To all the boys I’ve loved before - Jenny Han - E-Book

To all the boys I’ve loved before E-Book

Jenny Han

4,5

Beschreibung

Lara Jeans Liebesleben verlief bisher eher unauffällig. Nicht, dass es ihr an Herz oder Fantasie mangelte. Im Gegenteil, Liebeskummer hatte sie schon oft, und unsterblich verliebt war sie auch schon. Einmal sogar in den Freund ihrer großen Schwester. Klar, dass sie das keinem anvertrauen kann. Außer ihrer Hutschachtel. Denn um sich ihrer Gefühle klar zu werden, schreibt Lara Jean jedes Mal einen Abschieds-Liebesbrief, in dem sie so richtig ihr Herz ausschüttet, und legt ihn dort hinein. Diese fünf Briefe sind ein streng gehütetes Geheimnis. Bis zu dem Tag, an dem auf mysteriöse Weise jeder Brief seinen Empfänger erreicht und Lara Jeans rein imaginäres Liebesleben völlig außer Kontrolle gerät …

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Über das Buch

Lara Jeans Liebesleben verlief bisher eher unauffällig. Genau genommen fand es nicht statt. Nicht, dass es ihr an Herz oder Fantasie mangelte. Im Gegenteil, unsterblich verliebt war sie schon öfter. Einmal sogar in den Freund ihrer großen Schwester. Klar, dass sie das keinem anvertrauen kann. Außer ihrer Hutschachtel. Um sich ihrer Gefühle klar zu werden, schreibt Lara Jean jedes Mal einen Abschieds- Liebesbrief, und legt ihn dort rein. Niemand kennt diese Briefe, sie sind ein streng gehütetes Geheimnis. Bis zu dem Tag, als auf mysteriöse Weise alle fünf Briefe zu ihren Empfängern gelangen und Lara Jeans rein imaginäres Liebesleben völlig außer Kontrolle gerät.

Hanser E-Book

Jenny Han

To all the boys I’ve loved before

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel To All The Boys I’ve Loved Before bei Simon & Schuster BFYR, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division, New York.

Published by Arrangement with Jenny Han.

ISBN 978-3-446-25435-0

Text © Jenny Han 2014

Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München 2016

Layout und Gestaltung nach Anregung und Ideen der Studierenden der HTWK-Leipzig des Studiengangs Buch- und Medienproduktion

Satz: Angelika Kudella, Köln

Lettering: All Things Letters/Chris Campe, Hamburg

Umschlag: Stefanie Schelleis, München, nach einem Entwurf

von Lucy Ruth Cummins; Foto: © Anna Wolf

Titellettering: All Things Letters / Chris Campe, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de .

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für meine Schwester Susan –

Han-Girls forever!

Es macht mir Spaß, etwas zu bewahren. Also jetzt nichts Großartiges wie Wale, Menschen oder die Umwelt. Bloß so alberne Dinge. Porzellanglöckchen, wie man sie in Souvenirläden findet. Plätzchenausstecher, die man nie benutzen wird – ich meine, wer backt schon Kekse in Fußform? Haarbänder. Liebesbriefe. Von allem, was ich so aufbewahre, sind meine Liebesbriefe vermutlich mein kostbarster Besitz.

Ich verwahre sie in einer Hutschachtel, die meine Mom mir mal in so einem Vintage-Laden in der Stadt gekauft hat. Es sind aber keine Liebesbriefe, die mir jemand geschrieben hätte; solche besitze ich gar nicht. Ich habe sie alle selbst geschrieben – einen an jeden der Jungen, in die ich je verliebt war. Insgesamt fünf.

Wenn ich schreibe, halte ich mich nicht zurück. Ich schreibe so, als würde er es niemals zu lesen kriegen. Wird er nämlich auch nicht. Alles, was ich in mir angesammelt und aufbewahrt habe, kommt in den Brief, jeder geheime Gedanke, jede genaue Beobachtung. Wenn ich fertig bin, verschließe ich den Brief, adressiere ihn und lege ihn in meine blaugrüne Hutschachtel.

Streng genommen sind es auch keine richtigen Liebesbriefe. Die Briefe schreibe ich, wenn ich nicht mehr verliebt sein will. Zum Abschied. Denn nachdem ich so einen Brief geschrieben habe, verzehrt mich meine alles verzehrende Liebe wenigstens nicht mehr. Ich kann wieder in Ruhe frühstücken, ohne mich zu fragen, ob er wohl auch so gerne Bananenscheiben auf seinen Cheerios mag. Ich kann wieder Liebeslieder mitsingen, ohne sie für ihn zu singen. Wenn Liebe so was wie Besessenheit ist, dann sind meine Briefe für mich die Teufelsaustreibung. Meine Briefe machen mich frei. Zumindest in der Theorie.

1

Josh ist Margots Freund, aber man könnte sagen, unsere ganze Familie ist ein bisschen in ihn verliebt. Bevor er Margots Freund wurde, war er einfach nur Josh. Er war immer schon da. Wenn ich immer sage, dann stimmt das vermutlich nicht. Er ist erst vor fünf Jahren nebenan eingezogen, aber es fühlt sich an wie immer.

Mein Dad liebt Josh, weil er ein Junge ist und Dad sonst ständig von Frauen umgeben ist. Tatsächlich: Den ganzen Tag schwirren irgendwelche weiblichen Wesen um ihn herum. Daddy ist Frauenarzt und zufällig auch noch Vater von drei Töchtern. Das heißt: Mädels, Mädels, Mädels von morgens bis abends. Außerdem mag er Josh, weil Josh Comics mag und mit ihm angeln geht. Das einzige Mal, als Daddy probiert hat, uns drei mitzunehmen, saute ich mir die Schuhe mit Lehm ein, Margot weinte, weil ihr Buch nass geworden war, und Kitty weinte, weil sie fast noch ein Baby war.

Kitty liebt Josh, weil er mit ihr Karten spielt, ohne sich zu langweilen. Zumindest zeigt er es nicht. Sie machen immer irgendwelche Deals aus: Wenn ich diese Runde gewinne, dann machst du mir einen Toast mit körniger Erdnussbutter, ohne Kruste. Typisch Kitty. Garantiert gibt’s dann gerade keine körnige Erdnussbutter, Josh sagt, Pech, such dir was anderes aus, aber Kitty nölt so lange rum, bis er losrennt und welche kauft. So ist er nun mal.

Wenn ich sagen müsste, wieso Margot ihn liebt, dann würde ich vermutlich sagen: weil wir alle ihn lieben.

Wir sind im Wohnzimmer. Kitty ist dabei, Hundebilder auf einen riesigen Bogen Pappe zu kleben. Um sie herum lauter Ausschnitte aus Zeitschriften und Papierschnipsel. Sie summt vor sich hin, dann sagt sie: »Wenn Daddy mich fragt, was ich mir zu Weihnachten wünsche, sag ich einfach: ›Such dir eine von diesen Rassen aus, egal welche, und ich bin wunschlos glücklich.‹«

Margot und Josh sitzen auf der Couch, ich liege auf dem Boden vor dem Fernseher. Josh hat eine große Schüssel Popcorn gemacht, der ich mich hingebungsvoll widme, händeweise.

Gerade kommt eine Werbung für ein Parfüm. Ein Mädchen läuft durch die Straßen von Paris in einem orchideenfarbenen Neckholderkleid, das so dünn ist wie Seidenpapier. Was würde ich nicht dafür geben, dieses Mädchen zu sein, das im Frühling in so einem seidenpapierdünnen Kleid durch Paris rennt! Ich setze mich so plötzlich auf, dass ich mich an einem Stück Popcorn verschlucke. Zwischen einem Husten und dem nächsten sage ich: »Pass auf, Margot, wenn ich Osterferien habe, treffen wir uns in Paris!« Schon sehe ich mich, wie ich da herumwirbele, in jeder Hand ein Macaron, rechts Pistazie, links Himbeere.

