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Silla Nordvig rennt um ihr Leben. Die Königin von Íseldur hat Krieger ausgesandt, um Silla nach Sunnavík zu bringen, wo sie der Tod erwartet. Doch die letzten Worte ihres Vaters schicken Silla auf eine gefährliche Reise: Sie soll die tückische Knochenstraße bereisen. Ein Weg, der von Kriegerbanden, Kreaturen der Finsternis und einem geheimnisvollen Mörder heimgesucht wird und an dessen Ende ein sicheres Versteck auf sie wartet. Doch nachdem sie den ersten Teil der Strecke nur knapp überlebt hat, schleicht sich die verzweifelte Silla in einen Versorgungswagen der berüchtigten Bloodaxe Crew. Um nach Kopa zu gelangen, muss sie den finsteren Anführer der Bande, Axe Eyes, für sich gewinnen – und seinem umwerfend gut aussehenden Handlanger aus dem Weg gehen. Währenddessen macht der skrupellose Mörder der Königin Jagd auf Silla. Wird sie heil in Kopa ankommen? Oder wird sie den Gefahren der Knochenstraße zum Opfer fallen?
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Demi Winters
The Road of Bones
The Ashen Series
(Band 1)
Übersetzt von Sandy Brandt
The Road of Bones (The Ashen Series) – Band 1
ROAD OF BONES
Copyright © 2023 by Demi Winters
First published by the Author
Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency
All Rights Reserved
Arranged by Agence Hoffman
Translation Copyright © 2024 by VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Sandy Brandt
Korrektorat: Aileen Dawe-Hennigs und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: Stefanie Saw
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für diejenigen, die einen Fuß vor den anderen setzen mussten, selbst wenn es wirklich schwer war.
Die Straße der Knochen spielt in einer düsteren Fantasiewelt und ist für reifere Leser (18+) gedacht. Einige Szenen könnten bei manchen Lesern Unbehagen auslösen.
Anmerkung der Autorin: Viele der Wörter und Namen in diesem Buch stammen aus dem Altnordischen und/oder Isländischen; die Zeichen ð und þ wurden zur besseren Lesbarkeit in »th« und æ in »ae« umgewandelt.
Bjáni – byan-ee
Dúlla – doo-la
Eystri – ay-stri
Flíta – flee-ta
Hevrít – hev-reet
Hjarta – h-yar-ta
Hver – kveh-r
Hvíta – kvee-ta
Íseldur – ees-eld-oor
Klaernar – klite-nar
Kunta – koo-nta
Lébrynja – lyeh-bryn-ya
Myrkur – mihr-koor
Nordur – nor-door
Reykfjord – rake-fyoord
Róa – r-oh-a
Signe – sig-nuh
Skjöld – shk-ul-d
Skógungar – shk-oon-gar
Slátrari – sl-ow-trar-ee
Stjarna – stya-tna
Sudur – soo-door
Urka – oor-ka
Vestir – vest-eer
Berskium – Pulver, das in der Nähe von Reykfjord abgebaut wird; wird von den Klaernar eingenommen, um ihre große Statur und Stärke zu erhalten.
Bjáni – Narr; eine Beleidigung.
Brennsa – Feuerwhiskey
Dúlla – ›Puppe‹ – Kosename für Frauen
Eisa Volsik – die ehemalige Prinzessin von Íseldur, wurde von König Ivar ermordet und ihre Leiche in den Gruben der Burg Askaborg auf einen Pfeiler aufgespießt.
Eystri – das östlichste Gebiet von Íseldur.
Flíta – phoenixähnliche Schmetterlinge, deren Flügel beim Fliegen leuchten. Im Alter gehen sie in Flammen auf und aus der Asche entsteht eine Raupe.
Galdra – magiebegabte Person, auch Asche genannt; von König Ivar geächtet.
Galdur – Essenz der Magie
Hábrók – Gott des Kampfes, der Ehre, des Glücks und des Wetters; einer der alten Götter von Íseldur.
Hevrít – ein Íseldurianischer Dolch mit langer Klinge.
Hindrium – spezielles Metall, das die magischen Fähigkeiten der Galdra hemmt.
Hóra – Hure
Illmarr – geschuppter Vampir des Meeres; kann mit Aalblut angelockt und mit Vogelbeerpfeilen getötet werden.
Íseldur – Königreich von Eis und Feuer; der Inselstaat, in dem dieses Buch spielt.
Ivar Eisenherz – der neue König von Íseldur, der vor siebzehn Jahren die Krone von König Kjartan Volsik an sich gerissen hat.
Kjartan Volsik – ehemaliger König von Íseldur; von König Ivar mit der Blutadlermethode in den Gruben der Burg Askaborg ermordet.
Klaernar – König Ivars spezialisierte Soldaten. Auch bekannt als die Klaernar des Königs.
Kopa – große Steinstadt im nördlichen Teil des Gebiets von Eystri.
Kressen – Taler
Kunta – Fotze; eine Beleidigung
Lébrynja – spezielle, leichte Rüstung aus winzigen lederähnlichen Schuppen. Wird von der Blutaxt Bande getragen.
Letting – tödliche Veranstaltung, bei dem die Galdra laut den Klaernar Buße tun
Malla – Göttin der Liebe, des Krieges und des Todes; Name eines der Monde; eine der alten Götter von Íseldur.
Marra – Göttin des Wissens, der Heilung und des Friedens; Name eines der Monde; einer der alten Götter von Íseldur.
Myrkur – Gott des Chaos und der Dunkelheit; einer der alten Götter von Íseldur.
Nordur – das nördlichste Gebiet von Íseldur .
Norvaland – Insel nordöstlich von Íseldur; wurde von Ivars Vater Harald gestürzt, der nun auf dem Thron sitzt.
Róa – ein in Íseldur serviertes Heißgetränk, das aus der Rinde des Róabusches hergestellt wird.
Saga Volsik – ehemalige Prinzessin von Íseldur; wurde von König Ivar entführt und als sein Mündel aufgezogen; ist mit seinem Sohn Prinz Bjorn verlobt.
Skarpling – eine kleine, mausgroße Kreatur mit Stacheln auf dem Rücken.
Skjöld – ein getrocknetes Blatt, das zur Behandlung von Kopfschmerzen eingenommen wird.
Skógungar – ein Waldläufer; ein friedliches, baumartiges Wesen, das in den Westlichen Wäldern lebt.
Slátrari – ›der Schlächter‹; ein Mörder, der Menschen von innen heraus verbrennt.
Svalla Volsik – ehemalige Königin von Íseldur; sie wurde von König Ivar ermordet und ihr Leichnam auf einer Säule in den Gruben der Burg Askaborg aufgespießt.
Stjarna – »Mutter der Sterne«; Sunnvalds Frau; Göttin der Weberei, der Fruchtbarkeit, der Führung; eine der alten Götter von Íseldur.
Sudur – das südlichste Gebiet von Íseldur; beherbergt die Hauptstadt.
Sunnavík – Hauptstadt von Íseldur, wo sich die Burg Askaborg befindet.
Sunnvald – der Sonnengott-König der alten Götter von Íseldur; Gott des Feuers und der Macht.
Thrall – versklavte Person; im Königreich Íseldur werden sie meist aus Norvaland hergebracht und am inneren Handgelenk markiert.
Urka – ein großes Volk östlich von Íseldur; hier entstand die Linie der irkanischen Könige, zu denen auch Ivar Eisenherz gehörte.
Ursir – der Bärengott, der von König Ivar und anderen Urkanern verehrt wurde; der Glaube wurde den Íseldurern aufgezwungen.
Vampirhirsche – fleischfressende Hirsche, die Säugetiere jagen und ihnen das Blut aussaugen.
Vestir – das westlichste Gebiet von Íseldur; beherbergt die Westlichen Wälder.
Wolfsspinne – große Spinne mit zotteligem, grauem Fell
Zagádkia – geheimnisvoller Inselstaat südlich von Íseldur
PART 1
FLAMMEN
»Fürchte nicht den Tod, denn der Zeitpunkt deines Untergangs steht bereits fest und
niemand kann ihm
entkommen.«
– Völsunga Sage
Kapitel 1
Skarstad
Silla Nordvig glaubte an die kleinen Zeichen, die die alten Götter den Sterblichen hinterließen – den roten Himmel, der Überraschungen ankündigte, die Flíta, die den Wandel einleitete, und vor allem den schwarzen Falken, der den Tod ankündigte. Außerdem wusste sie, dass das Unglück immer dreifach kommt, sodass es nicht verwunderlich war, als diese elenden Glocken zu läuten begannen. Trotzdem zuckte sie erschrocken zusammen.
Silla wusch sich den Brotteig von den Händen und trocknete sie an dem groben Stoff ihrer selbstgesponnenen Röcke. Asche, dachte sie. Diese Woche hatte ihr wirklich zugesetzt. Alles begann, als Olaf der Rote eine Woche früher als geplant die Mietzahlung verlangte und damit das knappe Budget bis zum Äußersten strapazierte. Als Nächstes hatte Silla sich den Daumen verbrannt, als sie Gerstenkuchen aus der Glut holte und die ganze Ladung ins Feuer fallen ließ. Das Getreide wurde immer teurer – nach drei langen Wintern in Folge waren die Pflanzen verkümmert und die Ernte würde düster ausfallen. Silla hatte sich für ihren Fehler eine strenge Standpauke verdient.
