The Unnamed - Melanie Galfe - E-Book

The Unnamed E-Book

Melanie Galfe

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Beschreibung

Das Leben der 17-Jährigen Rachel versinkt im Chaos, nachdem sie und ihre Mutter einen schrecklichen Autounfall hatten, für den sich die Schülerin die alleinige Schuld gibt. Während sie vollkommen unbeschadet neben dem Auto aufgefunden wurde, liegt ihre Mutter schwer verletzt im Koma und wacht einfach nicht mehr auf. Durch den Unfall findet Rachel heraus, dass ihre Mutter schwer depressiv war und ihre bisherige Sicht auf ihr beschauliches Leben gerät schwer ins Wanken. Noch dazu entwickelt sie unerklärliche Fähigkeiten, die sie und die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung in eine missliche Lage und sogar in höchste Gefahr bringen. Als ihre Freundin Kira auch noch Visionen empfängt und ihr ein Engel im Traum erscheint, angeblich, um sie zu beschützen zweifelt Rachel bald daran, dass ihr Leben irgendwann wieder normal sein wird. Noch dazu bereitet ihr das Wesen Sakon Angst, das sie unaufhörlich im Traum verfolgt und versucht, sie auf seine Seite zu ziehen. Doch da gibt es auch noch Reikon, er behauptet, ihr erklären zu können, was gerade mit ihr geschieht. Sie versteht auf einmal, dass nichts um sie herum- und vor allem nicht sie selbst- so ist, wie sie es bisher geglaubt hatte. Denn sie ist ein Halbengel, eine Unbenannte, wie der Himmel sie nennt. Schon bald wird Rachel bemerken müssen, dass sie stark sein muss, um ihr eigenes, neues Leben zu retten, sowie das der anderen Halbengel...

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„Man erkennt den Autor aus der Schrift vielleicht deutlicher als aus dem Leben.“

-Johann Wolfgang von Goethe-

Träume sind da, um gelebt zu werden. Danke an alle, die mich wie auch immer dabei

unterstützt haben.

Auch an Riddle Illustrations & Costumes,

die mir dieses tolle Cover erstellt hat.

Der Fehlerteufel ist ein fieses Wesen, das bestimmt auch in diesem Buch gewütet hat.

Seht es mir nach, ich bin kein Profi ;)

Nun wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

Prolog

Unheilvolle Regenwolken türmten sich unter ihm auf und immer wieder beobachtete er, wie besonders grelle Blitze durch das einheitliche Grau hindurch hinab auf die Erde zuckten. Sie erhellten nur kurz den sonst vernebelten Untergrund. Gabriel verzog das Gesicht- beim Gedanken jetzt in dieses menschliche Loch runter zu müssen, drehte sich ihm fast der Magen um. Aber alles Zögern und Zaudern half nichts- sobald Gott etwas befahl, wollte er, dass es so schnell wie möglich ausgeführt wurde. Er achtete dabei natürlich nicht auf die Gefühlslage seiner Engel- warum denn auch, das hatte er schlichtweg nicht nötig. Gabriel biss fest die Zähne zusammen und entschied sich, endlich den unvermeidlichen Weg durch die Himmelspforte zu nehmen.

Es war keiner zu sehen, als er möglichst erhaben durch das gewaltige, silberne Tor schritt- was Gabriel nur recht war. Dieser Umstand ersparte ihm die Fragerei, warum er als Erzengel nach so langer Zeit wieder runter geschickt wurde. Petrus wusste nämlich, was das bedeuten konnte- Gabriel wusste nur zu gut, was er dachte, sobald er dem alten Mann ins Gesicht sah.

Tja, auch Engel haben ihre Schattenseiten!, stellte er bitter fest. Er hatte bisher noch keine. Doch das konnte sich schnell ändern, soviel hatten ihm andere schon berichtet. Die Menschheit mit ihren Gelüsten und Verlockungen hatte bisher schon viele in ihren Bann gezogen, die wenigsten hatten es geschafft zu widerstehen.

Als er am Rand des Himmelreiches angelangt war, blickte er schweigend nach unten. Bisher war einer derjenigen gewesen, die sich nicht allzu sehr mit den Menschen anfreunden wollten- er hoffte, das auch in Zukunft so beibehalten zu können, trotzdem spürte er einen Hauch von Veränderung in der Luft liegen. Ganz leicht nur, fast nicht existent, aber er hatte etwas mit ihm zu tun. Es war einer dieser Eingebungen, die nur Erzengel zu spüren schienen. Veränderungen und etwas Zukunft, die oft in Fetzen seine Träume heimsuchte. Schnell schob er diesen unheilvollen Gedanken bei Seite und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe.

Gabriel erzitterte, aber er kam nicht darum herum. Der Zorn Gottes konnte gewaltig sein, er hatte ihn schon mal spüren müssen und wollte das auf keinen Fall wiederholen. Diese unheimlich weisen Augen waren manchmal genauso strafend, wie die des Teufels höchstpersönlich.

Gabriel atmete tief durch- das war vorbei und vergessen, er wollte auch nie mehr daran denken. Schweigend breitete er seine Schwingen aus und stieß in die Tiefe.

Es erschien ihm viel zu kurz, dann war er unten angekommen. Versteckt vor den Augen der Menschen landete er in einer Seitengasse der Großstadt. Hier lebte der Engel, den er auskundschaften sollte. Was er wohl angestellt hat?, fragte Gabriel sich im Stillen. Seine Augen fuhren entrüstet über die stinkenden Mülleimer, die verdreckten Gehwege und vorbeieilenden Menschen. Ein gefallener Engel, durch Sünden dazu verbannt, auf der Erde zu leben- für immer. Es gab viele davon-Manche trieben hier ihr Unwesen, umgaben sich mit Dämonen und halfen dem Satan. Ja, das war ganz nach Luzifers Geschmack.

Während er auf die Straße trat, veränderte sich sein Aussehen, seine Schwingen verschwanden, der makellos weiße Anzug wich einem normalen T-Shirt und einer ausgewaschenen Jeans. Die perlweißen Lederschuhe wandelten sich in durchschnittliche Turnschuhe.

Gabriel sah sich um. Überall waren Engel. Schutzengel, die ihren Menschen hinterherliefen und sie vor allerlei Alltagsunglück bewahrten und vor Missgeschicken warnten. Sie alle hatten ihn natürlich schon bemerkt, einen Erzengel zu übersehen war schwer, auch wenn er im Moment wie ein normaler Mensch aussah- für die Engel war seine strahlende, goldene Aura unübersehbar. Einige blieben stehen und blickten ihn dermaßen verwundert an, dass er grinsen musste- ja, ein Erzengel auf Erden war ein seltenes Ereignis. Manche von ihnen vermuteten vielleicht, das jüngste Gericht wäre soeben hereingebrochen. Bei diesem Gedanken schmunzelte er nur noch breiter.

Als wäre er ein normaler Mensch ging er, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Straßen entlang und hielt mit seinem Geist gleichzeitig Ausschau nach demjenigen, den er suchen sollte.

Es brauchte nicht lange, dann spürte er ihn. Die negative Energie, die den Mann umgab, war so auffällig für Gabriel, dass er ungläubig den Kopf schüttelte- wie blöd konnte dieser Engel nur sein, zu denken, keiner würde ihn so finden? Naiv, eingebildet, oder er vertraute seiner Macht zu stark. Dazu hat er leider allen Grund!, dachte Gabriel mit finsterer Miene und beobachtete die Menschen, die ihn umgaben genau. Keiner sah ihn auch nur flüchtig an, das Großstadtleben war viel zu hektisch, als dass man auf seine Mitmenschen Acht gab. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Wenn Gott das auch so handhaben würde, wäre diese Welt schon vor Ewigkeiten untergegangen.

Ein Schutzengel musterte ihn im Vorbeigehen, Gabriel nickte ihm freundlich zuzumindest die Gemeinschaft unter den Engeln war wieder stark- bis jetzt, das hatte er zumindest geglaubt. Seit gestern wusste er, dass es nicht so war- schon länger nicht mehr, doch die Anzeichen dafür hatte er schlichtweg übersehen.

Die gefallenen Engel, die sich Luzifer angeschlossen hatten waren teilweise wieder in die Reihen Gottes eingetreten, reumütig und meist nur noch ein Schatten ihres einstigen Selbst. Keiner wurde verstoßen, nicht, wenn sie es ernst meintenniemand würde sich trauen, wiederzukehren, ohne ein wahre Reue zu zeigen.

Doch der gefallene Engel, den er jetzt jagte, war ein anderes Kaliber, als alle anderen böse gesinnten Halbengel auf der Erde. Während man versuchte, die Balance zwischen Gut und Böse auf der Erde aufrecht zu erhalten, kämpften Luzifers Kreaturen, seine Engel und anderweitige Wesen bis aufs Letzte gegen die göttlichen Schergen, während jene dasselbe gegen die anderen taten.

Mittlerweile war zwar kein offener Krieg- eher so etwas wie Waffenstillstand, aber ein so großes Vergehen, wie Sakon immer wieder verging, machte Gott aufmerksam. Er konnte das nicht mehr länger dulden und weil er sichergehen wollte, dass der Job sauber ausgeführt wurde, schickte er Gabriel.