Margot kriegt sofort leuchtende Augen. »Glaubst du, Daddy lässt dich?«

»Klar, Paris ist schließlich Kultur. Da muss er mich lassen.« Andererseits – ich bin noch nie allein geflogen. Und noch nie in einem anderen Land gewesen. Würde Margot mich am Flughafen abholen, oder müsste ich den Weg zum Hostel allein finden?

Josh hat anscheinend gesehen, wie besorgt ich auf einmal gucke, denn er sagt: »Keine Sorge. Wenn ich mitkomme, lässt dein Dad dich fliegen, ganz sicher.«

Ich strahle. »Au ja! Wir können in Hostels übernachten und uns nur von Törtchen und Käse ernähren.«

»Wir könnten Jim Morrisons Grab besuchen!«, schlägt Josh vor.

»Wir könnten in eine parfumerie gehen und uns unser ganz persönliches Parfüm mixen lassen!«, jubele ich, aber Josh schnaubt nur verächtlich.

»Ähm – ich bin mir ziemlich sicher, dass ›unser persönliches Parfüm‹ in einer parfumerie so viel kosten würde wie eine Woche Aufenthalt im Hostel«, sagt er und stößt Margot an. »Deine Schwester hat Anwandlungen von Größenwahn.«

»Sie ist eindeutig die modebewussteste von uns dreien«, gibt Margot ihm recht.

»Und was ist mit mir?«, nölt Kitty.

»Du?«, frage ich spöttisch. »Von uns Song-Mädels bist du ja wohl diejenige, die sich am wenigsten für ihr Äußeres interessiert. Abends muss ich betteln, dass du dir die Füße wäschst, vom Duschen will ich gar nicht reden.«

Kitty verzieht das Gesicht und läuft rot an. »Davon red ich doch gar nicht, du dumme Gans. Ich rede von Paris.«

Ich winke lässig ab. »Du bist noch zu klein, um in einem Hostel zu übernachten.«

Sie kriecht zu Margot hinüber und setzt sich bei ihr auf den Schoß, obwohl sie schon neun ist und damit zu alt für so was. »Margot, du lässt mich mitkommen, ja?«

»Vielleicht könnte man ja richtige Familienferien daraus machen«, sagt Margot und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. »Du und Lara Jean und Daddy, ihr kommt einfach alle zusammen.«

Ich ziehe die Stirn in Falten. So hatte ich mir meine Parisreise wirklich nicht vorgestellt. Über Kittys Kopf hinweg formt Josh mit den Lippen stumm die Worte »Wir reden später«, und ich recke unauffällig einen Daumen hoch.

Später am Abend, als Josh längst gegangen ist und Kitty und unser Dad beide schlafen, sitzen wir beide noch am Küchentisch. Margot macht irgendwas an ihrem Laptop, ich sitze daneben, rolle Plätzchenteig zu kleinen Kugeln und wälze sie in Zimt und Zucker. Snickerdoodles werden das, damit will ich Kittys Gunst wiedererlangen. Als ich vorhin noch mal zu ihr reingegangen bin, um ihr gute Nacht zu sagen, hat sie sich weggedreht und wollte kein Wort mit mir sprechen. Sie ist immer noch überzeugt, dass ich sie bei dem Paristrip nicht dabeihaben will. Jetzt habe ich vor, ihr einen Teller mit den Doodles direkt neben ihr Kopfkissen zu stellen, sodass sie, wenn sie aufwacht, gleich den Duft von frisch gebackenen Plätzchen in der Nase hat.

Margot ist auffällig still, bis sie auf einmal aus heiterem Himmel von ihrem Laptop aufsieht und sagt: »Ich hab heute mit Josh Schluss gemacht. Nach dem Essen.«

Meine Plätzchenkugel fällt mir aus den Fingern und landet in der Zuckerdose.

»Ich meine, es wurde einfach Zeit«, sagt sie. Ihre Augen sind kein bisschen rot; sie hat also nicht geweint. Kommt mir jedenfalls nicht so vor. Sie spricht ruhig und gleichmäßig. Jeder, der sie jetzt sähe, würde denken, es gehe ihr gut. Margot geht’s nämlich immer gut, auch wenn es ihr nicht gut geht.

»Ich kapier bloß nicht, warum«, sage ich. »Nur weil du aufs College gehst, müsst ihr doch nicht gleich Schluss machen.«

»Lara Jean, ich gehe nicht an die Uni von Virginia, sondern nach Schottland. Bis St. Andrews sind es rund viertausend Meilen.« Sie schiebt ihre Brille hoch. »Welchen Sinn sollte das haben?«

Ich traue meinen Ohren nicht. »Sinn? Es geht um Josh. Den Jungen, der dich mehr liebt, als je ein Junge ein Mädchen geliebt hat!«

Margot rollte bloß mit den Augen. Sie findet mich theatralisch, aber das bin ich nicht. Es ist wahr. Josh liebt Margot wirklich abgöttisch. Er würde ein anderes Mädchen nicht einmal angucken.

Auf einmal sagt Margot: »Weißt du, was Mommy mir mal erzählt hat?«

»Was?« Einen Moment lang vergesse ich Josh völlig. Denn ganz egal, was ich gerade mache, ob Margot und ich gerade heftig diskutieren oder ich fast von einem Auto angefahren werde – ich würde immer alles stehen und liegen lassen, um eine Mommy-Geschichte zu hören. Jede Erinnerung, jedes kleine Detail, das Margot noch weiß, will ich aufnehmen. Dabei bin ich noch besser dran als Kitty. Kitty hat keine einzige Erinnerung an Mommy, die sie nicht von uns hat. So viele Geschichten haben wir ihr so oft erzählt, dass es jetzt ihre eigenen sind. »Wisst ihr noch …« So fängt sie an, und dann erzählt sie uns eine Geschichte so, als hätte sie sie bewusst miterlebt und nicht nur als kleines Baby.

»Sie hat gesagt, ich sollte möglichst keinen Freund haben, wenn ich aufs College wechsele. Sie wollte nicht, dass ich zu den Mädchen gehöre, die heulend mit ihrem Freund telefonieren und zu allem Nein statt Ja sagen.«

Margots Ja ist Schottland, nehme ich mal an. Gedankenverloren schiebe ich mir ein Teighäufchen in den Mund.

»Du solltest keinen rohen Teig essen«, sagt Margot.

Ich beachte sie gar nicht. »Josh würde dich nie an irgendetwas hindern. So ist er nicht. Weißt du noch, als du beschlossen hast, für den Posten der Schulsprecherin zu kandidieren? Da war er dein Wahlkampfmanager. Er ist dein größter Fan.«

Als ich das sage, ziehen sich ihre Mundwinkel nach unten, und ich springe auf und lege ihr die Arme um die Schultern. Sie lehnt den Kopf zurück und lächelt mich an. »Mir geht’s gut«, sagt sie, aber das ist nicht wahr, das weiß ich.

»Pass auf, es ist noch nicht zu spät. Du kannst noch rübergehen, jetzt gleich, und ihm sagen, du hast es dir anders überlegt.«

Margot schüttelt den Kopf. »Es ist aus und vorbei, Lara Jean.« Ich lasse sie los, und sie schließt ihren Laptop. »Wann kommt das erste Blech aus dem Ofen? Ich hab Hunger.«

Ich schaue auf den magnetischen Timer am Kühlschrank. »Noch vier Minuten.« Dann setze ich mich wieder. »Sag, was du willst, Margot. Ihr zwei seid noch nicht fertig miteinander. Dafür liebst du ihn viel zu sehr.«

Sie schüttelt den Kopf. »Lara Jean«, sagt sie mit diesem geduldigen Margot-Tonfall, so als wäre ich noch ein Kind und sie eine weise alte Frau von zweiundvierzig.