Und nun der dritte Unglücksfall in dieser Woche – diese verdammten Glocken.
Silla glättete die Blumenstickerei entlang des Gürtels ihrer blauen Schürze, die alle Hausangestellten von Jarl Gunnell trugen, und machte sich auf den Weg nach draußen. Das Klirren von Eisenschlüsseln signalisierte die Ankunft von Bera, der Frau des Jarl Gunnell und Leiterin des Haushalts. Silla fand schnell ihren Platz in der Schlange und sie verschränkte fest ihre Finger, während Bera sie zählte. »Zwölf. Macht euch auf den Weg, ihr alle«, wies Bera sie mit sanfter Stimme an. »Hoffen wir, dass es schnell geht. Für alle Beteiligten.«
Eine leichte Brise streichelte Sillas Gesicht und zerrte ein paar kastanienbraune Strähnen aus ihrem eng geflochtenen Zopf, als sie den Weg entlang schritt. Für einen grauen Tag war es angenehm warm, die Sonne wurde von Wolken verdeckt. Eine Wespe surrte um ihr Gesicht und Silla schlug sie weg. Vögel zwitscherten in den Gärten des Gehöfts. Für einen Moment war es fast friedlich. Bis zum nächsten Glockenschlag, der so laut und lang war, dass Silla die Zähne zusammenbiss.
Sie passte ihre Schritte den anderen an und behielt die blauen Röcke des Mädchens vor ihr im Auge. Sie gingen in einer Reihe und bahnten sich ihren Weg über die zerfurchte Gasse. Silla brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass Jarl Gunnell und seine Männer – Krieger, Stallburschen und Feldarbeiter gleichermaßen – hinter ihnen hergehen würden. Der Jarl war einer der wenigen Adligen, die keine Sklaven aus dem Norva-Land benutzten, aber wenn er welche hätte, würden sie sich ihnen ebenfalls anschließen. Die Glocken waren der große Gleichmacher und verlangten die Anwesenheit jedes Íseldurianers, der älter als zehn Winter war, unabhängig von seinem Stand und Geschlecht.
Silla blickte in Richtung der Ställe, konnte aber ihren Vater nicht sehen. Er würde dort irgendwo sein, zwischen den Feldarbeitern in seiner schmutzigen, grauen Tunika. Er würde sich den Schmutz aus dem Gesicht wischen und sich Sorgen um sie machen, weil sie zu lange in Skarstad geblieben waren. Es würde Zeit für einen Neuanfang sein. Erneut.
Sie gingen den unbefestigten Weg entlang und durch ein Tor in der Umfassungsmauer des Dorfes, vorbei an Holzhäusern mit Strohdächern. Vor den Häusern waren ordentliche Holzstapel aufgeschichtet, in den Krautgärten wucherten Küchenkräuter und Gemüse. Skarstad selbst war klein und unscheinbar, austauschbar mit den meisten Städten in den Sudurländern. Silla sollte es wissen; sie hatte schon in so vielen Städten gelebt. Übersichtlich angelegt und von hohen Mauern umgeben, kreuzten sich zwei Hauptstraßen in einem zentralen, von Bäumen gesäumten Innenhof. Die Methalle war gepflegt, die Treppenstufen gut gefegt, der Platz mit Blut befleckt.
Die Glocken wurden lauter, als sie sich dem Platz näherten, und jedes Klingen war bedrohlicher als das letzte. Die Klänge vibrierten in Sillas Knochen und zogen ihr Inneres mit jedem weiteren Schritt enger zusammen. Männer und Frauen, Händler und Bauern schlossen sich ihnen an, bis sich die Straße zu einem Gedränge zusammenzog. Schließlich bogen sie um die Ecke in den zentralen Innenhof. Silla schlurfte auf den hoch aufragenden Klaernar-Krieger zu, der an einem Wagen mit zerklüfteten schwarzen Steinen stand; er reichte jedem, der den Hof betrat, einen davon. Silla wartete mit gesenktem Blick, denn sie wusste, was sie sehen würde, wenn sie ihren Kopf hob. Gedämpfte Stimmen schwebten über den Platz, flehend. Bettelnd.
Vergeblich, dachte sie mit Abscheu.
Die bedrückende Präsenz des Klaernar-Kriegers, der vor ihr auftauchte, verdichtete die Luft. Die Klaernar, die gelegentlich auch die Königskrallen genannt wurden, waren allesamt körperlich imposant, und Silla richtete ihren Blick weiterhin auf die Stiefel des Kriegers. Sie waren abgenutzt und schmutzig, ein Anblick, den sie seltsam beruhigend fand – ein Beweis dafür, dass er tatsächlich ein Mensch war. Wenn sie den Kopf hob, wusste Silla, dass sie ein schwarzes Kettenhemd an ihm sehen würde, das von schreienden Bärenschulterplatten aus glänzendem Silber unterbrochen wurde. Sie wusste, dass sie drei Krallenspuren erkennen würde, die auf die rechte Wange des Mannes tätowiert waren.
Sie hatte Gerüchte gehört, dass die zweiten Söhne von Íseldur nicht nur körperlich, sondern auch geistig verändert waren, sobald sie Teil der Klauen wurden. Irgendetwas geschah, wenn sie das Ritual durchliefen und sich König Ivar und seinem Bärengott Ursir verschrieben. Ganz gleich, wie klein sie vor dem Ritual waren, sie kehrten verwandelt zurück. Groß und gebaut wie Berge, ihre neu eingefärbten Gesichter mit einem immerwährenden finsteren Blick versehen. Es hieß, sie trügen Ursirs Segen in ihren Adern, was Sillas Unbehagen nur noch verstärkte.
Als die Königskralle ihr einen rohen Obsidianbrocken in die Hand legte, sank Sillas Hand unter dessen Gewicht nach unten. Sie starrte auf die glatte, glänzende Oberfläche. Wie konnte etwas so schön und doch gleichzeitig so hässlich sein?
Das Glockengeläut schreckte sie aus ihren Gedanken, so laut erklang es auf dem Platz, beinahe ohrenbetäubend. Silla stürzte nach vorn, ihre Augen suchten nach den blauen Tönen von Jarl Gunnels Gefolge. Irgendwann hatte sie es aus den Augen verloren. Silla hob den Blick, nur für einen Herzschlag, um sich zu orientieren.
Das war ein Fehler; sie hatte es gewusst, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Drei Gruppen von V-förmigen Säulen erstreckten sich von dem kreisförmigen Podium in der Mitte des Platzes, in dessen Zentrum ein Runenaltarstein stand. Jeder Verurteilte war an einer der Holzsäulen gefesselt, die Arme weit ausgestreckt, die Knöchel am Fuß der Säule zusammengebunden. Eiserne Zäume verdeckten ihre Gesichter und dämpften ihre Stimmen. Schade, dass die Vorrichtungen ihre Augen nicht schützten, denn diese unglücklichen Seelen konnten alles sehen – die Menge, die Felsen, den bevorstehenden Tod. Die Vorfreude war ebenso Teil der Strafe, vermutete Silla.
Sie stand auf wackeligen Beinen, ihre Aufmerksamkeit blieb an der Frau in der Mitte hängen. Ihre Augen waren wild vor Angst, das Weiß blitzte darin auf. Das Herz schlug Silla bis zum Hals, als sie erkannte, dass es sich gar nicht um eine Frau, sondern um ein junges Mädchen handelte. Das Gesicht des Mädchens verschwamm, ihre braunen Augen lösten sich auf und verwandelten sich in das leuchtende Grün, das ihrer Mutter gehörte, und Silla dazu drängte, wegzusehen.
Nein.
Mit einem zittrigen Ausatmen zwang Silla ihren Blick auf den Boden. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Erinnerungen aufkommen zu lassen.
»Der Nächste!«, dröhnte der Klaernar und riss sie aus ihren Gedanken.
Silla suchte die Menge ab, entdeckte schließlich die Blauen und Braunen zu ihrer Rechten und machte sich schnell auf den Weg zu der Gruppe.
Das kleine, blonde Mädchen war bei ihnen, winzig und fehl am Platz inmitten von Jarl Gunnells Gefolge. Ihr ungepflegtes blondes Haar klebte ihr im Nacken, ihr Gesicht war mit Schmutz verschmiert. Gespenstisch blaue Augen, die sich an den äußeren Winkeln nach oben neigten, starrten Silla an, während das Mädchen am Saum ihres zerrissenen und zerknitterten Nachthemdes fummelte. »Du solltest besser aufpassen«, sagte das Mädchen mit ihrer jungen Stimme.
Silla hatte versucht, das Alter des Mädchens zu schätzen, und ihre beste Schätzung lag bei fünf oder sechs Wintern. »Und du solltest auf deine Manieren achten«, sagte sie abwesend.
»Was hast du gesagt, Katrin?«, fragte Bera mit strenger Stimme.
Sillas Blick schoss zu Beras stählernem Gesicht. »Ich habe nicht mit dir gesprochen«, murmelte sie.
»Mit wem dann? Mit wem hast du gesprochen?«
Ihr Blick wanderte zu der Stelle, an der das Mädchen kurz zuvor gestanden hatte.
Nun war da nichts als leerer Raum. Du hast genug gesagt, dachte Silla und presste ihre Lippen aufeinander. Nimm dich zusammen, Silla Margrét.