Verächtlich schnaubte er, als er sich die Erklärung noch einmal ins Gedächtnis rief: „Sakon hat erkannt, wie er Profit aus seiner Situation machen kann. Es geht nicht darum, wie er es tut, wohl aber, dass er eine Gefahr für die Menschheit darstellt- er muss vernichtet werden.“

Gott hasste es, Wesen umbringen zu müssen, aber in diesem Fall sah er keinen anderen Ausweg. Gabriel als guter Diener akzeptierte das und fragte nicht mehr länger nach.

Jetzt stieß er die Tür zu einer kleinen, schäbigen Bar auf, die Glasscheiben, die in der Tür eingefasst waren, klirrten leise, weil sie so lose waren. Im kleinen Schankraum war reges Gemurmel zu hören, aber auch hier interessierte sich keiner für den Mann, der mit dem drei-Tage-Bart, der nagelneuen Jeans und dem karierten Hemd, eindeutig verdächtig zu normal aussah.

Gabriels hellgrüne Augen tasteten die Gesichter im Raum ab. Die dunkle Energie zog ihn fast an. Wie ein Luchs horchte er auf die Gedanken der Menschen, suchte nach dem Engel, der sein Kommen noch nicht bemerkte hatte.

Die seichten Gedanken der Menschen drehten sich größtenteils um das bevorstehende Fußballspiel, was nicht verwunderlich war- die einzige Frau hier war die Kellnerin, die geschickt durch die Tischreihen huschte und hier und da die vielen leeren Biergläser einsammelte. Ihre Gedanken drehten sich eher um ihre Kinder und darum, was sie heute noch erledigen musste- es war eine Menge, wie Gabriel gefesselt von dieser Alltäglichkeit feststellen musste.

Gabriel filterte die vielen Gedankenströme, zog immer wieder einen weiteren aus seiner Erfassung und zurück blieb der, den er so dringend suchte. Seine Gedanken waren wie Schmirgelpapier auf Gabriels Seele. Seine Züge verfinsterten sich. Noch immer hatte Sakon ihn nicht bemerkt, er saß mit einer Gruppe schwarz gekleideter Männer in einer der dunkleren Ecken der Bar und so viel Gabriel sah, trank der Engel einiges an Schnaps- die vielen leeren Gläser waren Zeichen genug. Wahrscheinlich hätte er sonst viel schneller die Anwesenheit eines Erzengels bemerkt.

Flink wie ein Wiesel bahnte sich Gabriel einen Weg durch die vielen Tische, schwatzenden Menschen und schätzte derweil die Lage ein.

Den Engel hier umzubringen, machte eindeutig viel zu viel Arbeit- die gesamten Gedanken zu kontrollieren, nein, darauf hatte Gabriel heute so gar keine Lust. Außerdem konnten hierbei Fehler passieren, die ihm vielleicht teuer zu stehen kommen könnten.

Also eher Variante zwei- den Kerl auf die Straße locken- irgendwo hin, wo keiner sehen konnte, was dann mit ihm geschah.

Einer der Kerle, die um Sakon herum saßen und seinem durch den Alkohol undeutlichem Gebrabbel gebannt lauschten, entdeckte, dass Gabriel auf die Gruppe zuhielt, packte Sakon am Arm und flüsterte mehrere Worte- viel zu schnell für einen Menschen.

Halbengel!, zischte es in Gabriels Gedanken. Sakon hatte sich umgedreht und die beiden Konkurrenten starrten sich einige Sekunden lang an. Sakon hatte wässrig blaue Augen, aus denen Kälte und Grausamkeit strahlten. Seine Glatze, die das kantige, gefährlich harte Gesicht krönte zusammen mit den rabenschwarzen Klamotten wirkte mehr als bedrohlich- die Menschen mussten ihn für einen Grufti oder ähnliches halten. Gabriel lächelte den Engel kalt an, er ließ sich nicht einschüchtern.

RAUS HIER!, hörte er ein Brüllen in seinen Gedanken- so laut, dass er zusammenfuhr und sich fast die Ohren zugehalten hätte- auch wenn das Geräusch nur in seinem Kopf war.

Er sah, wie Sakons Glatzkopf puterrot wurde, wie eine Tomate und eine schnelle Handbewegung folgte. Alle Fenster der Bar barsten unter einem ohrenbetäubenden Knall- Glassplitter flogen durch die Gegend, erste Schreie zerrissen die Luft.

Gabriels Augen loderten auf vor Zorn. Der Moment gefror augenblicklich zu Eis. Die scharfen Splitter des Glases, die wie bei einer Implosion in den Raum geschleudert worden waren, verharrten regungslos mitten in der Luft. Die Männer, die sich eben noch auf ihren Plätzen umgedreht hatten, um zu sehen, wo der plötzliche Tumult herkam, waren samt schreckensbleichen Gesichtern in der Bewegung eingefroren, genau wie die Kellnerin, die ihr voll beladenes Tablett gerade über ihrem Kopf hielt, um es heil an einem Gast vorbei tragen zu können. Sakon und seine Gefolgschaft vor Gabriel erstarrten einen Moment, aber nicht durch seine Kräfte, sondern vor Überraschung. Doch sie fingen sich so schnell wieder, dass der Erzengel nicht schnell genug reagieren konnte.

Gabriel schleuderte einen Feuerball Richtung Sakon, doch der duckte sich geschickt, der Ball explodierte in der Ecke und steckte einen der schäbigen Vorhänge in Flammen.

Fluchend schickte Gabriel Wasser zum Löschen, das fröhlich gurgelnd aus den Leitungen der Wirtschaft herbeisprudelte, während die Gruppe auseinanderstob und durch den Raum hastete, als wäre der Teufel selbst hinter ihnen her. So schnell er konnte, löschte er mit dem Wasser die Flammen, ließ die Glasscherben, ohne jemanden zu verletzen langsam zu Boden sinken und raste dann hinterher. Während er den Flüchtenden nachrannte, lief die Zeit im Raum wieder an- die Männer brüllten wieder, die Kellnerin servierte weiter Bier, unbemerkt dessen, was gerade geschehen war.

Gabriel stieß die Türe auf, die Engel waren bereits auf der Straße.

Es hat eine Gasexplosion draußen auf der Straße gegeben! Keiner hat etwas gesehen, aber die Fenster sind dabei leider zu Bruch gegangen, niemand darf das Haus verlassen!, diesen Gedanken jagte er durch das Gewissen jedes Menschen in der Bar, wohl wissend, dass die aufkommende Panik dadurch nicht bekämpft war. Eine unheimliche Ruhe folgte dieser Nachricht, aber er konnte es sich nicht leisten, sich zu vergewissern, ob jeder dort drinnen auf seine Macht richtig reagierte- dazu hatte er keine Zeit. Gabriel sprang die Stufen vor der Bar hinab und seine Augen huschten zu den Fliehenden, die wie schwarze Blitze über die Straße schosseneinige Autos blieben hupend stehen und die Fahrer gestikulierten wütend. Gabriel hastete, sich durch die Autos schlängelnd, hinter den Männern her und achtete nicht auf die vor Wut brüllenden Autofahrer. Die Männer versuchten, in alle nur erdenklichen Richtungen zu rennen, aber Gabriels Augen waren nur auf Sakon geheftet, der mit zweien in einer dunklen Seitengasse verschwand.

Sie wussten, dass sie keine Möglichkeiten hatten, ihm zu entfliehen- er würde sie überall finden. Schon tauchte Gabriel in die Schatten der Häuser ein und für ihn war es ein Leichtes, den Flüchtenden den Weg mit einer Feuerwand abzuschneiden. Die Hitze brannte zu ihm hinüber und er beobachtete mit Genugtuung, wie sich die drei Männer- wovon zwei sicher nicht älter als 18 warenzu ihm umdrehten. Die Jungen waren leichenblass geworden, ihre Augen waren geweitet, aber sie hatten dennoch eine Abwehrstellung eingenommen, ihre Fäuste geballt, als wären sie dazu bereit, gegen jede Übermacht anzukämpfen, auch wenn es ihren Tod bedeutete.

„Sakon, es ist aus. Du hast dein Spiel gespielt und es hiermit verloren.“ Sakon stand etwa fünf Meter vor ihm, ganz ruhig. Der Engel grinste ihn arrogant an, seine scharfen Augen musterten ihn abschätzend von Kopf bis Fuß.

„Du hast ja keine Ahnung.“, schnaubte er und spuckte vor sich auf den Boden. Die anderen beiden rührten sich immer noch nicht. Die Feuerwand hinter ihnen begann mächtig aufzulodern und gefährlich zu zischen, die Flammen züngelten an den Backsteinwänden der Gebäude nach oben, hinterließen aber keinerlei Rußspuren. Gabriels Augen verengten sich, während er hinter sich ein Kraftfeld erschuf, damit vorbeilaufende Passanten die Szene nicht sehen konnten- er musste vertuschen, was hier gerade geschah.

„Du willst wirklich zwei deiner Gefolgsleute mit in den Tod ziehen, nur weil du zu feige bist, alleine zu sterben?“, fragte Gabriel angeekelt. Sakon verzog keine Miene.

„Sie folgen mir freiwillig, ich zwinge sie nicht dazu bei mir zu bleiben.“ Lüge!, schrie es in Gabriels Gedächtnis. Er hatte es den beiden sofort ansehen können, dass sie nicht freiwillig bei Sakon waren. Ihre gesamte Haltung zeigte ihm, wie gerne sie schreiend davon rennen würden.

