus, hatte ich die Nase voll von diesen unreifen Typen. Mit halbgeöffneten Augenlidern riskierte ich einen ersten Blick in Richtung Schlafzimmerfenster. Es war eindeutig zu früh zum Aufstehen an diesem nassgrauen Dienstagmorgen. Regenwasser lief in filigranen Bächen am großen milchigen Fenster unentwegt hinunter. Das sanfte monotone Trippeln, der tanzenden Regentropfen auf dem Fensterbrett, wirkte so beruhigend, dass ich glatt nochmal hätte einschlafen können, wenn der nervtötende Wecker nicht dazwischen gegrätscht wäre. Mit der Bettdecke über den Kopf versuchte ich vergeblich dem fiesen Dauerpiepton zu entfliehen. Summer hatte ihn mir zu meinem vierundzwanzigsten Geburtstag letzten Monat geschenkt, damit ich nicht ständig zu spät komme, zu unseren Verabredungen. In diesem Moment wünschte ich sehnsüchtig, sie hätte mir lieber ein trendiges Tuch, ein paar Karten fürs Kino oder besser noch, eine neue Kaffeemaschine geschenkt. Die Alte hatte einen nervigen Wackelkontakt, so dass ich ihr immer einen ordentlichen seitlichen Klaps verabreichen musste, bevor sie sich dazu erniedrigte mir einen Kaffee zu kochen. Alle Bemühungen den Wecker zu ignorieren scheiterten, wie jeden Morgen. Da hätte man ebenso versuchen können auf einem Flughafen-Rollfeld in der Rushhour ein Nickerchen abzuhalten. Das Einzige was mich motivierte morgens aufzustehen war die Gewissheit, dass jeder weitere Uni-Tag mich meinem Ziel, Lehrerin zu werden, ein Stück näherbrachte. Zudem standen die Aussichten nicht schlecht, nebenbei doch noch Mr Perfekt zu begegnen. An dieser Stelle fiel mir wieder Tante Mabels Zitat von der letzten Geburtstagskarte ein. 'Die einzigen Erwartungen, die du erfüllen solltest, sind die, die du an dich selber stellst!' Sie hatte ja so recht! Ich, Stella McDuffington war es leid ständig Energie damit zu verschwenden, mich anderen Leuten anzupassen, nur um ihnen zu gefallen. Früher wusste ich es nicht besser, was zur Folge hatte, dass ich im Regelfall mit den eigenen Bedürfnissen auf der Strecke blieb. Bevor mich meine Verwandten zu sich holten, war ich praktisch für andere unsichtbar. Ja, es gab einen Lebensabschnitt vor Onkel und Tante McDuffington! Über jenen wunden Punkt in meiner Biographie spreche ich nur ungern. Für gewöhnlich verheimliche ich diesen Lebensabschnitt lieber, so umgehe ich mitleidige Blicke, wie unbeholfene Trostversuche. Meine Vergangenheit vermochte ich nicht auszuradieren, aber ich hatte sie für mich halbwegs abgehakt. Sie verstaubte in einer Schublade, die ich weit hinten in meinem Kopf platziert hatte. Den Berichten nach, fing alles damit an, dass ich mit sechs Monaten ausgesetzt wurde. Man möge es kaum nachvollziehen, aber was sich wie eine fiktive rührselige Filmstory anhörte, war mir in der Realität nachweislich passiert. Ich Stella McDuffington, damals lautete mein gebürtiger Nachname allerdings Heywood, wurde als Frischling in einer Babyschale, zu später nächtlicher Stunde, vor den Türen der Yorker Polizeiwache abgestellt. Zum Glück wurde ich schnell entdeckt, denn es war kühlfrostiger Spätherbst. Wenigstens waren meine Eltern scheinbar doch so verantwortungsvoll, sich meiner nicht in irgendeinem Waldstück zu entledigen. Seit dieser Nacht fehlte jede Spur von ihnen, um sie nachträglich ausfindig zu machen. Zumindest waren die besagten Eltern so gnädig, wenigstens einen Zettel mit Vor- und Nachnamen an der Babydecke zu befestigen. Dies war das Einzige, was sie mir mit auf den weiteren Lebensweg gaben. Die Kleinkindjahre verbrachte ich in einem Kinderheim im Nachbarort. An diese Zeit fehlen mir klare Erinnerungen, was vermutlich besser so ist. Mit zweieinhalb Jahren kam ich dann, laut meiner Jugendamt-Akte, in die erste Pflegefamilie. Alles schien in Ordnung zu sein, denn sie kümmerten sich, den Fotos nach zu urteilen, liebevoll um mich. Es gab sogar aufwendige Geburtstagsfeiern, mit Kerzen auf der Torte nebst in buntem Papier eingepackten Geschenken. Im Nachhinein betrachtet, wirkten die Erinnerungsfotos wie gestellt. Bruchteile dieser Zeit sind mir schemenhaft im Gedächtnis geblieben. Ein deutliches Fragment war der Tag, an dem sich von jetzt auf gleich alles änderte. Meine Pflegeeltern erwarteten, entgegen der ärztlichen Prognose, doch völlig überraschend ein leibliches Kind. Man solle es nicht für möglich halten, aber sie konnten ihre elterlichen Gefühle, mir gegenüber, einfach so abstellen, nachdem der kleine Junge geboren war. Vermutlich hatten sie nie echte Zuneigung für mich übrig. Es spielte keine Rolle, denn sie schoben mich kurzerhand wieder ins Heim ab. Ich wirkte nach außen, als hätte es mir nicht groß was ausgemacht, aber das tat es sehr wohl. Es hatte mich tiefverletzt, denn ich hing an diesen Pflegeeltern, als wären es meine leiblichen gewesen. Sie gaben mir das erste Mal das Gefühl Zuhause angekommen zu sein, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Manchmal stößt mir noch heute der Gedanke übel auf, damals wie ein lästiges Haustier abgeschoben worden zu sein. Die kommenden Jahre im Kinderheim klassifizierte man mich als schwer vermittelbar. Mehrmals wurde ich zwischen verschiedenen Pflegefamilien herumgereicht. Zum Glück blieb ich im gleichen Ortskreis, was mir den Schulwechsel ersparte. Mit knapp zehn Jahren holten mich Onkel Winston und Tante Mabel zu sich. Seitdem fing endlich ein neues glücklicheres Leben für mich an. Ich legte den Geburtsnamen Heywood ab, um fortan den Nachnamen McDuffington mit erhobenen Hauptes zu tragen, als hätte es nie einen anderen gegeben. Wie sich herausstellte, erfuhren meine vermutlich letzten lebenden Verwandten nur zufällig von mir. Sie waren vor über dreißig Jahren in die Schweiz ausgewandert, so dass der Kontakt zu meinen leiblichen Erzeugern komplett abgebrochen war. Im Internet stolperten sie über den Nachnamen Heywood, so dass sie sich beim Jugendamt über mich erkundigten. Schließlich kehrten sie kurzfristig nach York zurück, um mich endlich kennenzulernen. Ihnen selbst blieb der eigene Kinderwunsch leider stets unerfüllt, daher bot sich durch meine Aufnahme gleichzeitig die Chance, endlich eine vollständige Familie zu sein. Sie redeten nie darüber, was sie alles für die Rückkehr nach York für mich aufgegeben hatten. Onkel Winston war der große Bruder meiner Mutter Mary. Damit war er der einzige mir bekannte lebende leibliche Verwandte. Das Zeitfenster für melancholische Kindheitserinnerung schloss sich abrupt, beim Blick auf den Wecker. Jetzt war Eile geboten. Hoffentlich kam ich nicht zu spät. Die Aussicht auf eine nervige Parkplatzsuche erhöhte den Stressfaktor zusätzlich. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich zu spät in die Vorlesung hereinplatzte. Ich hatte nicht vergessen, wie sich alle Blicke verständnislos auf mich richteten. Letztens hatte ich bei dem Versuch möglichst zügig einen der wenigen freien Sitzplätze zu erreichen unglücklicherweise den mitgebrachten Kaffeebecher eines Studienkollegen umgestoßen, so dass seine halbe Tasche vollgesaut war, was zu erneuter negativer Aufmerksamkeit führte. Solche Tage waren für mich sowas von gelaufen. Auf spöttische Blicken, nebst missgünstigem Kopfschütteln, gefolgt von ein paar ironisch-zynischen Sprüchen, konnte man bestens verzichten. Nur Professor McFord hatte trotzdem ein nettes, verständnisvolles Schmunzeln für mich übrig. Nachdem ich mit mir selbst geklärt hatte, dass ein Zuspätkommen nicht zur Debatte stand, pellte ich mich mühselig aus meinem Schlafshirt, um direkt im Anschluss schnell unter die Dusche zu springen. Einige Frauen-Klischees trafen sicher auf mich zu, aber dass ich ewig brauchte, um mich fertigzumachen, stimmte nicht. Hastig hatte ich die schulterlangen, braunen, lockigen Haare einshampooniert, gefolgt vom Rest meines Körpers. Genauso eilig spülte ich den Schaum runter, drehte den Wasserhahn ab, kämpfte eine Runde mit dem nassen