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Mit 12 zu überleben, ist gar nicht so leicht! Annemarie, oder Shug, wie die Familie sie nennt, glaubt, es gibt nichts Schlimmeres, als zwölf zu sein: Sie ist zu groß, zu sommersprossig und zu flachbrüstig. Alles um sie herum gedeiht prächtig – nur Shug nicht! Alle wissen irgendwie, wo es langgeht – nur Shug nicht. Und jetzt auf der Highschool fangen auch noch ihre Freudinnen an, seltsam zu werden. Und selbst Mark, ihr allerbester Freund, benimmt sich komisch. Shug möchte, dass gefälligst alles so bleibt, wie es immer schon war. Doch die Welt scheint nicht rund zu laufen! Oder vielleicht läuft Shug ja nicht ganz rund und mit der Welt ist alles in Ordnung?
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Seitenzahl: 249
Wie kann man sich auf MORGEN vorbereiten, wenn man nicht mal das HEUTE kapiert?!
Annemarie oder Shug, wie ihre Familie sie nennt, glaubt, es gibt nichts Schlimmeres als zwölf zu sein:
Sie ist zu groß, zu sommersprossig und zu flachbrüstig. Alles um sie herum gedeiht prächtig – nur Shug nicht! Alle wissen irgendwie, wo es langgeht – nur Shug nicht! Und jetzt auf der Highschool fangen auch noch ihre Freundinnen an, seltsam zu werden. Und selbst Mark, ihr allerbester Freund, benimmt sich komisch. Shug möchte, dass gefälligst alles so bleibt, wie es immer schon war. Doch die Welt scheint nicht rundzulaufen! Oder vielleicht läuft Shug ja nicht ganz rund, und mit der Welt ist alles in Ordnung?
Für Mom, Dad, Grandma und Schwesterchen
Ein Sommernachmittag geht zu Ende, gleich wird die Sonne am Horizont verschwinden. Unsere liebste Tageszeit. Wir lutschen Kirscheis am Stiel. Mein T-Shirt klebt mir am Rücken, und meine Hände fühlen sich warm und pappig an, aber meine Lippen sind kühl. Die Sonne nimmt genau dieses grelle Pink an, das ich so liebe, und ich drehe mich zu Mark um, so wie immer.
Ich sehe ihn an, sehe ihn wirklich an. Hundertmal oder öfter haben wir unter diesem Baum, unserem Baum, gesessen, und immer war Mark derselbe – der, den ich kenne, seit wir beide fünf waren und ich ihm gesagt habe, meine Mama sei viel, viel hübscher als seine. Aber heute, genau in diesem Moment, ist er auf einmal anders, und ich könnte nicht einmal erklären, was es genau ist. Aber ich kann es fühlen. Und wie – Junge, Junge! Äußerlich ist alles wie immer, aber innen drin ist es so, als würde ein kleiner Teil von mir gerade aufwachen.
Die Haare hängen ihm in die Augen, und seine Haut ist goldbraun wie Toast. Er riecht wie immer im Sommer – nach grünem Gras und Schweiß und Chlor. Er sieht der Sonne zu, wie sie von einer Farbe in die andere wechselt, und sitzt ganz still und schweigsam da. Auf einmal sieht er mich an und lächelt, und in diesem Moment merke ich, wie viel er mir bedeutet. Es ist, als würde mir das Herz gleich aus dem Brustkorb fliegen. Das ist er – der Moment, in dem er mich küssen müsste, der Moment, auf den in Filmen alles zuläuft. Er wird mich ansehen, und er wird es wissen, so wie ich es weiß.
Zwölf ist das perfekte Alter für den ersten Kuss, das weiß doch jeder.
Bloß dass Mark mich schon gar nicht mehr ansieht. Und dass er angefangen hat zu reden. Dieser Idiot redet, statt zu küssen! Quasselt von irgendeinem Mountainbike, das sein Dad ihm zum Geburtstag schenken will. »Mann, das wird so was von geil. Wir fahren auf den Tuckashawnee Trail …«
»Hey, Mark«, unterbreche ich ihn. Diese letzte Chance gebe ich ihm noch, es wiedergutzumachen, diese letzte Chance, mich so zu sehen wie ich ihn. Ich konzentriere mich ganz auf diesen Wunsch, dass er mich ansieht, wirklich ansieht. Nicht die Mückenstiche an meinen Beinen oder den Ketchup-Fleck auf meinen Shorts oder die aufgeschürften Ellbogen. Nicht das Mädchen, das du dein Leben lang gekannt hast. Sieh mich. Sieh mich.