Ich wedele mit einem Löffel Plätzchenteig vor ihrer Nase herum. Erst zögert sie, doch dann macht sie den Mund auf, und ich füttere sie wie ein Baby. »Wart’s nur ab, morgen oder übermorgen seid ihr wieder zusammen, Josh und du.« Aber noch während ich das sage, weiß ich, dass es nicht stimmt. Margot ist nicht das Mädchen, das mit einem Jungen Schluss macht und aus einer Laune heraus zurückkommt. Wenn sie eine Entscheidung getroffen hat, dann bleibt sie auch dabei. Kein langes Hin-und-Her-Gezacker, keine Reue. Es ist, wie sie’s gesagt hat: Vorbei ist für sie vorbei.

Ich wünschte bloß (und diesen Gedanken hatte ich schon viele, viele Male, unzählige Male sogar), ich wäre ein bisschen mehr wie Margot, denn manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich selbst nie mit etwas abschließen.

Später, als ich abgespült und einen Teller mit Keksen auf Kittys Kissen gestellt habe, gehe ich in mein Zimmer. Ich mache kein Licht. Ich stelle mich ans Fenster. Bei Josh brennt noch Licht.

2

Am nächsten Morgen, als Margot gerade Kaffee macht und ich Getreideflocken in Schüsseln kippe, sage ich den Satz, der mir schon den ganzen Morgen durch den Kopf geht: »Nur dass du’s weißt – Daddy und Kitty werden wirklich geschockt sein.« Als Kitty und ich uns eben nebeneinander die Zähne geputzt haben, war ich stark in Versuchung, die Katze aus dem Sack zu lassen, aber Kitty war immer noch sauer wegen gestern, also hab ich lieber den Mund gehalten. Sie hat auch kein Wort verloren zu den Keksen, dabei weiß ich, dass sie sie gegessen hat, denn der Teller war leer bis auf ein paar Krümel.

Margot stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich soll also mit Josh zusammenbleiben, nur wegen dir und Daddy und Kitty?«

»Nein, ich wollte es nur erwähnen.«

»Es ist ja auch nicht so, als würde er noch oft rüberkommen, wenn ich erst weg bin.«

Ich ziehe die Stirn in Falten. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, dass Josh aufhören könnte, uns zu besuchen, weil Margot nicht mehr da ist. Er war ja auch vorher oft da gewesen, lange bevor die zwei zusammenkamen, deswegen weiß ich nicht, wieso er auf einmal damit aufhören sollte. »Vielleicht doch«, sage ich. »Er hat Kitty wirklich gern.«

Sie drückt auf den Startknopf der Kaffeemaschine. Ich sehe ihr ganz genau dabei zu, denn den Kaffee hat immer sie gemacht, ich nie, und jetzt, wo sie uns verlässt (nur noch sechs Tage), sollte ich lieber mal lernen, wie das geht. Mit dem Rücken zu mir sagt sie: »Vielleicht sage ich den beiden auch gar nichts davon.«

»Hm – die werden sich ihren Teil wohl schon denken, wenn er nicht mit zum Flughafen kommt, Gogo.« Gogo ist mein Spitzname für Margot. Wie in Go-go Boots. »Wie viele Tassen Wasser hast du da jetzt reingekippt? Und wie viele Löffel Kaffee?«

»Das schreibe ich dir alles noch auf«, beruhigt mich Margot. »Ins Notizbuch.«

Wir haben nämlich neben dem Kühlschrank ein Notizbuch liegen. Margots Idee, klar. Darin stehen alle wichtigen Telefonnummern, Daddys Arbeitszeiten und wer wann in Kittys Fahrgemeinschaft an der Reihe ist. »Denk dran, die Nummer von der neuen Reinigung aufzuschreiben«, sage ich.

»Schon passiert.« Margot schneidet eine Banane in Scheiben für ihr Müsli. Alle Scheiben sind gleichmäßig dünn. »Und übrigens – Josh wäre sowieso nicht mit zum Flughafen gekommen. Du weißt, wie es mir mit so traurigen Abschieden geht.« Dabei verzieht sie das Gesicht, als wollte sie sagen: Igitt, Gefühle.

Ich weiß.

Als Margot beschloss, zum Studium nach Schottland zu gehen, kam mir das wie Verrat vor. Auch wenn ich wusste, dass so etwas anstand, denn natürlich würde sie sich ein College suchen, das weit weg war. Und natürlich würde sie nach Schottland gehen und dort Anthropologie studieren, denn sie ist nun mal Margot, das Mädchen mit den Landkarten und Reiseführern und Stadtplänen. Natürlich würde sie uns eines Tages verlassen.

Ich bin immer noch sauer auf sie, nur ein bisschen. Nur so ein winziges bisschen. Es ist nicht ihre Schuld, logisch. Aber sie geht so weit weg, und wir hatten doch immer gesagt, wir seien für immer und ewig die drei Song-Mädels. Erst Margot, dann ich in der Mitte und unsere Schwester Kitty als Letzte. Auf ihrer Geburtsurkunde steht Katherine, aber wir sagen immer Kitty. Manchmal sagen wir auch Kitten zu ihr, denn so habe ich sie genannt, als sie zur Welt kam. Da sah sie nämlich aus wie ein mageres Kätzchen, ganz ohne Fell.

Wir sind die drei Song-Mädels. Früher waren wir vier, mit meiner Mom, Eve Song. Für meinen Vater Evie, für uns Mommy, für alle anderen Eve. Song ist, oder war, der Nachname meiner Mutter. Wir anderen heißen mit Nachnamen Covey. Aber der Grund, weshalb wir die Song-Mädels und nicht die Covey-Mädels sind, ist, dass Mom immer gesagt hat, sie sei und bleibe ein Song-Girl fürs ganze Leben, und Margot meinte, dann sollte das auch für uns gelten. Wir haben alle drei Song als Mittelnamen, und überhaupt sehen wir viel mehr nach Song als nach Covey aus, also eher koreanisch als weiß. Wenigstens Margot und ich; Kitty gleicht Daddy am meisten; sie hat auch die hellbraune Haarfarbe von ihm geerbt. Die Leute sagen immer, ich sähe Mommy am ähnlichsten, aber ich glaube, Margot ist die, die ihr am meisten gleicht, mit ihren hohen Wangenknochen und den dunklen Augen. Fast sechs Jahre ist es jetzt schon her, und an manchen Tagen fühlt es sich so an, als wäre sie erst gestern noch hier gewesen, während es an anderen so ist, als wäre sie nie wirklich hier gewesen, nur in unseren Träumen.

Sie hatte an dem Morgen gewischt; die Böden glänzten, und alles duftete nach Zitrone und blitzblankem Haus. Als in der Küche das Telefon klingelte, rannte sie hin, um zu antworten, und rutschte aus. Sie schlug mit dem Kopf am Boden auf und wurde ohnmächtig, aber dann kam sie wieder zu sich und fühlte sich gut. Das war ihr lichter Augenblick. So nennt man das. Kurze Zeit später sagte sie, sie habe Kopfschmerzen, legte sich auf die Couch und ist nie mehr aufgewacht.

Margot hat sie gefunden. Sie war damals zwölf und kümmerte sich um alles: Sie alarmierte den Rettungswagen, sie rief Daddy an, sie sagte mir, ich solle auf Kitty aufpassen, die erst drei war. Ich habe im Spielzimmer den Fernseher für Kitty angemacht und mich zu ihr gesetzt. Mehr habe ich nicht gemacht. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn Margot nicht da gewesen wäre. Margot ist zwar nur zwei Jahre älter als ich, aber ich schaue mehr zu ihr auf als zu irgendeinem anderen Menschen.

Wenn andere Erwachsene erfahren, dass mein Dad alleinerziehender Vater von drei Mädchen ist, schütteln sie voller Bewunderung den Kopf, so als wollten sie sagen: Wie macht der das nur? Wie um alles in der Welt kommt er ganz allein mit allem klar? Die Antwort auf diese Fragen lautet: Margot. Von Anfang an hat sie alles organisiert, hat alles beschriftet und geplant und geregelt. In ordentlichen, gleichmäßigen Reihen.

