Tod am Maschteich - Marion Griffith-Karger - E-Book

Tod am Maschteich E-Book

Marion Griffith-Karger

4,8

Beschreibung

Am idyllischen Birkensee bei Hannover wird eine Leiche gefunden – ohne Hände, das Gesicht zertrümmert. Bald darauf wird eine zweite Tote gefunden, dann eine dritte, weitere Frauen verschwinden. Hauptkommissarin Charlotte Wiegand übernimmt die Ermittlungen – und stolpert geradewegs in eine Katastrophe, denn aus der Jägerin wird plötzlich die Gejagte.

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Marion Griffiths-Karger wurde 1958 in Paderborn geboren. Dort studierte sie Literatur- und Sprachwissenschaften, bevor sie in München als Werbetexterin tätig war. Seit fast zwanzig Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern bei Hannover, arbeitet als Lehrerin und schreibt Krimis. Unter dem Pseudonym Rika Fried veröffentlichte sie zwei Romane. Im Emons Verlag erschienen ihre Kriminalromane »Tod am Maschteich«, »Das Grab in der Eilenriede«, »Der Teufel von Herrenhausen« und »Die Tote am Kröppke« sowie der Landkrimi »Wenn der Mähdrescher kommt

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-693-5 Niedersachsen Krimi Originalausgabe

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Für Achim–

mit Dank für seine unermüdliche Unterstützung

Donnerstag, 13.Juni

Sie schlug die Augen auf. Dunkelheit umgab sie. Sie richtete sich auf und versuchte, sich an die undurchdringliche Schwärze zu gewöhnen. Wo war sie? Es konnte nicht ihr Schlafzimmer sein. Sie schloss niemals völlig die Jalousien, damit noch ein Schimmer Licht von der Straßenlaterne vor ihrem Fenster in ihr Zimmer drang. Aber dies war nicht ihr Schlafzimmer und nicht ihr Bett. Dieses Bett war klein, nicht wie ihr französisches mit der weichen Matratze. Sie lauschte. Kein vertrautes Geräusch drang an ihre Ohren. Es war still. Still und dunkel. Sie war unendlich müde, und ihr war übel. Fast hätte sie sich wieder hingelegt, doch dann kam die Erinnerung. Sie hatte nach dem Film noch einen kurzen Spaziergang gemacht.

Ihr Herz begann zu klopfen. Es musste ein Krankenhaus sein, aber Krankenhäuser waren nicht so dunkel, nicht mal bei Nacht, und dann diese Stille.

Sie stand auf und versuchte irgendetwas zu ertasten.

»Hallo!«, rief sie. »Ist da wer? Wo bin ich hier? Machen Sie doch Licht!«

Ihre Hand fuhr über weichen Stoff, eine Decke. Sie tastete sich weiter bis zur Wand und dann an dieser entlang. Es musste doch irgendwo ein Fenster geben und eine Tür.

Vielleicht bin ich ja plötzlich blind geworden, fuhr es ihr durch den Kopf. Aber war die Welt der Blinden nicht grau? Sie schluckte. Das würde sie doch merken! An den Augen, da täte doch irgendwas weh. Einfach so erblindete man doch nicht! Nein, nein, es war nur so verdammt dunkel in diesem Loch.

»Hallo! Hört mich denn niemand?«

Die Wand war kalt und feucht. Vielleicht war sie in einem Keller. Ihr Atem ging schneller, es roch modrig, und sie begann zu würgen.

Sie fühlte Holz. Eine Tür! Hastig suchte sie nach der Klinke, aber es gab keine. Die Tür ließ sich nicht öffnen.

Sie schrie und polterte dagegen.