»Was?« Er guckt mich an, aber er sieht mich überhaupt nicht. Ich merke, dass er in Gedanken immer noch bei diesem Fahrrad ist und nicht im Entferntesten daran gedacht hat, mich zu küssen. Sein Mund ist kirschrot vom Eis. Wie Lippenstift sieht das aus.
»Du siehst aus, als hättest du dir die Lippen angemalt«, sage ich. »Wie ein Mädchen siehst du aus. Eins mit einem furchtbaren Geschmack.« Ich lache, als hätte ich etwas wahnsinnig Witziges gesagt.
Er wird rot. »Kannst du mal aufhören, Annemarie?«, sagt er und reibt sich wütend mit dem Handrücken über den Mund.
Doch ich mache immer weiter. »Celia hat bestimmt irgendwelchen Lidschatten, der super zu dem Lippenstift passen würde.« Celia ist meine große Schwester und vermutlich das hübscheste Mädchen in unserer Stadt, wenn nicht sogar im ganzen Staat.
Mark glotzt mich an. »Du bist doch bloß eifersüchtig, weil Celia hübscher ist als du.«
Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Du solltest dich mal von Celia stylen lassen«, sage ich. Meine Augen fangen an zu brennen. Wenn wir zwei erst mal loslegen, dann hören wir erst wieder auf, wenn einer von uns aufsteht und weggeht, weil er heulen muss. Meistens ist Mark derjenige, aber heute könnte ich blöderweise schneller sein.
Bitte, bitte nicht!
»Wenn hier jemand ein Styling braucht, dann ja wohl du«, sagt er kalt.
»Du hast doch echt keine Ahnung, Mark, weißt du das? Ein Troglodyt bist du. Und so dumm, dass du vermutlich das Wort nicht mal kennst.« Troglodyten waren Menschen, die in Höhlen lebten. Ich weiß das auch nur, weil ich es nachgeschlagen habe, nachdem Celia mich mal so genannt hat. Als ich Weintrauben mit den Zehen essen wollte.
»Na und? Wetten, dass du es auch nicht weißt? Wetten, dass du bloß nachplapperst, was du bei deiner Mutter oder deiner Schwester gehört hast?«
»Gar nicht wahr! Ich bin nämlich zufällig hochbegabt. Ich hab’s nicht nötig, Anleihen bei anderen Leuten zu machen, anders als gewisse Troglodyten, die ich kenne.«
Letztes Jahr habe ich Mark nämlich dabei erwischt, wie er im Schulbus bei Jack Connelly die Hausaufgaben abgeschrieben hat. Vor seinen Kumpeln hat er so getan, als wäre das völlig normal, aber als ich damit gedroht habe, es seiner Mom zu erzählen, da hat er rumgeplärrt wie ein Baby. Das Blödeste an der Geschichte war, dass Jack Connelly mit Abstand der Dümmste in der ganzen Stufe ist. Wenn Mark ein Troglodyt ist, dann ist Jack der König der Troglodyten.
Mark starrt mich mit offenem Mund an, dann schüttelt er entgeistert den Kopf. »Mensch, Annemarie, was soll das denn jetzt? Du hast doch angefangen.«
»War doch bloß Quatsch, und wenn du nicht so blöd wärst, dann wüsstest du auch, dass man das Aussehen eines Mädchens nicht kritisiert. Das ist demütigend und außerdem, ähm, sexistisch.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch und sehe ihn streng an. Wag es bloß nicht, mir zu widersprechen, soll das heißen.
»So ein Käse! Du darfst sagen, was du willst, und ich darf nicht mal Piep machen? Das ist ja wohl das Letzte.« Mark schüttelt wieder den Kopf.
»So funktioniert es aber«, sage ich. »Und außerdem musst du nicht darauf rumreiten, dass Celia hübscher ist als ich. Das weiß ich selber.«
Meine Schwester Celia gehört zu den Mädchen, deren Haare sich im Pferdeschwanz genau so locken, wie sie sollen. Sie ist kleiner als ich, gerade so groß, dass Jungen sie dauernd hochheben und gar nicht mehr loslassen wollen. Ich bin so groß, dass sogar mein Dad mich nicht mehr hochheben kann, geschweige denn ein Junge aus der Sechsten. Jungs mögen Celia, sie sind ganz verrückt nach ihrem geheimnisvollen Lächeln und ihrem kessen Gang. Ständig rufen sie bei uns zu Hause an. Daddy runzelt die Stirn, aber Mama lächelt nur und sagt: »Die Jungen umschwirren meine Celia, weil sie wissen, wie sie ist – nämlich süßer als Honig.« Was würde ich darum geben, wenn sie zur Abwechslung mal mich umschwirren würden!