»Es ist so schwer, gute Hilfe zu finden«, murmelte Bera. »Faul oder nicht ganz bei Trost.«
Silla atmete tief ein, als sie den Blick abwandte. Als sie einen vertrauten blonden Kopf mit grauen Strähnen entdeckte, blieb ihr Blick an dem ihres Vaters hängen. Er schien zu erschlaffen, als er sie entdeckte, als ob er den Atem angehalten hätte. Neben ihm stand der freundliche Stallknecht, der sie mit Fellen und ein paar Küchenutensilien versorgt hatte, als Silla und ihr Vater das erste Mal in Skarstad angekommen waren – Tolvik hieß er, wenn sie sich richtig erinnerte. Mit einem grimmigen Lächeln auf dem Gesicht neigte Tolvik seinen silbernen Kopf, und Silla erwiderte die Geste.
Die Wolken rissen auf und Sonnenstrahlen fielen vom Himmel, fingen funkelnde Mineralien in den Fliesen der Straße ein und wärmten Sillas Rücken.
Gnädigerweise hörten die Glocken auf. Einige Minuten vergingen und die Menge wuchs, füllte den Platz und schwappte in die Seitenstraßen hinüber. Gedämpfte Gespräche und rastlose Energie drangen in den Innenhof; die Spannung war so groß, dass man sie mit einer Axt durchschneiden konnte.
Endlich betrat Gottes Sprecher den Innenhof. Ursirs Gothi war ein hochgewachsener Mann, dessen bleicher, kahler Schädel auf dem sonnendurchfluteten Platz glitzerte. Er trug ein wallendes braunes Gewand, das er sich um die Schultern gelegt hatte und dessen Saum mit leuchtenden goldenen Runen bestickt war. Zwei hochgewachsene Klaernar-Krieger flankierten den Gothi, Bärenfelle um die Schultern gewickelt, was auf mindestens einen Rang als Kaptein hinwies. Wie alle Krieger der Königskrallen trugen sie ihre Bärte lang und zu zwei Zöpfen geflochten; Handäxte, Schwerter und Dolche waren an ihren Hüften befestigt.
Einer der Kapteins holte ein Stück Pergament hervor und begann zu lesen, wobei seine Stimme laut und deutlich durch den Hof schallte. »Auf Befehl von König Ivar Eisenherz, aus der großen Linie der urkanischen Seekönige, Sohn von König Harald von Norvaland und großer Herrscher des Königreichs Íseldur, haben wir Agnes Svrak, Lisbet Kir und Ragna Skuli in unserer heiligen Pflicht, ein Urteil zu fällen, vor uns gebracht. Sie sind des vorsätzlichen Gebrauchs von Magie angeklagt.« Der Kaptein blickte in die Menge. »Was sagt ihr, das Volk von Skarstad, zu diesen Frauen, die die Regeln unseres Königreichs so eklatant missachten? Diese Frauen, die nicht an unsere Gesetze glauben?« »Schuldig!«, skandierte die Menge. Diese Prozesse waren ein leeres Ritual. Niemals hat jemand gefordert, dass die Verurteilten freigelassen werden sollten.
Nach der Urteilsverkündung trat der Gothi zu der ersten Verurteilten und zog einen heiligen Dolch und eine goldene Schale aus den Falten seines Gewandes. Die Frau zerrte vergeblich an ihren Fesseln, ihre gedämpften Schreie wurden immer verzweifelter, als der Mann in die Vene ihres inneren Ellbogens schnitt und einen Strom von Blut in der goldenen Schale auffing.
»Wie alle Galdra werden sie zum Tod durch Steinigung verurteilt«, dröhnte der Kaptein. »Aber zuerst werden sie in einem Letting beim König der Götter Buße tun.«
Raben krächzten bedrohlich von der Spitze des Glockenturms, während die Menge schweigend wartete, und der Stein wurde unerträglich schwer in Sillas Hand. Nach einer langen Minute hatte sich die Schale mit Blut gefüllt, und der Gothi tauchte seine Finger hinein, bevor er sie in einer Reihe von Linien und Kreisen über die Stirn der Frau zog – das Runensymbol, das ihr im Jenseits den Zugang zu Ursirs Heiligem Wald verwehrte. Der glatzköpfige Mann ging zum Altarstein und sang auf Urkanisch, während er den Rest des Blutes über die Runeninschriften schüttete.
Als der Gothi zum nächsten Verurteilten überging, wurde Sillas Blick von der purpurnen Lache auf dem Podium angezogen, aus der das Blut in einem langsamen Rinnsal vom Ellbogen der ersten Frau tropfte. Wie oft würde das noch passieren? Wie viele Männer und Frauen würden sterben, bevor der Appetit des Bärengottes auf Blut gestillt wäre – bevor Ivar Eisenherz’ Hass auf die Galdra gestillt wäre?
Die gedämpften Rufe der Verurteilten wurden immer verzweifelter und drängender, und Silla erkannte, dass der Gothi seine Aufgabe erfüllt und sich der Menge zugewandt hatte. »Jetzt werdet ihr eure Treue zu Ursir, zu König Ivar Eisenherz, mit eurem Blut beweisen!«
Die Menge jubelte, doch einige sahen einfach nur resigniert aus angesichts der blutigen Aufgabe, die vor ihnen lag. Der erste Stein wurde geworfen und schlug durch die Stille des Platzes. Für einen kurzen Moment verschwamm Sillas Sicht, und es waren die Schreie ihrer Mutter, die in ihrem Schädel widerhallten. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie darum, die Erinnerungen zu unterdrücken. Sie konnte nicht zusammenbrechen, nicht hier und schon gar nicht jetzt.
Weitere Steine wurden geworfen. Einem dumpfen Schrei ging ein Platschen voraus. Silla hielt den Kopf weiterhin gesenkt und umklammerte ihren Stein fest, als sich die Schreie der Dorfbewohner und die Schreie der Frauen zu einer schrillen Melodie vermischten, die ihr eine Gänsehaut bereitete. Als sie sich mit dem Rest von Jarl Gunnells Gefolge auf die Tribüne zubewegte, beobachtete sie aus dem Augenwinkel, wie Bera ihren Stein warf. Aber Silla fühlte sich wie gelähmt und starrte vor sich hin.
Wut entfachte in ihr wie ein Feuerstein, der eingeschlagen war. Falsch. Das ist alles falsch.
»Wirf«, sagte das kleine, blonde Mädchen. »Deine Haut ist zu glatt für den Peitschenpfahl.« Silla holte tief Luft, holte aus und schleuderte den Stein in Richtung Podium. Sie schaute nicht nach, um sich zu vergewissern, ob er sein Ziel traf.
So ging es weiter und weiter, ein nicht endender Strom aus Blut und Zorn. Die Raben kreischten über den Köpfen, und das Blut sammelte sich auf dem Podium, lange nachdem die Schreie der Frauen verklungen waren und ihre zerschmetterten Köpfe schlaff hingen. Die Klaernar durchstreiften die Menge auf der Suche nach ungeworfenen Steinen, während der Nachgeschmack der Gewalt schwer in der Luft hing.
Die Stimme des Kapteins ertönte. »Lasst dies als Warnung für alle dienen, die von der Versuchung der Magie angezogen werden. Ursir wird euch ein Schicksal auferlegen, dem ihr nicht entkommen könnt. Ihr werdet mit Blut bezahlen.« Damit war das Spektakel beendet, und die Menge wandte sich zum Gehen. Sillas Nerven lagen blank, ihre Füße waren schwer wie Eisen.
Herdfeuergedanken, stellte sie sich vor, wie ihre Mutter sagte. Die Art von Gedanken, die dich wärmen.
Baby-Robben. Niesen. Der Duft von Büchern.
Ein Schrei erhob sich und unterbrach ihre Gedanken. Sillas Augen huschten mit dem Rest der Menge zum Himmel, wo eine Gestalt langsam über die Sonne zog. Das Licht wurde verschluckt und ließ sie in gespenstischem Zwielicht zurück.
»Die Sonne ist gestohlen!«, rief eine Frau, und Silla erkannte endlich, dass es sich um eine Sonnenfinsternis handelte.
»Sunnvald ist zornig!«, kam die zerlumpte Stimme eines Mannes … eine vertraute Stimme. »Er zeigt seine Missbilligung für das Gemetzel!«
Mit klopfendem Herzen warf Silla einen Blick auf die Klaernar-Kapteine und beobachtete eine schnelle Abfolge von Handgesten. Drei Klaernar zogen den Übeltäter aus der Menge, dort, wo sie ihren Vater zuletzt gesehen hatte. Panik stieg in ihr auf, als die Kapteins den Mann zum Podium zerrten und sie sein Gesicht betrachtete.
Es war Tolvik.
Silla atmete erleichtert aus, dann schimpfte sie mit sich selbst. Es war nicht ihr Vater, nein, aber Tolvik war ein guter und freundlicher Mann. Galle stieg in ihrer Kehle auf, und sie konnte nicht wegsehen, als der größte der Klaernar die Fesseln einer der Verurteilten durchtrennte. Ihr Leichnam landete mit einem dumpfen Aufprall, die Gliedmaßen standen in einem unnatürlichen Winkel ab. Mit rücksichtsloser Effizienz begann der Kaptein, Tolviks Handgelenke an den Säulen zu befestigen.