„Ihr könnt unbehelligt gehen, wenn ihr wollt- ich habe nur etwas mit Sakon zu erledigen, euch zu töten ist nicht mein Ziel.“, wandte er sich nun direkt an die beiden Jungen. Unsicher wandten sie die Köpfe und sahen erst Sakon, dann sich gegenseitig an. Der Wunsch, zu flüchten war gewaltig und sobald der Samen von Zweifel in ihrem Gedächtnis gekeimt hatte, war der Kampf schon fast gewonnen. Einer der beiden ließ die Fäuste sinken. Da geschah etwas, was Gabriel schon fast erwartet hatte.

Du bleibst hier!, flüsterte eine Stimme, zaghaft zwar in Gabriels Gedanken- doch nur, weil sie nicht für ihn bestimmt war. Du weißt, was geschieht, wenn du jetzt gehst!

Für den Jungen musste die Stimme lauter sein, als ein Donnerschlag. Ein Wunder, dass er so ruhig stehen bleiben konnte.

Dann ist dein Leben verwirkt.

Sakon wusste nicht, dass Gabriel lauschte, aber der Versuch, den Jungen zum Bleiben zu bewegen war genug, um den Engel abzulenken. Der Junge hatte die Fäuste wieder erhoben, mit einer hoffnungslosen Leidensmiene. Gabriel schickte die beiden Jungen mit einer einzigen Handbewegung gegen die Wände und es tat dumpfe Schläge, als sie erst gegen die Wand knallten und dann zu Boden fielen.

„Weg hier!“, rief er den Jungen entgegen, während er mit aller Macht Sakon gegen seine Feuerwand schleuderte. Der Engel wehrte sich dagegen und landete knapp vor der orangeroten Wand, sicher wie eine Katze auf beiden Beinen. Der plötzlich auflodernde Hass in seinen Augen beeindruckte Gabriel nicht ein bisschen. Keiner hatte je bei seinen Angriffen überlebt, aber Unschuldige zu töten stand nicht in seinem Sinne. Die Jungen rappelten sich auf und rannten, so schnell sie konnten hinaus auf die Straße, wo sie der vorbeilaufende Strom von Menschen mit sich zog. Gabriel schirmte sie ab von Sakons weiteren wütenden Versuchen, sie zum Umkehren zu bewegen.

„DU BASTARD!“, brüllte Sakon und heiße Wellen des Hasses rollten über Gabriel hinweg- Sakon hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Gut- Kontrollverlust bedeutete Fehler. „Dafür wirst du bezahlen!“, zischte er und richtete eine Hand auf seinen Widersacher. Doch es kam anders, als Gabriel es sich ausgemalt hatte. Sakon sackte auf einmal in sich zusammen, als hätte ihn jemand unbemerkt ein hoch dosiertes Schlafmittel gegeben. Überrascht musterte Gabriel seinen Gegner- das hatte es bis jetzt auch noch nicht gegeben, dass einer seiner Feinde mitten in einem Kampf einfach ohnmächtig wurde. Es waren drei Sekunden, in denen er nicht aufpasste- drei Sekunden, die verstrichen und nach denen ein verzweifelter Schrei die Luft zerriss. Einer der Männer aus Sakons Schergen war zurückgekehrt. Er hatte sich offensichtlich willkürlich eine Passantin von der Straße geschnappt, und sie hinter das Kraftfeld gezerrt. Die Menschen draußen wirkten zwar zutiefst erschrocken, aber da die Gasse für sie vermeidlich leer war, liefen sie schnell weiter und versuchten zu vergessen, dass gerade ein ganz in schwarz gekleideter junge, eine Frau aus der Menge gezerrt hatte, ihr einen uralten Dolch an die Kehle hielt und sie sich schlichtweg in Luft aufgelöst hatten. Menschen liebten es viel zu sehr Dinge zu vergessen, die unbequem waren.Heftig atmend starrte die Frau in die Gasse- was sie sah musste recht eigentümlich aussehen- ein gut aussehender Mann mittleren Alters, der vor einem Bewusstlosen stand und im Hintergrund immer noch eine brennende Feuerbrunst, die die Häuser empor zu klettern schien. Die Panik in ihren Augen wurde immer größer. Ihre Gedanken sprudelten nur so über.

Oh mein Gott! Lieber Gott, das sind Mörder- keine Räuber, Mörder! Nein, oh nein, bitte nicht- nicht heute! Ich will noch nicht sterben!

Keine Angst!, flüsterte er ihr in Gedanken zu und ihre Augen wurden noch größer- ihre schönen, moosgrünen Augen, in einem schmalen Gesicht, welches von rabenschwarzen Haaren, die vom Überfall ganz zerzaust aussahen umrahmt wurde.

Gabriels Atem stockte, sobald er der Fremden in die Augen geblickt hatte, veränderte sich etwas in ihm, da war der Hauch eines Gefühls, nur ein Schnipsel von etwas, von dem er noch nie vorher gekostet hatte, eine kleine Regung nur in seinem alten Herzen. Doch das reichte Sakon aus.

Erst jetzt sah er, dass der Junge, der die Frau mit steinhartem Griff festhielt, urplötzlich blassblaue Augen hatte. Dann sah er nur noch das Lächeln und wie der Dolch blitzartig über die Kehle der Frau gezogen wurde.

“NEIN!“

1. Kapitel

“Rachel- kannst du mir mal schnell helfen?!”, flüsterte es dicht neben meinem Ohr und ich schreckte aus meinem Tagtraum hoch. Eigentlich war ich gerade kurz davor gewesen, Orlando Bloom im Legolas-Kostüm heiß und innig küssen, aber wie meine Freundin Kira es so liebte, schaffte sie es, genau in den besten Momenten reinzuplatzen. Gerade noch seine schönen Augen vor mir gehabt, beugte ich mich etwas gereizt über den Tisch.

“Was ist denn jetzt schon wieder?”, knurrte ich leise zu ihr hinüber.

“Och, hab ich wieder Orlandos Arbeit gestört?” Sie traf auch mal gerne mit dem Nagel auf den Kopf. Mein mürrischer Blick war ihr wohl Antwort genug. “Ach komm schon Rachel, so langsam solltest du auch mal im Unterricht aufpassen- weil du die Hälfte davon verschläfst.”

“Ist ja schon gut! Ich bemühe mich doch… Also was wolltest du jetzt?”

Ich versuchte standhaft meinen Ärger zu unterdrücken, als sie mit bittender Miene auf ein Blatt vor sich deutete.

“Egal, was der da vorne faselt- ich verstehe keinen Deut!”, schnaubte sie leise und ich konnte verstehen, wovon sie sprach.

„Der da vorne“- also Herr Gabler- unser Mathelehrer war eine einzige Niete, was Kommunikation und Wissensweitergabe betraf. Sein Gesprächspartner war hauptsächlich die Tafel und seine Schrift so unleserlich, dass wir Schüler schon behaupteten, die Brille mit dem viel zu dicken Glas, die auf seiner Knollnase saß, wirke wie eine übermäßige Lupe. “Rachel, ich hab einen echten Notstand, wenn der nächste Woche einen Test schreibt, bin ich echt geliefert!” Unglaublich, wie ihre Rehaugen noch größer werden konnten, wenn sie etwas unbedingt wollte. Sie strich sich hektisch eine ihrer unendlich vielen, widerspenstigen braunen Lockenum die ich sie im Übrigen sehr beneidete- hinters Ohr.

“Ach komm schon, nur noch dieses eine Mal.” Ich seufzte resigniert und knirschte mit den Zähnen, bevor ich ein “Na gut.”, rauspressen konnte.

Ich warf noch schnell einen Blick nach vorne, auf den wenig kommunikativen Rücken unseres Lehrers, bevor ich entschloss, meine Nachhilfelektion gleich hier abzuhalten- ich würde wahrscheinlich wieder eine Sondermathestunde zu Hause abhalten müssen.

Mit gedämpfter Stimme erklärte ich Kira den Stoff in allen Einzelheiten, damit ich später alles nicht noch einmal wiederholen musste, zwang ich sie dazu mitzuschreiben. Als ich letzten Endes alles erzählt hatte, was ich wusste, läutete es und ich schob erleichtert all meine Sachen in meine Tasche, dann sprang ich auf und lief an Kiras Seite nach draußen.

“Oh danke Rachel, das war ganz sicher das aller aller, aller letzte Mal, dass du mir helfen musst.” Sie überkreuzte ihre Finger. “Ich schwöre.”

“Na… mal sehen, ob du das so einhalten kannst.”, lachte ich und sie schob beleidigt ihre Unterlippe vor.

“Du glaubst, ich schaffe das nicht?” Ich zuckte grinsend mit den Schultern. “Gut, dann machen wir eine Wette- wenn ich in dem Test nächste Woche keine 13 Punkte habe, darfst du dir aussuchen, wie ich mir das nächste Mal die Haare schneiden soll.” Ich riss theatralisch die Augen auf.

“Ehrlich? Das Risiko würdest du in Kauf nehmen?”, witzelte ich und sie nickte, auf einmal wieder todernst, dann grinste sie wie ein kleiner Teufel.

