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Eigentlich will Paul Flemming nur einen entspannten Sonntag mit Katinka beim Italiener am Flugplatz verbringen, doch dann stürzt vor ihren Augen ein Kleinflugzeug ab. Der Pilot, Tommy Buchholz, ist sofort tot. Noch am Unfallort bittet die Verlobte des Opfers Paul um detektivische Hilfe, denn sie ist davon überzeugt: Ihr Zukünftiger wurde ermordet! Bei seinen Ermittlungen erfährt Paul, dass Buchholz maßgeblich an der Entwicklung einer neuartigen Überschalltechnik beteiligt war. Im Kollegenkreis gab es offenbar mehr als nur einen Neider, der ihm die lukrativen Patentrechte missgönnte. Aber auch die Verlobte rückt nur mit der halben Wahrheit heraus. Als Paul eine heiße Spur entdeckt, wird für ihn die Luft sehr dünn.
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Seitenzahl: 225
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Jan Beinßen
Tod am
fränkischen Himmel
Paul Flemmings dreizehnter Fall
Kriminalroman
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage November 2018)
© 2018 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com
Lektorat: Dr. Felicitas Igel
Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg
Motivauswahl: ars vivendi
Coverfoto: © spani / photocase.de
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-985-2
Inhalt
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Nachtrag in Sachen Victor Blohfeld
Danke
Der Autor
Schon lag die iunonische Samos
Links für das fliegende Paar, […]
Als am verwegenen Flug sich der Knabe begann zu ergötzen,
Keck den Führer verließ und von
Lust nach dem Himmel verleitet
Höheren Weg einschlug
Ovid, Metamorphosen (Daedalus und Icarus)
1
»Schäufele und Sauerbraten bei einem Italiener zu bestellen – ich glaub, es geht los!« Paul Flemming stützte sich auf einem Zaun ab, der das Flugfeld vom Biergarten des Restaurants trennte, und war sauer. Stinksauer! »Die Pizza der Trattoria zählt zu den besten weit und breit, und auch der Fisch ist hier ausgezeichnet. Aber statt froh zu sein, dass wir sie hierher eingeladen haben, höre ich nichts als Nörgelei.« Sein Blick wanderte über die Flugzeuge, darunter einmotorige Schulterdecker ebenso wie Privatmaschinen mit zwei Propellern. Sogar ein kleiner Hubschrauber stand vor einem der Hangars des Herzogenauracher Flugplatzes.
»Ärgere dich nicht und komm jetzt zurück zum Tisch«, sagte Katinka versöhnlich und legte ihre Hand auf seinen Arm. »So sind sie nun mal. Deine Eltern können nicht aus ihrer Haut, und du wirst sie auf ihre alten Tage nicht mehr ändern.«
»Ach nein? Wenn sie demnächst wieder in ihrem geliebten Malcesine hocken, haben sie doch auch nichts gegen Pizza und Pasta einzuwenden. Warum dann hier?«, rief Paul gegen das Dröhnen einer startenden Sportmaschine an.
»Gardasee ist für sie Urlaub, Herzogenaurach ihr Daheim«, gab seine Frau zu bedenken. »Und zu Hause wird Fränkisch gegessen, in dieser Hinsicht sind Hertha und Hermann eigen.«
»Nicht nur in dieser Hinsicht«, grummelte Paul. »Sollen sie halt nen Salat mit Brot bestellen, wenn sie sonst mit nichts zufrieden sind.«
»Ich denke, wir können sie auch zu Saltimbocca überreden. Das ist zwar kein Sonntagsbraten, aber sie müssen nicht auf ihr Fleisch verzichten«, schlug Katinka vor.
Paul nickte grimmig und sah sich nach seinen Eltern um. Diese saßen stocksteif auf ihren Stühlen und erwiderten seinen Blick aus eingefrorenen Gesichtern. Pudeldame Bella schien die schlechte Stimmung zu spüren und hatte sich unter den Tisch verzogen. Paul seufzte. Er hätte sich auch etwas Schöneres vorstellen können, als diesen herrlichen Sommertag mit seinen missgelaunten Eltern zu verbringen. Aber Katinka hatte schon recht, wenn sie auf einen Kompromiss drängte. Denn sie fuhren viel zu selten von Nürnberg nach Herzogenaurach hinaus, um Hertha und Hermann zu besuchen. Der letzte gemeinsame Sonntag lag Wochen zurück. Also beschloss Paul, Katinkas Drängen nachzugeben, sich zusammenzureißen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
Gerade wollte er zu seinem Platz zurückkehren, da wurde seine Aufmerksamkeit erneut auf das Flugfeld gezogen. Eine ganz in Rot lackierte Maschine mit langer Schnauze und windschnittig gewölbter Glashaube über der Pilotenkanzel schoss mit hoher Geschwindigkeit auf die schmale Landebahn zu. Im Gegensatz zu den gemächlichen Landemanövern der anderen Freizeitkapitäne, die Paul heute beobachtet hatte, schien es dieser Pilot besonders eilig zu haben. Einem Jagdflieger gleich steuerte der rote Flitzer bis dicht über die Piste und setzte zur Landung an.