Margot ist ein braves Mädchen, und ich vermute, Kitty und ich haben sie einfach nachgeahmt. Ich habe noch nie gemogelt, war nie betrunken, habe nie geraucht und auch noch nie einen Freund gehabt. Wir necken unseren Dad oft und sagen, er könne sich glücklich schätzen, dass wir alle so brav sind, aber in Wirklichkeit sind wir es, die von Glück reden können. Er ist ein wirklich guter Vater. Und er gibt sich viel Mühe. Er versteht uns nicht immer, aber er versucht es wenigstens, und darauf kommt es schließlich an. Wir drei Song-Mädels haben einen stummen Pakt geschlossen: Wir wollen Daddy das Leben so leicht wie möglich machen. Andererseits – ganz so stumm ist dieser Pakt vielleicht gar nicht. Wie viele Male habe ich Margot Sätze sagen hören wie: »Pssst, seid leise, Daddy macht gerade ein Nickerchen, bevor er wieder in die Klinik fährt« oder »Lass Daddy damit in Ruhe, kümmer dich selbst darum«.

Manchmal habe ich Margot gefragt, was sie glaubt, wie es wäre, wenn Mommy nicht gestorben wäre. Ob wir dann wohl mehr Zeit mit dem koreanischen Teil unserer Familie verbringen würden, den wir jetzt nur an Thanksgiving und Neujahr sehen? Oder –

Margot findet solche Überlegungen sinnlos. Unser Leben sei nun mal so, wie es ist. Eine Antwort auf meine Frage würde ich von niemandem bekommen. Ich gebe mir wirklich Mühe, das so zu sehen wie Margot, aber es fällt mir schwer. Dieses Was wäre wenn beschäftigt mich eben immer, die Frage, wohin der Weg führt, den man nicht eingeschlagen hat.

Daddy und Kitty kommen gleichzeitig herunter. Margot gießt Daddy eine Tasse Kaffee ein, schwarz, ich kippe Milch über Kittys Frühstücksflocken und schiebe ihr die Schüssel hin. Kitty dreht den Kopf weg und nimmt sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank. Den nimmt sie mit ins Wohnzimmer und isst ihn vor dem Fernseher. Also ist sie immer noch sauer.

»Ich fahre später zum Supermarkt«, sagt Daddy und trinkt einen großen Schluck Kaffee. »Macht eine Liste mit allem, was ihr braucht. Ich dachte, ich kaufe auch Steaks, dann können wir heute Abend draußen grillen. Soll ich für Josh auch eins mitbringen?«

Mein Kopf fährt herum in Margots Richtung. Ihr Mund geht auf und klappt wieder zu. Schließlich sagt sie: »Nein, bring einfach so viele mit, wie wir für uns vier brauchen, Daddy.«

Ich schaue sie vorwurfsvoll an, aber sie ignoriert mich. Dass Margot kneift, habe ich bisher noch nie erlebt, aber in Herzensangelegenheiten kann man vermutlich nie vorhersagen, wie ein Mensch sich verhält.

3

Die letzten Tage des Sommers sind angebrochen und damit unsere letzten Tage mit Margot. Vielleicht ist es am Ende doch nicht nur schlecht, dass sie mit Josh Schluss gemacht hat; auf die Art haben wir drei Schwestern mehr Zeit für uns allein. Bestimmt hat sie das im Kopf gehabt. Bestimmt war das Teil ihres Plans.

Wir fahren gerade aus unserem Viertel raus, als wir Josh vorbeirennen sehen. Seit er letztes Jahr ins Leichtathletikteam der Schule eingetreten ist, läuft er ständig. Kitty brüllt seinen Namen, aber die Fenster sind zu, und es ist ohnehin witzlos – er tut, als hörte er nichts. »Dreh um!«, drängt Kitty Margot. »Vielleicht will er ja mitkommen.«

»Heute sind nur Song-Mädels zugelassen«, sage ich ihr.

Den restlichen Vormittag verbringen wir im Supermarkt mit Last-Minute-Einkäufen wie Deo, Haarbänder und Honig-Nuss-Knuspermischung als Proviant für den Flug. Wir lassen Kitty den Einkaufswagen schieben, damit sie ihr Spiel spielen kann: Dafür rennt sie mit dem Wagen los, springt dann auf die Stange unten am Fahrgestell auf und rollt weiter. Margot lässt sie das aber nur ein paarmal machen, damit andere Kunden nicht gestört werden.

Zu Hause machen wir uns Hühnersalat mit hellen Weintrauben zum Mittagessen, und dann ist es auch schon fast Zeit für Kittys Schwimmwettbewerb. Wir packen Schinken-Käse-Sandwiches und Obstsalat für ein Picknick ein und nehmen auch Margots Laptop mit, damit wir Filme gucken können, denn so ein Wettschwimmen kann sich manchmal bis in den späten Abend hinziehen. Wir malen auch ein Schild mit dem Schlachtruf: Go Kitty Go! Ich zeichne noch einen Hund dazu. Daddy verpasst den Wettbewerb, weil in der Klinik gerade ein Baby zur Welt kommt, und wenn es einen guten Grund gibt, bei so einem Ereignis zu fehlen, dann ist das ja wohl einer. (Es war übrigens ein Mädchen, das die Namen Patricia Rose bekam, nach den beiden Großmüttern. Daddy erkundigt sich immer für mich, wie das Kind mit vollem Namen heißen soll. Das ist nämlich das Erste, wonach ich ihn immer frage, wenn er von einer Geburt nach Hause kommt.)

Kitty ist völlig aus dem Häuschen, weil sie zweimal den ersten Platz und einmal den zweiten gemacht hat, sodass sie ganz vergisst, nach Josh zu fragen. Erst im Auto fällt er ihr wieder ein. Sie sitzt auf der Rückbank, hat sich ein Handtuch wie einen Turban um den Kopf geschlungen, und die Preisschleifen baumeln an ihren Ohren wie Ohrringe. Sie beugt sich vor und fragt: »He – wieso war Josh denn nicht da?«

Margot zögert, also antworte ich für sie. Vielleicht das Einzige, was ich besser kann als Margot, ist schwindeln. »Er musste heute in der Buchhandlung arbeiten. Er wäre aber gern gekommen.« Margot langt mit einer Hand über die Mittelkonsole und drückt mir dankbar die Hand.

Kitty schiebt die Unterlippe vor. »Das war das letzte offizielle Wettschwimmen! Er hat versprochen, er werde kommen und mir zugucken.«

»Er hat es selbst erst im letzten Moment erfahren«, sage ich. »Er musste die Schicht für einen Kollegen übernehmen, bei dem es einen Notfall gab.« Kitty nickt widerwillig. So klein sie noch ist, was Notfallschichten sind, weiß sie.

»Kommt, wir holen uns noch ein Eis!«, sagt Margot auf einmal.

Kittys Laune steigt sofort, und Josh und sein angeblicher Notfalleinsatz sind vergessen. »Au ja! Ich will eine Waffel! Kann ich eine Waffel mit zwei Kugeln haben? Ich nehme Minzeis und Erdnuss. Oder nein – Regenbogensorbet und Karamell. Nein, halt …«

Ich drehe mich nach hinten. »Das schaffst du niemals«, sage ich. »Vielleicht schaffst du zwei im Becher, aber niemals in der Waffel.«

»Schaff ich wohl! Heute ja. Ich bin am Verhungern.«

»Na gut, aber sieh zu, dass du das Ding auch wirklich aufisst.« Ich lasse den Satz wie eine Drohung klingen und wedele dazu mit dem Zeigefinger, sodass Kitty kichernd die Augen verdreht. Ich selbst will das, was ich immer nehme: Kirscheis mit Schokochips im Zuckerhörnchen.

Margot biegt beim Drive-in-Schalter ein, und während wir warten, sage ich: »Wetten, so gutes Eis haben die in Schottland nicht.«

»Vermutlich nicht«, antwortet Margot.