»Hilfe, ich will hier raus! Hilfe!«

Sie schlug und schrie so lange, bis sie schluchzend zu Boden sank. Nichts rührte sich. Ihr war kalt, und sie schlotterte. Denk nach, versuchte sie sich zu beruhigen, es lässt sich bestimmt alles ganz einfach erklären! Denk nach! Es musste doch irgendwo eine Lampe geben, die musste sie finden. Sie stand auf und durchsuchte tastend den Raum. Sie stolperte über irgendwas, das scheppernd umfiel. Ein Eimer. Fast war sie dankbar für das Geräusch. Der Raum war klein und enthielt nichts außer der Liege und dem Eimer. Sie setzte sich auf die Liege. Was passierte hier? Sie kicherte hysterisch. Bestimmt wachst du gleich auf– hey, wach auf! Sie stand auf, um die Tür wiederzufinden.

»Hallo! Lasst mich endlich raus! Ich muss mal!«

Wieder hämmerte sie gegen die Tür, aber ihre Hände schmerzten so, dass sie aufgeben musste. Ihre Blase drückte, es war unerträglich. Dann fiel ihr der Eimer ein.

Nachdem sie sich erleichtert hatte, krümmte sie sich auf ihrer Liege zusammen. Ihr Mund war trocken, und sie hatte entsetzlichen Durst. Was war das für ein Alptraum? Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war, ob es Nacht war oder Tag, wie sie hierhergekommen war.

***

Das Kind schrie schon eine ganze Weile. Charlotte Wiegand sah auf die Uhr, fast vier. Sie fluchte. Ein anstrengender Tag am Schreibtisch wartete auf sie, und dieses Kind raubte ihr den Schlaf. Was zum Teufel trieb seine Mutter, die war doch sonst so fürsorglich. Sie stand auf, ging zum Kühlschrank, nahm die Wasserflasche und trank. Dann ging sie zurück zu ihrer Matratze und kuschelte sich wieder unter die warme Decke. Sie war immer noch nicht dazu gekommen, sich ein Bett zu kaufen, obwohl sie schon vor über drei Monaten hierhergezogen war. Seit der Trennung von Thomas fehlte ihr für die häuslichen Dinge des Lebens die Lust. Fast drei Jahre waren sie zusammen gewesen. Ihre Mutter hatte schon Hoffnung geschöpft, dass ihre Älteste am Ende doch noch unter die Haube kam.

Doch vor einem Vierteljahr hatte sie ihre Mutter enttäuschen müssen und sich von Thomas getrennt.

Das Kind schrie immer noch. Vielleicht ist es krank, dachte Charlotte und seufzte. Früh am Abend hatte es auch schon geschrien. Sie legte sich auf die Seite und drückte das Kissen auf ihr Ohr. Noch zehn Minuten, dann geh ich rüber, dachte sie. Nach einer Weile wurde das Kind ruhiger und schwieg dann.

»Na also«, murmelte sie, »geht doch.«

Als Charlotte am nächsten Morgen das Haus verließ, schrie das Kind wieder. Merkwürdig, dachte sie noch. Sie hatte es eigentlich noch nie so schreien hören. Ob die Mutter krank war? Heut Abend frag ich mal nach, nahm sie sich vor und ließ die Wohnungstür ins Schloss fallen.

»Was, zum Teufel, soll das?«

Hauptkommissarin Charlotte Wiegand von der Abteilung für Tötungsdelikte des Zentralen Kriminaldienstes, Hannover, stellte schlecht gelaunt ihren Pappbecher Kaffee auf den Tresen und hielt witternd die Nase in die Luft. »Wer hat hier geraucht?«

»Keine Ahnung«, erwiderte der uniformierte Beamte hinter dem Schalter. »Bergheim war gerade hier und hat dich gesucht. Warum du dein Handy nie einschaltest, wenn du schon keinen Festnetzanschluss hast, wollte er wissen. Ein ›Schneckenstecher‹« – so nannten »ernsthafte« Sportler die Unsitte, mit Skistöcken spazieren zu gehen– »hat am Birkensee bei Müllingen eine Leiche gefunden. Bergheim ist unterwegs dahin, konnte nicht mehr warten.«

»Kann ich mir denken«, sagte Charlotte, »der muss immer in der ersten Reihe sitzen.«

Der Uniformierte guckte sie schräg an und sortierte ein paar Papiere.