An jedem Valentinstag seit der Vierten kommt Celia mit rosa Nelken und massiven Schokoladenherzen und mindestens einer Pralinenschachtel nach Hause. Ich durfte immer die rechteckigen mit Karamellfüllung essen, obwohl sie die auch am liebsten mag. Selber bekomme ich am Valentinstag höchstens das, was wir uns in der Klasse gegenseitig schenken, weil wir müssen – und das sind dann Scooby-Do-Bänder oder Mickymäuse aus dem Drugstore, die es im Dutzend billiger gibt.
Mark schenkt mir seinen »Tut-mir-leid«-Blick, eine Mischung aus Grinsen und Grimasse, die nach echter Reue aussehen soll. Er guckt wie immer, wenn er was verbockt hat: wie ein junger Hund, der auf den Teppich gepinkelt hat und dem es zwar leidtut, der es aber garantiert wieder macht. Solange ich ihn kenne, entschuldigt sich Mark Findley schon bei mir.
»Tut mir leid, Annemarie«, sagt er.
Ich sehe ihn finster an. »Das sollte es auch.«
Er hat noch immer diesen Blick, und jetzt geht er auch noch auf die Knie. »Verzeih mir, Annemarie. Bitte, bitte verzeih mir!«, bettelt er, und dabei schaukelt er mit gefalteten Händen vor und zurück wie jemand, der betet.
Er ist so blöd!
Was ich am meisten an Mark hasse, ist, dass ich ihm nie lange böse sein kann. Eigentlich bin ich der nachtragendste Mensch, den ich kenne, aber bei Mark schaffe ich es einfach nicht. Er findet immer eine Möglichkeit, mich zum Lachen zu bringen.
»Ach, steh schon auf.« Damit er nicht sieht, dass ich schon wieder grinsen muss, rupfe ich ein Büschel Gras aus dem Boden und werfe es ihm an den Kopf.
Er hat es aber doch gesehen, obwohl es nur ganz kurz war, und macht ein zufriedenes Gesicht. Dann schüttelt er sich, um das Gras aus den Haaren zu bekommen, ungefähr so wie Meeks, mein Hund, sich nach dem Baden schüttelt. »Wo ist Celia überhaupt?«, fragt Mark betont beiläufig und lässt sich zurück auf den Rasen fallen.
Mark hatte schon immer eine Schwäche für Celia, das war schon so, als wir noch klein waren. Gesagt hat er das nie, aber das war auch nicht nötig. Er weiß, dass ich es weiß.
»Sie ist mit Margaret Tolliver zum Einkaufszentrum, und später übernachtet sie bei ihr.« Margaret ist Celias beste Freundin. Manchmal lassen sie mich mitkommen, wenn sie was vorhaben, aber heute nicht.
»Ach so«, sagt er. Es tut weh, so viel Enttäuschung in einem so kleinen Wort zu hören. Er mag sie immer noch, eindeutig. Celia ist sechzehn, und wir sind zwölf, man sollte also meinen, Mark wüsste, dass er null Chancen bei ihr hat. Vermutlich weiß er das auch tatsächlich, trotzdem macht er sich Hoffnungen. Neben den Typen von der Highschool, die auf Celia stehen, sieht Mark wie ein kleiner Junge aus. Auch das weiß er bestimmt. Trotzdem dackelt er hinter ihr her wie unser alter Meeks, wenn er sich Hoffnungen auf Essensreste macht.
Ein Weilchen sagen wir nichts, sondern sehen nur zu, wie die Sonne untergeht. Dann steht Mark auf. »Ich sollte mal nach Hause gehen. Willst du mitkommen und bei uns essen? Meine Mom macht Spaghetti, glaube ich.«
Mrs. Findleys Spaghetti sind die allerbesten überhaupt. Sie macht auch die Soße komplett selbst, eine süßlich schmeckende italienische Soße aus gedünsteten Tomaten, mit frischem Basilikum aus dem eigenen Garten. Ihre geheime Zutat ist Honig, daher der süßliche Geschmack. Mrs. Findleys Spaghetti sind mein absolutes Lieblingsessen. Ich weiß, dass Mark auf die Weise versucht, seine Bemerkung von vorhin wiedergutzumachen, und ich würde auch gern Ja sagen, aber stattdessen sage ich: »Nö, meine Mama hat bestimmt schon was Leckeres für mich gemacht.«
Das ist eine dreiste Lüge, und wir wissen es beide. Meine Mutter hasst Kochen. Nur wenn mein Daddy zu Hause ist, macht sie sich überhaupt mal die Mühe. Daddy hat aber noch eine ganze Woche geschäftlich in Atlanta zu tun, sodass ich mit viel Glück auf ein Sandwich mit Erdnussbutter hoffen kann. Und das auch nur, wenn Celia heute Brot gekauft hat.