Paul fragte sich, wie der tollkühne Mann am Steuerknüppel es schaffen wollte, sein Flugzeug rechtzeitig vor dem Ende der Bahn zum Stehen zu bringen. Und Paul war nicht der Einzige, der sich diese Frage stellte, auch Katinka und andere Gäste im Biergarten sahen gespannt zu, was sich wenige Meter von ihnen entfernt tat. Im Gegensatz zu den Gegebenheiten an großen Flughäfen konnten die Besucher dieses kleinen Platzes den Flugbetrieb beinahe hautnah miterleben. Zwischen ihnen und der asphaltierten Start- und Landebahn befanden sich lediglich der hüfthohe Zaun, die Rollwege und ein Streifen Wiese.
Ein Raunen ging durch die Menge, als die Maschine hart auf der Piste aufsetzte. Nach zwei Hüpfern fing der Pilot sie ab und gab ihr erneut Schub. Der Motor heulte auf, als der Sportflieger knapp vorm Ende der Bahn wieder abhob.
Staunend verfolgte Paul, wie die Nase der Maschine steil nach oben gerissen wurde und sich jaulend in die Höhe schraubte. Gab da gerade ein Kunstflieger seine Vorführung?
Ein Mann neben ihm sah das wohl anders: »Der fliegt ja wie ein Betrunkener. Den müsste man mal blasen lassen«, murmelte er vor sich hin.
Gleich darauf spürte Paul einen spitzen Ellenbogen in seinen Rippen. Er trat einen Schritt zur Seite, um einer jungen Frau auszuweichen, die nach vorn wollte. Recht klein, mit einem zierlichen, gleichzeitig energisch wirkenden Gesicht. Auf ihrem schulterlangen blonden Haar trug sie eine Baseballmütze mit dem Emblem des Aero Clubs Herzogenaurach. Sie zwängte sich an Paul vorbei.
Paul ließ sie gewähren, verteidigte seinen Platz aber gegen weitere heranströmende Gäste. Er richtete den Blick wieder nach vorn und suchte den Himmel nach dem roten Teufelsflieger ab. Der hatte inzwischen eine Runde gedreht und steuerte wieder den Flugplatz an. Immer noch deutlich zu schnell, fand Paul. Doch er war kein Experte in diesen Dingen.
Wohl aber die kleine Frau zu seiner Linken, die sich mit beiden Händen an den Zaun des Lokals klammerte und schrie: »Nimm Tempo weg! Setz die Klappen und nimm Tempo weg!«
Ihr Appell an den Flugzeugführer verhallte ungehört. Als die Maschine Sekunden später über das dünne Asphaltband raste, hatte sie noch mindestens zweihundert Stundenkilometer drauf, schätzte Paul. Dies war der Moment, als Pauls Faszination in Sorge umschlug. Das hier war keine Stuntshow zur Belustigung der Biergartenbesucher, sondern ein Notfall. Der Mann am Steuerknüppel hatte seinen Flugapparat ganz offenbar nicht im Griff.
Die Mitte der Piste war erreicht, als die beiden Bugräder aufsetzten. Oder vielmehr aufschlugen. So heftig, dass es die kleine Maschine stark durchrüttelte. Mit banger Anspannung sah Paul zu, wie das Flugzeug vom Boden abprallte und zwei, vielleicht drei Meter in die Höhe katapultiert wurde. Noch immer sehr schnell, fiel sie zurück auf die Bahn, setzte hart auf. Paul konnte kaum noch hinschauen, die Belastung für das Fahrwerk musste enorm sein.
Eines der beiden Vorderräder knickte ein. Zeitgleich sackte das Flugzeug seitlich weg. Die Tragfläche gab nach und berührte den Boden. Funken stoben auf.