“Aber nur, weil ich weiß, dass du mich niemals entstellen würdest, dafür bist du nämlich viel zu lieb.” Sie gab mir ein kleines Küsschen auf die Wange und kicherte.

Mittlerweile waren wir vor der Schule angekommen und ich betrachtete den stetigen Schülerstrom, der sich Richtung Heimat wälzte. Seufzend drehte ich mich zu Kira um.

“Lass mich raten, Kevin holt dich ab?” Ein überbreites Strahlen stahl sich auf ihr Gesicht- das passierte jedes Mal, wenn jemand seinen Namen erwähnte. Kevin war ihr Freund- jetzt schon seit verdammten vier Monaten. Vielleicht merkte man es nicht sofort, aber ich hasste ihn abgrundtief. Er war ein ekelhafter Macho, der, wenn Kira gerade einmal nicht da war, jedem Rock nachsah, der seiner Meinung nach gut genug für ihn war. Aber ich war zu nett, um ihr zu sagen, wie schlecht er für sie war- dazu schien sie ihn viel zu sehr zu lieben.

“Ist das schlimm? Du weißt doch, er hat so wenig Zeit wegen seiner Ausbildung, da muss ich jede Sekunde ausnutzen, die er für mich hat. Ich hoffe du bist mir deshalb nicht böse.”

“Nein, bin ich nicht, aber ich vermisse dich so langsam. Ich höre Tag ein Tag aus nur noch Kevin hier und Kevin da. Sogar unseren DVD-Abend neulich hast du wegen ihm abgesagt… Du musst echt mal zusehen, dass du dich auch um andere kümmerst- nicht nur um ihn.” Geknickt nickte sie und trat verschämt auf der Stelle.

“Tut mir leid- du weißt, dass es nichts gegen dich ist… Aber ich liebe ihn doch… Bitte sei mir nicht böse- oh da ist er auch schon.” Erleichtert winkte sie Kevin zu, der gerade mit seinem knallroten Golf um die Ecke gerast war und damit einige über die Straße laufenden Kindern Beine gemacht hatte.

“Hey Süße, dein Taxi ist da!”, rief er lauthals aus seinem geöffneten Fenster rüber und ich verdrehte genervt die Augen.

“Bis dann Rachel- wir sehen uns morgen!” Während sie sprach, ging sie bereits los, sah mich nicht mehr an und beugte sich ins geöffnete Fenster ihres Freundes, als sie an seinem Auto angekommen war. Ich sah wissentlich wo anders hin, weil ich dieses ekelhafte Geschlabber nicht sehen wollte. Irgendwann musste sie doch merken, dass er keine Zukunft für sie sein konnte. Griesgrämig sah ich dem roten Auto hinterher, das pfeilschnell wieder um die Ecke verschwand. Augen rollend wollte ich mich auf den Weg machen, auf der anderen Seite wartete bereits der Bus, was mir gerade einen halben Herzschlag bescherte- sollte ich den verpassen, würde ich eine Stunde warten müssen- doch dazu sollte es wohl nicht kommen, denn wieder brauste ein Auto auf mich zu und blieb mit qualmenden Reifen vor mir stehen. Ein Fenster wurde heruntergekurbelt.

“Auf, spring rein!” Erst war ich wie erstarrt, dann fing ich an zu grinsen, bevor ich die Beifahrertür öffnete und einstieg.

Der Junge, der hinterm Steuer saß war mein langjähriger Kumpel Manuel, mit seinen wuscheligen, braunen Haaren, die wie immer ungebändigt in alle Richtungen abstanden, und seine lieben grünen Augen waren genau das, was ich jetzt brauchte. Freudig lächelte ich ihm entgegen und ließ mich auf den Sitz gleiten.

“Was machst du denn hier?” Er zuckte lässig mit den Schultern.

“War grad in der Nähe und dachte du könntest eine Mitfahrgelegenheit gebrauchen- deinen Bus hast du wohl gerade verpasst.” Er hatte Recht- der fuhr tatsächlich gerade los. Ich grinste.

“Da hast du wohl recht- ich schätze, du fährst mich heim?” Manuel machte ein nachdenkliches Gesicht, grübelte einen Moment und nickte dann grinsend.

“Ja, ich denke schon.”

“Und wir war die Schule?”, fragte er feixend und gab mächtig Gas. Heute war wohl Raser-Tag.

“Wie Schule nun mal so ist- gähnend langweilig.”

“Ach, wie schön, dass ich das nicht mehr an der Backe habe.” Schweigend sah ich hinaus in die Landschaft, während wir über die einsam gelegene Landstraße fuhren. Das Wetter war eigentlich perfekt, vielleicht sollte ich mal wieder etwas unternehmen- aber ich fand irgendwie keine Energie dazu, seitdem diese schreckliche Sache geschehen war. Ich zuckte zusammen, als ich daran dachte und meine Gedanken mieden sofort dieses Thema, viel zu viel Schmerz, viel zu viel Leid war deshalb entstanden. Ich wollte das alles nicht mehr spüren, wollte die Bilder nicht mehr sehen.

“An was denkst du?”, fragte er leise, nachdem er wohl mein nachdenkliches Gesicht bemerkt hatte. Ich sah mein verzerrtes Spiegelbild in der Fensterscheibe an. Ich fühlte mich so falsch.

“An nichts…”, murmelte ich und nahm eine meiner aalglatten, schwarzen Haarsträhnen zwischen die Finger. Ich wollte ablenken- das merkte mein feinfühliger Freund aber leider sofort.

“Du hast wieder daran gedacht, stimmt´s?” Ich starrte in meine eigenen grünen Augen und verwünschte die Tränen, die in ihnen standen.

Ich schüttelte heftig mit dem Kopf. Seine Hand lag plötzlich auf meiner und seine Wärme tröstete mich ein wenig.

“Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte etwas dagegen tun.” Keine Tränen, kein Schmerz, keine Gefühle, all das wollte ich nicht und ich verdrängte es. Nach ein paar Sekunden war ich mir sicher, es geschafft zu haben und schloss kurz die Augen um das zu unterdrücken, was in mir aufkam.

Seine Hand verschwand wieder.

“Tja, das sagen alle… im Endeffekt können sie es doch nicht.” Er zuckte nur mit den Achseln, als ihm nichts anderes mehr einfiel. So machten es die meisten der Leute, die diese Geschichte gehört hatten, sie wurden mitleidig, beteuerten ihr Beileid. Doch keiner von ihnen würde jemals genau wissen, wie es mir ging, wie mein Leben jetzt aussehen würde und wie ich mit mir selber weiterleben könnte. “Ist ja auch egal.”, meinte ich und mischte etwas Freude in meine Stimme- musste ja nicht jeder gleich mitbekommen, wie mein Innerstes gerade aussah. Manuel nickte.

“Schau nach vorne, es geht immer weiter.” Danach sagten wir auf der ganzen Fahrt nichts mehr, was mir auch ganz lieb war, weil ich ihn dann nicht mehr anlügen musste. Dann kamen wir endlich bei mir zu Hause an und ich betrachtete das Haus, in dem schon so viele meiner Vorfahren gelebt hatten- mit all seinen uralten, weißen Fensterläden, dem roten Putz und den verstaubten Ecken, in denen sich die Katzen allzu gerne versteckten, oder in der Sonne räkelten. Ich liebte unseren kleinen Bauernhof mit dem Dreck, den vielen Tieren und meinem Vater, der das alles hier in Gang hielt.

Gerade als ich ausstieg kam er mit einer Gruppe Ferienkinder aus den Ställen und winkte mir freudig zu, sobald er mich im Auto sitzen sah. Ich winkte zurück.

“Danke fürs Fahren!”

“Kein Ding, bin auf der Durchreise- ich fahr noch weiter nach Frankfurt… Muss wieder als Türsteher fungieren.”, er verdrehte gespielt wehleidig die Augen und grinste. Dabei wusste ich doch, dass er seinen Job über alles liebte. “Rachel…”, er zögerte kurz. “Als mich vorhin gesehen hast, hast du das erste Mal wieder richtig gelacht- du weißt ja gar nicht, wie froh ich darüber war… Ich wünschte nur, du könntest immer so lachen.” Ich hatte seinen Gesichtsausdruck noch in meinen Gedanken, als er ohne ein weiteres Wort zu verlieren davonfuhr. Lachte ich wirklich so selten in letzter Zeit? Das hatte ich gar nicht bemerkt. Grübelnd überquerte ich unsere Einfahrt, an deren Rand ein großer Pferdetransporter geparkt war und sah meinem Dad dabei zu, wie er den gespannt dreinblickenden Kindern haarklein von unserem Hof und seiner Geschichte berichtete. Ich wollte eigentlich an ihnen vorbei ins Haupthaus, in dem wir unsere Wohnung hatten, aber sein ausschweifender Monolog endete und er erlaubte den strahlenden Kindern, eine Runde Ponys zu putzen, was die natürlich begeistert annahmen. Dann kam er sofort zu mir gelaufen.

“Na, wie war die Schule?”, fragte er und wischte sich den Staub an der ausgewaschenen Arbeitshose ab, die er schon besaß, solange ich denken konnte. Seine Haare waren mit der Zeit grau geworden- um seine Augen hatten sich in vielen Jahren unzählige Lachfältchen gebildet, die ich an ihm so sehr liebte. Er wirkte selbst im entspannten Zustand freundlich. Selbst wenn er böse wurde.