Vor Mark werde ich das allerdings garantiert nicht zugeben. Wahrscheinlich besteht mein Abendessen heute aus Erdnussbutter – Jif Extra Crunchy –, aber wenigstens habe ich meine Mutter nicht blamiert. Nicht dass sie sich je für irgendetwas schämen würde, aber ich weiß genau, dass sie es nicht mag, wenn die Nachbarn über unsere familieninternen Angelegenheiten Bescheid wissen. Stolz ist ein großes Thema für Mama. Eine Frau ohne Stolz sei keine Frau, kriege ich ständig zu hören. Ich weiß, dass ich überall da, wo es darauf ankommt, keine Frau bin, aber das mit dem Stolz funktioniert immerhin.
Mark zuckt mit den Schultern, dann sagt er: »Gehst du nächsten Samstag zu Sherilyns Pool-Party?«
»Klar.« Bei unserer Freundin Sherilyn gibt es jedes Jahr zum Ende des Sommers, kurz bevor die Schule wieder losgeht, eine Pool-Party. Das war immer so eine richtige Kinderfeier, mit Hot Dogs und Wer hat Angst vorm Wassermann?. Und alle Mütter aus der Gegend trugen Badeanzüge mit Frotteehängerchen darüber und Frotteeslippern. Alle außer Sherilyns Mom, die nur String-Bikinis trägt und dazu höchstens einen Sarong. Alle anderen Mütter lächeln süß und tun so, als könnten sie Mrs. Tallini gut leiden, aber in Wirklichkeit finden sie sie »zwar attraktiv, aber eben auf diese verlebte Art, die sehr nach Solarium aussieht«. Das weiß ich, weil ich gehört habe, wie Mairi Stevensons Mom das letztes Jahr bei der Parade zum Nationalfeiertag am vierten Juli zu jemandem gesagt hat.
Mrs. Tallini hat zwar tatsächlich ein eigenes Sonnenbett, aber sie ist nun mal »eine Frau, die immer noch richtig gut aussieht«. Das hat mein Daddy irgendwann gesagt. Wenn meine Mutter das gehört hätte, hätte sie ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen, aber zum Glück für uns alle geht sie nie zu irgendwelchen Einladungen bei den Nachbarn.
Ich weiß auch, was die anderen Mütter von Mama halten. Sie finden sie abweisend und hochnäsig. Sie glauben, sie hält sich für was Besseres. Das stimmt auch, das denkt sie tatsächlich. Meine Mutter – sie heißt übrigens Grace – ist sehr groß und sehr schön, aber auf eine Weise, die andere Leute durchaus einschüchtert. Auf eine Weise, die ihnen zu verstehen gibt, dass sie es weiß, dass es ihr aber völlig egal ist. Mamas Haare sind weizenfarben, und in der Sonne leuchten sie rötlich golden. Ihre Augen sind grün. Mein Daddy nennt sie Grace Kelly, und wenn Mama das hört, rümpft sie bloß die Nase – wie unoriginell! –, aber insgeheim freut sie sich doch, das weiß ich. Sie sagt, Daddy sei kein Fürst, und wenn er sie schon mit einer Schauspielerin vergleicht, dann doch bitte mit Lauren Bacall.
Für Daddy ist Mama genau so, wie eine Frau sein sollte: schön, klug, charmant. Schönheit macht schlechte Eigenschaften erträglich. Wenn Mama einen mit ihren grünen Augen ansieht, hat man größte Mühe, sich zu erinnern, wieso man überhaupt sauer auf sie war. Das ist eine besondere Begabung von ihr.
Meine Mutter ist anders als alle anderen Mütter in unserer Gegend – sie ist oben in den Nordstaaten aufs College gegangen und hat die Frechheit besessen zurückzukommen –, »ganz die Großstädterin, und mit einem Gehabe, als wäre sie Prinzessin Diana«. (Wenn du dich fragst, woher ich das alles weiß – Erwachsene glauben immer, Kinder könnten nicht gleichzeitig spielen und zuhören.) Mama ist mit vielen der anderen Mütter in unserem Ort aufgewachsen, und man kann Gift drauf nehmen, dass sie insgeheim gefeixt haben, als sie nach Hause kommen musste.