Doch das schien den alten Mann nur anzuspornen. »Die alten Götter werden das nicht dulden! Sie bestrafen uns schon mit den langen Wintern!«
»Schweig!«, brüllte der Kaptein und verpasste Tolvik eine Backpfeife.
Tolvik blinzelte, dann blitzten seine Augen entschlossen auf. »Sie werden das Land mit Feuer säubern! Das ist schon einmal geschehen und es wird wieder geschehen!«
Sillas Magen krampfte sich zusammen, als der zweite Kaptein auf Tolvik zuging und ihm den Mund aufriss. Eine Klinge sauste durch die Luft, Tolviks Schreie erreichten ein schrilles Crescendo, bevor sie zu ersticktem Schluchzen abklangen. Der Kaptein wandte sich der Menge zu und etwas landete mit einem schmatzenden Geräusch auf dem Boden. Tolviks gequältes Gesicht kam zum Vorschein, Blut sickerte aus seinem Mund, und Übelkeit kroch Sillas Kehle hinauf. Seine Zunge. Sie hatten ihm die Zunge herausgeschnitten.
»Hat noch jemand heidnische Gedanken, die er äußern möchte?«, brüllte der Kaptein. Die Menge verstummte, und der Schatten der Sonne bewegte sich und tauchte den Platz in einen leuchtenden goldenen Farbton – ganz falsch für die düstere Stimmung, die über dem Hof lag.
»Es gibt nur einen wahren Gott«, schrie der Gothi und schnitt in Tolviks Vene. Blut tropfte von seinem Ellbogen in die goldene Schale. »Den König der Götter. Den Kriegergott.«
Totenstille erfüllte den Platz, als der Gothi das Runensymbol auf Tolviks Stirn zeichnete und das Blut über den Altarstein goss. Ein Kaptein reichte dem Gothi einen Handschuh, und er zog ihn an, wobei die stählernen Klauen an den Knöcheln glitzerten.
»Er ist der Gott der Zähne und Klauen. Und sein Name ist Ursir!«
Sieh weg, drängte Silla sich selbst, aber sie konnte nicht. Nicht einmal, als Tolviks Tunika angehoben wurde und die Krallen über das weiche Fleisch seines Bauches fuhren. Nicht einmal, als die Eingeweide des älteren Mannes wie rosa, sich windende Aale herausquollen. Tolvik schrie vor Schmerz. Silla spürte seine Todesqual in ihren Knochen, in ihrer Seele.
Er war noch am Leben, als die Menge vom Platz strömte. Er lebte noch, als die Raben von oben herabstürzten.
Er lebte noch, als sie begannen, sich an ihm zu laben.
Silla versuchte, all das aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, und konzentrierte sich mit aller Kraft auf die blauen Röcke des Mädchens vor ihr – sie verfolgte die grob gesponnenen Fäden und zählte die verstreuten Löcher, in denen die Funken des Kochfeuers gelandet waren. Benommen folgte Silla diesen Röcken den ausgetretenen Feldweg hinunter, durch die Palisadenmauern hindurch und hinauf zum Gehöft von Jarl Gunnell. Es war ein Wunder, dass sich ihre Füße noch bewegten, denn sie war wie betäubt, ihr Verstand wie eingefroren.
Silla war sich nicht sicher, wie weit sie gelaufen war, als ein dumpfes Geräusch in ihren Ohren dröhnte und ein kleines gelb-schwarzes Wesen in ihr Blickfeld trat. Noch eine Wespe? Silla blinzelte, als sie direkt vor ihrem Gesicht schwirrte und auf ihrer Nase landete.
»Was …«, begann sie und schlug sie weg.
»Alter Narr«, murmelte Bera und lenkte Silla von dem Insekt ab.
Ihre Gedanken kehrten auf den Platz zurück. Was war über Tolvik gekommen? Er war klug und freundlich gewesen. Von den alten Göttern zu sprechen, den Namen Sunnvalds in der Gegenwart der Klaernar anzurufen, bedeutete, den Tod zu verlangen. Sillas Vater hatte ihr deutlich eingebläut, dass es zwar zu ihrer Pflicht zählte, die Götter ihrer Vorfahren zu ehren, dies aber hinter verschlossenen Türen geschehen musste. Und solange König Ivar auf dem Thron saß, musste das auch so bleiben.
Hatte Tolvik sich selbst vergessen?
Ihre Gedanken kreisten wieder um die Sonnenfinsternis. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr; es gab kein deutlicheres Zeichen dafür, dass es Zeit für sie war, aufzubrechen. Wenn die Geschichte sie etwas gelehrt hatte, dann, dass die Sonnenfinsternis ein Vorbote der Dunkelheit war – schlechte Dinge folgten unweigerlich.
Sie gingen an den Nebengebäuden vorbei und erreichten die Tür zum Langhaus, wo sie darauf warteten, dass Bera einen Schlüssel in das eiserne Vorhängeschloss steckte.
Silla fühlte sich, als hätte diese eine Stunde eine ganze Woche gedauert. Ihre Muskeln schmerzten, als wäre sie den ganzen Tag gelaufen, und sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
»Nun gut«, sagte Bera, als sie das Langhaus betraten. »Wer ist bereit für eine heiße Tasse Róa?«
Kapitel 2
Silla lehnte sich an die schweren Eschenholzwände der Ställe und blickte in Richtung der Felder mit verkümmerter Gerste und Roggen, um die hochgewachsene Silhouette ihres Vaters zu suchen. Obwohl der siebte Glockenschlag schon erklungen war, sorgte der spätsommerliche Sonnenuntergang dafür, dass das Gehöft noch gut beleuchtet war.
Nach dem ereignisreichen Morgen war es ruhig geworden, und die Luft war still bis auf das leise Wiehern der Pferde und die gedämpften Gespräche in den Ställen. Trotzdem war es Silla unangenehm, was Tolvik vorhin passiert war. Vielleicht war sie ein Feigling, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, in die Ställe zu gehen, um die Gesichter derer zu sehen, die ihn gut gekannt hatten. Sie wollte einfach nur ihren Vater sehen, seine beruhigende Stimme hören und sich vergewissern, dass es ihm gut ging.
Silla zog das Lederband aus ihrem Haar, dann löste sie den Zopf, der ihr den Rücken hinunterlief. Die Locken lösten sich um ihre Schultern, und sie massierte mit den Fingern die schmerzende Kopfhaut.
Die schweren Türen zu den Ställen fielen zu, und Silla sprang mit einem lauten Schrei auf.
»Ich wollte dich nicht erschrecken.« Eine dunkle Gestalt war aufgetaucht, änderte den Kurs und bewegte sich auf sie zu. Silla blinzelte und versuchte, sein Gesicht zu erkennen. Als sich die Gestalt mit langsamer Geschwindigkeit und schlenderndem Gang aus dem Schatten herausbewegte, erkannte sie den Hufschmied. Der Mann kratzte sich am Bart und lächelte sie an. »Du bist die Tochter von Hafnar, nicht wahr? Katrin?«
Silla starrte einen Herzschlag lang ins Leere, bevor sie sich daran erinnerte, dass Hafnar der Name war, den Matthias derzeit trug. »Bei den Göttern«, platzte Silla heraus. »Ich bin heute abgelenkt wie ein Eichhörnchen. Ja zu beiden Fragen.« Ihre Augen fixierten die seinen – dunkel und freundlich, mit Falten vom Lächeln. »Und du bist Kiljan, richtig?«
Er nickte und reichte ihr die Hand. »Guten Tag.«
Silla legte ihre Handfläche in die seine und ihr Blick wanderte nach unten. Seine gebräunten Hände waren groß und muskulös; sie nahm an, dass man in seinem Beruf starke Hände haben musste. Kiljan lehnte neben ihr an der Wand, der schwache Geruch von Pferden und Kohlenstaub stieg ihr in die Nase. »Du arbeitest an den Feuerstellen?«
»Richtig. Ich habe Brote zugeteilt bekommen, was mich nicht im Geringsten stört. Wusstest du, dass es neun verschiedene Brotsorten gibt? Mit Broten, Fladenbroten und Pfannenbroten kann man sich doch nicht langweilen.« Als sie Kiljans teilnahmslosen Gesichtsausdruck bemerkte, hielt sie inne. Du plapperst schon wieder, schimpfte sie mit sich. Frag ihn nach sich selbst. »Und du arbeitest mit den Pferden?«
Er nickte.
Silla lächelte. »Das muss schön sein. Ich liebe Pferde. Ich hoffe, dass ich eines Tages mein eigenes habe.«
»Sie sind eine gute Gesellschaft.«
Silla lehnte sich näher heran. »Unter uns gesagt, ich mag Pferde mehr als manche Menschen. Mehrere von ihnen, wirklich.«
»Da muss ich dir zustimmen, Katrin.« Kiljan gluckste leise. »Wie gefällt es dir in Skarstad?«
»Oh, es ist sehr schön«, antwortete sie und runzelte dann die Stirn. »Aber diese Woche war nicht ganz so gut. Wie geht es den Stallknechten nach dem, was mit Tolvik passiert ist?«
Kiljan blickte auf den Boden. »Die Stimmung ist düster.«
Sie schlang die Arme um sich. »Das kann ich mir vorstellen. Kanntest du ihn gut?«
»Ich habe mit ihm fünf … sechs Winter lang gearbeitet? Ich kann es immer noch nicht fassen.«
Sie runzelte die Stirn. »Es ist schrecklich -«
»Zeit, zu gehen.«
Sillas Kopf hob sich bei der vertrauten Stimme und ihr Blick blieb an eisblauen Augen hängen. Obwohl er sich wie ein junger Mann bewegte, sah man ihrem Vater sein Alter an, durch die grauen Strähnen in seinem blonden Haar und Bart und die Falten auf seiner blassen Stirn. Sie betrachtete den Rest von ihm – die schmutzbefleckte, graue Tunika, die mit einem ledernen Wams überzogen war, das Hevrít, die Handaxt und die Dolche, die in seinem Gürtel steckten.