Die Frau neben Paul stieß einen spitzen Schrei aus. Entsetzt schlug sie die Hände vors Gesicht. Doch das nahm er nur am Rande wahr. Wie gebannt starrte er auf die Unglücksmaschine, die jetzt wie führerlos über die Bahn schlidderte. Ganz offensichtlich war sie komplett außer Kontrolle!
Trotz der Reibung des Flügels reichte die Bremswirkung nicht aus, um die Maschine zu stoppen. Mit noch immer hohem Tempo schoss sie über den Boden. Geriet mit dem intakten Rad auf die Grasfläche neben dem Asphaltband. Wurde hart herumgerissen. Pflügte dann durch die Wiese.
Paul hoffte inständig, das Flugzeug käme endlich zum Stehen. Doch der rote Pfeil machte noch zu viel Tempo, raste auf den nahen Waldrand zu. Näherte sich den Bäumen mit ungezähmter Energie. Krachte mit ohrenbetäubendem Lärm in eine Fichtengruppe.
Es tat einen lauten Schlag. Dann kehrte Stille ein. Eine unheilvolle Stille.
Die Menschen um Paul herum waren wie erstarrt. Auch er selbst rührte sich zunächst nicht vom Fleck. Erst nach endlosen Sekunden ließ der Schock nach. Paul sah, wie zwei Männer aus dem Kontrollturm gerannt kamen, in den Händen hielten sie Feuerlöscher. Auch einige der Gäste wollten helfen und kletterten über den Zaun des Biergartens, allen voran die junge Frau, die sich neben Paul gedrängt hatte. Er selbst tat es ihnen gleich und lief auf das Flugzeugwrack zu, aus dessen zerrissenem Rumpf dunkler Qualm aufstieg.
Je näher er kam, desto deutlicher wurde, in welch desolatem Zustand die Maschine war. Beide Flügel waren gebrochen, der Rumpf gestaucht, das Leitwerk am Heck geborsten. Das verbliebene Fahrwerk hatte eine tiefe Furche durch die Wiese gezogen. Ringsherum verstreut lagen Äste und Zweige, die der Aufprall aus der Baumgruppe gerissen hatte. Über dem Ganzen breitete sich ein intensiver, stechender Geruch aus. Kerosin, vermutete Paul und zögerte, sich noch näher heranzuwagen.
Zu Recht! Schon in der nächsten Sekunde hörte er einen dumpfen Knall. Gleich darauf schoss eine Stichflamme aus dem Wrack. Der auslaufende Treibstoff hatte sich entzündet! Paul taumelte zurück, ebenso die anderen Helfer und Neugierigen. Rasend schnell breitete sich das Feuer über den gesamten Rumpf aus. Paul sah mit Entsetzen, wie Flammen an den geborstenen Cockpitscheiben züngelten.
Funken schossen in die Höhe und hinderten die Männer mit den Feuerlöschern daran, den Brand zu bekämpfen. Im Hintergrund war das Martinshorn der Feuerwehr zu hören. Paul aber ahnte, dass die Retter nicht rechtzeitig eintreffen würden. Jede Hilfe kam hier zu spät.
Um sich vor der sengenden Hitze zu schützen, die von dem lichterloh brennenden Flugzeug ausging, zog Paul sich weiter zurück. Dabei stieß er mit der jungen Frau von vorhin zusammen. Sie war leichenblass und zitterte am ganzen Leib. Er fasste sie am Arm und zog sie weg, um ihr den schrecklichen Anblick zu ersparen: »Kommen Sie«, forderte er sie auf. »Machen wir Platz für die Feuerwehr.«
Doch sie widersetzte sich, konnte ihre angsterfüllten Augen nicht von dem qualmenden Wrack lassen. »Das war … das war kein Unfall«, stammelte sie.
Paul versuchte es erneut: »Lassen Sie uns gehen. Wir sind hier nur im Weg.«
Jetzt fuhren die Einsatzfahrzeuge auf das Gelände. Tanklösch- und Rüstwagen der Freiwilligen Feuerwehr Herzogenaurach, zwei Krankentransporter und die Polizei. Heulend und hupend rasten sie quer über Startbahn und Grünfläche. Es wurde höchste Zeit, das Feld zu räumen. Doch noch immer tat die junge Frau keinen Schritt.