Duschvorhang, der bei Feuchtigkeit für gewöhnlich hartnäckig am Badewannenrand haftete, um dann festzustellen, dass ich vergessen hatte, mir vorher mein Handtuch griffnah zurechtzulegen. Nackt tropfend tapste ich fröstelnd über die kalten graublauen Fliesen hinüber zu meinem flauschigen kükengelben Handtuch, was dort einsam an der Hakenleiste der Tür hing. Das Badezimmer war groß genug, um alles was ich brauchte unterzukriegen. Der Rest meiner Zwei-Zimmer-Wohnung wirkte funktionell spartanisch, aber dennoch gemütlich. Jetzt lief alles ganz routiniert ab. Schnell abtrocknen, Haare kämmen – so gut es meine Locken zuließen – flink Klamotten raussuchen, während ich unentschlossen mit der Zahnbürste im Mund vor dem weit geöffneten chaotischen Kleiderschrank stand. Schnell wieder ins Bad, ehe Zahnpasta auf den Boden tropfte, was nach dem Trocknen unschöne weiße Flecken verursachte. Haare föhnen, Augen mit einem Kajalstift dezent schminken, etwas fliederfarbener Lipgloss dünnschichtig auf die Lippen und fertig. Ab ins Schlafzimmer, Outfit vervollständigen, Bettdecke ordentlich falten, Fenster ankippen, dann noch abschließend Licht ausschalten. Der Blick auf Summers Geschenk verriet, dass mir noch circa zehn Minuten verblieben, für die Zubereitung eines Kaffees, den ich am liebsten mit einem ordentlichen Schuss Milch trank. Ich stellte zügig den fast leeren Kaffeebecher in die Spüle, schnappte mir den Schlüssel von der Kommode, sowie die danebenstehende Tasche, hastete an der Garderobe vorbei, um Jacke nebst Regenschirm abzugreifen. In Windeseile hastete ich über die Schwelle hinaus ins Treppenhaus, dabei vernahm ich rücklings das laute Knarren der ins Schloss fallenden Wohnungstür. Wenn Tante Mabel jetzt einen Blick in die Wohnung werfen könnte, hätte sie garantiert mit erhobenen Zeigefinger über meine mangelnde Ordnung geschimpft. Das waren die Vorteile, wenn man alleine wohnt! Keiner nörgelte an einem rum oder machte Vorschriften, wie man sein Leben zu führen hatte. Andererseits blieben jetzt all die lästigen häuslichen Pflichten, welche mit der heißersehnten Eigenständigkeit einhergingen, ausschließlich an mir kleben. Obwohl ich mir umsonst die Hoffnung gemacht hatte, dass etwas Lebensveränderndes passierte, blieb der Tag mal wieder genauso eintönig wie befürchtet. Summer hatte dieses verregnete Ödnis dann doch noch mit ihrem erlösenden Vorschlag gerettet, dass wir uns am späten Nachmittag in unserem Lieblingseiscafé treffen könnten. Ich freute mich auf diese Verabredung, denn mit Summer wurde es nie langweilig. Meine beste Freundin war witzig, frech, spontan mit einem Schuss Abenteuerlustigkeit. Sie hatte sich nicht groß verändert, seitdem wir uns in der ersten Klasse kennengelernt hatten. Summer hatte, im Gegensatz zu mir, keine Probleme mit den Mitschülern warm zu werden. Sie war offen, lustig, ebenso überaus gesprächig, was man von mir nicht behaupten konnte. Aus Angst vor meiner Klassenlehrerin sowie den vielen fremden Kindern hatte ich mich nach der ersten Stunde weinend auf der Toilette eingeschlossen. Es dauerte etwas bis ich den Mut aufbrachte wieder in den Klassenraum zurückzugehen, um mich an einen der freien Tische zu setzen. Alle suchten sich einen Platz sowie Banknachbarn, doch der Stuhl neben mir blieb zunächst leer. Keiner beabsichtigte sich zu der traurigen Heulsuse mit den verschlissenen altmodischen Klamotten zu setzen. Summer erbarmte sich meiner und nahm demonstrativ neben mir Platz. Von dem Tag an waren wir beste Freundinnen, bis heute. Sie blieb aber nicht die Einzige, mit der ich Freundschaft schloss, denn da war noch Colin, Summers cooler Zwillingsbruder, der die Nachbarklasse besuchte. Er hatte nicht ganz so hellblondes Haar, wie seine Schwester, dafür trug er sie schulterlang. In Kombination mit den strahlend hellblauen Augen, wirkte er wie ein lässig cooler Skater-Boy. Die meisten schätzten ihn älter, weil er einen halben Kopf größer wie Summer war. Colin spielte erfolgreich Rugby, damit sammelte er bei den Mädels Pluspunkte. Sein Lächeln brachte Eisberge zum Schmelzen. Es war theoretisch nur eine Frage der Zeit, bis auch ich seinem verspielt-witzigen Charme erlag. Am Anfang gab es nur Summer und mich, da passte keine Hutschnur zwischen. Ab der dritten Klasse gesellte sich Colin des Öfteren dazu. Wir teilten die Liebe zur Musik, so dass wir damals spontan unsere erste Garagenband 'THE LOST SLOTS' gründeten. Der Sound war gar nicht mal übel, denn wir durften damit regelmäßig auf Schulfesten auftreten. Bei einigen Veranstaltungen der Stadt verdienten wir sogar etwas Taschengeld dazu. Ab dem Teenageralter entwickelte sich Summer zum echten Jungsmagneten. Es dauerte meist nicht lange, bis sie jemand Neues anschleppte. Sie hatte eine spitzen Figur, kurze blonde Haare und schien für jeden Flirt zu haben. Obwohl wir so verschieden waren oder vielleicht gerade deswegen, blieb unsere Freundschaft über all die Jahre ungebrochen. Ich beantragte den Namenswechsel, damit ich mich offiziell mit dem gleichen Nachnamen schmücken durfte, der auf dem Türschild meines Onkels stand. 'McDuffington' war nicht nur ein bloßer Name den ich annahm, sondern vielmehr ein Bekenntnis, meine Rolle als vollwertiges Mitglied dieser Familie anzunehmen. Es war erleichternd, den alten Namen, mit dem mich rein gar nichts verband, von mir abzustreifen. Hier in York, im Hause meines Onkels fand ich endlich den Zufluchtsort, den ich bisher vergeblich gesucht hatte. Mit Summer und Colin hatte ich zudem die Freunde gefunden, die ich mir immer wünschte. Wir waren unzertrennlich wie Drillinge, die kaum einen Tag ohne einander aushielten. All die unschönen Erlebnisse aus meiner Vergangenheit wurden Stück für Stück durch neue schönere Erinnerungen ins Abseits gedrängt. Ich schaute hoffnungsvoll in eine Zukunft, in der mir alle Türen offenstanden, zumindest dachte ich das damals!
Es war schon kurz nach sechzehn Uhr, so dass ich mich spurtete, um nicht zu spät zur Verabredung mit Summer zu kommen. In der Eile hatte ich glatt meinen Regenschirm im Treppenhaus vergessen, wo ich ihn zum Trocknen beim Betreten des Wohnhauses aufgestellt hatte. Es war wieder so ein Tag, an dem es nicht aufhörte zu regnen. Pudelnass, aber trotzdem gutgelaunt betrat ich das Eiscafé. Es duftete nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen, fruchtigen Blaubeermuffins sowie nach heißen süßen Karamell-Cookies. Ich liebte diese Geruchskombination, die ich mit zahlreichen schönen Erinnerungen aus meiner Teenager-Zeit verknüpfte. Selbst in Collegezeiten kamen Summer, Colin und ich mindestens zweimal die Woche her, um bei einem Milchshake mit Blaubeermuffin über alles zu reden was uns bewegte. An der Eistheke stand eine gestresste Mutter, die erfolglos versuchte, einen Streit zwischen ihren zwei Kindern zu schlichten, die darüber stritten, welche Eissorte die allerbeste war. „Ich würde Schoko-Kirsche nehmen, das ist ein echter Geheimtipp! Verratet es aber keinem, sonst möchte sie jeder probieren!“, mischte ich mich wohlwollend ein. Die Kids schienen damit zufrieden, so dass endlich Ruhe einkehrte. Die Mutter der zwei Streithähne lächelte mir dankbar zu, was ich mit einem Augenzwinkern beantwortete. Keylab, der circa dreißigjährige große schlaksige Mann mit rotblonden kurzen Haaren, stand wie gewohnt hinter der Eistheke. Er zeigte mir mit einer Handbewegung unaufgefordert, wo ich Summer fand. Keylab arbeitete täglich hier, was nicht verwunderlich war, denn das Café gehörte seinen Eltern. Der Rotschopf half hier fast jeden Nachmittag aus, so dass wir mittlerweile zur Stammkundschaft gehörten. Er war für uns kein richtiger Freund, aber über die Jahre ist eine gewisse Vertrautheit entstanden. Zudem erkannte jeder Blinde, dass er ein Auge auf Summer geworfen hatte, doch er entsprach so gar nicht ihrem Männertyp. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, munter mit ihm zu flirten. Das brachte ihr eine Menge gratis Muffins ein, was nicht schlecht war, wenn Ebbe in der Kasse herrschte. Summer saß ungeduldig hinten in der Ecke an unserem Lieblingstisch und winkte mir freudestrahlend zu. Das Eiscafé der Hendersons war wie ein zweites Zuhause, aber zugleich auch ein willkommener Rückzugsort. Hier kannte uns jeder beim Vornamen vom Personal, denn wir kamen schon so lange regelmäßig her, um uns den Alltag zu versüßen. Ob bei Liebeskummer, Stress zu Hause oder in der Schule – immer, wenn wir eine neutrale Zuflucht brauchten, standen die Türen des alten, etwas verschlissenen Eiscafés für uns offen. Egal was mal wieder schief lief, egal welcher Hurrikan sich zusammenbraute, das 'Hendersons' war immer ein Ruhepol, der uns auf Kurs hielt. In diesem altmodisch eingerichteten Laden hatte ich mein erstes richtiges Date. Hier entwickelte sich aus einer Freundschaft heraus die große Liebe, flossen bittersüße Tränen, wurde herzhaft rumgealbert. All die glücklichen wie bitteren Momente durchlebten wir hier gemeinsam in Begleitung von Käsekuchen, Shakes und Eiscreme. Es war beruhigend, dass sich das 'Henderson' über die Jahre nicht groß veränderte, bis auf ein paar neue Eiskreationen. Hier haben wir auf die erste selbstverdiente Gage, euphorisch mit Milchshakes auf unsere Band angestoßen. „Hej, Stella! Da bist du ja endlich.“ Summer stand halb von ihrer Sitzbank auf, um mich herzlich zu drücken, was dazu führte, dass ihre Bluse nun leicht klamm war. „Dich hat es aber mächtig erwischt! Dafür wurde doch der Regenschirm erfunden, falls du es noch nicht wusstest!“, ärgerte mich Summer neckisch. Ich legte meine durchnässte Jacke auf den freien Stuhl neben mir und ließ mich seufzend auf der Sitzbank nieder, als wäre soeben der ganze Stress des Tages von mir abgefallen. „Erzähl schon, was gibt es Neues? Hat Professor McFord dich wieder angegraben?“ – „Nein, heute hatte er nur Augen für diese Courtney, die neue langbeinige Studentin, die aus Ohio hierher gewechselt ist!“, antwortete ich zynisch. „Was gibt es denn bei dir Neues? Konntest du bei dem sexy Kinderarzt landen, den du seit Wochen im Visier hast?“, fragte ich unverfroren, doch sie zögerte mit der Antwort. „Na komm Summer, wenn schon bei mir nichts läuft, dann lass mich wenigstens an deinem aufregenden Liebesleben teilhaben.“ – „Na schön! Aber wehe, du kommst mir gleich mit einem moralischen Vortrag um die Ecke! Wenn du es unbedingt wissen möchtest! Wir haben in der Mittagspause unten im Keller in einem der Vorratsräume rumgemacht. Es kam mir vor, als hätte er sechs Hände, die überall gleichzeitig waren. Er ist ein begnadeter Liebhaber, der nebenbei einen wahnsinnig sexy Körper besitzt!“ Mir trieb es die Röte auf die Wangen, folglich schaute Summer mich provokativ verschmitzt an. „Summer Heydensteen, wie konntest du nur! Und dann auch noch auf Arbeit?! Was, wenn euch einer erwischt hätte?“, platzte es aus mir übertrieben empört heraus. „Küsst er denn leidenschaftlich gut? Habt ihr euch verabredet?“ – „Ach Stella, Sachen die im Krankenhaus passieren, bleiben im Krankenhaus! Du weißt doch ärztliche Schweigepflicht!“ Summer grinste schelmisch, während sie genüsslich – leicht zweideutig – am Strohhalm ihres Milchshakes saugte. „Summer, es ist echt peinlich mit dir! Zum Glück hast du wenigstens ein Sexleben, im Gegensatz zu mir!“ – „Aber Süße, du bist einfach zu wählerisch mit den Männern! Wenn du willst, verschaffe ich dir gleich hier ein Date für morgen Abend!“ Summer deutete auffällig mit ihrem Blick, in zwei verschiedene Richtungen, wo passabel aussehende Kerle saßen. Fragend zog sie beide Augenbrauen gleichzeitig hoch, um bei mir eine Entscheidung zu erzwingen. „Oh, Fräulein Heydensteen, das lässt du jetzt mal schön bleiben. Das fehlt mir jetzt noch, kurz vor den wichtigen finalen Abschlussklausuren!“, ermahnte ich sie zur Zurückhaltung. „Stella, für den Spaß musst du auch mal was riskieren, sonst brauchst du dich nicht wundern, wenn du als alte Jungfer versauerst!“, Summer lachte herzhaft laut. Ich hätte augenblicklich im Erdboden versinken können. Ersatzweise versteckte ich mein Gesicht hinter der Eiskarte, die ich sowieso schon in der Hand hielt. Keylab brachte in diesem ungünstigen Moment eine neue Muffin-Kreation, auf einem kleinen weißen Tablett, an unseren Tisch. „Hier, ein Gruß aus der Backstube von meiner Mom!“ Summer sah mich kess an, ihre Augen verrieten, dass sie etwas im Schilde führte. „Keylab sag mal, was hast du morgen Abend vor? Stella sucht jemanden, der mit ihr ins Kino geht. Hast du Zeit und Lust?“ Summer hatte mal wieder, wie so oft, dafür gesorgt, dass ich mich am liebsten weggebeamt hätte vor Scham. Unangenehmer konnte es jetzt nicht mehr kommen, dachte ich jedenfalls. Keylab war sichtlich überrascht, doch bevor er darauf Antworten konnte, fiel ich ihm schon ins Wort. „Aber Summer, morgen geht es doch gar nicht! Wir haben einen Auftritt am Abend in der einen Bar. Du weißt schon!“ Summer ließ nicht locker, denn sie fand es amüsant, mich in Verlegenheit zu bringen. „Wenn du möchtest, komm doch später dazu, dann trinken wir danach was zusammen!“ Ich trat Summer unter dem Tisch heftig gegen den Fuß, so dass sie kurz vor Schmerz zusammenzuckte, es sonst aber geschickt überspielte. „Stella würde sich wirklich freuen!“, grinste Summer Keylab forsch ins Gesicht. Ich warf Summer einen langen scharfen, giftigen Blick rüber, den sie mit einem extra Musterlächeln konterte. Keylab brachte kein einziges Wort heraus. Er schien nervös, denn seine Hände wurden zittrig, was dazu führte, dass ihm auf dem Rückweg in die Backstube das Tablett aus der Hand rutschte. Laut plärrend landete das Geschirr auf dem gefliesten Boden. Summer konnte sich kaum das Lachen verkneifen, so dass er mir aufrichtig leidtat. „Du bist so ein Luder! Ich will mich nicht mit Keylab treffen!“, stellte ich unmissverständlich klar. „Dann trink ich halt ein paar Drinks mit ihm! Vielleicht nehme ich ihn dann auch mit zu mir nach Hause! Das wird dann die heißeste Nacht seines Lebens!“, scherzte Summer überheblich. Ich konnte nur noch mit dem Kopf schütteln. „Denk daran, dies ist unser Lieblingscafé! Wir sollten es uns nicht mit ihm verscherzen!“, appellierte ich aufs Dringlichste. „Du hast ja Recht, aber ein bisschen Flirten wird doch wohl erlaubt sein, Miss Moral & Anstand in persona!“ Ich reagierte nicht auf Summers Sticheleien, stattdessen nahm ich einen kleinen Schluck Espresso und verspeiste nachdenklich einen der Muffins, die Keylab uns zum Probieren an den Tisch gebracht hatte. „Weißt du noch, wie wir hier zu dritt saßen ..., du, Colin und ich, – und wie ich mir tollpatschig den Milchshake übers Kleid verteilte, kurz bevor wir zum College-Abschlussball aufbrechen wollten?“, fragte Summer in sich schmunzelnd in Erinnerungen schwelgend. Ich lachte, denn ich erinnerte mich genau an diesen absurden Abend. Aus Solidarität hatten wir uns damals alle mit Milchshake bekleckert, damit Summer sich nicht so doof vorkam, mit dem ruinierten Abendkleid. Den anderen Schülern haben wir beim Ball erzählt, dass es sich um ein politisches Statement handelt, was viele cool fanden. Einige Schüler machten es uns sogar dummerweise nach, mit alkoholfreiem Pfirsich-Punsch! Das Lächeln wich aus meinem Gesicht, als sich eine leichte Schwermütigkeit dafür ausbreitete. „Ja, er fehlt mir auch sehr! Aber er gehört nun mal nach London, dabei sollten wir es belassen.