Mein Vater – niemals unbewaffnet, dachte sie ironisch. Als Kind hatte sie sich gefragt, ob er mit seinem Hevrít schlief, und hatte die Decke zurückgezogen, um es herauszufinden – nur um dann von ihm am Handgelenk gepackt zu werden, was er grob verdrehte. Als der Schlaf aus seinen Augen gewichen war, hatte er sich zutiefst entschuldigt und sie gewarnt, niemals einen schlafenden Mann zu erschrecken. Dann hatte er ihr die lange Klinge gezeigt, die er tatsächlich unter seinem Kopfkissen aufbewahrte; sein bevorzugtes knöchernes Hevrít.
Sillas Anspannung fiel von ihr ab. Sie stürzte nach vorn und umarmte ihren Vater fest. Seine schweren Arme legten sich um sie und für einen kurzen Moment verschwand die Übelkeit der Woche. Silla zog sich zurück, ihr Vater umfasste ihren Ellbogen und lenkte sie die Gasse hinunter in Richtung ihres Hauses am Stadtrand. Silla warf einen Blick auf Kiljan, dessen Mund sich öffnete und dann wieder schloss.
»Bis morgen, Kiljan«, sagte ihr Vater, seine Stimme rauer als sonst.
Silla runzelte die Stirn. Es war ein abrupter und vielleicht etwas unhöflicher Aufbruch gewesen. »War schön, dich getroffen zu haben, Kiljan!«, rief sie schwach über die Schulter und winkte leicht.
Silla blies sich eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht. Nach zwanzig Wintern hatte sie noch nie jemanden geküsst. Es war so lange her, dass sie einen wahren Freund gehabt hatte. Sie liebte ihren Vater. Sie war sicher und wurde im Gegenzug geliebt. Es könnte schlimmer sein. Aber es könnte auch besser sein.
Sie sehnte sich nach etwas. Sie sehnte sich nach mehr. Nach Freundschaft. Sich zu verlieben. Zu leben. Wie konnte sie das tun, wenn sie immer über ihre Schulter blicken musste, während sie und ihr Vater wie Gespenster in der Dunkelheit durchs Leben schwebten? Sie lebten, um zu überleben, und taten, was sie mussten, um genug Sólas zum Überleben zu verdienen. Sie blieben nie länger als drei Monate an einem Ort. Silla hatte immer Arbeit an den Kochstellen gefunden und ihr Vater verschaffte sich gewöhnlich Arbeit auf einem Bauernhof. Sie bewunderte die Art und Weise, wie er sich nahtlos in jede neue Arbeit und jede neue Stadt einfügte. Er erinnerte sie an die Frostfüchse, deren Fell die Farbe wechselte, um sich der Umgebung anzupassen.
Aber in letzter Zeit hatte er eine beunruhigende Müdigkeit an den Tag gelegt und Sillas Unbehagen wuchs. Die langen Arbeitstage auf den Feldern forderten ihren Tribut, ebenso wie das ständige Reisen. Sie konnten nicht ewig so weitermachen. Was sie wirklich brauchten, war Sicherheit. Einen Ort, an dem sie ihre müden Füße ausruhen und länger als drei Monate bleiben konnten.
»Silla, hast du mich gehört?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich fürchte, ich habe mal wieder auf meine Füße gesehen und geträumt.«
»Hebe dir die Träume für deine Nachtruhe auf, Mondblume«, neckte er sie. »Ich sagte, es ist Zeit, Skarstad zu verlassen.«
Silla seufzte, als sie sich umdrehten und die Vindurstraße entlanggingen, zurück zu dem Nebengebäude auf Olafs Gehöft, das sie derzeit ihr Zuhause nannten.
Sie hatte damit gerechnet, dass sie aufbrechen würden, aber jetzt, wo ihr Vater die Worte gesprochen hatte, vermischten sich Vorfreude und Nervosität. Natürlich war da der Neuanfang, das Versprechen von etwas Neuem. Aber da war auch die Gefahr der offenen Straße, die leeren Mägen, die Blasen an den Füßen und die Erschöpfung in den Knochen.
Silla starrte auf den befestigten Erdweg, den sie entlang schritten. »Wohin werden uns unsere Wanderungen als Nächstes führen?«
»Kopa.«
Ihr Blick fiel auf ihn, und sie lachte. »Sehr witzig, Vater.«
»Das ist kein Scherz. Ich habe eine lang erwartete Nachricht per Falke erhalten, in der man uns nach Kopa einlädt.«
Sie sah in sein ernstes Gesicht, während sich ihr der Magen umdrehte. »Kopa? Vater, das ist doch eine Reise von mindestens einem Monat, oder nicht?«
Sie kaute auf ihrer Lippe. Sicherlich scherzte er. Vielleicht hatte die Sonne seinen Verstand vernebelt. Aber als sie ihm in die Augen sah, waren sie hell und klar.
»Warum nicht Reykfjord? Ich glaube, das sind vier Tagesmärsche. Bera hat gesagt, dass dort der beste gewürzte Met im ganzen Königreich hergestellt wird. Wir könnten bei den Metmachern Arbeit finden und unser schönstes Leben führen.«
Aber ihr Vater blieb in dieser Sache hartnäckig. »Kopa wäre ein Abenteuer.«
Silla schnaubte. Abenteuer. Davon hatte sie in den letzten zehn Jahren genug gehabt. »Wirklich, Vater. Wenn du dich nach Abenteuern sehnst, könnten wir einfach in die Verdrehten Kiefernwälder gehen. Das würde dein Verlangen nach Gefahr sicher befriedigen. Wir könnten uns auf die Jagd nach blutdürstigen Waldbewohnern machen, wie den Vampirhirschen oder den Grimwölfen.« Sie schwieg einen Moment lang. »Von allen Orten in Íseldur, warum gerade Kopa?«
Silla war sich nicht einmal sicher, wo sie den Ort auf einer Karte einordnen sollte. Alles, was sie wusste, war, dass er im Norden lag. Weit im Norden, wenn auch nicht ganz so weit wie die Länder von Nordur, die, wie sie sich erinnerte, so weit nördlich lagen, dass sie in den kalten Wintermonaten eine einzige Stunde Tageslicht erlebten. Keine Kraft dieser Welt konnte sie dorthin locken.
Er drehte sich zu ihr um, seine Augen waren ernst. »Ich habe davon gehört, Silla. Es gibt Schildhäuser für die, die in Not sind. Eine sichere Zuflucht, wo wir verschnaufen können.«
Silla taumelte. Ein Schildhaus. Konnte das wirklich real sein?
Sie ging vorsichtig an das Thema heran. »Angenommen, wir würden uns entschließen, nach Kopa zu gehen – und Vater, bitte beachte, dass ich das Wort angenommen benutzt habe –, dann müssten wir es in mehreren Etappen tun. Unsere Sólas würden uns ausgehen, lange bevor wir Kopa erreichen. Diese Straßen … sie sind mühsam zu befahren, nicht wahr?«
»Sehr«, antwortete er mit einem wehmütigen Blick. »Ich bin selbst als junger Mann dorthin gereist. Wir ritten den ganzen Weg von Kopa nach Sunnavík. Wir brauchten volle anderthalb Monate … aber Silla, es war schöner, als du es dir vorstellen kannst. Schon lange hat mich der Ruf des Nordens gepackt und diese Nachricht macht ihn wahr. Das Schicksal führt uns nach Kopa. In Sicherheit.« Da war eine Energie in seiner Stimme, die ansteckend war.
Sillas Hand wanderte gedankenlos zu der Phiole, die an einer Lederschnur um ihren Hals hing, und streichelte das glatte Metall. Das Gerede von Nachrichten aus dem Norden kam aus dem Nichts. Warum schickte er Falken – und an wen schickte er sie?
»Nun«, sagte sie langsam und atmete Kiefern und Wacholder ein, während die Wälder auf beiden Seiten der Straße anschwollen, »wenn dir Kopa am Herzen liegt, dann lass uns zuerst nach Reykfjord gehen. Wir werden es unterwegs besprechen.«
»Ich werde dich in den Schlaf wiegen, Mondblume«, sagte ihr Vater liebevoll, legte einen kräftigen Arm um ihre Taille und drückte sie fest an sich. Er war einen halben Kopf größer als sie und legte seine Wange an ihr Haar. »Wir müssen bei Tagesanbruch aufbrechen. Hast du deinen Lohn abgeholt?«
Sie nickte und klopfte auf die lederne Handtasche an ihrem Gürtel, in der Sólas und ein paar Kressen klirrten.