»Das war kein Unfall«, wiederholte sie. »Sie haben Tommy vom Himmel geholt.«
Da eines der Feuerwehrautos nun direkt auf sie zuhielt, sah sich Paul zum Durchgreifen gezwungen. Er packte die Frau noch fester am Arm und zog sie aus der Gefahrenzone. Widerborstig folgte sie ihm. »Ich muss zurück«, sagte sie immer wieder. »Ich muss Tommy helfen.«
Paul ließ sich davon nicht bremsen, sondern machte erst halt, als sie den Zaun des Gartenrestaurants erreicht hatten. »Sie können nicht helfen«, sagte er. »Glauben Sie mir, es ist leider zwecklos.«
Daraufhin brach die Frau in Tränen aus und hielt sich die Hände vors Gesicht.
Paul fühlte sich in der Verantwortung und fragte: »Sie kennen den Piloten? Tommy ist sein Name?«
»Ja, Tommy Buchholz«, sagte sie weinend. »Mein Verlobter.«
»Oh …« Paul sah sich um, erkannte zwei Sanitäter vor einem der Hangars und winkte sie her. Er wandte sich wieder an die Frau. »Das tut mir sehr leid«, sagte er. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.
Ihre rot geränderten Augen richteten sich auf ihn. »Ich bin Sabrina Drechsler.«
»Flemming«, stellte sich nun auch Paul vor. »Gibt es noch irgendetwas, das ich für Sie tun kann?« Er sah, wie die Sanitäter auf sie zutrabten, und hoffte, die geschockte Frau bald in ihre Obhut übergeben zu können.
»Ja«, antwortete Sabrina Drechsler zu seiner Überraschung. »Bitte stellen Sie sich als Zeuge zur Verfügung. Helfen Sie dabei, Tommys Mörder zu überführen.«
»Mörder?« Paul sah die junge Frau zweifelnd an. Sie war offensichtlich völlig verwirrt. »Ich habe nichts gesehen, was ich da als Zeuge beitragen könnte.«
»Haben Sie eine Visitenkarte oder so etwas?« Sabrina Drechsler blieb hartnäckig. »Ich muss die Namen von Zeugen sammeln. So viele wie möglich. Das ist das Mindeste, was ich noch für Tommy tun kann.«
Paul fasste in seine Hemdtasche und reichte ihr seine Karte. Dann übernahmen die Sanis. Der eine legte ihr eine Decke aus Folie über die Schultern, während der andere sie stützte. Die beiden führten sie zu einem der Rettungswagen.
Paul sah ihnen nach und überlegte, was sich da gerade abgespielt hatte. Die Äußerungen von Sabrina Drechsler, das Gerede über Mord, war doch ganz sicher ihrem Zustand geschuldet. Mit ansehen zu müssen, wie der eigene Freund schwer verunglückt, musste sie zutiefst verstört haben. Sie schien einen Schuldigen für dieses schreckliche Unglück zu suchen, jemanden, den sie dafür verantwortlich machen konnte. Daher das Gerede über ein Gewaltverbrechen. –Oder sollte sie wirklich einen Anlass haben, an einem Unfall zu zweifeln?
»Alles gut?« Katinka stand plötzlich neben ihm und sah ihn besorgt an. »Du riechst nach Rauch, nach verbranntem Gummi.«
»Ich wollte helfen«, sagte Paul und klang niedergeschlagen. »Aber das war unmöglich. Die Flammen, die Hitze. Der Mann war wahrscheinlich schon beim Aufprall gegen den Baum tot.«
»Ja, wahrscheinlich.« Katinka dirigierte ihn zurück zu ihrem Tisch. Seine Eltern waren aufgestanden und sahen ihnen entgegen. Hermann, gestützt auf seinen Stock und anscheinend unentschieden, ob er sich von den Ereignissen abgestoßen oder beeindruckt zeigen sollte. Hertha, kerzengerade, hatte nur Augen für ihren Paul. Die sich ewig sorgende Mutter. Zwischen ihnen sprang die laut kläffende Bella.
»Was ist denn …?«, setzte Hermann zu einer Frage an, wurde aber sofort von seiner Frau unterbrochen.
»Das siehst du doch selbst«, schalt sie ihn, um sich gleich danach an ihren Sohn zu wenden: »Musstest du denn unbedingt so dicht herangehen? So was ist doch gefährlich.«
»Ganz richtig«, pflichtete Herman ihr bei. »Sehr unvernünftig, was du getan hast.«
Katinka übernahm es an Pauls Stelle, die unnötige Debatte im Keim zu ersticken: »Es ist wohl besser, wenn ihr beide jetzt heimfahrt. Diese ganze Aufregung ist nicht gut für euch«, sagte sie und fasste Hermann in der Armbeuge. Sie zog ihn sachte um den Tisch herum in Richtung der Parkplätze, wo sie ihren sorgsam gepflegten VW Karmann abgestellt hatten. Hertha folgte ihnen mit dem Hund. »Das gemeinsame Essen holen wir bald nach«, versicherte Katinka.