»Vor Thanksgiving gibt’s das für dich nicht mehr.«

Margot schaut stur geradeaus. »Vor Weihnachten«, verbessert sie mich. »Die Thanksgiving-Ferien sind zu kurz für den weiten Flug, weißt du nicht mehr?«

»Das wird ein ganz blödes Thanksgiving«, mault Kitty.

Ich bin still. Thanksgiving ohne Margot, das gab’s noch nie. Sie macht immer den Truthahn und den Brokkoli und die Sahnezwiebeln. Ich bin für die Pies mit Kürbis und Pekannuss zuständig und für den Kartoffelbrei. Kitty ist unsere Vorkosterin und deckt den Tisch. Ich habe keine Ahnung, wie man einen Truthahn brät. Außerdem kommen unsere beiden Großmütter. Nana, Daddys Mutter, mag Margot am liebsten. Sie sagt, Kitty sei ihr zu anstrengend und ich sei zu verträumt.

Mit einem Mal kriege ich die Panik. Ich bekomme schlecht Luft, und mein Kirscheis mit Schokochips ist mir plötzlich total egal. Ein Thanksgiving ohne Margot kann ich mir einfach nicht vorstellen. Nicht mal den kommenden Montag kann ich mir ohne sie vorstellen. Ich weiß, die meisten Schwestern kommen nicht gut miteinander aus, aber Margot ist mir näher als jeder andere Mensch auf der Welt. Ohne Margot, wie können wir da weiter die Song-Mädels sein?

4

Meine älteste Freundin Chris raucht, macht mit Jungs rum, die sie so gut wie gar nicht kennt, und ist schon zweimal vom Unterricht ausgeschlossen worden. Einmal musste sie sogar vor Gericht erscheinen, weil sie so oft die Schule geschwänzt hatte. Bevor ich Chris kennenlernte, wusste ich gar nicht, was Absentismus bedeuten soll. (Kleine Info: wenn man so oft schwänzt, dass die Sache vor Gericht landet.)

Wenn Chris und ich uns erst jetzt kennenlernten, würden wir keine Freundinnen werden, da bin ich mir ziemlich sicher. Wir sind so verschieden, wie es überhaupt nur geht. Aber das war nicht immer so. In der Sechsten mochte Chris dasselbe wie ich – schönes Briefpapier, Übernachtungspartys und schlaflose Nächte, in denen wir einen John-Hughes-Film nach dem anderen schauten. Doch als wir in der Achten waren, fing das an, dass sie sich aus unserem Haus schlich, nachdem mein Dad eingeschlafen war, um sich mit Jungs zu treffen, die sie im Einkaufszentrum kennengelernt hatte. Die setzten sie dann wieder bei uns ab, bevor es hell wurde. Ich selbst machte die ganze Zeit kein Auge mehr zu, vor lauter Angst, sie könne nicht rechtzeitig zurück sein, bevor mein Dad aufwachte. Sie hat es allerdings jedes Mal geschafft.

Chris gehört nicht zu der Sorte Freundinnen, die man jeden Abend anruft oder mit denen man jeden Mittag zusammen isst. Sie ist wie eine Straßenkatze, sie kommt und geht, wie es ihr passt. Sie lässt sich nicht anketten, nicht an einen Ort und auch nicht an einen Menschen. Manchmal sehe ich sie tagelang nicht, und plötzlich klopft es mitten in der Nacht an meinem Fenster und Chris sitzt in der Magnolie. Für alle Fälle lehne ich mein Fenster immer nur an. Chris und Margot können sich gegenseitig nicht ausstehen. Chris hält Margot für verklemmt, Margot glaubt, Chris sei psychisch gestört. Sie findet, dass Chris mich ausnutzt; Chris meint, dass Margot mich total unter Kontrolle hat. Vermutlich haben beide ein kleines bisschen recht. Aber das Wichtigste, das, was wirklich zählt, ist doch, dass Chris und ich uns verstehen, und das ist mehr wert, als viele Leute so meinen.

Als Chris mich anruft, ist sie schon auf dem Weg zu mir. Ihre Mutter sei eine blöde Kuh, und sie, Chris, werde jetzt für ein paar Stunden zu mir kommen – ob wir was zu essen im Haus hätten.

Chris und ich teilen uns gerade im Wohnzimmer eine Schüssel mit übrig gebliebenen Gnocchi, als Margot hereinkommt, die Kitty zu einem Grillfest gefahren hat, das ihr Schwimmteam zum Saisonende veranstaltet. »Oh, hi«, sagt sie. Dann entdeckt sie Chris’ Colaglas auf dem Wohnzimmertisch. »Könntest du bitte einen Untersetzer benutzen?«

Als Margot nach oben verschwunden ist, sagt Chris: »Mein Gott! Wieso ist deine Schwester eigentlich so zickig? Blöde Kuh!«

Ich schiebe einen Untersetzer unter ihr Glas. »Du hältst heute ja alle für blöde Kühe.«

»Weil sie es auch sind.« Chris sieht zur Decke hoch, verdreht die Augen und sagt betont laut. »Die soll sich mal nicht so ins Hemd scheißen.«

»Das hab ich gehört!«, brüllt Margot aus ihrem Zimmer.

»Solltest du ja auch!«, brüllt Chris zurück und schnappt sich den letzten unserer Gnocchi.

Ich seufze. »Sie ist doch nur noch so kurz zu Hause.«

Kichernd sagt Chris: »Der arme Joshy – stellt der dann jeden Abend ’ne Kerze für sie ins Fenster, bis sie zurück ist?«

Ich zögere. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob es immer noch geheim sein soll, aber ganz sicher weiß ich, dass Margot nicht wollen würde, dass ich mit Chris über ihre ganz privaten Angelegenheiten spreche. Also sage ich nur: »Weiß ich nicht so genau.«

»Moment mal – heißt das, sie hat ihn abserviert?«

Widerstrebend nicke ich. »Aber erwähne es bloß nicht«, warne ich Chris. »Sie ist wirklich traurig deswegen.«

»Margot? Traurig?« Chris zupft an ihren Fingernägeln. »Margot hat keine normalmenschlichen Gefühle wie der Rest von uns.«

»Du kennst sie einfach nicht. Und außerdem können wir nicht alle so sein wie du.«

Sie grinst und zeigt dabei ihre scharfen Schneidezähne, die sie immer ein bisschen hungrig aussehen lassen. »Stimmt.«

Chris ist ein Emotionsbündel. Beim kleinsten Anlass ist sie sofort auf hundertachtzig. Sie sagt, manchmal muss man seine Gefühle einfach hinausschreien, sonst fangen sie an, in einem zu gären. Erst neulich hat sie eine Dame im Drugstore angebrüllt, die ihr aus Versehen auf die Zehenspitzen getreten war. Das Risiko, dass irgendwelche Gefühle in Chris zu gären anfangen, dürfte ziemlich gering sein.

»Ich kann es einfach nicht glauben, dass sie in ein paar Tagen nicht mehr da sein soll«, sage ich und fühle mich auf einmal etwas weinerlich.

»Sie stirbt doch nicht, Lara Jean. Kein Grund, gleich das große Heulen zu kriegen.« Chris spielt mit einem losen Faden an ihren Shorts. Sie sind so knapp, dass man ihre Unterwäsche sieht, wenn sie sitzt. Die genauso rot ist wie die Shorts. »Ehrlich gesagt, glaube ich sogar, es wird dir guttun. Es wird Zeit, dass du mal dein eigenes Ding machst, statt immer auf Königin Margot zu hören. Hey, Mädel, dein Junior-Jahr wartet auf dich! Dann geht es doch wohl erst richtig los! Knutsch mit Jungs rum, lebe endlich mal!«

»Ich lebe auch so schon, und nicht zu knapp«, sage ich.

»Klar, im Altersheim«, kichert Chris und kichert wieder. Ich funkele sie an.