“, entgegnete ich mit ernster Stimme. Summer erinnerte mich ungewollt daran, wie sehr ich ihn in den ersten Monaten nach dem College-Abschluss vermisste. Ich dachte oft heimlich an ihn, nahm dann unsere gemeinsamen Fotos oder mein altes Tagebuch, las ein paar Seiten, um mich daran zu erinnern, wie glücklich ich damals mit Colin war, bevor er das Stipendium in London annahm. Wenn ich daran denke, wie viel Energie wir aufbrachten, um unser Geturtel vor Summer zunächst geheim zu halten, dabei hatte sie uns schon längst durchschaut, ehe wir überhaupt ein Paar wurden. Wir beide waren ein unzertrennliches Team. Er war nicht nur mein bester Freund, sondern zudem meine erste große Liebe, mein erster Liebhaber. Zusammen mit Summer und ihren vielen wechselnden Freunden, verbrachten wir jede freie Minute miteinander. Mir war bewusst, dass ich mit meiner besten Freundin riesiges Glück hatte. Jede andere wäre stocksauer gewesen, aber Summer freute sich für uns. Gegen Ende des Colleges erhielt er durch ein Stipendium die Möglichkeit, an einer renommierten Uni in London zu studieren. Colin haderte, da er mich nicht verlassen wollte, aber ich nahm ihm die Entscheidung ab, indem ich Schluss machte. Lange Zeit, trug er es mir nach, aber Summer erklärte ihm später, dass ich es aus Liebe tat, damit er seine Träume nicht für mich aufgab. Summer war die Einzige, die meine Entscheidung schon damals verstanden hatte. Am Anfang kam Colin regelmäßig in den Semester-Ferien nach Hause, so dass wir ungezwungene lustige Abende miteinander verbrachten, fast wie in alten Zeiten. Wir machten Musik zusammen, traten zu dritt auf, bis Colin an der Uni eine neue Liebe fand. Wir freuten uns für ihn, obschon es bedeutete, dass er immer seltener nach Hause nach York kam. Folglich kreuzte er nur noch kurz angebunden zu Pflichtbesuchen an Feiertagen bei seinen Eltern auf. Unserm alten Leben schien er offensichtlich komplett entwachsen zu sein. Es schmerzte, denn es fühlte sich an, als würde ich Stück für Stück meinen besten Freund verlieren. Hätte es eine Möglichkeit damals gegeben, wäre ich vermutlich mit ihm gegangen. London schien zudem finanziell unerschwinglich, so dass ich mehr als dankbar war, dass Onkel Winston die Kosten für die städtische Uni aufbringen konnte. Die Möglichkeit hier zu studieren, sah ich immer als ein Geschenk und Privileg an. Es brachte mich dem Ziel – Lehrerin für Literatur und Philosophie zu werden – näher. Warum ich mich ausgerechnet für diese Fächer entschied, wurde ich oft gefragt. Es faszinierte mich, denn die Literatur war etwas Zauberhaftes! In Romanen oder Geschichten tauchte man in andere Welten ein, was von Vorteil ist, wenn man so eine Leseratte war, wie ich. In den Büchern fand ich Zuflucht, Trost, aber wichtiger noch, die Kraft, die Zeit im Kinderheim sowie bei diversen Pflegeeltern zu überstehen. In andere Rollen zu schlüpfen, um die Welt durch fremde Augen zu sehen, faszinierte mich. In solchen Momenten verschwand ich komplett in der Buchwelt. Dann war ich nicht mehr die elternlose Stella Heywood, sondern jemand, der exotische Abenteuer durchlebte oder in einer liebevollen Familie wohnte. Außerdem fing ich mit etwa acht Jahren selber an mit der Schreiberei. Neben den Tagebüchern textete ich Songs für unsere gemeinsame Band. Seit Colin aber kein Teil mehr davon war, traten wir weiterhin im Duett auf. Nur Summer und ich hielten auf der Bühne des Lebens die Stellung, so gut wir eben konnten. Ohne Colin war es aber nicht mehr so wild oder abenteuerlich wie damals. Es wurde schon dunkel draußen, so dass ich beschloss nach Hause zu fahren. Ich übernahm die gesamte Rechnung für uns, weil Summer mal wieder knapp bei Kasse war. Ihre ganze Nachtschwärmerei ging ordentlich ins Geld, dazu kam, dass sie es kaum schaffte, an einem der vielen Schuhläden in der Stadt vorbeizugehen. In ihrem Portemonnaie sah es daher durchgängig mau aus. Ich lernte recht früh, wie man mit Geld umging, es sparte, so dass es mir nicht schwerfiel Sachen im Regal stehen zu lassen. Ohnehin gab nicht viele Dinge, wofür ich es sinnvoll verschwenden wollte, daher lud ich Summer für gewöhnlich ein, wenn wir uns trafen. Sie drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange, bevor sie sich eilig aus dem Café verabschiedete. Unterdessen kämpfte ich damit, mich in meine klamme Jacke reinzufrickeln. „Machs gut Keylab, bis bald!“, rief ich in Richtung Theke, bevor ich durch die knirschende alte Holz-Eingangstür verschwand. Keylab rief mir etwas hinterher, aber ich verstand es nicht, da das laute Knacksen seine Worte übertünchte. Es hatte zu meiner freudigen Überraschung aufgehört zu regnen. Was wie gelegen kam, denn mein Auto stand etwa dreihundert Meter entfernt die Straße hinunter. Die traurig anmutenden Gehweglaternen, waren bereits angesprungen, so dass ich schnell erkannte, dass ich mit mir alleine war. Es lag so ein modriger, erdiger Geruch in der Luft, der von den Bäumen am Straßenrand stammte. Nasses Laub hatte einen so komischen Eigengeruch, das es fast unmöglich schien, ihn zu beschreiben oder zu definieren. Kurz nach dem es aufgehört hatte zu regnen, wirkte alles noch so sauber. All der Schmutz wurde von weggewaschen und floss in die seitlich integrierten Abflüsse des Bordsteins, wo er für immer unterirdisch verschwand. Es hatte etwas Hoffnungsvolles, denn alles war wieder frisch. Auf den Autos reflektierten die letzten Regentropfen das Laternenlicht und funkelten still mit einer gewissen Eleganz vor sich hin. Es war ein doch noch zufriedenstellender Abend, resümierte ich auf der Rückfahrt nach Hause.
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Wenngleich sich der Tag für Stella dem Ende zuneigte, indem sie mit einem Buch in der Hand auf ihrem Bett einschlief, hatte die Nacht für Tom gerade erst begonnen. Seine Kunstgalerie lag am anderen Ende des Stadtzentrums, in einer schmalen abgelegenen Seitenstraße. Er aktivierte die Alarmanlage, schloss die schwere Tür der Galerie ab, um im Anschluss einen Abstecher in die Kino-Bar zu machen. Zudem hatte er sich dort mit seinen Freunden Flags, Jupita und Zoran verabredet, so dass er es recht eilig hatte, obwohl die Nacht noch jung war. Oberhalb der Glasfront flackerte die blaue Neonschrift 'Thomas Grayson – Gallery' in unruhigem Rhythmus. Tom warf einen letzten Blick auf die große doppelflüglige Holzeingangstür, bevor er das Gaspedal seines Oldtimers durchdrückte. Aus nostalgischen Gründen hing er an diesem antiken, gepflegten schwarzen stilvollen Auto. Er hatte den Wagen einem alten glatzköpfigen Mann überteuert abgekauft, auf einer Geschäftsreise, die ihn in den Norden Englands führte. Eine Handvoll Winter waren nötig, um ihn wieder vollends zu restaurieren. Die seitlichen Fensterscheiben der Rückbank, ließen sich durch integrierte schwarze Fensterrollos verdunkeln. Zusätzlich besaßen sie eine spezielle Tönungsbeschichtung. Direkt hinter den Vordersitzen ließ sich eine UV-resistente schwarze Leinwand runterziehen. Im Sommer vermochte man mit wenigen Handgriffen, das ganze hintere Abteil lückenlos zu verdunkeln. Alles Maßarbeit mit diversen Sonderanfertigungen, versteht sich. Sogar der Kofferraum war mit dickem dunklen Leder ausgepolstert, um absolute Dunkelheit zu gewährleisten. Erst im letzten Frühjahr ließ er die komplette Technik modernisieren, mit jeglichem Schnickschnack. Im Radio lief mal wieder nichts Vernünftiges, deshalb zog er es vor auf seine MP3-Playlist umzusteigen. Er hatte eine Schwäche für U2-Songs in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt, so dass es nicht verwunderlich war, dass das letzte Album, laut aus dem Lautsprecher dröhnte, während Tom die halbstündige Fahrt zur Kino-Bar absolvierte. Eigentlich war Tom nur eine Abkürzung seines zweiten Vornamens, aber er hielt ihn für angemessener. Sein richtiger und vollständiger Name war 'Grayson Thomas Duke of Felton', aber diesen Titel trug er schon lange nicht mehr. In dieser Stadt war er für die Menschen, die ihn kannten 'Tom Felton', der Eigentümer einer Kino-Bar. Seine Identität als Künstler 'Thomas Grayson' hielt er vor der Allgemeinheit bis heute geheim, obwohl sich die Gemälde wie Fotografien allseits großer Beliebtheit erfreuten. Aktuell liefen die Vorbereitungen für die neue