»Gut.«
Während sie die Straße entlanggingen, fragte sich Silla, wer sie dieses Mal sein würde. Sie war schon Thordis, Ingunn, Gudrunn und jetzt Katrin gewesen. Vielleicht würde sie an diesem neuen Ort Atta sein. Ja. Atta hatte einen angenehmen Klang.
Die Wolken verzogen sich, und das Sonnenlicht fiel auf feuchte Kiefernnadeln und Farnkraut, das den Waldboden bedeckte. Ein Vogel rief von irgendwo hoch oben, und Silla reckte den Hals, um ihn zu sehen. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie ihn gerade noch erkennen – lange schwarze Flügel, einen gebogenen gelben Schnabel und einen weißen Streifen auf dem Federschwanz.
Schwarzer Falke, stellte sie mit Schrecken fest. Als sie eine Hand auf den Unterarm ihres Vaters legte, schärften sich Sillas Sinne auf ein beunruhigendes Maß. Zweige knackten unharmonisch und stellten die feinen Härchen auf ihren Armen auf. Das Kreischen einer nahen Eule ließ sie erschrocken zusammenzucken.
»Silla?«, fragte ihr Vater, aber es war zu spät. Gestalten tauchten wie Wölfe aus den Schatten auf, schwarz gekleidet und geschmeidig, mit bissigen Stahlklingen. Bevor Silla und ihr Vater reagieren konnten, waren sie umzingelt.
Sillas Herz schlug bis zum Hals, als sie die Situation beurteilte: sechs Männer in schwarzen Kettenhemden, bewaffnet mit Äxten und Schwertern. Ihre Bärte waren zu zwei Zöpfen geflochten, so wie es König Ivar und seine Landsleute aus Urka taten.
Ihr erster Gedanke war: Klaernar. War ihre Zeit abgelaufen? Hatten die Gerüchte über das Geistermädchen endlich ihre Ohren erreicht? Die Geschichten von dem Mädchen, das das Unsichtbare sieht? In Skarstad war sie vorsichtig gewesen, aber das kleine, blonde Mädchen auf dem Stadtplatz anzusprechen, stellte sich nun als dummer Fehler heraus.
Aber diese Männer hatten weder die Schulterplatten der Schrei-Bären noch die Tätowierungen im Gesicht.
»Was wollt ihr?«, fragte ihr Vater. »Wir haben nur ein paar Münzen, aber die gehören euch.«
Der größte der Männer trat vor, sein Haar war ungepflegt braun und seine Augen schwarz wie die Nacht. »Wir wollen eure Münzen nicht.« Seine Augen verengten sich, die Lippen verzogen sich zu einem bösartigen Lächeln. »Du weißt, warum wir hier sind, Tómas.«
Sillas Brauen zogen sich bei dem ihr unbekannten Namen zusammen. Dann löste sich der Knoten in ihrem Magen – sie hatten sie und ihren Vater mit jemand anderem verwechselt. Doch als ihr Blick zu ihrem Vater wanderte, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Mit leichenblassem Gesicht schwankte er. »Du irrst dich; ich bin Hafnar, nicht Tómas. Und das ist meine Tochter, Katrin.«
Der Mann lachte, kalt und freudlos. Er schlenderte um sie herum und strich sich über den Bart. »Haltet ihr mich für einen Narren? Wir haben viele lange Jahre nach dir gesucht, Tómas, und heute ist dein Glück zu Ende. Es gibt kein Entkommen.«
Sillas Puls pochte in ihren Ohren. Irrtum. Das war eindeutig ein Fehler. Aber warum sah ihr Vater aus, als hätte er einen Geist gesehen?
Silla erinnerte sich an den Dolch, der an ihrem Fußgelenk steckte, und nahm ihren Mut zusammen. »Er ist nicht Tómas. Du hast den falschen Mann.«
»Tómas, Tómas, Tómas«, schimpfte der Anführer. »Du enttäuschst mich. Hast du ihr nichts erzählt?« Er gluckste und richtete seinen schwarzen Blick auf Silla. »Vergiss deine Loyalität zu diesem Mann. Er ist nicht einmal dein Verwandter – ihr teilt kein Blut.«
Sillas Blick hüpfte von dem Fremden zurück zu ihrem Vater. Seine Augen trafen die ihren, und sie erkannte es – Bestätigung, Bedauern und, was sie am meisten erschreckte, Angst.
Der Mann nickte, zwei Krieger stürmten vor und packten sie grob. Ihr Vater brüllte und stürzte sich auf sie, aber weitere Männer rückten vor. Ein Knall ertönte auf der Straße, als ein Mann ihn mit dem Handrücken schlug, während andere Krieger seine Arme hinter seinem Rücken festhielten.
»Nein!« Silla zerrte an den Kriegern, die sie festhielten, und versuchte, ihren Vater zu erreichen, aber ihr Griff war eisern.
Der Anführer kam mit seinem Gesicht so nah an ihres, dass sie seinen sauren Atem roch. Sie kniff die Augen zusammen und wollte zurückweichen, aber jemand hinter ihr hielt sie davon ab.
»Sie hat die Narbe«, murmelte er und fuhr mit seinem behandschuhten Finger über das winzige, halbmondförmige Mal neben ihrem linken Auge. »Sie ist es.«
Der Mann ließ sie los, Silla blinzelte und sog verzweifelt die Luft ein.
Sie nahm ein paar Atemzüge, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. Was in den ewigen Feuern war hier los?
Der Anführer starrte Silla an, und ein grausames Lächeln lag auf seinen Lippen. »Königin Signe hat nach dir gesucht, Mädchen.«
Sie blinzelte erneut.
»Du bekommst sie nur über meine Leiche«, spie ihr Vater.
»Das ist machbar, Tómas. Dein Tod ist längst überfällig«, antwortete der schwarzäugige Mann und wandte sich ihm zu.
Doch ihr Vater hatte sich bereits von seinen Entführern losgerissen, sein Schwert gezückt und sich auf den Boden gerollt. Mit einer geschmeidigen und fließenden Bewegung schlug er seine Klinge nach oben, als hätte er es schon tausendmal getan. Der Anführer entging der zischenden Klinge nur um Haaresbreite, und mit einer schnellen, wendigen Bewegung war ihr Vater wieder auf den Beinen und schwang das Hevrít gegen den Hals eines neuen Gegners. Der Krieger drehte sich und wich der Klinge nur knapp aus.
Silla beobachtete den Mann, der sie aufgezogen hatte, völlig ungläubig. Seine Bewegungen waren flink, kraftvoll und geübt. Als er sein Hevrít aggressiv schwang und seinen Gegnern mühelos auswich, konnte sie diesen Mann nicht mit dem Mann in Einklang bringen, den sie kannte, dem sanften Riesen, der die Felder bearbeitete und ihr herzförmige Felsen mitbrachte.
Der Wald explodierte mit Schreien und rasenden Bewegungen. Ihr Arm wurde losgelassen, als sich einer ihrer Entführer auf ihren Vater stürzte. Silla rappelte sich auf, stieß ihren Fuß hart auf den Stiefel ihres verbliebenen Entführers und riss sich aus seinem Griff los. In der Hocke ergriff sie den Dolch an ihrem Knöchel und zerrte daran – vergeblich. Mit einem frustrierten Grunzen zog sie erneut an dem störrischen Griff, aber er ließ sich nicht bewegen.
Am Rande ihres Sichtfeldes kämpfte ihr Vater mit vier Männern, die Haare flogen, und sein Hevrít schnitt schneller durch die Luft, als sie folgen konnte. Ein unangenehmes Platschen erregte ihre Aufmerksamkeit, ein Mann fiel zu Boden. Schneller als der Blitz packte ihr Vater die Axt des Gefallenen und schlug sie mit solcher Kraft auf einen neuen Gegner nieder, dass sie das Kettenhemd des Kriegers durchschlug. Der Mann brach mit einem schmerzerfüllten Wehklagen zusammen, aber ihr Vater war bereits dabei, die Klinge aus den zerbrochenen Nieten zu ziehen und sich zu einem dritten Mann zu drehen, der sich auf ihn stürzte.
Durch die Panik, den Aufruhr und das Hämmern in ihren Ohren hindurch erinnerte sich Silla an die Worte ihres Vaters.
Versprich es mir, Mondblume.
Wenn wir angegriffen werden, wirst du fliehen. Versuche nicht, zu kämpfen.
Lass dich nicht von ihnen schnappen.
Silla blickte zu den Schatten der Kiefernwälder, dann sprang sie aus der Hocke in Richtung der Bäume.
Sie schaffte zwei Schritte.
Ein Arm kam aus dem Nichts, legte sich um ihre Kehle und drückte fest zu. Der Schwung hielt ihre Füße in Bewegung und ließ sie vom Boden abheben, während der Arm sie mit dem Rücken an eine harte Brust presste.
»Wohin rennst du?«, raunte eine Stimme – der Anführer. Frost breitete sich in Sillas Adern aus. »Mach dir keine Sorgen. Die Königin wird dich nicht töten. Jedenfalls nicht sofort.«
Sillas Augen weiteten sich, als sie nach Luft schnappte, ihre Finger krallten sich verzweifelt an den Arm um ihre Kehle und in das Gesicht hinter ihr. Die Nägel bohrten sich in die Haut und sie zog daran. Der Mann fluchte, aber sein Arm legte sich nur noch fester um ihre Kehle, ein zweiter legte sich um ihre Taille und fesselte ihre Hände. Silla trat und schlug um sich, wie ein Tier, das verzweifelt nach einem freien Dom suchte, aber nichts lockerte seinen Griff.