Paul, der Widerspruch fürchtete, rief hinterher: »Und dann in einem fränkischen Gasthaus, das ihr aussuchen dürft.«
Kaum war Katinka zurückgekommen, fragte sie ihn: »Wer war denn die Frau, mit der du vorhin gesprochen hast?«
Paul erzählte es ihr. Dabei ließ er Sabrina Drechslers Zweifel an einem Unfall unerwähnt, weil er annahm, Katinka würde das für blanken Unsinn halten. Stattdessen erkundigte er sich nur: »Was passiert da jetzt als Nächstes? Wer ist eigentlich dafür zuständig, das Unglück zu untersuchen? Die Polizei, ähnlich wie bei einem Verkehrsunfall? Du als Staatsanwältin müsstest das doch wissen.«
Katinka nickte. »Im Prinzip liegst du richtig. Zuständig für die Unfallaufnahme bei Flugunfällen ist erst einmal die Polizei. Beim Präsidium gibt es dafür ausgebildete Flugunfallsachbearbeiter, im Raum Nürnberg müsste es das Kommissariat 12 sein, oder die Sachbearbeiter der zuständigen Dienststelle.«
»Das bedeutet hier jetzt konkret?«
»Bei einem Flugunfall in Herzogenaurach kommt zuerst die örtliche Polizei. Die ist ja, wie du siehst, auch schon damit beschäftigt, den Unfallort abzusichern. Als Nächstes wird die Kripo Erlangen verständigt, die normalerweise ihre Sachbearbeiter schicken würde. Weil heute aber Sonntag ist, kommt der Kriminaldauerdienst.«
»Und das reicht? Haben diese Leute denn genug Ahnung von Flugzeugen?«
»Da es einen Toten gab, wird mein diensthabender Kollege bei der Staatsanwaltschaft wohl darauf drängen, dass die Polizei einen zusätzlichen Gutachter beauftragt. Außerdem gibt es noch die BFU, die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung. Die schicken ebenfalls jemanden vorbei und nehmen den Unfall in eigener Zuständigkeit auf, um zu klären, ob technisches Versagen, ein Pilotenfehler oder aber Fremdverschulden zu der Bruchlandung geführt hat. Aber Herr des Ermittlungsverfahrens ist immer die Staatsanwaltschaft.«
»Das ist gut«, meinte Paul. »Dann kannst du entsprechend Druck ausüben, dass bei der Untersuchung nichts übersehen wird.«
Katinka sah ihn verwundert an. »Warum sollte ich? Das ist ein standardisiertes Verfahren, das nicht in meinen Bereich fällt. Ich wüsste nicht, warum ich mich einmischen sollte.« Dann roch sie den Braten. »Du witterst schon wieder irgendein Verbrechen, stimmt’s? Hat dir diese Frau Drechsler einen Floh ins Ohr gesetzt?«
Nun rückte Paul mit den restlichen Informationen heraus und erzählte von Sabrina Drechslers Verdacht, der Tod ihres Freundes sei absichtlich herbeigeführt worden.
Katinka hörte zu und schüttelte wie erwartet den Kopf. »Ich glaube nicht, dass da etwas dran ist. Das arme Kind hat fantasiert. Kein Wunder, nach dem, was sie gerade erleben musste.« Sie winkte dem Kellner, um die Rechnung für die Getränke zu begleichen. »Aber schön. Sobald ich weiß, wer die Sache übernimmt, werde ich dem Kollegen einen Hinweis geben.«
Schweigend saßen sie in Katinkas Mini Countryman und fuhren zurück nach Nürnberg. Während sie lenkte, schaute sie ab und zu zur Seite und stellte fest, wie angespannt Paul wirkte. Das hatte sicher mit dem schockierenden Erlebnis auf dem Flugplatz zu tun. Doch sie kannte ihren Mann lange genug, um zu wissen, dass es noch einen weiteren Grund für seine plötzliche Verschlossenheit geben musste: Er dachte nach. Und zwar darüber, wie man ein Sportflugzeug zum Absturz bringen konnte.