Ausstellungseröffnung auf Hochtouren. Tom war als Künstler ein waschechter Perfektionist. Er verbrachte viele Nächte im Atelier, bis er endlich sein Werk als signaturwürdig einstufte. Die Einsamkeit schien ihm über die Jahre mehr Freund als Feind, so dass er sie ohnehin langweiliger Gesellschaft vorzog. Menschen blieb er – wenn möglich – fern, denn es vereinfachte vieles. Zudem konnte er dem kurzweiligen Vergnügen bisher nicht ernsthaft was abgewinnen. Einmal war eine Frau so hartnäckig, dass sie wochenlang in seiner Bar auftauchte. Fast wie eine Stalkerin rannte sie ihm obsessiv hinterher. Erst als Tom klare Worte zu ihr sprach, verstand sie, dass es sich für ihn lediglich um einen belanglosen One-Night-Stand handelte. Um seine Anwesenheitspflicht in der Bar kam er heute definitiv nicht herum, denn er selbst berief das Treffen mit Flags, Jupita sowie Zoran ein. Toms helle Haut wirkte bei Mondlicht seidig matt, dabei wurde sie von einer gleichmäßigen kühlen Blässe überzogen. Er stellte den Kragen der Lederjacke auf, um sein Gesicht bestmöglich einzuhüllen. Er nutzte jede Möglichkeit unnötige Aufmerksamkeit zu vermeiden. Nachts trieb sich in York so manches kuriose Gesindel in den dunklen Gassen herum. Zwielichtige Leute, denen man besser nicht in die Quere kam. Tom war einer von ihnen, genauso wie Flags, Zoran und Jupita. Über die vielen Jahre hinweg, lernten sie sich diskret anzupassen, ohne großes Aufsehen zu erregen. Die Tatsache, dass man ihn ausschließlich in der Nacht antraf, passte perfekt zum Klischee, des exzentrischen Barbesitzers, der exzessive Partys bis zum Morgengrauen feierte. Wer etwas von ihm wollte, konnte einen Termin in der Bar mit ihm ausmachen. Von der Stadt erhielt er die Lizenz bis etwa fünf Uhr morgens den Laden öffnen zu dürfen. Klar, dass ein Nachtclubbesitzer einen ganz anderen Lebensrhythmus folgte. Keiner stellte es in Frage, dass er am Tage nie aufkreuzte, denn dafür gab es genügend Personal, welches sich um tägliche Belange kümmerte. Seine Künstleridentität eisern geheim zu halten, entpuppte sich hingegen als äußerst aufwendig, gleichwohl das Image des mysteriösen, rätselhaften Künstlers, das Interesse an seinen Werken vorteilhaft verstärkte. In Kunstliebhaberkreisen waren seine Bilder oder Fotografien nach wie vor heißbegehrt. Folglich lief die Galerie vortrefflich, denn es kursierten unzählige Spekulationen über den genialen Künstler. Niemand konnte dem Namen 'Thomas Grayson' ein Gesicht zuordnen, was auch so bleiben sollte. Künstlern nahm man einen von der Norm abweichenden Lebensstil nicht übel. Im Gegenteil, man erwartete regelrecht, dass sie exzentrisch aus der Reihe tanzten. Wann immer sich die Wahl ergab, hielt er sich bewusst von Menschen fern, doch manchmal ging es nicht anders. Auf den Vernissagen hielt er sich stets dezent im Hintergrund, so dass er lediglich für einen Gast oder Personal gehalten wurde. Als Barbesitzer verwunderte es keinen, dass seine Crew sich um das Catering auf der Vernissage kümmerte. Zudem setzte er selbst das Gerücht in Umlauf, mit dem Künstler gut befreundet zu sein. Nicht verwunderlich also, dass er in dessen Abwesenheit hin und wieder nach dem Rechten in der Galerie sah. Keiner kam auf die Idee, beide könnten ein und dieselbe Person sein. In einem Raum voller Leute, konnte er sich mit charmanter Leichtigkeit regelrecht unsichtbar machen, nicht wortwörtlich, sondern im übertragenen Sinne. Jeder kalte Händedruck barg die Gefahr ihn zu verraten, so dass er Körperkontakt zu Menschen in der Regel vermied. In menschlicher Gesellschaft trug er – wann immer möglich – schwarze Lederhandschuhe, um seine kalten Hände zu verbergen. In der Bar retuschierte das gedämpfte Licht seine blasse weiße Haut. Über die letzten Jahrhunderte lernte er einiges dazu. Tom gehörte zu den wenigen seiner Rasse, die sich fast unbemerkt unter die menschliche Gesellschaft mischen konnten, ohne negativ aufzufallen, Spuren zu hinterlassen oder enttarnt zu werden. Tom trat durch die massive schwarze Eisentür seiner Bar, die er mit Leichtigkeit aufriss. Nachdenklich schritt er durch den langen schmalen Flur, der mit roter Barocktapete verkleidet war. Am Ende lag eine weitere Tür, die zum großen Innenraum der Bar führte. Er regelte kurz mit einer der Barkeeperinnen etwas Geschäftliches, bevor er sich suchend nach seinen Freunden umschaute. Die lange Theke reflektierte in ihrer spiegelnden Oberfläche das flackernde Licht der Discokugel. Laute Musik hallte durch den großen Raum, indem sich gemütliche Sitznischen sowie zahlreiche Stehtische befanden. Es duftete nach Whiskey, Rum und Champagner, aber nicht auf die unangenehme Art. Auf Sauberkeit legte Tom großen Wert. Seine Bar war schließlich keins der heruntergekommenen Dreckslöcher, sondern das nächtliche stilvolle Highlight der Stadt. Hier entfloh man bei einem Glas Champagner oder einem kostspieligen Whiskey, dem grauen stressigen Alltag. Geschäftsleute, Ärzte oder auch Makler trafen sich hier am frühen Abend zur 'After-Work-Party'. Die drei Dartscheiben in einer Seitennische der Bar wurde meist von den circa zwölf Mitgliedern des lokalen Harley-Davidson-Clubs in Beschlag genommen. Sie wirkten zwar nach außen hin etwas raubeinig und schroff, aber blieben dennoch friedlich. Tom hatte mit ihnen die Abmachung, dass sie Konflikte unter den Gästen gewaltfrei klärten. Falls erforderlich, sollten sie unliebsame Leute ohne großes Aufsehen, vor die Tür befördern. Im Gegenzug bekamen sie ein bis zwei Drinks aufs Haus, denn dafür brauchte Tom keine extra Security einzustellen. Die Jungs freuten sich über den einen oder anderen freien Drink, dabei sorgte schon ihre bloße Anwesenheit für eine gewaltfreie entspannte Atmosphäre. Nachts ging hier oft bis in die frühen Morgenstunden die Post ab, besonders wenn eine Band auf der kleinen Bühne am Ende des Raumes die Gäste in Tanzlaune versetzte. Gute Bands waren jedoch selten, dazu summierten sich Toms hohe Ansprüche. Kurzgesagt, er galt als extrem wählerisch, so dass es meist nur ein- bis zweimal im Monat vorkam, dass eine Band Gelegenheit bekam in seiner Bar aufzutreten. Neben den Bandevents diente die Bühne mehrmals am Freitag- und Samstagabend als kurzer Schauplatz für ästhetische Tanzeinlagen. Schlanke junge Tänzerinnen stellten in verschiedenen Stilrichtungen wie Burlesque, Ballett oder ästhetisch akrobatischer Pole-Dance ihr Können unter Beweis. Tom war es wichtig, dass es stilvoll, aber niemals billig wirkte. Anfassen war ebenfalls verboten, wer sich nicht daran hielt, bekam es mit der Biker-Kolonne zu tun. Selbst weibliche Gäste schauten sich gerne die jungen eleganten biegsamen Körper an, die sich so ästhetisch kunstvoll auf der Bühne bewegten. Das von Tom eigens einberufene Treffen entsprang nicht rein freundschaftlicher Natur, sondern stellte eine Teambesprechung mit Anwesenheitspflicht dar. An dieser Stelle ist es wichtig zu wissen, dass in Koexistenz zu den Menschen oder Tieren einige andere Lebewesen auf der Erde wandelten. Jupita saß heftig turtelnd auf Flags Schoß. Sie hatten sich an einen der Tische in der hinteren dunkleren Ecke niedergelassen. Bei ihrem Anblick drängte sich einem spontan der Gedanke auf, dass sie wohl die Bar mit ihrem Schlafzimmer verwechselten. Vor etwa fünf Jahren zogen sie als Paar nach York, um Jupitas toxischem familiären Umfeld zu entfliehen. Als Tom sie vor einem knappen halben Jahr um Hilfe bat, zögerten sie nicht. Es ging hier schließlich nicht um etwas Belangloses, sondern vermutlich um ihrer aller Zukunft. Auch Zoran war in der Bar eingetroffen, blieb aber unbemerkt, da niemand den knuffigen Hund am Ende der Bar unter dem Tisch liegend registrierte. Der kleine braun-schwarz gescheckte Hund, trottete gemütlich in Richtung des offenstehenden Vorratsraums. Keiner der anwesenden Gäste schöpfte Verdacht, nicht mal als ein Mann in Jeans und T-Shirt