Die Geräusche der Schlacht verklangen. Die Zeit hörte auf, eine Bedeutung zu haben. Ihre ganze Welt konzentrierte sich auf den Schmerz in ihrem Nacken, das verzweifelte Bedürfnis nach Luft. Sternschnuppen tanzten vor ihr, die Ränder ihres Blickfelds verdunkelten sich und schlossen sich ihr an.
Sie fiel.
Ihre Sicht färbte sich rot.
Und dann umgab sie die Dunkelheit.
Der Geruch von Erde. Ein kupfriger Geschmack in ihrem Mund. Ein schweres Gewicht auf ihr. Abgehackte, keuchende Geräusche.
Das Bewusstsein kehrte zu Silla zurück, plötzlich wie ein Sommergewitter. Es waren ihre Geräusche. Sie holte verzweifelt und keuchend Luft, als Lichter in ihrem Blickfeld auftauchten. Ihr Hals und ihr Gesicht waren rot, heiß und pochten.
Silla schätzte ihre Lage ein. Sie lag in einem Graben, eingeklemmt unter etwas Schwerem. Als sie den Kopf drehte, kippte ihr Magen – schwarze Augen, offen und leblos. Sie zappelte, die Handaxt ihres Vaters kam zum Vorschein – in den Schädel eines Mannes eingegraben. Silla hielt ganz still. Hatten die anderen sie nicht gesehen? Hielten sie Silla für tot? Aber das Klirren der Schwerter, das Grunzen und die Schreie waren verklungen. Jetzt herrschte nur noch eine unheimliche Stille.
Die Stille war so laut, dass ihr die Ohren wehtaten.
»Vater«, krächzte sie. Ein rasender Energieschub zwang ihre Glieder in Bewegung. Sie zappelte, bis sie sich von dem Gewicht des Mannes befreit hatte.
Silla stand auf und betrachtete die Szene auf der Vindurstraße. Der Tod. Überall.
Es war ein Albtraum, ein schrecklicher Albtraum, aus dem sie nicht erwachen konnte. Leichen lagen auf der Straße verstreut, Raben labten sich an ihnen, das leise Summen von Aasfliegen vibrierte in der Luft. Silla trat über eine abgetrennte Hand, was die Vögel zu einem wütenden Rückzug veranlasste, und ging an einem Mann vorbei, dem ein Hevrít halb im Nacken steckte. Ein nasses, erstickendes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, und Silla kroch in die Mitte des Gemetzels, wo eine vertraute Gestalt regungslos lag.
Aus mindestens vier Wunden im Torso ihres Vaters quoll rostiges Rot. Leichen umringten ihn, eine lag auf seinen Beinen, aufgespießt auf ein Schwert, das tief aus seinem Rücken ragte.
Erleichterung durchströmte sie, als sich der Brustkorb ihres Vaters hob und senkte, doch mit jedem Atemzug sickerte Blut aus seinen Wunden. »Vater!«, rief sie und versuchte, den Mann von ihm zu heben, aber der Körper rührte sich nicht.
Silla fiel neben ihrem Vater auf die Knie und legte eine Hand an seine Wange. Dieser Mann sah ganz und gar nicht wie ihr Vater aus. Sein Gesicht war mit Blut verschmiert, sein Haar verfilzt und rot. Ihr friedlicher, sanfter Riese von einem Vater. Wie war das nur passiert? Tränen liefen über ihre Wangen und hinterließen nasse Spuren.
»Vater«, flüsterte sie.
Die Lider ihres Vaters flatterten auf.
»Silla«, raunte er. Seine Stimme war falsch – ganz falsch.
»Vater«, schluchzte Silla. »Vater! Du bist am Leben! Du wirst wieder gesund. Ich werde eine Heilerin finden und sie zu dir bringen.«
»Mondblume«, sagte ihr Vater. »Nein. Mein Schicksal ist besiegelt.«
Ein Schluchzen bildete sich in Sillas Kehle. »Nein, Vater, du darfst nicht …«
Ihr Vater legte ihr einen purpurroten Finger auf die Lippen, und sie zwang sich, zu schweigen.
»Mein Hevrít«, krächzte er, und ihr Blick hüpfte von Leiche zu Leiche, bis sie es fand; das polierte Knochengriffstück, das den Hals eines Mannes durchtrennte. Es bedurfte mehrerer Versuche, es loszureißen, und es gab ein ekelhaftes, schmatzendes Geräusch, als es sich löste, aber sie schluckte die Galle hinunter, die in ihrer Kehle aufstieg, und eilte zurück zu ihrem Vater. Das Salz ihrer Tränen prickelte auf ihrer Zunge, als sie seine Hände um das elfenbeinerne Heft legte – eine Waffe, die ihn beschützen sollte, wenn er durch das Jenseits reiste und sich zwischen den Sternen niederließ.
»Du musst es wissen«, flüsterte er. »Ich habe dich geliebt wie mein eigen Fleisch und Blut.«
Der Schock über sein Geständnis ließ Silla erschauern. Er hustete, heißes Blut spritzte über ihre Wange.
»Matratze.« Die Augen ihres Vaters flatterten, als er scharf einatmete. »Bett … geh nach Kopa.« Er rang nach einem weiteren Atemzug. »Lass dich nicht von der Königin schnappen. Du bist … eine Überlebende.« Ein nasses Röcheln entkam ihm, das über ihre Haut strich und ihre Wirbelsäule hinunterkroch. Silla sah mit Entsetzen, wie das Leben aus seinen Augen wich.
»Nein!« Sie zog seinen Kopf in ihren Schoß und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. Ein leises Schluchzen brach in ihrer Brust aus, als sie den einzigen Menschen hielt, den sie auf dieser Welt hatte. Tränen tropften auf sein blutverschmiertes Gesicht und bahnten sich ihren Weg.
Ein Zweig knackte, und Sillas Blick sprang in den Wald. Wahrscheinlich ein Tier oder ein bösartiger Waldgeist, aber sie konnte kein Risiko eingehen. Und obwohl sie ihren Vater in den Arm nehmen, ihn betrauern wollte, um ihm ein angemessenes Begräbnis zu geben, war es dringend notwendig.
Du musst fliehen.
Ein primitiver Teil ihres Verstandes setzte sich durch. Silla zog die Münzen aus den Taschen ihres Vaters und stand auf.
Und dann lief sie davon.
Kapitel 3
Als die Tür des Nebengebäudes gegen die Wand knallte, brachen Sillas Beine unter ihr zusammen und sie fiel auf den Erdboden. Die Energie, die durch ihr Blut strömte, war verblasst, ihre Sinne waren gedämpft, als ob sie unter Wasser wäre.
Die Hütte am Rande des Grundstücks von Olaf dem Roten war klein und hatte früher als Unterkunft für Feldsklaven gedient, bis für sie ein neues Quartier errichtet worden war. Es bestand aus einem einzigen Raum mit einer zentralen rechteckigen Feuerstelle, über der ein eiserner Kochtopf hing. Der Rest des Raumes war karg; auf der einen Seite befanden sich eine Truhe sowie Strohmatratzen mit Fellen und ein paar Wolldecken, auf der anderen Seite stand ein Tisch, der von Bänken flankiert wurde, und darüber befanden sich Regale mit Vorräten. Das oberste Regal diente ihnen als behelfsmäßiger Altar. Niedrig brennende Kerzen standen vor Brotabsätzen und zwei Bechern mit Met – einer für die Götter, einer für die Geister. Silla sah sich verzweifelt in dem Raum um. Es war zugig und karg, aber es gehörte ihnen … zumindest für ein paar Monate.
Mit tastenden Fingern begutachtete sie ihr Gesicht und ihren Hals. Scharfe Schmerzen unter ihrem Auge und entlang des geschwollenen Fleisches an ihrem Hals deuteten darauf hin, dass sie mit erheblichen Blutergüssen zu kämpfen haben würde. Silla gönnte sich ein paar Minuten, um ihre Gedanken zu sammeln und das Geschehene in sich aufzunehmen. Sie wusste, dass ihr Vater gestorben war – sie hatte gesehen, wie sich seine Brust gehoben und das letzte Mal gesenkt hatte, hatte gesehen, wie das Leben aus seinen Augen gewichen war. Trotzdem lauschte sie nach ihm. Jeden Moment würde sie den Aufprall seiner Stiefel auf dem Treppenabsatz hören. Er würde sie in seine Arme schließen und alles würde wieder gut werden.
Tränen flossen ihr in die Augen, liefen ihr über die Wangen und sie wischte sie kühl weg. Du musst diesen Ort verlassen, erinnerte sie sich, aber ihre Gedanken waren so verschwommen, dass sie kaum denken konnte.
»Du konntest deinen Dolch nicht aus der Scheide ziehen«, sagte das Mädchen aus der Ecke des Raumes und riss Silla aus ihren Gedanken. Sie warf dem Mädchen einen wütenden Blick zu, dann betrachtete sie ihre zitternden Hände im schwachen Licht der Hütte. Zu ihrem großen Entsetzen waren sie mit dem Blut ihres Vaters beschmiert.
Die Königin wird dich nicht töten. Jedenfalls nicht sofort. Die Worte des Kriegers hallten in ihrem Schädel wider und Silla kniff die Augen zusammen.