Es war nur allzu offensichtlich, dass ihn die Verlobte des Verunglückten »angefixt« hatte. Ein Wort, das sie Paul gegenüber niemals verwenden würde. Dennoch hielt sie es für zutreffend. Denn ihr Mann war ein Junkie. Keiner, der auf harte Drogen aus war, sondern einer, der regelmäßig den besonderen Kick brauchte, einem Verbrechen auf die Spur zu kommen. Obwohl Paul nach den vielen, teilweise haarsträubenden Erfahrungen der vergangenen Jahre immer wieder versprochen hatte, sich nicht mehr mit Kriminalfällen zu beschäftigen, nahm er jede sich bietende Gelegenheit zum Anlass, um sein Wort zu brechen und es trotzdem zu tun.
Manchmal hasste Katinka ihn dafür. So sehr, dass sie am liebsten aus der Haut fahren würde, wenn sie nur daran dachte. Andererseits wusste sie, dass Paul ohne diesen speziellen Reiz nicht glücklich war. Dass er eingehen würde wie die sprichwörtliche Primel, wenn sie ihm sein riskantes Hobby vermieste, indem sie ihm das private Ermitteln verbot. Und was hieß schon verbieten? Paul konnte tun und lassen, was er wollte, er war ja ein erwachsener Mensch. Ihre einzigen Sanktionsmöglichkeiten bestanden darin, ihn entmündigen (den zuständigen Richter kannte sie gut) oder es auf eine Ehekrise ankommen zu lassen. Doch die letzte lag gar nicht lange zurück – und Katinka hatte nicht die geringste Lust, es so schnell noch einmal so weit kommen zu lassen.
Dann besser doch die Zügel lockern und Paul – in gewissem Maße – unterstützen.
2
Paul war aus dem Alter heraus, in dem er Gefallen an dieser Art von Fotoshootings hatte: wenn sich die jungen Mädels vor der Kamera amüsierten, kokettierten und in Pose warfen. Was ihm früher Spaß gemacht, ihn angeregt und seine Kreativität beflügelt hatte, empfand er mittlerweile als albern und lästig. Vor allem, wenn es – wie heute – nicht um Aufnahmen für einen Modekatalog oder Kalender ging, also auch um einen gewissen Anspruch, sondern schlicht und einfach um ein Passbild.
»So kann ich nicht arbeiten«, sagte er entnervt, nachdem er zum wiederholten Mal versucht hatte, die junge Dame gemäß den strengen Vorgaben für ein biometrisches Passfoto in Positur zu setzen. Immer wieder hatte sie zu kichern angefangen und war auf dem Hocker herumgerutscht, den Paul für sie vor eine weiße Wand gestellt hatte.
Sein heutiges Fotomotiv hörte auf den Namen Sandy (eigentlich Sandra) und war von seiner Stieftochter Hannah vermittelt worden. Hannah selbst war auch zu dem Shooting in Pauls Atelier am Nürnberger Weinmarkt erschienen – und der eigentliche Grund, weshalb Sandy sich nicht konzentrieren konnte.
»Wenn ihr die ganze Zeit Witze macht und rumkaspert, kann das nichts werden«, beschwerte sich Paul.
»Spielverderber!«, rief Hannah. »Ich versuche bloß, Sandy aufzulockern, damit das Bild nicht so steif rüberkommt.«
»Ein Passbild soll aber steif rüberkommen«, griff Paul ihre Worte auf. »Wenn sie auf jeder Aufnahme grinst, sind die Fotos für den Ausweis ungeeignet.«
»Spießer«, meinte Hannah.
»Ich habe mir die Regeln nicht ausgedacht«, entgegnete Paul und trat wieder hinter seine Kamera. »Also los: letzter Versuch!«
Sandy, eine Hübsche mit fescher Kurzhaarfrisur, nahm seine Schelte offenbar ernst. Sie streckte den Rücken durch, hielt ihr Gesicht in der vorher abgestimmten Position und richtete den Blick aufs Objektiv.
»Gut so!«, sagte Paul. Endlich!
Ehe er den Auslöser betätigen konnte, prustete Sandy los. Laut lachend beugte sie sich nach vorn. Tränen liefen über ihre Wagen und zerstörten ihr Make-up. Offensichtlich hatte Hannah im Hintergrund wieder Faxen gemacht.
Jetzt reichte es! Paul ließ seine Kamera stehen, ging auf Sandy zu und war fest entschlossen, die beiden gackernden Mädels vor die Tür zu setzen. Sollten sie sich einen anderen Deppen suchen, der die Bilder für sie machte. Fotografen gab es in Nürnberg ja genug.