»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Ach gar nichts, hab nur schlecht geschlafen. Also, ich brauch jemanden, der mich zum See fährt, mein Auto ist immer noch in der Werkstatt.«

»Kein Wunder, bei der alten Rostlaube«, murmelte der Polizist und ignorierte Charlottes missbilligenden Blick. »Mertens!«, rief er, »du wirst hier gebraucht!«

Wiebke Mertens war noch nicht lange im Dienst und hatte einen Mordsrespekt vor der schönen Hauptkommissarin Wiegand, dem Star der Kriminalfachinspektion1.

Charlotte verdrehte die Augen. »Na, wenigstens raucht die nicht.«

Der See, der eher ein Teich war, lag an einem kleinen Waldstück an der Bundesstraße vierhundertdreiundvierzig, etwa fünfzehn Kilometer östlich der City. Auf der einen Seite gab es einen Campingplatz und auf der anderen eine kleine Sandbucht. Um den See zu erreichen musste man von der Bundesstraße auf einem engen geteerten Weg die A7 überqueren und erreichte gleich darauf einen Wendeplatz mit einer T-Kreuzung. Links ging es zum See, und rechts führte ein Weg in die Felder.

Rüdiger Bergheim stand neben einem Streifenbeamten und einem Kollegen von der Kriminaltechnik vor einer Leitplanke, hinter der sich hohe Birken und Buchen erhoben. Er trug seine obligatorische schwarze Lederjacke und Jeans. Ein guter Ermittler. Intelligent und – für einen so gut aussehenden Mann– sogar unaffektiert. Charlotte wusste selbst nicht, warum sie ihm die Zusammenarbeit so schwer machte. Vermutlich lag es daran, dass ihn jede Polizistin anhimmelte, und so was machte sie nun mal nervös. Die Leute sollten sich auf ihre Arbeit konzentrieren!

»Morgen«, sagte sie heiser und räusperte sich. Bergheim unterbrach sein Gespräch mit dem Kriminaltechniker und wandte sich um.

»Morgen«, erwiderte er und musterte sie kurz. Seine Miene war unergründlich, und Charlotte fragte sich, warum er so blass war. Bestimmt wieder irgendeine Frauengeschichte, dachte sie und nahm ohne ein weiteres Wort die Leitplanke in Angriff.

Die Leiche war über die Planke geworfen worden, etwa fünf Meter den steilen Abhang zum Feld hinuntergerollt und mit dem rechten Fuß am Ast eines Buchenstammes hängen geblieben.

See und Campingplatz waren von hier aus nicht zu sehen. Der Platz war von dichtem Gehölz umgeben. Es gab keine Laternen, und der Lärm der Autobahn verschluckte jedes Geräusch. Kein schlechter Platz, um möglichst schnell eine Leiche loszuwerden.

Charlotte kraxelte den Abhang hinunter und musste aufpassen, dass sie auf dem feuchten Gras nicht ausrutschte.

Die Tote trug ein hellgrünes T-Shirt und schwarze Jeans. An ihrem linken Fuß klemmte eine dieser hässlichen, aber bequemen Biosandalen. Die Arme waren ausgebreitet und– Charlotte schluckte, als sie sah, dass die Hände fehlten. Sie hielt sich an dem Buchenstamm fest und beugte sich über die Tote.

Der Schock traf sie völlig unerwartet. Das Gesicht der Toten war nur noch eine breiige Masse. Sie wandte sich abrupt ab und hustete. Bergheim stand oben an der Leitplanke und blickte besorgt auf sie herab. Aber Charlotte hatte sich schon wieder gefangen.

»Herrgott noch mal!«, fluchte sie lauter als nötig. »Warum drehen sie sie nicht gleich durch den Fleischwolf?«

Bergheim antwortete nicht. Was sollte er sagen?