stattdessen heraustrat, der nie zuvor die Eingangstür der Bar passiert hatte an diesem Abend. Tom war keineswegs überrascht, denn das Gestaltwandeln lag in Zorans Natur. Der Gestaltwandler liebte es, sich unbemerkt unter das normale Volk zu mischen. Tom hatte seinen speziellen Eigengeruch schon wahrgenommen, als er zuvor im Eingangsflur der Bar herumstrolchte. In Tiergestalt fiel er kaum auf, so dass er andere unbemerkt ausspionieren konnte. Manchmal verwandelte er sich aber absichtlich in einen zuckersüßen jungen Hund, um sich von bildhübschen Frauen auf dem Arm herumtragen, kuscheln oder kraulen zu lassen. Zoran hatte es faustdick hinter den Ohren. Er bekam keine Gewissensbisse wegen der Fähigkeiten, im Gegensatz zu Tom, der lieber alles andere als ein Blutsauger sein wollte. Grayson Thomas Duke of Felton, der Künstler Thomas Grayson sowie der Kino-Barbesitzer Tom Felton und nicht zu vergessen der blutsüchtige Vampir, all diese Persönlichkeiten unter einen Hut zu bekommen, entpuppte sich als riskante Herausforderung. Der Gestaltwandler hatte es da deutlich einfacher, denn er gehörte zu einer der vielen Wicca-Rassen. Er besaß die Fähigkeit, sich in allerlei Tierwesen verwandeln zu können, bevorzugte aber Hund, Wolf, Kater oder Rabe, weil sie in Wald wie Stadt natürlicherweise vorkamen. Zudem gehörte die Gedankenleserei zu seinen besonderen Talenten vor allem, wenn es unbemerkt jemanden zu beobachten oder auszuspionieren galt. Kein Gedanke ließ sich vor ihm verbergen, denn was jemand sagte und was er dachte, konnte sehr verschieden sein. Manche Gedanken oder Absichten schienen so abgründig, dass niemand es wagte sie auszusprechen, doch vor Zoran blieb selten etwas verborgen. Die Macht, das Gesagte vom Gedachten zu unterscheiden, brachte enorme Vorteile mit sich. Andererseits verfluchte er diese Gabe oft, denn manche ungefilterten Gedanken wären besser unentdeckt blieben. Das Wissen darüber, wurde für Zoran oft zur Belastung, da ihm der Kodex verbot, sich ohne Beauftragung des Rates, in menschliche Angelegenheiten einzumischen. Zum Leidwesen aller Gedankenleser, entwickeln erfahrene Vampire meist einen Schutzmechanismus, der es ihnen ermöglicht, den Gedankeneinblick zu blockieren. Jungvampire erlangen diese Fähigkeit frühestens ab einem dreistelligen Alter. Obschon sich der Gestaltwandler an Tom die Zähne ausbiss, trieb ihn sein Ehrgeiz stetig an, es trotzdem immer mal wieder zu versuchen. Frauen standen auf den raubeinigen, schroffen Macho, mit muskelbepackten Oberkörper sowie kinnlangen braun-strohigen Haaren. Mit dem Knackarsch in der engen Jeans und dem Charme eines Schlitzohrs, hatte er keine Schwierigkeiten, etwas fürs Bett zu finden. Zoran besaß eine ausgeprägt direkte Art, aber wenn er es für angebracht hielt, kehrte er den zurückhaltenden, zuvorkommenden Gentleman nach außen. Sein intuitiver Beschützerinstinkt wirkte aufs weibliche Geschlecht wie ein Magnet. Es amüsierte ihn, wenn er wieder mal durch seine bloße Anwesenheit, einige Frauen aus der Fassung brachte. Es kam nicht selten vor, dass sich zwei frivole Weibsbilder um seine Gunst stritten. Manchmal landeten sie sogar zu dritt im Bett des Playboys. Für Tom war der Wolf im Schafspelz ein wertvoller Bestandteil seines Teams. Flags und Jupita vervollständigten das Team. Das umstrittene Paar gehörte verschiedenen Pandora-Rassen an, was allerlei Konflikte mit sich brachte. Ihre Verbindung wurde von den Clans scharf kritisiert. Tapfer ertrugen sie die Ablehnung, ließen sich aber vom Spott weder provozieren noch brechen. Die Oberhäupter einigten sich Jahre später darauf, die untypische Verbindung zumindest zu tolerieren. Diesen kleinen Erfolg hatten sie ihrer konsequenten Hartnäckigkeit zu verdanken. Wer Flags begegnete, konnte von seinem Erscheinungsbild recht eingeschüchtert sein. Der tiefschwarze, fast einen Meter neunzig große breitschultrige Vampir mit ultrakurzgeschorenen Haaren, wirkte auf den ersten Blick hartherzig wie unnahbar. Er passte vortrefflich in das Klischee eines Türstehers oder Bodyguards. Lernte man ihn näher kennen, entdeckte man hinter der harten Fassade, einen fürsorglichen, gutherzigen Kern. Für gewöhnlich trug er schwarze Lederhosen in Kombi mit lässigen Langarmshirts. Selbst Jupita schaffte es nicht, für mehr Abwechslung im Kleiderschrank ihres Geliebten zu sorgen. Keiner außer ihm kannte den Namen, den er einst in Ohio als Plantagen-Sklave bekommen hatte. Jeder nannte ihn Flags, was auf seiner Sammelleidenschaft für Fahnen beruhte. Vermutlich hing er an ihnen, weil sie ein Symbol für Freiheit und Patriotismus darstellten. Wie er genau zu den Namen gekommen war, blieb ungeklärt. Kaum verwunderlich, dass sich Jupita in diesen rätselhaften, gutaussehenden, zurückhaltenden Kerl verliebte. Tom sah in ihm nicht nur einen langjährigen vertrauenswürdigen Freund, sondern erstrangig eine Bereicherung des Teams. Sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit ebenso seine unverkäufliche Loyalität, machte ihn unverzichtbar. Die letzte freie Stelle im Team füllte Jupita aus. Die dreißigjährige bildhübsche Frau, mit langer hellblonder Haarmähne, zog nicht nur unbewusst die Männerblicke auf sich, sondern brachte eine Reihe von eindrucksvollen Begabungen mit. Nicht nur, dass sie Flags Herz mit ihrer feinfühligen Art im Sturm erobert hatte, sie beherrschte darüber hinaus Telekinese, Pyrokinese ebenso wie einen Teil weiße Magie. In kürzester Zeit transformierte sie das ungleiche Team in eine familiäre Gruppe, vermittelte geduldig bei Konflikten und kümmerte sich stets sensibel darum, dass es jedem einzelnen gut ging, wofür ihre ausgeprägte Empathie verantwortlich war. Endlich herrschte komplette Anwesenheit, so dass die einberufene Besprechung starten konnte. Das Team folgte Tom nacheinander in kurzen Abständen in das Hinterzimmer Büro. Zunächst holte er zwei bauchige Rotweingläser aus dem Schrank, gefolgt von einer zimmerwarmen Flasche Blut, um Flags und sich ein volles Glas davon einzuschenken. Er zelebrierte jeden Schluck, als würde es sich um einen edlen, teuren Rotwein handeln. Die anderen im Team hatten sich längst daran gewöhnt, dass Tom und Flags ihren Durst auf nicht gerade gesellschaftstaugliche Art stillten. Tom stellte das Glas vor sich auf den Schreibtisch, ließ es aber kaum aus den Augen, solange es nicht leer war. Im Gegensatz zu Zoran, der in der Ecke an der Wand lehnte, hatte es sich das Paar auf der alten verschlissenen braunen Ledercouch bequem gemacht. Leicht nervös wie ungeduldig, warteten sie auf die Begründung für das kurzfristig einberufene Treffen. Tom schaute mit ernster Miene in die Runde. „Also, was gibt es an Neuigkeiten vom obersten Vampirrat, Tom?“, fragte Zoran mit dem Fuß scharrend, aus der hinteren Ecke des kleinen Raumes. Der Gestaltwandler war für seine Direktheit bekannt, zudem gehörte Geduldigkeit nicht gerade zu seinen Tugenden. „Deswegen habe ich euch ja hergerufen! Danke, dass ihr alle so schnell gekommen seid! Dante hat uns grünes Licht gegeben! Die Forturas weigern sich allerdings weiterhin, uns die Namen, der vermutlich betroffenen Schicksalsträger, zu offenbaren. Wir sind gezwungen, selber Ohren und Augen offenzuhalten. Es gibt andere Informationskanäle, die wir nutzen können.“, teilte Tom seinem Team entschlossen, dennoch säuerlich mit. „Warum machen die denn so ein Geheimnis daraus? Wie können wir effektiv eingreifen, wenn wir nicht mal wissen, wen wir eigentlich beschützen müssen?“, warf Jupita aufgebracht ein. „Ich finde, Jupita hat recht! Die Forturas fordern unsere Hilfe, verweigern uns aber jegliche Unterstützung. Sie rücken nicht mal mit den Namen der Zielpersonen raus, die wir für sie im Auge behalten sollen. Was ist das für ein Quatsch?