Bevor er zu seiner Standpauke ansetzen konnte, klingelte es. Paul stutzte. Für den Postboten war es zu spät, und weitere Fototermine hatte er für heute nicht vereinbart.
»Willst du nicht aufmachen?«, fragte Hannah und erhob sich aus dem großen Knautschsessel, von dem aus sie das Shooting beobachtet und kommentiert beziehungsweise sabotiert hatte. Sie trug Shorts, die nach Pauls Meinung deutlich zu kurz waren, und eine Bluse, deren obere Knöpfe sie geöffnet hatte. Ihre Ringellocken hingen ihr frech in die Stirn.
»Doch, doch.« Paul ging in den Flur. An dessen Ende erwartete ihn die »Mokkabraune«, ein auf Postergröße gezogener Akt, den er viele Jahre zuvor geschossen hatte. Das Bild zierte nach wie vor die Innenseite der Wohnungstür.
Mittlerweile hatte er eine Ahnung, um wen es sich bei dem Besucher handeln könnte: Sicher war es Hannes Fink. Der Pfarrer von St. Sebald kam gern und oft unangemeldet zum Plaudern vorbei. Denn vom Pfarrhaus bis zu Pauls Atelier waren es ja bloß ein paar Schritte.
Doch er irrte sich: Statt des handfesten Geistlichen mit seinem zum Pferdeschwanz gebundenen Haar stand ein Fremder vor der Tür. Ein Mann im Rentenalter, bieder gekleidet, das graue Haar gescheitelt. Paul überlegte, ob es einer von den Zeugen Jehovas sein konnte. Aber die kamen ja meistens zu zweit …
»Drechsler.« Der Besucher reichte Paul die Hand. »Bitte entschuldigen Sie, wenn ich einfach so bei Ihnen auftauche.«
Drechsler? Paul brauchte nicht lange, um diesen Namen unterzubringen. Am letzten Wochenende, bei dem Flugzeugunglück in Herzogenaurach – die Freundin des Piloten hatte so geheißen.
Und tatsächlich stellte sich der Gast als Vater von Sabrina Drechsler vor. »Meiner Tochter geht es nicht gut. Sie steckt in einer tiefen Krise. Der plötzliche Verlust von Thomas Buchholz, ihrem Verlobten, hat sie komplett aus der Bahn geworfen.«
Paul fragte sich, warum Herr Drechsler gerade ihm das erzählte. Seine Tochter tat ihm leid, ohne Frage, aber ansonsten hatte er nichts mit der Sache zu tun. Paul suchte nach den passenden Worten: »Es ist ja auch erst ein paar Tage her. Da ist es doch völlig normal, dass die Trauer einen übermannt.«
»Das mag sein. Aber für mich als Vater ist es sehr schwer, wenn ich meine Tochter leiden sehe und nichts tun kann, um ihr zu helfen.«
Paul konnte mitfühlen. Trotzdem fragte er sich erneut, warum sich Herr Drechsler ausgerechnet an ihn wandte. »Es tut mir sehr leid«, sagte er schließlich. »Richten Sie Ihrer Tochter bitte mein aufrichtiges Beileid aus.«
Drechsler schien ihn nicht zu hören. Es wirkte, als würde er durch Paul hindurchsehen, als er weiterredete: »Dabei möchte ich ihr helfen. Unbedingt. Aber ich fürchte, das ist nur möglich, wenn ich nach Tommys Mörder suche. Doch wie soll ich das anstellen? Ich war Lehrer, nicht Polizist.«
»Ja«, sagte Paul ratlos. »Ein Lehrer ist kein Polizist.«
»Aus diesem Grund suche ich Sie auch auf, Herr Flemming.« Etwas umständlich fingerte er in der Tasche seines torfbraunen Jacketts und förderte eine Visitenkarte zutage.
Paul erkannte auf Anhieb: Es war seine!
»Die Adresse Ihres Fotostudios steht auf der Rückseite«, sagte Drechsler. »Ich dachte mir, es ist persönlicher, wenn ich herkomme, anstatt zu telefonieren.«
»Ja, äh …«
»Ich habe die Karte auf Sabrinas Nachttisch gefunden. Sie erzählte mir, dass Sie bei dem Unglück dabei waren und dass Sie sehr nett zu ihr gewesen sind. Als ich Ihren Namen las, wusste ich gleich Bescheid.«
»Worüber Bescheid?«, fragte Paul mit wachsendem Argwohn.