Mama liest Foucault statt Danielle Steel, und statt Bohneneintopf zu kochen, mixt sie Martinis. Wo in der Küche die Kochbücher aufgereiht sein sollten, hat sie Lyrikbände stehen, und sie hat weder Geschirrtücher mit Stockenten drauf noch Keramikmagneten mit der Aufschrift Home Sweet Home am Kühlschrank. Mama erzählt Celia und mir immer, dass wir so viel wert seien wie ein ganzes Dutzend der anderen Mädchen aus unserem Ort und dass sie uns enterbt, wenn wir nicht sofort nach der Highschool von hier weggehen. Wenn Partys anstehen wie die bei den Tallinis, wird Mama zwar halbherzig eingeladen, aber sie entschuldigt sich jedes Mal charmant, und die anderen Mütter sind erleichtert.
Letztes Jahr war Sherilyns Pool-Party zum ersten Mal anders als sonst. Keine der anderen Mütter war da, und Mrs. Tallini kam auch nur zu uns heraus, um uns das Essen zu bringen. Ich aß gerade mal zwei Stück gebratenes Huhn, statt meiner sonst üblichen vier, weil die anderen Mädchen überhaupt nichts aßen. Wir haben auch nicht Wer hat Angst vorm Wassermann? gespielt, und alle Mädchen außer mir lagen in Bikinis auf den Liegestühlen und ließen sich von den Jungen nass spritzen. Ich war die Einzige, die noch ihren Badeanzug vom Vorjahr anhatte. Den anderen hab ich gesagt, dass ich Bikinis anstößig und degradierend fände, und das heißt wohl, dass ich gezwungen bin, dieses Jahr wieder im Einteiler hinzugehen.
»Sollen wir zusammen zu Sherilyn laufen?«, fragt Mark.
»Ja, okay«, sage ich.
»Okay, dann bis später.« Er zögert. »Und, Annemarie – tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. War nicht so gemeint.«
Und ob er es so gemeint hatte! Manche Mädchen sind eben hübsch, und sie scheinen dafür bestimmt. Sie sollten von Anfang an hübsch sein, während wir anderen, wie soll ich das sagen, irgendwo am äußersten Rand des Lebens existieren müssen. Es ist wie mit den Motten. Im Grunde sind die ja auch nichts anderes als Schmetterlinge, stimmt’s? Bloß dass sie grau sind. Dafür können sie ja nichts, sie sind einfach so. Aber Schmetterlinge gibt’s in endlos vielen Farben, gelb und smaragdgrün und himmelblau. Wunderschön sind sie. Wer würde es schon wagen, einen Schmetterling zu erschlagen? Ich kenne niemanden, keine Menschenseele, der auch nur einen Finger gegen einen Schmetterling erheben würde. Aber so gut wie jeder würde eine Motte erschlagen und nichts dabei finden, und das alles nur, weil sie nicht so schön sind. Das ist einfach nicht fair, wirklich nicht.
Mark macht sich auf den Weg, und während ich ihm hinterhersehe, wird der Kloß in meinem Hals noch dicker. Das war mir bisher auch nicht klar, dass Liebe sich anfühlt, als hätte man ein Geschwür im Hals. Bevor er um die Ecke biegt, winkt er noch einmal, und ich winke zurück.
Es ist nicht so, als hätte mir sonst noch nie ein Junge gefallen. Da war zum Beispiel Sherwood Brown, den ich letzten Juni im Ferienlager kennengelernt habe. Er verbrachte den Sommer bei seiner Großmutter, und wir haben uns jeden Tag zugelächelt. Seine Freunde und er haben meine Freundinnen und mich im Schwimmbecken immer nass gespritzt, und manchmal, wenn wir Ausflüge gemacht haben, hat er sich im Bus neben mich gesetzt. Als ich ihm gesagt habe, dass ich ihn gern mochte, hat er mir gestanden, dass es ihm umgekehrt genauso ging, aber seine Großmutter würde ihm die Ohren lang ziehen, wenn er ihr je ein weißes Mädchen ins Haus brächte. Das habe ich Mama erzählt, und sie hat so gelacht, dass ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Wenn Sherwood nicht sein Leben lang ein Jüngelchen bleiben wolle, solle er lieber rechtzeitig lernen, sich gegen seine Großmutter durchzusetzen, meinte sie. Nach diesem Kommentar beschloss ich, nicht noch mal mit Mama über Jungen zu reden. Nie mehr.
Und dann war da natürlich Kyle Montgomery, der besser aussieht als alle anderen Jungen in meiner Stufe. Alle Mädchen mögen Kyle und auch die Lehrer. Wir Mädchen tun hinter seinem Rücken immer so, als würden wir gleich in Ohnmacht fallen, wenn wir ihn auf dem Flur treffen. Einmal hat er meine beste Freundin Elaine Kim und mich dabei erwischt, da hat er uns erst zugezwinkert und ist dann knallrot geworden. Wir mögen Kyle, weil er für uns unerreichbar ist. Er ist für jede unerreichbar. Außerdem haben wir seinetwegen immer was zu kichern, und das macht Spaß. Ich kenne kein Mädchen, das nicht sonst was dafür geben würde, mit Kyle Montgomery auch nur einmal durch den Flur zu gehen.