“, verstärkte Flags den Einwand seiner Freundin. Eine kurze lautstarke Diskussion entbrannte, aber Tom erstickte sie im Keim. „Dante hat mir im Vertrauen erzählt, dass einige Faders abtrünnig geworden sind und eine eigene Untergrundorganisation gegründeten. Ihr Ziel ist es, die Balance zu brechen, um so für Chaos zu sorgen, damit alles auseinanderbricht. Wir bekommen keine Namen von Schicksalsträgern genannt, weil die Forturas Angst haben, dass diese Informationen in falsche Hände geraten könnten. Abtrünnige Faders wären sodann in der Lage bisher unbekannte Schicksalsträger zu identifizieren. Sie befürchten, dass die unwissenden Personen angegriffen, manipuliert oder getötet werden könnten. Gelänge so eine Namensliste in die falschen Hände, hätten sie leichtes Spiel, um ihr Ziel zu erreichen! Aus diesem Grund bekommen wir keine Namen!“, erklärte Tom schnellzüngig, bevor er sich einen großen Schluck aus dem Kelch gönnte. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich Ratlosigkeit wieder. „Aber was sollen wir denn jetzt tun? Das ist ja, wie eine Hexenjagd auf Verdacht!“ Jupita stand von der bequemen Couch auf, dabei schaute sie Flags entsetzt kopfschüttelnd an. Erst jetzt wurde dem Vampir die unpassende Wortwahl bewusst. „Dann bleibt uns nur eine Möglichkeit! Wir müssen jeden Fader in unserer Nähe, der sich auffällig verhält, beschatten. Wenn dieser sich länger gezielt für einen Menschen interessiert, dann ist dies vielleicht schon der entscheidende Hinweis!“, schlug Zoran vor, nachdem er nachdenklich auf und ab gegangen war. Gestaltwandler brauchten außergewöhnlich viel Bewegung, wenn sie in menschlicher Natur unterwegs waren. Es machte die anderen schon lange nicht mehr nervös, denn sie hatten gelernt, die Hibbeligkeit zu ignorieren. „Das wäre zumindest eine Möglichkeit!“, stimmte Tom zu, lehnte sich tief in seinen Ledersessel und grübelte intensiv. Jupita setzte sich provokativ auf Toms Schreibtischecke, bevor sie das Wort ergriff. „Wenn wir eine Person im Focus haben, brauchen wir die Bestätigung der Fortura, um sicherzugehen, dass wir nicht unsere kostbare Zeit mit jemanden verschwenden, der gar kein Schicksalsträger ist! Kannst du Dante dazu bewegen, diese Bedingung vorab durchzusetzen? Falls die Abtrünnigen von unserer Unwissenheit erfahren, könnten sie uns gezielt in die Irre führen, das sollte uns bewusst sein!“ Zoran und Flags stimmten der Lady kopfnickend zu. Wenn sie schon ihre Freizeit damit verbrachten, die friedliche Koexistenz der Rassen zu sichern, dann sollte es wenigstens keine verschwendete Zeit sein. „Ich werde so schnell wie möglich Dante persönlich diese Bitte unterbreiten.“, versprach Tom, bevor er dann zum gemütlichen Teil des Abends überleitete. „Dann wäre soweit alles gesagt! Wir warten erstmal die Antwort der Forturas ab, bevor wir unsere Strategie detailliert ausarbeiten! Wer möchte noch einen Drink vorne an der Bar? Geht auch aufs Haus!“ Das ließen sich Zoran sowie die durstige Hexe nicht zweimal sagen. Sie freuten sich schon auf den feuchtfröhlichen Ausklang der Nacht im menschlichen Getümmel. Tom teilte den übrigen Inhalt der schwarzglasigen Flasche bis auf den letzten Tropfen, hälftig auf Flags sowie sein eigenes Glas auf. Während sie das edle Tierblut genossen, nutzte Tom die Gelegenheit einige private Dinge mit seinem Freund zu bereden. Erst zu späterer Stunde gesellten sie sich schließlich zu den anderen an die Bartheke hinzu. Zoran und Tom plauderten eine ganze Weile über die bevorstehende Vernissage sowie über das florierende Baugewerbe, welches der Gestaltwandler betrieb. Die Hexe hatte unterdessen ihren Gefährten zu einem Billard-Duell herausgefordert, wobei Flags gehörig aufpassen musste, damit sich Jupita nicht mit Telekinese-Tricks einen unfairen Vorteil erschummelte. Der dunkle Vampir verdiente seinen Lebensunterhalt mit einer gut laufenden Whiskey-Brennerei, die er auf der Plantage in Ohio aufgebaut hatte, auf der er einst selbst das Licht der Welt erblickte. Damals hauste seine Familie in einer der armseligen, stallähnlichen Sklavenbaracken, die in großer Anzahl auf dem Gelände existierten. Als das Land dann vor knapp hundertzwanzig Jahren zum Verkauf stand, schlug er schnell zu. Es war seine menschliche Heimat, obwohl er viele schmerzliche wie grausame Erinnerungen mit diesem Ort verband. Die Möglichkeit auf diesem Land etwas Neues erschaffen zu können, stellte eine Art Vergangenheitsbewältigung für ihn dar. Auf dem riesigen Areal lagen seine Mutter, sein Vater sowie einige der Geschwister verstreut verscharrt. Es gab keine ordentlichen Begräbnisse, keine ehrenwerten Abschiedsworte, nicht mal Grabsteine zeugten von ihrer Existenz. Sie hatten nie eine Chance auf ein freies Leben, so wie Flags es für sich nun beanspruchte. Seine Familie wäre stolz auf ihn gewesen, wenn sie wüssten, was er alles inzwischen erreicht hatte. Dem einstigen unterwürfigen Sklavenjungen von damals, den man hin und her schubsen konnte, war er schon lange entwachsen. Eines Nachts durchstreifte ein Vampirmacher hungrig die Sklavenbaracken, nach einem würdigen Objekt. Zu dieser Zeit hing Flags nackt angekettet draußen auf dem Hof, eingehüllt von der eisigen Kälte des angebrochenen Winters. Er war damals verheiratet, hatte sogar zwei eigene Kinder, doch das Leben war hart und fremdbestimmt. Die Zwillinge Sefa und Lora waren intelligente, hübsche, heranwachsende Schönheiten, die jeden Tag aufs Neue sein Herz erhellten. Eines Tages beschloss der Plantagenbesitzer, die Zwillinge aufgrund eines lukrativen Angebots zu verkaufen. Flags versuchte die beiden Mädchen im Wald zu verstecken, doch Jagdhunde spürten sie ohne große Schwierigkeiten nach kurzer Zeit auf. Sie hatten keine Chance zu entkommen, so dass sie noch am selben Abend vor den Augen aller Sklaven vom Hof gebracht wurden, ohne dass sich die Familie voneinander verabschieden konnte. Flags landete zur Strafe eine Woche am Kettenmast, was einem Todesurteil gleichkam, besonders da der Winter anbrach. Vermutlich wäre er in dieser Nacht erfroren, wenn seine unbändige Wut, nicht das Interesse des Vampirs geweckt hätte. Doch für die Befreiung aus der Sklaverei bezahlte er einen hohen Preis, denn er musste die Frau, die er liebte, die alles verloren hatte, in den Händen des Eigentümers alleine zurücklassen. Das Schicksal seiner beiden Töchter blieb ungeklärt. Später erfuhr er, dass seine jüngeren Brüder für ein Sexualverbrechen ertränkt wurden, welches der Großgrundbesitzer selbst beging. Flags Macher hatte jedoch jegliches Eingreifen verboten, da es ungewollte Aufmerksamkeit erregt hätte. Tatenlos musste er zusehen, wie seine Eltern, ihrer letzten beiden Söhne beraubt wurden. Jupita kannte Flags Vorgeschichte. Er haderte nicht mehr mit der Vergangenheit, denn sie formte ihn zu dem Vampir, der er heute war. Tom, den er vor knapp einem Jahrhundert kennenlernte, half ihm mit vielen Gesprächen, Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. Vermutlich entwickelte sich aus dem Umstand, dass ihm einst selbst großes Unrecht widerfuhr sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit. Seit der Wiedergeburt als Vampir fühlte er sich auf gewisse Weise frei von gesellschaftlichen, wie menschlichen oder rassenspezifischen Zwängen. Er kämpfte an vielen Schauplätzen der Geschichte gegen Diskriminierung, setzte sich für die Gleichbehandlung ein, als wollte er eine Schuld begleichen, die er sich selbst auferlegte. Nach Martin Luther Kings Tod trieb es Flags so weit wie möglich weg von Amerika, so dass er seine Koffer packte um nach England umzusiedeln. Nur noch selten, wenn es die Firma erforderte, flog er für kurze Zeit rüber, aber er blieb nie länger, wie nötig. Die beiden Vampire nutzen gerne die Gelegenheit, sich nächtelang über geschichtliche Erinnerungen auszutauschen. Als der Morgen nahte, kündigte sich der Tagesanbruch mit den ersten Anzeichen körperlicher Schwäche bei den beiden Vampiren an. Eilig verabschiedeten sie sich von Zoran, der mit einer jungen langbeinigen Brünetten beschäftigt war. Tom klopfte ihm beherzt auf die Schulter, steckte ihm den Schlüssel der Bar mit der Bitte zu, dass er den Laden abschließen solle. Jupita brachte schnell Flags in ihr kleines gemeinsames Haus am Stadtrand. Ebenso eilig fuhr Tom mit dem schwarzen Oldtimer zu seinem Loft, wo er sich in einem der Keller-Schlafräume zurückzog. Zum Glück schaffte er es rechtzeitig, bevor die Sonne aufging. Wie allgemein bekannt, sind Vampire äußerst empfindlich Sonnenlicht gegenüber. Diese Intoleranz entsprang nicht irgendeinem Aberglauben oder teuflischem Mythos, sondern beruhte auf einer Unverträglichkeit. Derweil Tom den Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einem tiefen meditativen, schlafähnlichen Zustand verbrachte, dreht sich die Welt still und leise weiter.