»Nun: Im Zusammenhang mit Fotografie sagte mir der Name Flemming zwar nichts, aber ich habe in einer anderen Beziehung über Sie in der Zeitung gelesen. – Sie sind auch als Detektiv tätig, ist das richtig?«
Jetzt wusste Paul, woher der Wind wehte. »Also, ich …«
Drechsler trat einen Schritt vor und blickte ihn hoffnungsvoll an: »Kurzum: Ich möchte Sie engagieren. Bitte nennen Sie mir Ihre Honorarvorstellungen.«
Paul hob abwehrend beide Hände. »Ein Missverständnis. Ich bin Fotograf und kein Detektiv.«
»Das las sich in der Zeitung ganz anders. Außerdem sagt man, Sie sind ein Freund und Helfer der Polizei.«
»Oha, das ist eine sehr gewagte Formulierung. Hauptkommissar Schnelleisen …«
»… den Sie dem Vernehmen nach gut kennen …«
»Hauptkommissar Schnelleisen springt im Karree, wenn er meinen Namen hört. Ich bin ihm ein Dorn im Auge, und das schon seit Jahren. Hätte er etwas gegen mich in der Hand, würde er nicht lange fackeln und mich einsperren, und zwar in die hinterste Zelle des Knasts an der Mannertstraße.«
»Aber Sie haben meiner Tochter Ihre Hilfe angeboten«, sagte Drechsler enttäuscht.
»Hilfe im Sinne von Beistand und gegebenenfalls als Zeuge. Nicht, um für sie den Detektiv zu spielen. Ich sehe auch gar keine Veranlassung dazu, denn es war ja ganz offensichtlich ein Unfall.«
Paul spürte, wie eine schmale Hand nach seinem Unterarm tastete. Er sah sich um und in das besorgte Gesicht von Hannah. Offenbar hatte sie alles mitgehört und gab ihm zu verstehen, dass sie ihm etwas mitzuteilen hatte.
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment«, sagte Paul zu Drechsler und wandte sich Hannah zu.
Diese nahm ihn beiseite und flüsterte: »Der arme alte Mann. Warum hilfst du ihm nicht?«
»Wie denn? Dieser Flugzeugabsturz wird von Fachleuten untersucht, deine Mutter hat ein Auge darauf. Es geht also alles in Ordnung.«
»Scheinbar nicht. Sonst hätte Herr Drechsler nicht die Mühe auf sich genommen, in dein Atelier zu kommen.«
»Die Mühe? Meinst du die Stufen bis hinauf in den fünften Stock? Ganz so gebrechlich sieht er doch gar nicht aus.«
Hannah sah ihn böse an. »Wir können nicht einfach wegsehen und nichts tun! Außerdem ist dieser Fall höchst interessant. Früher hätte dich so etwas gereizt.«
»Ein Unfall ist ein Unfall ist ein Unfall ist ein Unfall …«
»Von wegen! Hast du denn nicht die Zeitung gelesen? Da ist viel mehr dran an der Sache!«
»Zeitung? Nö, heute noch nicht. Was schreibt Victor Blohfeld denn in seinem Schmierenblatt?«
Hannah fasste hinter sich auf ein Sideboard und hielt Paul die aktuelle Ausgabe vor die Brust. Der schlug sie auf und betrachtete das Bild eines gut aussehenden Mannes mit kantigem Gesicht und strahlendem Heldenlächeln. Das Musterbild eines Piloten und Frauenschwarms, fand Paul. Daneben war ein Foto der ausgebrannten Maschine zu sehen. Paul sah sich kurz nach Drechsler um, der mit gesenkten Schultern im Türrahmen stand, dann überflog er den Text. Aus dem Artikel ging hervor, dass der verstorbene Hobbypilot Thomas »Tommy« Buchholz Doktorand der Technischen Hochschule Ingolstadt im Fachbereich Luftfahrtechnik gewesen war.
»Ingolstadt?«, fragte Paul. »Was machte er dann hier bei uns in Franken?«
Hannah antwortete, das stünde alles in dem Text. Paul bräuchte nur weiterzulesen.
Doch bevor Paul das tat, musste er den noch immer wartenden Herrn Drechsler vertrösten. Er ging zu ihm und sagte, dass es zeitlich gerade ungünstig sei, er sich aber bestimmt bei ihm melden werde.