Kyle ist groß, und er hat nette Augen. Kennst du das, die Art Augen, die immer aussehen, als würden sie lächeln? Genau so sind seine, und er lächelt auch wirklich ganz viel. Seine Jeans sitzen immer perfekt, und er ist der beste Basketballer aller Zeiten an unserer Schule. Wie gesagt, jeder mag Kyle, und vor ein paar Jahren habe ich auch ganz schön für ihn geschwärmt.
Aber das hier ist anders, hier geht es um Mark. Um Mark Findley, der weiß, welche Eissorte ich am liebsten mag (Rocky Road) und wie eine perfekte Pizza für mich zu sein hat (Ananas, Pilze und doppelt Käse); um Mark, der mir Splitter aus dem Fuß zieht, wenn ich im Sommer barfuß laufe; Mark, der mir geholfen hat, meine Wüstenspringmaus Benny zu beerdigen, als sie gestorben ist. Mark, der neben mir saß, als mir einmal im Bus schlecht wurde (das war in der Dritten), und der kein Wort gesagt hat, als er etwas von dem Schwall abbekam. Er hat es einfach weggewischt und gefragt, ob alles okay sei mit mir.
Was ich unter anderem an Mark so gern mag, ist seine Familie. Die Findleys sind so eine Familie, wie man sie eigentlich nur noch in alten SchwarzWeiß-Filmen sieht, die spätabends als Wiederholung laufen. Zu Weihnachten backt Mrs. Findley aus Mürbeteig Zimtkekse, auf die echte geschlagene Sahne kommt, und Mr. Findley ist früher oft mit Mark und Celia und mir zum Schlittenfahren in den Clementon Park gegangen. (Das war bevor Celia beschloss, sie sei zu erwachsen, um Spaß zu haben.) Mrs. Findley sagt immer, sie wünschte, sie hätte eine Tochter wie mich, und dass meine Mutter die glücklichste Frau auf der Welt sei, bei zwei so tollen Töchtern. Mrs. Findley findet mich toll. Als wir klein waren, habe ich mir insgeheim gewünscht, die Findleys würden mich adoptieren, aber seit ich älter bin, wäre ich schon zufrieden, wenn ich ihre viel geliebte Schwiegertochter werden könnte.
Als ich nach Hause komme, gehe ich direkt in mein Zimmer und rufe Elaine an. Elaine Kim ist erst letzten Dezember in unsere Gegend gezogen. Alle Mädchen wollten sofort ihre beste Freundin sein, weil sie neu war und noch dazu aus New York City, aber sie hat sich für mich entschieden.
»Elaine«, sage ich, »es gibt Neuigkeiten.«
»Nämlich?«, fragt sie. Im Hintergrund höre ich den Fernseher.
Ich zögere. »Ich glaube, ich bin verliebt … in Mark.«
»Ja, ich weiß«, sagt Elaine, und ich merke, sie hört mir gar nicht richtig zu. Das ärgert mich.
»Ich hab gesagt: Ich glaube, dass ich in Mark verliebt bin«, blaffe ich sie an.
»Und ich hab gesagt, ich weiß!«, blafft Elaine zurück. Das liebe ich an ihr.
»Woher wusstest du das? Das kannst du gar nicht gewusst haben. Ich wusste es ja selber nicht.«
»Also wirklich, Annemarie. Ich bin deine beste Freundin. Ich weiß Dinge über dich, die sonst niemand weiß, nicht einmal du selbst.«
»Aber wie konntest du das wissen?«
»Weil es so ein totales Klischee ist. Natürlich magst du Mark. Er ist der Junge von nebenan, der, an dem jeder andere sich messen lassen muss. Aber das geht vorbei, keine Sorge. Alles nur eine Frage der Zeit.« Bloß weil ihr Vater Psychiater ist, glaubt Elaine, sie weiß alles.
»Mark wohnt nicht nebenan«, murmele ich.
»Dann meinetwegen in derselben Straße. Läuft aufs Gleiche hinaus.«
»Okay, schön – aber wenn du schon alles weißt, dann kannst du mir sicher auch sagen, was ich jetzt machen soll.«
»Was du machen sollst«, echot sie. »Keine Ahnung. Was willst du denn?«
»Ich will, dass er mich auch mag. Ich will, dass er mich so anguckt wie Celia«, sage ich, lasse meinen Kopf aufs Kissen sinken und starre an die Decke. In einer Ecke hängt ein fettes Spinnennetz.