“Alles in allem, wie immer. Gibt’s was zu essen?” Ich hatte gelernt, unangenehmen Dingen aus dem Weg zu gehen und wie er mich gerade musterte, gefiel mir gar nicht.

“Ja, steht drinnen auf dem Herd- ich geh mal lieber zu den Ferienkindern, nicht, dass die mir noch was anstellen. Ich glaube Fernando wollte später noch eine Runde auf Kasimir drehen, ist das ok?” Ich musste schlucken, bevor ich nickte, mich umdrehte und ins Haus stürmte. Ich konnte mir das nicht anhören.

Die Tür schlug ich viel zu laut hinter mir zu und warf meine Schuhe achtlos in eine Ecke unseres Flurs, mir war egal, ob er darüber meckern würde. Tatsächlich stand auf dem Herd in unserer uralten Küche ein Topf Spaghetti Bolognese und ich tat mir einen großen Teller davon auf, bevor ich mich auf meinen Lieblingsplatz am Fenster niederließ. Ich hatte hier schon als kleines Kind gerne gesessen, im Winter hatte ich oft den Schneeflocken beim Tanzen zugesehen und im Sommer liebte ich die vielen bunten Blumen, die den ganzen Garten fast überfüllten.

Nachdenklich starrte ich in den strahlend blauen Himmel hinauf, sah den Wind durch die Blätter der hohen Eiche streichen und dachte daran, wie schön das alles doch war.

Langsam aß ich meine Nudeln auf und sah Lilly- meiner grau getigerten Katzedabei zu, wie sie sich in der Sonne in einem der Blumenbeete aalte. Sie liebte es, dort zu liegen.

Wäre ich doch auch nur so unbekümmert!, dachte ich traurig und stellte meinen leeren Teller neben mich.

Seit einem Monat konnte ich nicht mehr richtig lachen, schlafen, denken oder empfinden. Alles war abgestumpft und wenn, dann kehrten meine Empfindungen aufs Heftigste zurück, sobald mich jemand daran erinnerte. Daran. An den einen Tag, der mein ganzes Leben verändert hatte.

Ich wollte eigentlich gar nicht mitgehen, ich hatte Kira bereits dreimal abgesagt, aber in ihrer Welt gab es kein Nein- was sie unbedingt haben wollte, musste auch so geschehen, und wie ich nun mal so war, sagte ich schließlich doch zu und wir verabredeten uns für den Abend.

Laut ihrer eher sporadischen Beschreibung handelte es sich um eine Party irgendwo in der Gegend “Bei einem Bekannten!”, hatte sie behauptet. Ich hatte nur genickt und mich weiter für dieses Event fertig gemacht. Meine Mutter hatte mir eigentlich verboten an diesem Wochenende raus zu gehen, aber das war mir herzlich egal, weil ich mich ungerecht behandelt fühlte- nur, weil ich zuvor zweimal unangekündigt nicht nach der Schule heim gekommen war? Mir erschien die Strafe viel zu hoch dafür. Das erregte wohl meinen jugendlichen Trotz, weil ich trotzdemoder gerade deshalb- zu dieser verdammten Party wollte. Mein Plan war, mich aus dem Haus zu schleichen. So blöd das auch war- ich dachte wirklich, das würde funktionieren.

Ich wartete also ab, bis es dunkel genug war, dann sagte ich meinen Eltern, ich würde schlafen gehen, weil ich ja so müde sei. Meine Mutter- das weiß ich nochhatte sich umgedreht und gemeint: “Ich bin stolz auf dich, weil du dich so erwachsen verhältst.” Ich hatte gelächelt und gedacht: “Wer´s glaubt!” Tja. Heute wünschte ich, ich hätte das nicht getan- ich wünschte, diesen Tag hätte es niemals gegeben, er wäre ein schwarzer, nicht vorhandener Fleck in meiner Geschichte. Aber leider war das nicht so, leider musste ich damit leben, was an diesem Tag noch geschah.

In meinem Bett hatte ich schon eine Art Puppe vorbereitet, die aussah wie eine schlafende Silhouette- falls einer meiner Eltern auf den Gedanken kommen sollte, noch mal nach mir sehen zu wollen. Den Trick hatte ich mir aus unzähligen Filmen abgeschaut und ich kam mir dabei schon etwas doof vor, allerdings war es auch ein ziemlicher Nervenkitzel. Würde ich entdeckt werden, oder nicht?

Es war alles perfekt geplant, ich sprang also- um die quietschende Eingangstüre nicht öffnen zu müssen- aus einem der Fenster im Erdgeschoss und blieb mit zitternden Knien und klopfenden Herzen stehen. Hatten sie mich gehört? Viele, zweifelnde Sekunden vergingen, aber ich konnte nur das beständige Fernsehgeräusch aus dem Wohnzimmer vernehmen- keine Schritte, keine gedämpften Stimmen. Erleichtert atmete ich auf und strich mein Cocktail-Kleid zurecht. Ich hasste es, eingesperrt zu sein, das wussten die beiden- ich fragte mich nur, warum sie dachten, ich würde das zulassen.

Leise schlich ich über den Hof und hoffte, der Nachbarhund würde heute eine Ausnahme machen und nicht wie sonst bei jedem meiner Schritte laut bellen. Aber Gott sei Dank hatten sie ihn ins Haus verfrachtet, wo er nur ein einziges klägliches Mal bellen konnte, bevor sein Besitzer mit einem “Sei still, du dummer Hund, lass die Nachbarn schlafen!”, eingriff. Das erste Mal in meinem Leben war ich Herrn Schäfer dankbar.

Kira und ihr Freund warteten bereits eine Straße weiter auf mich und als ich schwer atmend in den Wagen stieg, meinte er nur: “Tolle Aktion Mann- hätte sich sicher nicht jeder getraut!”

“Oh, Rachel, das wird toll, glaub mir! Dafür hat es sich wirklich gelohnt.” Zu diesem Zeitpunkt war ich mir fast sicher, dass es das nicht wert war. Selbst wenn ich das da noch nicht gewusst hatte, vielleicht zehn Minuten später würde ich es wissen, denn genau so lange sollte die Fahrt dauern.

Die Zustände, die ich diese kurze Zeitspanne danach sehen würde, verschlugen mir fast den Atem. Das, was eine Party hätte sein sollen, glich eher einer Gartenbelagerung- noch dazu war der so genannte “Garten” die Vorhut für ein halb eingefallenes Haus und das sah nicht gerade bewohnt aus. Eingeschlagene Fenster, überall Graffiti an den Wänden und Türen, die kaum noch in den Angeln hingen.

“Was- hier ist eure tolle Party?!”, fragte ich verdutzt und schielte aus den Autofenstern auf die eher zweifelhafte Gesellschaft dort draußen. Einige von diesen Typen sahen so aus wie die, bei denen ich gerne die Straßenseite wechselte, wenn sie mir entgegenkamen. Und für so etwas riskierte ich lebenslangen Hausarrest bei meinen Eltern?

“Ja- schick, oder? Das Haus hat Pierre letzte Woche entdeckt. Es ist viel zu weit weg von der nächsten großen Straße. Hier sind kaum Wohnhäuser, es ist quasi mitten im Busch, hier fällt niemandem auf, wenn wir laut feiern.” Mit vor Begeisterung strahlender Miene, stieg er aus und schmiss die Tür, die widerspenstig schepperte, zu. Einen Moment lang starrte ich Kira an.

“Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder? Bei einem Kumpel zu Hause, wollt ihr mich verarschen?!”, fragte ich sie.

“Was ist denn daran so falsch, hä?”, zickte sie plötzlich und in ihre Augen trat ein beleidigtes Funkeln. “Nur weil du besseres gewohnt bist und einmal gegen Mamis Regeln verstößt, muss ich mich nicht schuldig fühlen- wenn´s dir nicht gefällt- geh halt wieder heim!” Sie wirkte auf einmal zornig und in irgendeiner Weise wohl verletzt. Wir lieferten uns ein Blickduell, aber ich hatte keine Chance, auch wenn ich etwas eingeschnappt war, ihre Wut- das konnte ich spüren- war viel größer als meine.

“Na gut, es tut mir leid- vielleicht ist es da drinnen ja doch ganz schön… Komm schon Kira, sei nicht sauer auf mich!” Ihre Blicke wurden skeptisch. “Gut, vielleicht hab ich gerade auch überreagiert… Nun komm, schauen wir uns mal die ach so schlimme Party an.” Mit diesen Worten zwang sie mich förmlich aus dem Auto und ich hätte mich am liebsten hinter ihr versteckt, als sie wie selbstverständlich auf das verrottete Stückchen Land zuging. Schon nach drei Schritten kam mir der Geruch von Alkohol, Erbrochenem und Müll entgegen. Augenblicklich wurde mir speiübel und ich versuchte, nicht auf dem Absatz umzukehren und davonzurennen. Wäre wahrscheinlich besser gewesen.

Laute Musik schallte uns entgegen.