Nachdem Margot ihren Führerschein hatte, fing sie an, ehrenamtlich im Seniorenheim Belleview zu arbeiten. Ihre Aufgabe war es, bei der Ausrichtung der Cocktailstunde für die Bewohnerinnen und Bewohner zu helfen. Manchmal bin ich mitgegangen. Dann haben wir Schälchen mit Erdnüssen verteilt, Drinks ausgeschenkt. Gelegentlich hat Margot auch Klavier gespielt, doch das hatte Stormy meistens mit Beschlag belegt. Stormy ist die Diva von Belleview. Sie gibt hier den Ton an. Ich höre ihr gern zu, wenn sie ihre Geschichten erzählt. Eine andere Bewohnerin ist Miss Mary, die kann sich vielleicht nicht mehr so gut unterhalten, wegen ihrer Demenz, aber von ihr hab ich Stricken gelernt.

Inzwischen haben sie eine neue ehrenamtliche Helferin, aber je mehr, desto besser und desto fröhlicher, das weiß ich inzwischen vom Belleview, denn die meisten Bewohner kriegen so wenig Besuch. Ich sollte mal wieder hingehen; es fehlt mir richtig. Und dass Chris sich darüber lustig macht, passt mir überhaupt nicht. »Die Leute vom Belleview hatten mehr Leben als alle, die wir sonst so kennen, zusammen«, sage ich. »Zum Beispiel Stormy – die war bei der USO, dieser Organisation, die amerikanische Soldaten und ihre Familien betreut. Sie bekam hundert Briefe am Tag von Soldaten, die in sie verliebt waren. Ein Veteran, der im Krieg ein Bein verloren hatte, schickte ihr sogar einen Diamantring!«

Auf einmal sieht Chris interessiert aus. »Hat sie ihn behalten?«

»Hat sie.« Ich finde zwar, es war nicht recht von ihr, den Ring nicht zurückzugeben, schließlich hatte sie ja nicht vor, den Mann zu heiraten, aber sie hat ihn mir gezeigt, und er ist wirklich schön. Ein rosa Diamant, etwas sehr Seltenes. Inzwischen ist der bestimmt richtig viel wert.

»Diese Stormy muss ja ein ziemlicher Feger sein«, räumt Chris widerwillig ein.

»Du könntest doch mal mit mir hingehen«, schlage ich vor. »Zur Cocktailstunde. Mr. Perelli ist immer glücklich, wenn er mit ’nem neuen Mädel tanzen kann. Er könnte dir Foxtrott beibringen.«

Chris verzieht entsetzt das Gesicht, gerade so, als hätte ich ihr vorgeschlagen, auf der Mülldeponie abzuhängen. »Nein, danke. Aber wie wär’s, wenn ich dich zum Tanzen mitnehme? Jetzt, wo deine Schwester bald weg ist, könnten wir es doch mal so richtig krachen lassen zusammen. Ich hab immer Spaß, das weißt du doch.«

Stimmt, Chris hat immer viel Spaß. Manchmal ein bisschen zu viel, aber Spaß auf jeden Fall.

5

An Margots letztem Abend sind wir alle drei in ihrem Zimmer und packen die paar Kleinigkeiten, die jetzt noch fehlen. Kitty sortiert Margots Kosmetikkram und räumt alles ordentlich in den durchsichtigen Kulturbeutel. Margot kann sich nicht entscheiden, welche Jacke sie mitnehmen soll.

»Soll ich die Fliegerjacke und die Daunenjacke einpacken oder nur die Fliegerjacke?«, fragt sie mich.

»Nur die Fliegerjacke«, sage ich. »Die passt zu jeder Gelegenheit.« Ich liege auf Margots Bett und beaufsichtige die Packprozedur. »Kitty, pass auf, dass der Deckel von der Bodylotion ganz fest sitzt.«

»Natürlich sitzt der fest – die Flasche ist doch nagelneu!«, knurrt Kitty, kontrolliert aber trotzdem noch mal.

»Aber in Schottland wird es früher kalt als hier«, sagt Margot, während sie die Jacke faltet und oben in den Koffer legt. »Ich glaube, ich nehme doch beide mit.«

»Wieso fragst du dann, wenn du sowieso schon weißt, wie du’s machst?«, sage ich. »Außerdem hast du doch gemeint, du kommst an Weihnachten nach Hause. Es bleibt doch dabei, oder?«

»Wenn du aufhörst, so frech zu sein, ja«, sagt sie.

Ehrlich gesagt, nimmt Margot gar nicht so viel mit. Sie braucht nicht viel. Ich an ihrer Stelle hätte mein komplettes Zimmer eingepackt. Margots Zimmer dagegen sieht aus wie immer, fast jedenfalls.

Margot setzt sich neben mich, und auch Kitty klettert aufs Bett und setzt sich ans Fußende. »Alles wird anders«, sage ich mit einem Seufzer.

Margot verzieht das Gesicht und legt einen Arm um mich. »Nichts wird anders, nicht wirklich. Wir sind und bleiben die Song-Mädels – schon vergessen?«

Unser Vater steht in der Tür. Obwohl sie offen steht und wir ihn gut sehen können, klopft er an. »Ich lade jetzt mal das Gepäck ins Auto«, verkündet er. Vom Bett aus sehen wir zu, wie er erst den einen Koffer runterschleppt und dann wieder hochkommt, um den anderen zu holen. »Nein, nein, bleibt nur ruhig sitzen. Macht euch keine Mühe«, bemerkt er trocken.

»Keine Sorge, machen wir nicht«, trällern wir.

Seit einer Woche ist unser Vater im Frühjahrsputzmodus, dabei ist gar nicht Frühling. Alles Mögliche schmeißt er raus – den Brotbackautomaten, den wir ohnehin nie benutzen, CDs, alte Decken, die Schreibmaschine unserer Mutter. Kommt alles zu Goodwill, dem gemeinnützigen Secondhandshop. Ein Psychiater oder so könnte vielleicht eine Verbindung sehen zwischen dieser Aktion und Margots Abreise zum College – mir hingegen ist nicht klar, was dahintersteckt. Und ganz gleich, was es ist: Es nervt. Zweimal musste ich ihn schon von meinem gläsernen Einhorn wegscheuchen.

Ich lege den Kopf auf Margots Schoß. »Du kommst also ganz bestimmt zu Weihnachten nach Hause, ja?«

»Ja.«

»Ich wünschte, ich könnte mit nach Schottland«, mault Kitty. »Du bist viel netter als Lara Jean.«

Ich kneife sie.

»Siehst du?«, trumpft sie auf.

»Lara Jean wird nett zu dir sein«, sagt Margot, »solange du dich benimmst. Und alle beide müsst ihr euch um Daddy kümmern. Sorgt dafür, dass er nicht zu oft samstags arbeitet. Und dass er das Auto nächsten Monat zur Inspektion bringt. Und dass immer Kaffeefilter da sind – die vergesst ihr immer zu kaufen.«

»Jawohl, Feldwebel«, antworten Kitty und ich im Chor. Ich suche in Margots Gesicht nach Spuren von Traurigkeit oder Furcht oder Sorge, nach irgendeinem Anzeichen dafür, dass es ihr Angst macht, so weit wegzugehen, oder dass sie uns genauso vermissen wird wie wir sie. Doch ich finde nichts.

In dieser Nacht schlafen wir alle drei in Margots Zimmer.

Kitty schläft wie immer als Erste ein. Ich liege mit offenen Augen neben ihr im dunklen Zimmer und kann nicht schlafen. Der Gedanke, dass Margot morgen nicht mehr in diesem Zimmer sein wird, macht mich so traurig, dass es kaum auszuhalten ist. Ich hasse Veränderungen, mehr als alles andere.

Im Dunkeln neben mir fragt Margot: »Lara Jean … glaubst du, du warst schon mal verliebt? So richtig?«

Damit hat sie mich kalt erwischt. Ich habe keine Antwort parat für sie. Ich versuche noch, mir etwas einfallen zu lassen, doch sie spricht schon weiter.