»Ist Wedel schon fertig?«, fragte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte. Dr.Friedhelm Wedel war der Pathologe, eine Riesenportion Mann, mit einer Größe von fast einem Meter neunzig und einem gewaltigen Bauchumfang. Er trug nur Schwarz, was auf skurrile Weise mit seinem zynischen Humor korrespondierte.

»Er ist drüben beim Wagen«, sagte Bergheim, »hat schon nach dir gefragt.«

Charlotte überließ das Feld ihrem Kollegen und der Kriminaltechnik und kraxelte den Abhang wieder hinauf, um mit dem Pathologen zu sprechen.

»Hallo, junge Frau«, begrüßte sie Wedel, der an der offenen Wagentür stand und seine Hände mit einem Tuch bearbeitete, »geht’s Ihnen nicht gut? Sie sehen so blass aus.«

»Ach, hören Sie doch auf. Das ist nicht witzig.«

»Lach ich etwa?«

Charlotte konnte seinem Humor nichts abgewinnen und kam zur Sache.

»Was können Sie schon sagen?«

»Noch nicht viel, Sie kennen mich doch, ich brauch immer ein bisschen länger als Sie’s gerne hätten«, sagte er und warf das Tuch auf den Beifahrersitz.

»Sie ist seit etwa fünfzehn bis zwanzig Stunden tot. Zur Todesursache kann ich noch nicht viel sagen. Auf jeden Fall hat sie mehrere Schläge ins Gesicht bekommen, allerdings post mortem. Die Hände sind sauber abgetrennt, ›abgeschlagen‹ trifft es besser. Möglicherweise mit einer Axt oder ähnlichem Werkzeug. Ebenfalls nach ihrem Tod.«

Er klemmte sich hinter das Steuer seines schwarzen Golfs, und der Wagen bekam Schlagseite. »Außerdem hat sie einen Hautausschlag an den Oberarmen und am Hals. Dazu kann ich erst mehr sagen, wenn ich sie auf dem Tisch hab.«

»Das heißt, der Todeszeitpunkt war gestern Nachmittag?«

»In etwa. Aber Sie wissen ja, diese Angaben sind wie immer ohne Gewähr. Spätestens morgen Nachmittag haben Sie den Bericht.«

Noch bevor sie protestieren konnte, klappte er die Tür zu und warf den Motor an.

Charlotte schloss die Augen und seufzte. Ihr war übel. Sie war seit ihrem neunzehnten Lebensjahr bei der Polizei, aber es fiel ihr immer noch schwer, den Anblick verstümmelter Menschen zu ertragen. Sie sehnte sich nach einer Zigarette und einem Kaffee.

Das Rauchen hatte sie vor zwei Jahren aufgegeben– nicht nur Thomas zuliebe. Thomas, dieser Mistkerl.

Charlotte ging langsam zu Bergheim, der – die Hände in den Hosentaschen vergraben– die Arbeit der Spurensicherung beobachtete.

Sie stellte sich neben ihn. Keiner sagte etwas, es war, als wären sie es der Toten schuldig, zumindest einen Moment innezuhalten, bevor sie mit den Ermittlungen begannen.

»Hast du schon mit dem ›Schneckenstecher‹ gesprochen?«, fragte Charlotte.

»Ja«, sagte Bergheim. »Der gehört zu den Campern, hat sich wie jeden Morgen mit seinen Stöcken auf den Weg gemacht und hat sofort Alarm geschlagen. Jetzt sitzt er im Café unten am See und lässt sich bemuttern. Ich hab seine Personalien. Aber wenn du selbst mit ihm reden willst…«

Charlotte schüttelte den Kopf. »War danach noch jemand am Fundort?«

»Nein, ein Streifenwagen aus Laatzen war gerade unterwegs zur Autobahn, als der Notruf kam. Die waren keine zwei Minuten später zur Stelle und haben den Fundort gesichert.«

»Soll noch mal einer sagen, die Polizei wär nie da, wenn man sie braucht«, sagte Charlotte. »Dann wollen wir mal. Ich hoffe, du hast den Wagen hier.«

Bergheim nickte nur und schaute zu, wie der dunkle Plastiksack geschlossen, dann aufgehoben und abtransportiert wurde.