Wir passierten ein gedrungenes, eingefallenes Gatter und traten auf den staubtrockenen Rasen, der unter unseren Füßen leise raschelte. Jemand hatte Stehtische über die gesamte- nun, nennen wir es Gartenanlage- verteilt und an diesen Tischen tummelten sich hauptsächlich Jungs- dieser Umstand war mir vom Wagen aus gar nicht so stark aufgefallen- jetzt allerdings schon, denn auf einmal fühlte ich mich wie die leckerste Mahlzeit der Welt unter lauter halb Verhungerten. Jeder, wirklich jeder starrte uns an und ich merkte, wie die Röte mir nach und nach in die Wangen schoss. Nein, das war mehr als peinlich- vor allem, wenn man spürte, wie die Blicke am ganzen Körper kitzelten. Mit fast geschlossenen Lippen flüsterte ich: “Warum starren die uns alle so an?”

Daraufhin musste Kira grinsen, als wäre es das normalste der Welt, sich so angaffen zu lassen. Eingeschüchtert starrte ich auf den Boden, als sie mich am Arm packte und mich mit zu einem der Tische zog. Dort stand Kevin mit zwei anderen Typen, die mich neugierig beäugten. So, das musste wohl Pierre sein- der pickelige, Möchtegern Hip-Hopper.

“Pierre, Fabi, das sind Rachel und meine Kira.” Fast demonstrativ zog er Kira in seine Arme und küsste sie so heftig, dass ich dachte, er würde sie niemals mehr loslassen- auf einmal wurde mir noch elender. Damit schien für die beiden anderen die Jagd auf mich eröffnet.

“Und, auf welche Schule gehst du?”, fragte der Junge, der offensichtlich Fabi war. Sein Blick wirkte bereits etwas verklärt und die Wodkaflasche, an die er sich scheinbar Hilfe suchend klammerte, würde das auch nicht gerade besser machen. Interessiert beugte er sich nach vorne.

“Äh aufs Gymnasium.”, sagte ich und versuchte möglichst reserviert zu klingenich hoffte auf eine möglichst kurze Unterhaltung.

“Oho- hör mal Pierre, wir haben hier eine der Hochbegabten!” Kichernd stieß er seinem Kumpel in die Seite. “Ihr Gymnasiasten meint immer, etwas Besseres zu sein…”

“Ach, Fabi, halt doch die Klappe.”, meinte Kira kichernd und leicht errötet, weil Kevin gerade erst von ihr abgelassen hatte.

“Is doch wahr!”, nuschelte er beleidigt und stützte seinen Kopf in die Hände. Seine glasigen Augen waren auf mich gerichtet. “Allerdings habe ich mir Gymnasiasten auch immer mit einer fetten Nerd-Brille, Pickeln und Büchern im Arm vorgestellt. Das scheint ja wohl doch nicht so zu sein.”

Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, ob das als Kompliment gemeint war. Aber sein plötzliches, anzügliches Grinsen bereitete mir Angstschauer. Kira schnappte sich eine der Flaschen, die überall auf dem Tisch herumstanden und nahm viel zu große Schlucke. Ich konnte nicht darauf achten. Sein Blick hatte etwas Anderes angenommen. Etwas Bedrohliches. “Anscheinend habt ihr Hochbegabten doch etwas auf dem Kasten…” Er kam näher. Er lief an Pierre vorbei, der links neben mir stand und stellte sich nahe neben mich. Viel zu nahe. Ich konnte seinen widerlichen Alkohol-Atem riechen- mein ganzer Körper wollte mindestens zehn Schritte weg von ihm, aber ich war wie festgewachsen, kein Muskel wollte sich rühren und auf meine Gedanken reagieren.

“Weißt du, Süße, mir ist so langweilig hier- wie wär´s, wenn wir wo anders hingehen?” Sein Grinsen wurde breiter, dann legte er einen Arm um meine Schulter und wollte mich an sich ziehen.

Während das passierte, bemerkte ich, wie Kira wieder an Kevins Lippen klebte und nichts davon mitbekam. Pierre jedoch kicherte nur irgendwie bekifft.

Meine Gedanken rasten.

“Nein, sicher nicht.”, sagte ich mit überraschend fester Stimme und wollte mich aus seinem Griff befreien- seine Hand grub sich schmerzhaft tief in meine Schulter.

“Ach komm schon… Is doch nichts dabei. Schau mal, deine tolle Freundin is auch kurz davor.” So leid es mir tat, da hatte der Schnösel recht- Kira stand eng umschlungen und meiner Meinung nach in viel zu aufreizendem Maße zusammen mit Kevin einige Meter entfernt. Die beiden schienen ihre Umgebung total vergessen zu haben. Angewidert sah ich weg.

“Ist mir doch egal, was die macht. Ich jedenfalls werde mich sicher nicht einem Besoffenem wie dir an den Hals werfen und jetzt nimm deine dreckigen Finger da weg!” Ich konnte seine Hand gerade noch packen, bevor sie meinen Hintern erreichte. Mit pochendem Herzen sprang ich zur Seite und sah mich nach möglicher Hilfe um- auf Kira war in solchen Fällen anscheinend eher weniger Verlass.

Vielleicht konnten mir die anderen helfen. Aber die sahen teilweise noch weniger vertrauenswürdig aus, als dieser Fabi. Hier und da qualmte sogar einer einen Joint. Mein Gott, wo bin ich hier nur gelandet?, fragte ich mich in Gedanken und ging einige Schritte zurück, als der Kerl mir nachlief. Er schien einfach nicht locker lassen zu wollen.

“Rachel…”

“Kira, ich hab keinen Bock mehr- ich lauf nach Hause!”, rief ich zu meiner Freundin rüber, konnte aber unter dem Knäuel aus Beinen, Köpfen und Armen nicht erkennen, ob sie es gehört hatte. Doch das war mir egal, ich wollte hier nicht bleiben, unter all diesen Kiffern und Asozialen. Ich verzog das Gesicht und wollte mich schnell aus dem Staub machen, aber als ich mich umdrehte, hatte er mich wohl erreicht und zog mich an meinem Arm zurück.

“Ach komm Rachel, bleib doch noch ein wenig, wir können noch ein bisschen Spaß haben…” Sein ekelhaftes Lachen wurde breiter und breiter. Am Ende erinnerte er mich stark an den Joker. Aber meine Priorität, niemals etwas mit Betrunkenen oder Ähnlichem anzufangen, würde ich auch durchsetzen. Ich wollte nicht zu solchen Leuten gehören- so war ich eben nicht und würde es niemals sein. Das Schlimmste war ja noch- er war mir nicht im Mindesten attraktiv.

“Sag mal, was ist eigentlich kaputt bei dir?”, brüllte ich. Meine Wut, die sich angesammelt hatte, platzte aus mir heraus. Ich packte seine dreckige Hand und schleuderte sie weg von mir. Weg, nur weg. “Such dir ne andere, die du anbaggern kannst! Und tu deine Finger da weg!” Bevor ich wusste, was genau ich da eigentlich tat, hatte ich ihm eine geknallt. Einfach so.

In der ersten Sekunde schaute er nur ungläubig, er konnte wohl nicht fassen, dass ihm ein Mädchen gerade eine runtergehauten hatte. Mein Handabdruck zeichnete sich rot von seiner Wange ab. Dann verengten sich seine Augen zu schmalen, bösen Schlitzen.

“Das wirst du mir büßen, du Schlampe!”, brüllte er und wollte wohl ausholen, aber die Umstehenden, die die ganze Zeit wie Autos zugesehen hatten, schienen sich doch zu erbarmen und kamen sogar recht flink zu uns geeilt, zwei von ihnen hielten ihn mit einiger Kraftanstrengung fest. Ich sah dem Gerangel einige Sekunden geschockt zu, bevor einer mir zubrüllte: “An deiner Stelle würde ich jetzt verschwinden!”

Und das tat ich auch- und zwar so schnell ich konnte. Natürlich war ich diesen Typen dankbar, dass sie mir halfen, aber ich war in diesem Moment so stinksauer und hilflos, ich hätte beinahe angefangen zu heulen. Allein, weil ich nicht genau wusste, wohin ich laufen sollte.

Die Straße war dunkel und der Klang dieser schrecklichen Musik wurde immer leiser. Plötzlich drang unendliche Enttäuschung in mein Herz- Kira hatte nicht einmal mehr nach mir gesehen, als ich das Gartentor aufstieß. Sie klebte noch an ihrem Freund.

Es schüttelte mich, was wenn dieser Fabi Ernst gemacht hätte? Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was der mit mir vorgehabt hätte. Grauenhafte Bilder von ermordeten, und vorher vergewaltigten Mädchen, die im Straßengraben gefunden wurden blitzen durch mein Gewissen und meine Knie wurden weich wie Pudding. War ich froh da weg zu sein. Leise schlich ich über die Straßen, um ja keinen auf mich aufmerksam zu machen, ich konnte nicht noch mehr Aufregung heute ertragen.

Jetzt, wo ich alleine war konnte ich zumindest wieder klar denken und mich über die Schamlosigkeit dieses Typen aufregen- wie kalt seine Augen gewesen waren… Ich zitterte.

Nachdenklich zwirbelte ich an meinen Haaren herum- teilweise war mir der Junge etwas kopflos vorgekommen, fast als hätte er es darauf angelegt mich richtig sauer zu machen- mich kochen zu sehen. Zum Glück hatte er das nicht noch besser geschafft.