Mit sehnsüchtiger Stimme sagt sie: »Ich wünschte, ich hätte mich mehr als nur einmal verliebt. Ich finde, man sollte sich auf der Highschool mindestens zweimal verlieben.« Dann stößt sie einen leisen Seufzer aus und schläft ein. So geht das immer bei ihr – ein verträumter Seufzer, und schon ist sie weg, im Nimmerland. Einfach so.

Mitten in der Nacht wache ich auf, und Margot ist nicht da. Kitty liegt zusammengerollt neben mir, doch von Margot keine Spur. Es ist stockdunkel, nur etwas Mondlicht sickert durch die Vorhänge. Ich stehe leise auf und gehe ans Fenster. Auf einmal bleibt mir die Luft weg. Da draußen sind sie, in unserer Einfahrt, Josh und Margot. Margot hat das Gesicht von ihm abgewandt, sie schaut zum Mond hoch. Josh weint. Sie berühren einander nicht. Ich sehe den Abstand zwischen ihnen und weiß: Margot hat ihre Meinung nicht geändert.

Ich lasse den Vorhang zurückfallen und taste mich zurück ins Bett, wo Kitty inzwischen in die Mitte gerollt ist. Ich schiebe sie ein Stück zurück, um Platz für Margot zu machen. Ich wünschte, ich hätte das eben nicht gesehen. Es war zu persönlich. Zu real. Etwas, was nur für die beiden gedacht war. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, das Bild in mir wieder zu löschen, würde ich es tun.

Ich drehe mich auf die Seite und mache die Augen zu. Wie musste sich das anfühlen, wenn ein Junge so um einen weint? Und nicht nur irgendein Junge. Sondern Josh. Unser Josh.

Um Margots Frage zu beantworten: Ja. Ich war schon mal richtig verliebt. In Josh. Unseren Josh.

6

Ich erzähl mal, wie Margot und Josh zusammenkamen. Gewissermaßen hatte ich das zuerst von Josh erfahren.

Zwei Jahre ist das jetzt her. Wir hatten beide eine Freistunde und saßen in der Bibliothek. Ich machte meine Mathe-Hausaufgaben, und Josh half mir dabei. Er ist richtig gut in Mathe. Wir beugten beide den Kopf über die Seite in meinem Buch, und ich roch die Seife, die er am Morgen benutzt hatte. Irish Spring.

Auf einmal sagte er: »Ich brauche mal einen Rat von dir. Da gibt’s jemanden, den ich sehr gern mag.«

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er meine mich. Gleich würde er es sagen. Hoffte ich. Das Schuljahr hatte gerade erst angefangen. Im August hatten wir fast jeden Tag irgendwas zusammen gemacht, manchmal mit Margot, meistens aber allein, weil Margot an drei Tagen die Woche ein Praktikum in Montpelier machte, dem Wohnsitz des früheren Präsidenten James Madison. Josh und ich sind oft schwimmen gegangen, so oft, dass ich richtig Farbe bekommen hatte. Während dieses Bruchteils einer Sekunde glaubte ich also, er werde gleich meinen Namen sagen.

Aber dann sah ich, wie er rot wurde und sein Blick in die Ferne schweifte, und mir war klar, ich war nicht gemeint.

Im Kopf ging ich die Namen aller Mädchen durch, die infrage kamen. Es war eine kurze Liste. Josh machte selten was mit Mädchen; meist war er mit seinem besten Freund Jersey Mike zusammen. Der heißt so, weil er von New Jersey hergezogen war, als beide in der Mittelschule waren. Oder er traf sich mit Ben, seinem anderen besten Freund. Das war’s dann aber auch schon.

Ashley wäre eine Möglichkeit gewesen. Sie gehörte zum Junior-Jahrgang und spielte in der Volleyballmannschaft. Von allen Juniors sei sie die hübscheste, hatte er mal gesagt. Zu seiner Ehrenrettung muss ich allerdings gestehen, dass ich ihn quasi dazu gezwungen habe: Ich hatte ihn gefragt, welches Mädchen aus jedem Jahrgang er am hübschesten finde. Aus meinem eigenen Jahrgang, den Freshmen, wählte er Genevieve. Das war zwar keine Überraschung, aber einen kleinen Stich hat es mir schon versetzt.

Es hätte auch Jodie sein können, eine College-Studentin, die in derselben Buchhandlung wie Josh jobbt. Er hat oft erwähnt, wie klug sie sei und wie kultiviert. Sie habe in Indien studiert und sei seitdem Buddhistin. Ha! Dabei bin ich zur Hälfte Koreanerin, ich habe Josh beigebracht, mit Stäbchen zu essen, und bei mir zu Hause hat er zum ersten Mal Kimchi gegessen.

Ich wollte ihn gerade nach dem Namen fragen, als die Bibliothekarin kam und sagte, wir sollten endlich leise sein. Also machten wir uns wieder an unsere Hausaufgaben. Josh brachte das Thema nicht noch mal auf, und ich hab nicht nachgefragt. Ehrlich gesagt, wollte ich es auch gar nicht mehr wissen. Ich selbst war es nicht, alles andere war mir egal.

Nicht eine Sekunde lang kam mir der Gedanke, Margot könne das Mädchen sein, das er gern hatte. Nicht, dass ich mir nicht hätte vorstellen können, dass sich jemand in sie vergucken könne. Sie hatte auch vorher schon Dates gehabt, immer mit einem bestimmten Typ: intelligente Jungs, die ihre Laborpartner in Chemie waren oder bei der Schulsprecherwahl gegen sie antraten. Im Rückblick ist es gar nicht mal so überraschend, dass Josh sich in Margot verliebte, er gehört schließlich auch zu der Sorte.

Wenn mich jemand fragte, wie Josh aussieht, würde ich sagen: Normal. Er sieht aus wie jemand, der sich gut mit Computern auskennt, oder wie jemand, der nicht Comics sagt, sondern Graphic Novels. Braune Haare. Kein besonderes Braun, völlig durchschnittlich. Grüne Augen, die zur Mitte hin leicht schlammfarben werden. Josh ist eher mager, dabei aber kräftig. Das weiß ich, weil ich mir mal beim alten Baseballplatz den Knöchel verstaucht hab und er mich den ganzen Weg nach Hause auf dem Rücken getragen hat. Seine Sommersprossen lassen ihn jünger aussehen, als er ist. Außerdem hat er ein Grübchen, links. Das mochte ich immer schon gern. Ohne das würde er nämlich so ernst wirken.

Was mich aber überrascht, ja geschockt hat, war, dass Margot sich ihrerseits auch in ihn verliebt hat. Nicht weil Josh so ist, wie er ist, sondern weil Margot so ist, wie sie ist. Bis dahin hatte ich sie nie sagen hören, dass sie irgendeinen Typen besonders nett finde. Kein einziges Mal. Ich war die Flatterhafte in der Familie, der Schmetterling, wie meine amerikanische Großmutter sagen würde. Margot war ganz anders. Margot stand über allem. Sie existierte auf einer höheren Ebene, wo so was wie Jungs, Make-up oder Klamotten einfach keine Rolle spielte.

Es passierte dann ganz unerwartet, an einem Tag im Oktober. Margot kam später als sonst von der Schule nach Hause. Ihre Wangen waren rosig von der kalten Luft aus den Bergen, die Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, und um den Hals trug sie einen Schal. Sie hatte in der Schule noch an einem Projekt gearbeitet, und inzwischen war es schon Essenszeit. Ich hatte panierte Hühnerbrust mit Parmesan gemacht, dazu gab’s Spaghetti mit einer etwas wässrigen Tomatensauce.

Margot kam in die Küche und sagte: »Ich muss euch was erzählen.« Ihre Augen leuchteten. Ich erinnere mich noch, wie sie langsam den Schal abwickelte.

Kitty saß am Küchentisch und machte Hausaufgaben. Daddy war auf dem Heimweg, und ich rührte in der dünnen Sauce. »Was?«, fragten Kitty und ich gleichzeitig.

»Josh hat sich in mich verliebt.« Margot zog die Schultern fast bis zu den Ohren hoch und sah sehr zufrieden aus.