Zwei Minuten später saßen sie in Bergheims metallicgrünem Citroën, den die Kollegen vom Zentralen Kriminaldienst scherzhaft »Zitrone« nannten.

Schweigend fuhren sie über die schmale Autobahnbrücke zur Bundesstraße und bogen dann links ab Richtung Laatzen.

Vor vier Monaten war Bergheim von der Kripo Hildesheim zu ihrem Team versetzt worden. Auf eigenen Wunsch, denn es hatte mit seinem früheren Vorgesetzten Ärger gegeben. Angeblich hatte Bergheim seine Kompetenzen überschritten, aber Charlotte kannte keine Einzelheiten. Wahrscheinlich hatte man sie nicht eingeweiht, um eine gute Zusammenarbeit zu gewährleisten.

Sie hatte damals gerade herausgefunden, dass Thomas sie betrog. Ihr Beruf brachte es mit sich, dass sie selten zu Hause war, und wenn sie da war, fiel sie abends nach dem Essen meist todmüde ins Bett.

An einem dieser trüben Samstage im Februar war sie morgens früh zur Arbeit aufgebrochen, trotz des Fiebers und der unerträglichen Kopfschmerzen. Thomas hatte sie gehen lassen. Damals hatte sie sich nicht darüber gewundert. Er war es schließlich gewohnt, dass Verbrecher auf den Gesundheitszustand der Ermittler keine Rücksicht nahmen. Aber Ostermann, der Leiter der Kriminalfachinspektion1, zuständig für Tötungsdelikte und vermisste Personen, hatte sie postwendend zurückgeschickt. »Verschwinden Sie bloß! Sie stecken uns noch alle an!«

Kaum eine Stunde nachdem Charlotte die Wohnung verlassen hatte, war sie wieder zurück. Auf dem Weg zum Schlafzimmer hatte sie ihre Jacke und Schuhe ausgezogen und die Bluse aufgeknöpft. Und dann öffnete sie die Schlafzimmertür und sah in zwei verdutzte Augenpaare. Sie erinnerte sich genau, wie Petra, die eine Etage tiefer ein Apartment bewohnte, auf Thomas, dem Mistkerl, saß– an ihren langen Rücken und die schmalen Schultern. Wie sie den Kopf zurückwarf und die schwarzen Locken bis auf ihre Pobacken fielen. An seine schreckgeweiteten Augen, als er – auf seine Ellbogen gestützt– mit offenem Mund an Petras Taille vorbeiguckte und Charlotte in der Tür stehen sah. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie so dagestanden hatte. Dann war sie langsam zurückgewichen, hatte Schuhe und Jacke wieder angezogen und war gegangen.

Zwei Tage hatte Charlotte bei ihrer Freundin Miriam im Bett gelegen. Geheult und gehustet und ihn zum Teufel gewünscht. Er hatte ein paarmal versucht, mit ihr zu reden, aber sie hatte ihn abwimmeln lassen. Was wollte er ihr denn sagen? Dass es ihm leidtat? Das half ihr auch nicht mehr weiter, und vielleicht tat’s ihm ja auch gar nicht leid. Jedenfalls musste schnell eine Lösung her. So ähnlich hatte Miriam sich ausgedrückt. Die gemeinsame Wohnung war zu teuer für Charlotte, also würde sie ausziehen. Zwei Wochen später hatte sie mit ihrer Freundin und deren Freund Lukas ihre Sachen abgeholt und war in eins dieser Hochhäuser nach Laatzen gezogen.