»Hmm, das könnte allerdings schwierig werden. Celia hat, na ja, einen richtigen Busen, erinnerst du dich?«
»Nein, das hatte ich vergessen. Danke, dass du mich dran erinnerst.«
Elaine beschließt, ich solle mit meiner Mutter reden. Alle anderen Mütter findet sie unterbelichtet, aber meine versteht was von solchen Dingen, meint Elaine. Elaine vergöttert meine Mutter, vielleicht, weil ihre so völlig anders ist. Elaine ist die einzige von meinen Freundinnen, die meine Mutter ertragen kann. Das liegt daran, dass Elaine aus New York kommt und »was draufhat«. Aber ich glaube, es liegt daran, dass Elaine Mama behandelt, als wäre sie ein Filmstar, und Mama liebt Leute, die klug genug sind zu merken, dass sie etwas Besonderes ist.
Ich werde mich hüten, meine Mutter wegen Mark zu fragen. Ich weiß genau, was sie sagen würde. Nämlich dass Mark durchaus ein niedlicher Junge ist, für den Hausgebrauch sozusagen, aber dass ein außergewöhnliches Mädchen wie ich allemal was Besseres finden könnte. Und dann werde ich auch anfangen zu denken, dass Mark vielleicht wirklich nichts Besonderes ist, und dann werde ich ihn nie mehr so sehen können wie jetzt.
Aber das sage ich Elaine nicht. Es gefällt mir, wie Elaine Mama sieht. Ich wünschte, ich selbst könnte sie auch noch so sehen. Manchmal passiert das noch, aber es fällt mir immer schwerer.
Auch wenn Mama Mist gebaut hat, als ich ihr von Sherwood Brown erzählt habe, heißt das ja nicht, dass es dieses Mal genauso sein muss. Man weiß ja nie. Menschen sind immer für Überraschungen gut. Und außerdem – jeder braucht eine zweite Chance im Leben, hab ich recht?
Als wir aufgelegt haben, gehe ich in Mamas Zimmer.
Meine Mutter liegt auf ihrem Bett und liest; ihre Füße liegen leicht erhöht auf einem türkisenen Seidenkissen mit kleinen orangefarbenen Troddeln. »Shug, geh nicht so krumm«, sagt sie, ohne den Blick von ihrem Buch zu heben.
Ich verdrehe die Augen und setze mich zu ihr, neben ihre Füße.
»Mama, wann gibt’s Essen?«, frage ich, obwohl ich genau weiß, dass sie nichts gekocht hat.
Überrascht schaut sie auf. »Du weißt doch, dass dein Daddy auf Geschäftsreise ist und deine Schwester bei Margaret. Deswegen hab ich mir jetzt auch keine Gedanken gemacht ums Essen. Mach dir selbst was. Ich hab keinen Hunger.«
»Mama!«
»Was?«, fragt sie abwesend. Sie greift nach dem Weinglas auf ihrem Nachttisch, dann blättert sie um.
»Mama, ich muss mit dir sprechen. Ich brauch einen Rat.«
Mama trinkt einen großen Schluck. »Okay, Shug«, sagt sie. »Du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Was gibt’s?«
»Also, die Sache ist die: Ich mag jemanden. Einen Jungen«, sage ich. »Aber ich glaube, er mag mich nicht.«
Mama nickt. »Wer ist es?«
Ich zögere. »Du darfst es keinem erzählen, Mama.«
»Okay.«
»Du musst es versprechen, Mama.«
»Ich verspreche. Keine Menschenseele erfährt davon.« Sie zeichnet ein Kreuz über ihrem Herzen.
»Also gut. Es ist Mark.« Hoffnungsvoll beobachte ich sie.
Sie leert ihr Glas und sagt: »Mark Findley … Hmm … ja, er hat Charme, der Junge.«
Hoffnung flattert in meinem Herzen wie ein junger Vogel. Siehst du, mehr brauchte sie nicht, nur eine zweite Chance. Mama weiß alles über Männer, vielleicht kann sie mir ja wirklich dabei helfen herauszufinden, was ich tun soll.
»Aber, Shug, ich hoffe bloß, dass eure Kinder nach unserer Familie kommen und nicht nach seiner. Seine Mutter ist ja wirklich ein ausgesprochen schlichtes Gemüt.« Sie zwinkert mir zu und kehrt zu ihrem Buch zurück.
Manchmal hasse ich meine Mutter so sehr, dass mir die Luft wegbleibt.
»Mrs. Findley kocht wenigstens Essen«, fauche ich sie an.