Als Tom abendlich erwachte, war die Sonne am Horizont augenblicklich verschwunden. Er packte hastig ein paar Sachen zusammen, um sich anschließend von einem Fahrer nach Leeds bringen zu lassen. Dante hatte das dringliche Treffen, glücklicherweise kurzfristig ermöglicht. Seit er vor einigen Jahrzehnten in den Rat der Vampire berufen wurde, war sein Terminkalender stets mit nächtlichen Terminen auf Wochen im Voraus ausgebucht. Für Tom, seinem Schützling nahm er sich – wenn möglich – Zeit. Mit ihm verband er eine tiefe respektvolle Freundschaft, obwohl er einst dafür sorgte, dass Grayson Thomas Duke of Felton vor über zweihundertfünfzig Jahren das Zeitliche segnete. In Dante fand er einen Mentor, Ratgeber und engen Vertrauten. Alles was ein Vampir beachten oder wissen sollte, brachte er ihm bei. Von ihm lernte er, wie man die eigenen Gelüste kontrollierte, um ein menschenfreundliches Dasein zu fristen. Als Jungvampir verweilte Tom fast ein ganzes Jahrhundert auf Dantes herrschaftlichem Anwesen, inmitten der großzügigen Wälder von Gloucestershire. Als Clan-Oberhaupt des Nestes, behandelte er seine menschlichen Bediensteten mit dem gleichen Respekt wie die Nestvampire. Das Personal schätzte die Vorteile, die diese Symbiose mit sich brachte. Manche Stellen wurden innerhalb der Familien über Generationen hinwegvererbt. Noch heute wurden dort Nachfahren von damaligen Hausangestellten beschäftigt. Es gab eine feste unumstößliche Regel, die für jeden Vampir galt, der sich auf dem Areal bewegte. Menschlichen Angestellten durfte kein Haar gekrümmt werden. Sie durften weder missbraucht noch für niedere Zwecke manipuliert werden. Wer sich nicht im Griff hatte, musste mit Verstoß aus dem Nest oder bei schweren Vergehen, sogar mit dem Sonnentod rechnen. Dante brauchte seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nie auf die Jagd nach Menschenblut gehen, denn es gab spezielle Angestellte, die ihr eigenes Blut gegen gute Bezahlung zur Verfügung stellten. Zusätzlich kümmerte er sich um ihre Familien, unterstütze sie finanziell ebenso wie mit Lebensmitteln, so dass sie ein komfortables gutes Leben, ohne Hungersnöte, führen konnten. Da Vampirblut in geringen Mengen wie ein universelles Heilmittel wirkte, konnte es Angestellte sowie deren Familie von Krankheiten befreien. Vor zweihundert Jahren lag die Sterblichkeitsrate enorm hoch. Eine gewöhnliche Dienstmagd konnte sich von ihrem mickrigen Einkommen weder einen Arzt noch Medizin leisten. Es verstand sich daher von selbst, welches Privileg man genoss, wenn man in der Gunst der Vampire stand. Im Gegenzug verpflichteten sie sich zur absoluten Geheimhaltung. Außerhalb des Tabukreises gab es viele Wege, um sich als Vampir unauffällig Nahrung zu beschaffen. Im Mittelalter mischten sich einige Vampire als Heiler oder Medikus unter die menschliche Gesellschaft. Sie profitierten von dem kirchlich angepriesenem, Aderlass, der immer dann angesetzt wurde, wenn man sich nicht mehr zu helfen wusste. Im Gegenzug half man den reichen Kranken mit etwas verdünntem Vampirblut anstelle von Medizin, so dass ein vampirischer Medikus schnell in der Gesellschaft aufgrund seines Heilungserfolgs aufstieg. Es gab sogar Vampire, die es auf diese Weise bis in die Königshäuser schafften. Dutzende vermeintliche Wunderheiler konnten sich so unbemerkt unter die luxuriöse Oberschicht mischen. Je mehr politischen Einfluss sie gewannen, umso größer wurde die Anzahl an neidvollen Widersachern. Bald entbrannte eine Hetzjagd, die dazu führte, dass sich die Vampire zunehmend aus der menschlichen Gesellschaft zurückzogen.
Es war eine Stunde vor Mitternacht, als Tom die lange Treppe des herrschaftlichen Ratsanwesens hinauflief. Dante erwartete ihn vorfreudig, so dass er zur Begrüßung einen Kristallkelch, gefüllt mit exquisitem Blut aus jungfräulicher französischer Ader, bereitstellen ließ. Der Vampir maß etwa einen Meter fünfundachtzig, besaß sehr dickes, langes blondes Haar sowie smaragdgrüne Augen, von denen eine charismatische Ausstrahlung ausging. Dem äußeren Anschein nach, würde man ihn auf Mitte vierzig schätzen, was angesichts seines hohen Vampiralters recht schmeichelhaft wirkte. Der Sohn eines geschichtsträchtigen römischen Feldherrn, erblickte vor circa achthundertfünfzig Jahren das Sonnenlicht. Später trat er in die Fußstapfen des Vaters und sicherte sich einen namentlichen Platz in den Geschichtsbüchern. Tom begrüßte seinen Macher respektvoll mit einem kräftigen Händedruck, bevor er ihm in eins der Besuchszimmer folgte. Wie die meisten Zimmer, war auch dieses stilvoll barock eingerichtet. Der fast überall vorkommende rote Teppich, wirkte für Toms Geschmack etwas klischeehaft, passte aber ins Gesamtbild der opulenten Einrichtung. Je glamouröser, umso besser, dachten sich die meisten Ratsmitglieder des alten Schlages. Seit gefühlten hundertfünfzig Jahren hatte sich am Inventar nicht merklich was verändert. Der Rat beschäftigte eine ganze Garde voll Restauratoren, Tischlern, Malern sowie Stuckateuren, wie Landschaftsgärtnern, die alles vortrefflich in Schuss hielten. Die meisten Ölgemälde, die eindrucksvoll in den Festsälen hingen, entstammten den berühmtesten Pinseln vergangener Jahrhunderte. Ein wahres künstlerisches Paradies von unschätzbarem Wert existierte hier, ohne Kenntnis der Öffentlichkeit. Wer bisher glaubte, der Vatikan beherbergte die meisten Kunstschätze, würde eines Besseren belehrt werden, insofern er einen Blick in die unterirdischen Lagerhallen des Ratsanwesens werfen dürfte. Kunstschätze, wie historische Gegenstände von der Antike bis ins heutige Jahrhundert, lagerten hier im Verborgenen. Jeder Kunsthistoriker käme aus dem Staunen nicht mehr heraus, angesichts der prunkvollen Hallen. Tom ließ sich in einen der gemütlichen schwarzen Ledersessel nieder, bevor er durstig von der Fahrt, eilig das Glas Blut in einem Zug austrank. Frisches Blut, vor allem Menschliches, schärfte die vampirischen Sinne, wie kein anderes es vermochte. Normalerweise bevorzugte Tom Tierblut, aber in diesem Fall, gebot es die Höflichkeit das Geschenk dankbar anzunehmen. Zu Hause ernährte sich Tom ausschließlich von Tierblut. Die großzügige Bezahlung hatte den Nebeneffekt, dass der Metzger seines Vertrauens keine weiteren Fragen stellte, sondern verlässlich diskret nach Bedarf lieferte. „Was kann ich für dich tun, Grayson?“, fragte Dante ihn ungeduldig. Für Tom war es befremdlich, seinen menschlichen Namen laut ausgesprochen zu hören. Niemand außer Dante sprach ihn damit noch an. Für seinen Mentor ist er jedoch stets 'Grayson' geblieben, denn unter diesem Namen lernte er den damals ausgehungerten Soldaten kennen. „Mein Team hat eine wichtige Bitte an dich. Wir hoffen, dass du uns unterstützen kannst!“, eröffnete Tom unterwürfig. „Was kann ich denn für euch tun?“, entgegnete dieser neugierig, während er gleichzeitig etwas Blut in Toms Kelch nachgoss. Tom bedankte sich wortlos nickend in Verbindung mit einem angedeuteten Lächeln. „Wir verstehen ja, dass die Fortura keine Schicksalsträger namentlich preisgeben wollen,