Mir schwirrte der Kopf vor all den Gefühlen, die auf mich einbrachen wie eine große Welle. Aber vor allem fühlte ich mich schuldig, weil ich meine Eltern betrogen hatte. Die dachten, ich läge wohl behütet im Bett zu Hause- wie falsch sie doch lagen.

Mit hängendem Kopf marschierte ich stur weiter, als es hinter mir hupte. Mein Blut gefror zu steinhartem Eis, meine Beine verweigerten sofort den Dienst.

Gedanken zischten durch meinen Kopf- ich war alleine auf der Straße, was wenn das noch ein Irrer war?! Ich entschied mich dafür, den Hupenden, samt Auto zu ignorieren und einfach weiter zu gehen. Einfach weitergehen.

Ich war wie elektrisch aufgeladen, lauschte auf das Geräusch des Motors hinter mir- es hupte abermals laut und fordernd. Das Auto fuhr direkt neben mich und folgte mir. Ich hörte, wie ein Fenster runtergelassen wurde.

“Rachel, steig sofort ins Auto!” Jetzt wurde mir noch kälter. Das konnte doch nicht wahr sein- Nein, nein, nein, nein, nein. Warum zur Hölle war meine Mutter hier?! Was hatte sie hier zu suchen? Vor Scham errötet sah ich ins Auto- ja es war wirklich meine Mutter. Irgendwie hatte ich gehofft, sie wäre es nicht.

Kurz wog ich ab, ob es sich lohnte wegzurennen- aber nach ein paar Sekunden erschien es mir sinnlos, weil ich sie ja so oder so Zuhause antreffen würde.

Voller Resignation und in der Erwartung, das größte Donnerwetter der Welt vor mir zu haben, öffnete ich die Beifahrertür und ließ mich angespannt auf den Sitz gleiten.

“Weißt du eigentlich, wie lange ich dich gesucht habe?”, fragte sie mit viel zu ruhiger Stimme- mir wäre es lieber gewesen, sie würde mich anschreien, dann müsste ich nicht in diese sorgenvollen Augen sehen und mich schuldig fühlen.

“Nein…” “Als ich gesehen habe, dass du weg bist, bin ich sofort losgefahren. Deinem Vater hab ich davon nichts erzählt, er schläft… Denkst du nicht, ich mache mir Sorgen?!” Stur starrte sie vor sich und bog auf die Landstraße, die durch den Wald führte. Heute erschien er mir um einiges dunkler und gefährlicher, als er eigentlich war.

“Ich kann verstehen, warum du das gemacht hast, wahrscheinlich hat Kira dir eingeredet, dass du mitgehen sollst, hab ich recht?” Sie sah zu mir hinüber und ich spürte einen Stich im Herzen.

“Na ja… Mam sie ist in letzter Zeit ein bisschen…”

“Vom rechten Weg abgekommen, auf der falschen Spur? Schätzchen, nenn es wie du willst, aber sie hat einen schlechten Einfluss auf dich. War es den ganzen Stress überhaupt wert?” Ich dachte an seine Hände auf meiner Haut und musste heftig mit dem Kopf schütteln.

“Meinst du wirklich, sie ist eine gute Freundin, wenn sie dich alleine mitten in der Nacht nach Hause laufen lässt? Rachel, was ist passiert, dass du da so früh weg bist? Ich denke mal, deine Schuldgefühle können das nicht gewesen sein!” Warum wollte sie jetzt auch noch darüber reden? Ich musste den dicken Kloß in meinem ausgetrockneten Hals runterschlucken, bevor ich mich sammeln konnte.

“Ein Typ hat mich begrapscht, da hab ich das Weite gesucht…” Ihre Augen wurden groß. Ihre Hände begannen zu zittern.

“Oh mein Gott, hat er dir etwas getan?” Immer wieder sah sie zu mir hinüber und ihre Augen waren vor Panik geweitet.

“Nein, Mam alles ok!”, versuchte ich sie zu beruhigen. “Mir geht´s gut, wirklich!” Ich schien sie allerdings nicht gerade überzeugen zu können, weil sie immer hektischer wurde.

“Oh Gott, oh Gott, warum nur habe ich nicht besser auf dich Acht gegeben? Ich bin eine schlechte Mutter! Ich konnte doch nicht wissen, dass du dich in der Nacht raus schleichst…”

“MAM, es tut mir leid! Bitte Mam, beruhig dich, ist doch alles gut! Alles… Ist gut!” Ich versuchte nach ihren wedelnden Armen zu greifen, sie zu beruhigen, aber irgendetwas schien sie immer weiter aufzuregen- sie konnte einfach nicht aufhören. “Was ist denn nur los mit dir?!”, fragte ich verzweifelt und beobachtete, wie die Tachonadel immer höher stieg- meine Güte, wir fuhren viel zu schnell!

Bäume rasten wie schwarze, bedrohliche Schatten an uns vorbei und die weißen Streifen auf der Straße verschwammen zu einem einzigen Strich. Wenn wir nicht bald langsamer wurden, dann würden wir aus der nächsten Kurve fliegen!

“Oh nein, ich habe vergessen, meine Tabletten zu nehmen… diese blöden Tabletten, wie ich sie hasse!”, brabbelte sie vor sich hin.

“Mam, fahr bitte langsamer, du machst mir Angst! Pass auf!” Jetzt fing sie auch noch an, falsch zu lenken!

“Er hatte Recht, ich sollte nicht mehr herumfahren, wenn ich sie nicht genommen habe!” Endlich wurden wir langsamer und mein Atem normalisierte sich wieder weites gehend. Aber mein Herzschlag setzte aus, als ich Lichter auf uns zurasen sah.

“MAM, da kommt ein Auto, fahr bitte rechts ran, du kannst so nicht fahren!” Ich hatte zwar keine Ahnung, von welchen Tabletten sie andauernd faselte, aber instinktiv wusste ich, dass es nichts Gutes zu bedeuten haben konnte. Tablettendas hörte sich gar nicht gut an.

“MAM!”, schrie ich, als sie nicht auf das reagierte, was ich sagte, sondern einfach weiterfuhr.

Und dann sah ich, wie die zwei Lichtkegel, die auf uns zukamen, in die Mitte der Fahrbahn schwenkten, wie sie rasend schnell auf uns zukamen und das Licht uns erfasste. Es waren die längsten Sekunden meines Lebens. Ich hörte meine Mutter schluchzen. Ich schrie so laut ich konnte. Und dachte dabei die ganze Zeit: NEIN, bitte nicht so!

“Oh nein!”, hörte ich meine Mutter flüstern, dann tauchten wir in Licht ein und ein gewaltiges Tosen und Krachen umgab uns.

Das nächste, an das ich mich erinnern konnte, war ein ekelhafter Krankenhausgeruch, der mir penetrant in die Nase stieg. Meine Lider zuckten, als ich versuchte, herauszufinden, was geschehen war.

“Rachel?”, flüsterte Dad direkt an meinem Ohr. Seine Stimme klang mitgenommen, kratzig und besorgt. Etwa um mich? Hatte ich mich verletzt? Ich bewegte vorsichtig- ohne meine Augen zu öffnen, meine Beine, dann meine Arme und schließlich meinen Kopf. Nein, alles war noch an seinem Platz und nichts tat mir weh. Außer meine schmerzenden Erinnerungen, die nur darauf gewartet hatten, dass ich aufwachte.

“Wie geht es Mam?”, fragte ich mit leiser, brüchiger Stimme und entschloss mich schließlich doch, die Augen zu öffnen. Wow, er sah noch schlimmer aus, als er klang. Sein drei Tage Bart kam mir in diesem piekfeinen Krankenhauszimmer genauso schmutzig vor, wie seine grüne Arbeitshose und das graue T-Shirt. Aber sein kalkweißes Gesicht und die dunklen Schatten unter seinen Augen machten mir am meisten Angst. “Dad, was ist passiert?”

Er schüttelte den Kopf und griff nach meiner Hand. Seine Hände waren eiskalt.

“Ihr hattet einen Unfall… Es war ein Selbstmörder… Man hat einen Abschiedsbrief bei ihm zu Hause gefunden…”

“Ein Unfall?”, wiederholte ich gedehnt und sah mich im Raum um. Ein Stuhl mir gegenüber, ein paar zerfledderte Zeitungen auf einem veralteten Tisch, ein Flachbildfernseher, es schien alles so unwirklich, als wäre ich in einem Traum.

“Ja, aber Rachel, warum wart ihr so spät noch unterwegs?! Susan hat mir davon nichts erzählt, warum ist sie so spät noch weg?”

“Dad… ich weiß nicht…”, ich seufzte und ließ meinen Kopf ins Kissen zurücksinken. “Ich bin abgehauen, um mit Kira auf eine Party zu gehen. Mam hat es gemerkt und ist mich suchen gegangen… Es tut mir so leid! Ich mach so einen Scheiß nie wieder, ich schwöre es! Was ist denn nun mit ihr?!” Ich wollte wissen, was los war, ob es ihr gut ging, sie in die Arme nehmen, mich bei ihr ausweinenegal was, aber ich wollte wissen, wie es ihr ging.

“Rachel… dieser Mann, er wollte sich umbringen… er hat voll auf euch zugehalten, aber Susan hat noch weggelenkt, es wurde nur die linke Seite eures Autos getroffen.”

Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu denken- um die Informationen aufzunehmen. Um zu verstehen.

“Aber, da saß Mam!”, schrie ich voller Verzweiflung. Meine Schuld, alles meine Schuld! Wie konnte ich nur mit so einer Schuld weiterleben?! Könnte ich das überhaupt? Augenblicklich brach ich in Tränen aus, konnte nicht mehr, wollte nicht mehr. Meine Schuld, alles meine Schuld. Meine Gedanken kreisten nur noch um diese eine Tatsache.

“Schatz, alles wird gut!” Mein Vater war noch nie ein guter Tröster gewesen, er tätschelte mir beruhigend den Kopf. Ich heulte nur noch lauter auf. “Sie liegt im Koma, ein Zimmer weiter! Rachel, alles wird gut- bitte hör auf zu weinen, du weißt, dass ich nicht gut trösten kann!” Als könnte er Gedanken lesen. Ich schluchzte noch ein wenig weiter. Quetschte aber ein paar Worte heraus.

“Was hat sie?”

“Prellungen, Quetschungen, Schnittwunden, ein paar Knochenbrüche…” “EIN PAAR?”, schrie ich gepeinigt auf. Oh lieber Gott, warum hast du sie bestraft und nicht mich- es war doch meine Schuld gewesen!

Mein Vater zuckte erschrocken zusammen und wurde noch blasser.

“Das ist meine Schuld, wäre ich nicht abgehauen, wäre sie nie losgefahren, um mich zu suchen…”, ich schluchzte wieder auf und verbarg mein Gesicht in meinen Händen. Ich würde mich wohl niemals mehr im Spiegel ansehen können.

“Aber, aber!”, er tätschelte wieder meine Haare. “Es war ihre Entscheidung loszufahren! Außerdem können wir daran jetzt auch nichts mehr ändern!”

“Warum bist du nicht wütend auf mich?”, fragte ich plötzlich wieder ruhig und starrte ihn an. Es kam mir so vor, als würde er sich selbst beschuldigen und nicht mich. Dabei war ich es doch. Ich war es- nicht er, oder Mam. “Warum schreist du mich nicht an und gibst mir Hausarrest?”

“Ach komm, jetzt wirst du albern- meinst du wirklich, ich würde dir jetzt Hausarrest geben?! Sind wir nicht gestraft genug, dass sie im Koma liegt? Außerdem konntest du ja nicht vorhersehen, dass dieser verdammte Selbstmörder da unterwegs war!”

“Hat er´s zumindest geschafft?”, fragte ich ironisch und wünschte den Kerl zum Teufel. Andere Leute in Gefahr bringen, nur um sich umzubringen…

“Ja, aber das tut nichts zur Sache. Weißt du, sein Auto hat euch so gerammt, dass unser Auto sich überschlug…”, ich musste schlucken, als ich mir das alles bildlich vorstellte. Mir wurde schlecht. “Susan war im Frack eingeklemmt, als man euch fand, aber du”, er schüttelte fast ungläubig den Kopf. “Du lagst draußen im weichen Gras und hattest keine einzige Schramme.” Jetzt war ich baff. Ich war überhaupt nicht verletzt?! “Die Polizei meinte, es grenze an ein Wunder…” Er schüttelte verständnislos den Kopf. “Ich verstehe das alles nicht mehr!”

Tja. Soviel zum Tag, der mein Leben veränderte.

Meine Mutter lag seitdem im Koma und wollte einfach nicht aufwachen, wobei ihre körperlichen Wunden schon längst wieder verheilt waren. Die Ärzte sagten, ihr Körper würde sich nur die Ruhe holen, die ihm zustehe, aber irgendwie hatte ich da so meine Bedenken. Sie würde zwar keine Folgeschäden davontragen, aber trotzdem war alles meine Schuld- dieser Umstand beschwerte meine Seele, verschmutzte sie wie ein schwarzer Fleck. Auch wenn alle in meiner Umgebung bestätigten, dass ich nicht schuld sei, sondern der Mann, der den anderen Wagen gelenkt hatte. Aber niemand würde verstehen, was in mir vorging, wie ich damit zu kämpfen hatte und warum ich so litt.

Kira war gleich nachdem sie vom Unfall gehört hatte, zu mir ins Krankenhaus geeilt und hatte sich vor gestammelten Entschuldigungen verhaspelt. Ich hatte sie einige Minuten reden lassen, dann unterbrach ich sie.

“Ist schon gut!” Damit war für mich die Sache gegessen- immerhin konnte sie ja nichts dafür und niemand hatte wissen können, was an diesem Abend geschehen würde, oder? Jedenfalls ließ ich mich ein wenig von ihr trösten, auch wenn sie nicht viel gegen die Traurigkeit in meinem Innern ausrichten konnte- keiner konnte das. Müde sah ich aus dem Fenster.

Meine Mutter in diesem weißen Krankenbett zu sehen, hatte mich dann total aus der Bahn geworfen- sie sah so schwach aus, so klein und hilflos, aber was sollte ich machen? Überall waren Schläuche und Drähte, ihr Bein sowie ihr Arm steckten in Gips. Sie war Bandagiert von oben bis unten. Mein Herz hatte einige Schläge ausgesetzt, dann war ich in Tränen ausgebrochen und hatte versucht ihre Hand zu halten, mit ihr zu reden, sie anzuflehen wieder aufzuwachen. Aber nichts war geschehen. Der Monitor, an den sie angeschlossen war, hatte weiter Nerv tötende Geräusche von sich gegeben und ihre Atemzüge waren gleichmäßig gebliebennicht mal ihre Augenlider hatten gezuckt. Dann hatte man mich weggezogen von ihr, eine freundliche, aber bestimmte Schwester hatte gesagt, es wäre nicht gut für mich, meine Mutter in diesem Zustand zu sehen, es würde mein Trauma nur noch verstärken. Alle nannten es ein Trauma- dafür gab man mir auch Tabletten, damit ich es vergaß, damit ich das vergaß, was ich getan hatte. Wäre ich nicht abgehauen, wäre es nie geschehen.

Tabletten. Erst jetzt fiel es mir wieder ein. Tabletten, davon hatte sie die ganze Zeit geredet, bevor uns der Kerl fast todgerast hatte. Ich runzelte die Stirn. Es war das erste Mal gewesen, dass meine Mutter von so etwas gesprochen hatte, vorher hatte ich sie immer nur wütend erlebt, wenn ich solche Medizin nehmen musstesie war strikt dagegen gewesen. Jegliche Art von Pillen waren ihr ein Dorn im Auge. Aber warum fing sie dann von so etwas an, während wir gerade Auto fuhren?

Nachdenklich stand ich auf, beschloss nach draußen zu gehen, um in Ruhe nachdenken zu können, wahrscheinlich würde Dad gleich zurückkommen und ich wollte seine sorgenvolle Miene nicht sehen, wenn er mich anblickte. Das ertrug ich schon seit zwei Wochen nicht mehr- deshalb nutzte ich auch jede Gelegenheit, um zu verschwinden.

Unauffällig schlich ich aus dem Haus und wurde geblendet von der Sonne, die grell auf den Vorplatz fiel. Mir war es eindeutig zu warm für einen Septembertag. Ich bog in den Feldweg ein, der zu unserem Reitplatz führte und sah schon von weitem, wie ein einsamer Reiter dort seine Runden drehte. Ein heftiger Stich durchzuckte mein Herz. Der schwarze Hengst, der dort geritten wurde, war Kasimir- er gehörte meiner Mutter und hörte nur auf mich und sie- eigentlich. Offenbar hatte er nun auch Gefallen an Fernando gefunden, denn er folgte dem Spanier aufs Wort. Ich hatte mich immer gefragt, ob er nur auf mich hörte, weil ich äußerlich eine exakte jüngere Kopie meiner Mutter war, aber das würde ich wohl nie herausfinden.

Ich lehnte mich gedankenverloren ans Gatter und sah dem Mann bei seiner Arbeit zu.

Tabletten, das Wort wehte durch meinen Kopf wie ein Sturm. Was für Tabletten könnte sie gemeint haben? Es gab so viele heut zu tage, welche gegen normale bis starke Kopfschmerzen, Schmerzen an sich, Depressionen, Traumata- es gab zu viele, als dass ich es mit Nachdenken herausfinden könnte. Die Frage, welche Wirkung sie wohl hatten, brannte sich in mein Hirn und machte mich fast unfähig, an etwas anderes zu denken. Hatte ich in letzter Zeit irgendetwas an Mamas Verhalten bemerkt, was auffällig sein könnte? Ich konnte nach einigen Sekunden sagen, dass ich rein gar nichts mitbekommen hatte, was aber vielleicht auch daran lag, dass ich die meiste Zeit in der Schule verbracht hatte.

Kasimir jagte an mir vorbei und ich schrak zurück. Staub wirbelte auf, als Fernando abgeworfen wurde. Er schimpfte wie ein Rohrspatz, während Kasimir ausgelassen über den ganzen Platz galoppierte.

“Verdammter Gaul! Komm zurück!”

“Tja Fernando, der hört nur auf mich und Mama!”, meinte ich, kletterte durch den Zaun und half ihm auf. Mit verbissenem Gesicht klopfte er sich den Dreck aus den Kleidern.