»Warum wünscht die Königin deinen Tod, Silla?«, fragte das kleine, blonde Mädchen.
Allein bei dem Gedanken zog sich Sillas Brust zusammen. »Hör auf«, knurrte sie. »Ich muss mich konzentrieren. Ich muss schnell handeln.«
Silla ging zu einem Eimer mit Wasser in der Nähe des Kamins und schrubbte sich das Blut erst von den Händen, dann vom Gesicht. Sie tupfte sich die Wangen mit einem nahegelegenen Fetzen Leinen trocken und starrte dann wie betäubt darauf. Mit diesem Leinen hatte sie heute Morgen die Schüsseln von der Tagesmahlzeit abgetrocknet, und es lag immer noch da.
In ihrer rustikalen Hütte war alles noch genauso, wie sie es am Morgen verlassen hatten. Die blaue Tunika ihres Vaters lag auf dem Bett, seine Handschuhe aus Wolfsfell hingen zum Trocknen auf dem Tisch, der herzförmige Stein, den er ihr vom Feld mitgebracht hatte, lag neben Sillas Bett. Wie konnten diese Details unverändert bleiben, wo doch alles andere in ihrem Leben in den Ruin getrieben worden war?
Sie knüllte das Leinen zusammen und warf es weg, aber es war keine Zeit für Ärger.
»Die Matratze«, sagte das Mädchen und zeigte auf die Betten.
Silla kaute auf ihrer Lippe. »Er hat etwas … unter der Matratze versteckt?«
»Ich liebe Rätsel«, rief das Mädchen und klatschte in die Hände. Als sie sich zu den Betten bewegte, packte Silla die Neugierde. Sie zog die Felle vom Bett ihres Vaters und legte sie beiseite. Ihre Finger bewegten sich unter der Strohmatratze und suchten auf der darunter liegenden Palette nach etwas Ungewöhnlichem, fanden aber nichts. Nachdem sie auch unter ihrer eigenen Matratze vergeblich gesucht hatte, begann Silla sich zu fragen, ob die Worte nur das Geschwätz eines Sterbenden gewesen waren.
»Was ist mit dem Inneren der Matratze?«, fragte das kleine, blonde Mädchen und kratzte sich am Ellbogen.
Silla riss an dem Dolch in ihrem Stiefel und war irritiert, als sich die Klinge mit Leichtigkeit löste. »Unanständiges Ding«, murmelte sie und starrte den Dolch an.
Sie strich mit der Klinge über den Rand der Matratze ihres Vaters und griff dann mit der freien Hand in das Strohbett hinein. Fast augenblicklich schloss sich ihre Hand um etwas und sie zog einen grob gesponnenen Beutel heraus.
Silla durchquerte den Raum und kippte den Inhalt auf den Tisch. Sólas und Kressens hüpften heraus, und als sie die Tasche hochhob, entdeckte sie etwas, das im Boden steckte – ein zu einem kleinen Quadrat gefaltetes Pergament. Sie entfaltete es vorsichtig und las die Worte laut vor:
Tómas,
ich entschuldige mich aufrichtig für diese späte Antwort. Die Mossarokk-Post ist schon lange aufgegeben worden und die Patrouillenfahrer sind zufällig über deine Briefe gestolpert – zum Glück waren es Verbündete von uns. Die Ländereien von Eystri bieten Zuflucht denjenigen, die sie benötigen. Kommt nach Kopa, bevor der Winter einbricht, und wir werden dir und deiner Tochter ein Schildhaus besorgen.
Frage nach Skeggagrim im Haus mit den blauen Fensterläden, neben dem Gasthaus Drachenhöhle, in Kopa, Eystri.
Viel Glück auf deiner Reise.
Dein Freund.
»Skeggagrim?«, fragte das blonde Mädchen und klammerte sich an die Tischkante neben Sillas Ellbogen. »Das klingt wie eine Figur aus einem Skaldenmärchen. Ein Troll, vielleicht.«
Silla drehte das Pergament auf der Suche nach weiteren Informationen um, aber es war leer. Sosehr sie die Vorstellung verabscheute, eine so weite Strecke zu reisen, so verlockend war die Aussicht auf Sicherheit. Mehr als verlockend … es war das, wonach sie sich im Leben am meisten sehnte, in Tinte geschrieben.
»Ich nehme an, ich reise nach Kopa.«
»Wir reisen nach Kopa?«, rief das Mädchen aus. »Ein Abenteuer, wie lustig!«
Kopa wäre ein Abenteuer, hatte ihr Vater vorhin gesagt. Die Tränen begannen, sich erneut zu sammeln, und Silla zwang ihren Körper, sich zu bewegen.
Sie faltete das Pergament wieder zusammen und steckte es in die Tasche, zusammen mit den Münzen vom Tisch und denen aus ihrer Handtasche. Sie steckte den Beutel in ihr Leinenunterkleid und tastete mit den Fingern nach der Tasche, die sie an der Innenseite neben ihrer Hüfte eingenäht hatte. Nachdem sie lange genug durch die Straßen von Sudur gereist war, wusste Silla, dass man Wertsachen immer sicher und versteckt aufbewahren musste.
Als sie zum Bett ihres Vaters zurückkehrte, legten sich Sillas Finger um den kratzigen Wollstoff seiner Tunika, und sie konnte nicht widerstehen. Sie hielt sie an ihre Nase und atmete seinen Duft ein, bevor sie die Tunika an ihre Brust drückte. Dieses Kleidungsstück enthielt die letzten Überreste von ihm. Es war töricht, sie hatte nur wenig Platz, aber sie stopfte die Tunika trotzdem in ihren Hanfsack.
Silla zog den herzförmigen Stein neben ihrem Bett hervor und fuhr mit den Fingern über die glatte Oberfläche. Er wanderte in die Tasche. Aus der Truhe neben ihrem Bett zog Silla Unterkleider und eine dicke Wollschürze, einen geweihgeschnitzten Kamm und ihren roten Mantel. Ihre Finger strichen über die mit Pelz besetzte Kapuze. Rot war keine Farbe, um darin zu verschwinden, aber der Mantel war dick und gesteppt, und wo sie hinging, würde sie Wärme brauchen.
Silla lief zu den Kochregalen, nahm eine Schale für Wasser und wickelte geschwärztes Brot in ein Stück Leinen. Sie stopfte Äpfel und Karotten, Hartkäse und geräucherten Elch in den Sack. Silla starrte auf die Opfergaben an ihrem behelfsmäßigen Altar und hielt inne. Was für ein Glück sie mir doch gebracht haben, dachte sie bei sich und runzelte dann die Stirn.
Die Götter agieren nicht so, wie wir es von ihnen erwarten, Mondblume, würde ihr Vater jetzt sagen.
Schwer atmend kehrte sie die Brotkrusten auf den Boden und stellte die Kerzen in das Regal mit den Lebensmittelvorräten, um jeden Hinweis darauf zu beseitigen, dass sie die alten Götter anbeteten.
Silla griff nach der kleinen Holzkiste, die neben einem Stapel verwitterter Schalen stand. Sie zog sie herunter, klappte den Deckel auf und schaute hinein. Ihr Blick fiel auf die grünen Blätter, die knorrig und übereinandergestapelt waren. Sie hob das Fläschchen von ihrem Schlüsselbein, entfernte den Stopfen und drückte so viele Blätter hinein, wie sie konnte, dann legte sie das Kästchen in ihren Sack.
»Du könntest jetzt eines nehmen«, schlug das Mädchen vor. Sehnsucht schoss durch Sillas Adern.
»Bald«, flüsterte sie und betrachtete den Raum. Das Nebengebäude war still und ruhig, das schwache Licht des abklingenden Tages strömte durch die geöffnete Tür.
Von draußen ertönte ein lauter Knall. Silla ließ den Sack fallen, sprang unter eine Bank und zog ein Schafsfell herunter, um sich zu verstecken. Ein Apfel wackelte auf dem Boden, ihr Herz schlug wie eine Kriegstrommel.
Sie zählte ihre Atemzüge, während sie wartete.
Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.
Nichts. Das Gebäude blieb still. Es war nichts. Silla zwang den Atem in ihren Körper, dann schob sie sich unter der Bank hervor. Sie dachte an die Tiere auf der Vindurstraße, die grimmigen Wölfe, deren Heulen sie während der letzten Vollmonde gehört hatte, und die Bären, die die Baumrinde entlang der Straße zerkratzt hatten. Noch schlimmer waren die Kreaturen, die angeblich in den Wäldern herumspukten und ihr Albträume bescherten. Die Vampirhirsche, die in Rudeln jagten und ihren Opfern das Blut aussaugten. Die Wolfsspinnen und andere, deren Namen sie nicht erfahren wollte.
»Du brauchst eine Waffe«, sagte das Mädchen mit einem finsteren Blick, die dünnen Arme über ihrem schmutzigen Nachthemd verschränkt.
Silla blickte auf ihren Knöchel hinunter, wo der Dolch wieder in der Scheide steckte.
»Nutzloses, abscheuliches Ding«, murmelte Silla bitter. Wie sinnlos war es, einen Dolch zu tragen, wenn sie ihn in der Stunde der Not nicht aus der Scheide ziehen konnte? Es war eine Illusion von Schutz, ein falsches Gefühl von Sicherheit.