»Na, so was, Annemarie, bist du etwa sauer auf mich?« Sie macht sich lustig, und das macht mich nur noch wütender.
»Du bist doch bloß eifersüchtig auf Mrs. Findley, deshalb sagst du so gemeine Sachen über sie.«
»Shug, das war doch bloß ein Scherz. Du weißt, ich habe Mark immer gern gemocht, und seine Mama ist wirklich sehr lieb. Wenn du Mark willst, dann geh und nimm ihn dir. Ich habe meine Töchter nicht zu lauen Pazifistinnen erzogen. Entscheide dich: Liebe oder Krieg, aber tu was. Und außerdem: Du hast doch zwei Hände, oder? Also kannst du dir durchaus selbst was zu essen machen.«
»Toll!« Ich springe vom Bett und stürme zur Tür hinaus.
Während ich die Treppe hinunterpoltere, so laut, wie das mit nackten Füßen auf Teppichboden geht, höre ich meine Mutter rufen: »Ich hab dich auch lieb, mein Kleines.«
Meine Mutter hat Mrs. Findley nie verziehen, dass sie die Mutter ist, die ich mir immer gewünscht habe.
Elaine hat mich mal gefragt, wieso meine Mutter mich Shug nennt. »Kennst du das Buch Die Farbe Lila?«, habe ich geantwortet. Sie kannte es nicht, und ich habe versucht, ihr zu erklären, worum es darin geht. »Also, da kommt eine Frau vor, die heißt Shug. Shug Avery …« Aber anscheinend machte ich meine Sache nicht besonders gut, denn Elaine sah mich an, als wäre ich nicht ganz dicht.
Also sagte ich: »Egal. Einfach Shug. Shug wie Sugar.«
Die Farbe Lila ist ein Lieblingsbuch von Mama. Von mir übrigens auch. Die ganze Geschichte handelt eigentlich davon, wie man als freier Mensch lebt, innerlich frei. Die Hauptperson heißt Celie (wie Celia, kapiert?), und sie hat ein wirklich elendes Leben. Sie denkt, sie ist nichts wert. Dann trifft sie Shug Avery, und Shug ist wirklich ein Mensch wie eine Naturgewalt. Das sagt jedenfalls Mama über sie. Shug Avery lässt sich von niemandem was sagen. Sie ist eine Sängerin und auch eine Verführerin. Als Shug Avery durch die Stadt fegt, mischt sie das Leben dort total auf. Alle sind von ihr begeistert: Celie, Celies Mann, dieser Mr. Soundso, einfach alle. Meine Mama auch.
Deshalb nennt sie mich Shug, deswegen und als Kurzform für Sugar. Viele Mütter nennen ihre kleinen Kinder Shug, aber bei Mama ist das mehr als nur ein Kosename. Sie will, dass ich so werde wie Shug Avery, dass ich noch den letzten Tropfen aus meinem Leben rausquetsche und etwas ganz Besonderes werde, so wie Shug und sie selbst. Ich glaube, Mama wartet die ganze Zeit darauf, dass ich erwachsen werde, erwachsen und schön. Ich fürchte, auf Letzteres kann sie ewig warten.
Es ist schon ein Witz, dass Celia, die schon jetzt so schön ist, ausgerechnet nach Celie benannt wurde, dem unscheinbarsten Mädchen, das man sich denken kann. Vielleicht hätten sie besser mich nach ihr nennen sollen. Stattdessen heiße ich Annemarie, nach Mamas Schwester, die als kleines Kind gestorben ist. Mama sagt, sie sei etwas Besonderes gewesen, wilder und freier als alle, die Mama sonst gekannt hat, und das will was heißen. Sie muss wirklich verdammt frei gewesen sein.
Ich glaube, diese erste Annemarie hätte einen Namen wie Shug verdient. Im Gegensatz zu mir. Ich bin im tiefsten Innern wie Miss Celie, ich habe vor allem Angst. Aber am Ende findet sogar Celie, der alte Angsthase, heraus, wie sie leben und wie sie sein will. Sie zeigt allen, was sie kann, sie zeigt es ihnen allen. Das will ich auch.
Celia kommt am nächsten Morgen früh nach Hause und geht sofort ins Bett. Wenn sie bei Margaret übernachtet hat, ist sie immer schlecht drauf und schläft erst mal bis mittags. Als sie endlich in der Küche erscheint, sitze ich am Tisch und lese.
Von allen Räumen im Haus mag ich unsere Küche am liebsten. Sie hat viele Fenster, und den ganzen Tag scheint die Sonne herein. Mama hat Drucke von Marc Chagall an die Wände gehängt. Früher haben sie mir Angst gemacht, aber inzwischen bewundere ich sie.