Ich wurde ganz still. Dann ließ ich den Holzlöffel in die Sauce fallen. »Josh? Unser Josh?« Ich konnte Margot nicht einmal ansehen, vor lauter Angst, sie würde mir etwas anmerken.

»Ja. Er hat nach der Schule auf mich gewartet, um es mir zu sagen. Er hat gesagt …« Margot grinste verschämt. »Er hat gesagt, ich sei das Mädchen seiner Träume. Könnt ihr das glauben?«

»Wow«, sagte ich und versuchte, dieses Wörtchen nach Glück klingen zu lassen, aber ich weiß nicht, ob das so rüberkam. Alles, was ich fühlte, war Verzweiflung. Verzweiflung und Neid. So dicker, schwarzer Neid, dass ich glaubte, daran zu ersticken. Ich machte einen zweiten Versuch, und dieses Mal lächelte ich dazu: »Wow, Margot.«

»Wow«, echote Kitty. »Das heißt, er ist jetzt so richtig dein Freund, und du bist seine Freundin?«

Ich hielt die Luft an, während ich auf Margots Antwort wartete.

Mit zwei Fingern nahm sie etwas geriebenen Parmesan aus der Schüssel und ließ ihn sich in den Mund fallen. »Sieht so aus.« Dann lächelte sie, und ihr Blick wurde ganz sanft und weich. Da verstand ich, dass sie ihn auch gern hatte. Sehr gern sogar.

Am selben Abend schrieb ich meinen Brief an Josh.

Lieber Josh …

Ich weinte lange. Es war aus, so mir nichts, dir nichts. Aus, bevor ich überhaupt eine Chance gehabt hatte. Dass Josh Margot gewählt hatte, war nicht mal so wichtig. Entscheidend war, dass Margot ihn gewählt hatte.

Das war’s also. Ich weinte mir die Augen aus, schrieb meinen Brief und begrub die ganze Angelegenheit. Seitdem habe ich auch nie mehr auf die Art an ihn gedacht. Er und Margot, wie füreinander gemacht. Füreinander bestimmt.

Ich bin noch wach, als Margot zurück ins Bett kommt, aber ich mache ganz schnell die Augen zu und stelle mich schlafend. Kitty liegt, an mich gekuschelt, neben mir.

Ich höre ein Schniefen und öffne vorsichtig ein Auge, um zu Margot hinüberzuschauen. Sie hat uns den Rücken zugewandt, und ihre Schultern beben. Sie weint.

Margot weint nie.

Seit ich gesehen habe, dass Margot wegen Josh weint, bin ich noch fester überzeugt: Die zwei sind noch nicht fertig miteinander.

7

Am nächsten Tag bringen wir Margot zum Flughafen. Als wir da sind, laden wir ihre Koffer auf einen Gepäckwagen. Kitty macht einen Versuch, sich draufzustellen und herumzutanzen, aber unser Vater zieht sie gleich wieder runter. Margot besteht darauf, allein weiterzugehen, so wie sie es auch schon angekündigt hatte.

»Margot – lass mich wenigstens deine Koffer für dich einchecken«, sagt Daddy und versucht, mit dem Gepäckwagen um sie herumzukommen. »Ich will noch sehen, dass du gut durch die Sicherheitskontrolle kommst.«

»Ich komme schon klar«, antwortet sie. »Ich fliege nicht zum ersten Mal allein.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und umarmt Daddy. »Ich ruf an, sobald ich da bin, versprochen.«

»Ruf jeden Tag an«, flüstere ich. Der Kloß in meinem Hals wird immer dicker, und die ersten Tränen stehlen sich aus meinen Augenwinkeln. Ich hatte gehofft, ich würde nicht weinen, weil ich wusste, Margot würde es auch nicht tun, und alleine weinen macht einsam, aber ich komme nicht dagegen an.

»Wehe, du vergisst uns!«, warnt Kitty sie.

Da muss Margot lächeln. »Das könnte ich gar nicht.« Sie nimmt jeden von uns ein letztes Mal in den Arm, mich als Letzte, wie ich es schon gewusst hatte. »Pass gut auf Daddy und Kitty auf. Du hast ab jetzt die Verantwortung.« Ich will sie nicht loslassen und umarme sie noch fester. Ich warte und hoffe immer noch auf ein Zeichen, irgendeinen Hinweis, dass sie uns genauso sehr vermissen wird wie wir sie. Doch sie lacht nur, und ich lasse sie los.

»Tschüss, Gogo«, flüstere ich und wische mir mit einem Zipfel meines T-Shirts über die Augen.

Dann sehen wir ihr alle nach, wie sie den Gepäckwagen zum Schalter schiebt. Jetzt weine ich richtig heftig und wische mir die Tränen mit dem Armrücken ab. Daddy legt einen Arm um mich, den anderen um Kitty. »Wir warten noch, bis sie vor der Kontrolle ansteht«, sagt er.

Als Margot fertig eingecheckt hat, dreht sie sich um und schaut uns noch einmal durch die Glastür hindurch an. Sie hebt eine Hand und winkt, dann geht sie los, in Richtung Sicherheitskontrolle. Wir schauen ihr nach, denken, dass sie sich vielleicht noch einmal umdreht, doch das tut sie nicht. Schon scheint sie weit entfernt von uns. Die ewige Einser-Schülerin Margot, immer alles im Griff. Ich glaube nicht, dass ich so stark sein werde wie sie, wenn ich einmal an der Reihe bin auszuziehen. Aber im Ernst – wer ist das schon?

Ich weine auf dem kompletten Heimweg. Ich sei eine Heulsuse, sagt Kitty, dabei sei ich doch die Ältere, aber dann greift sie doch vom Rücksitz nach meiner Hand und drückt sie, und ich weiß, sie ist auch traurig.

Obwohl Margot kein Mensch ist, der viel Lärm macht, kommt es uns zu Hause auf einmal so still vor. So leer. Wie wird es erst in zwei Jahren sein, wenn ich auch weggehe? Was werden Daddy und Kitty dann machen? Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie die beiden abends in ein leeres, dunkles Haus kommen, ein Haus ohne mich und ohne Margot. Vielleicht gehe ich ja nicht weit weg, vielleicht bleibe ich sogar zu Hause wohnen, wenigstens fürs erste Semester. Ich glaube, das wäre gut.

8

Später am Nachmittag ruft Chris an, sie will meine Meinung zu einer ganz bestimmten Lederjacke hören. Ich müsste sie mir aber selbst anschauen, sonst könnte ich sie mir nicht richtig vorstellen, deshalb soll ich ins Einkaufszentrum kommen. Es macht mich stolz, dass sie meinen Rat in Kleiderfragen sucht, und es wäre einerseits auch gut, mal für eine Weile aus dem Haus zu kommen und nicht mehr Trübsal zu blasen. Andererseits macht mich der Gedanke, ganz allein zum Einkaufszentrum zu fahren, nervös. Ich (und vermutlich jeder andere) würde mich als unsichere Fahrerin bezeichnen.

Ich frage, ob sie mir nicht ein Foto schicken kann, aber Chris kennt mich zu gut. »Nix da«, sagt sie. »Setz deinen Arsch in Bewegung und komm her, Lara Jean. Du wirst nie besser im Autofahren, wenn du dich nicht endlich mal rantraust.«

Und so kommt es dann auch: Ich fahre mit Margots Auto zur Mall. Ich meine, den Führerschein habe ich ja schließlich, mir fehlt nur das Selbstvertrauen. Mein Dad ist schon viele Male mit mir gefahren, Margot auch, und im Grunde komme ich auch gut mit dem Auto zurecht, aber wenn ich alleine unterwegs bin, werde ich nervös. Vor allem der Spurwechsel macht mir Angst. Ich mag es gar nicht, den Blick von dem abzuwenden, was unmittelbar vor mir passiert, nicht mal für eine Sekunde. Außerdem fahre ich nicht gern wirklich schnell.