Eine hässliche Gegend, aber genügend freie Wohnungen zu erschwinglichen Preisen. Eine Menge lediger Mütter wohnte hier und viele alleinstehende Rentner. Das Haus hatte sechs Etagen, sie wohnte in der dritten. Es war eigentlich für ein Sanierungsprojekt der Stadt vorgesehen, aber eine Studentin, die Lukas kannte, hatte ein Stipendium für ein Auslandsstudium in Irland bekommen und Charlotte die Wohnung für den Rest des Mietvertrags überlassen. Es war eine Übergangslösung, denn in zwei Jahren sollte das Haus komplett renoviert werden. Aber das war Charlotte egal. Sie war weg von Thomas und würde sich in aller Ruhe ein kleines Häuschen in den Außenbezirken suchen. Vielleicht in Bemerode. Oder eine dieser gemütlichen Altbauwohnungen in der List.

Bergheim war zwei Jahre jünger als Charlotte, die bereits Hauptkommissarin war, was ihre Beziehung nicht gerade vereinfachte. Aber mindestens ein Jahr mussten sie es schon noch miteinander aushalten. Sie wusste, dass er es mit den Vorschriften nicht immer so genau nahm. Einmal hatte er einem Dealer seine Dienstwaffe an den Kopf gehalten, um die Information zu bekommen, die er wollte. Zum Glück war es dunkel gewesen, und außer Charlotte hatte es keinen Zeugen gegeben. Nur die Tatsache, dass die Waffe nicht geladen war und diese Information einer jungen Frau, die an der Spritze hing, wahrscheinlich das Leben rettete, hatte Charlotte davon abgehalten, den Vorfall zu melden. Er hatte sich ihre Vorwürfe schweigend angehört und sie dann einfach stehen lassen. Wenn sie ehrlich war, bewunderte sie seinen Mut.

Mittlerweile hatten sie den Messeschnellweg erreicht, und Bergheim gab Gas. Charlotte blickte ihn an und konnte seinen Zorn förmlich spüren. Es war bemerkenswert, dass ein erfahrener Ermittler wie er sich emotional so schlecht von solchen Verbrechen distanzieren konnte.

Sie sah auf ihre Uhr. Schon fast zwölf.

»Wollen wir erst was essen?«

Er schüttelte den Kopf. »Mir ist der Appetit vergangen.«

»Okay, dann setz mich an der Markthalle ab. Du kannst dich ja schon mal an den Computer setzen und die Vermisstenanzeigen durchgehen.«

Er nickte. Sie fuhren am Messegelände vorbei und am Seelhorster Kreuz auf den Südschnellweg. Jeder hing seinen Gedanken nach.

»Was, glaubst du, ist da passiert?«, fragte Charlotte. »Eifersucht oder Vergewaltigung oder Raubmord?«

»Kann alles gewesen sein. Die Frage ist nur, warum das Gesicht zertrümmert war und was mit den Händen passiert ist. Sieht mir verdammt danach aus, als wollte jemand verhindern, dass sie identifiziert wird.«

»Entweder das, oder es war der blanke Hass.«

»Möglich.«

»Vielleicht ist ja zahntechnisch noch was zu holen.«

»Kann ich mir nicht vorstellen, so wie das Gesicht zugerichtet war.«

Es war ein sonniger Junitag. Ein Wetter, das eigentlich fröhlich stimmte. Sie fuhren am Maschsee entlang, auf dem sich eine Menge Segelboote tummelten. Jogger, Skater und viele Spaziergänger nutzten das schöne Wetter, um den See im Schatten der Bäume zu umrunden.

»Wann warst du eigentlich das letzte Mal beim Training?«, fragte sie ihn mit schlechtem Gewissen. Sie hatte ihre Fitness in den letzten Wochen vernachlässigt.

»Letzte Woche«, sagte er, »aber ich jogge sowieso jeden Morgen, wenn ich’s schaffe.«

»Herzlichen Glückwunsch«, murmelte sie und sah, wie er den Mund verzog. Sie wusste selbst nicht, warum sie so zickig war. Glücklicherweise erreichten sie bald die Markthalle. Er hielt schweigend an und ließ sie raus.

»In einer halben Stunde bin ich da«, sagte sie, als sie ausstieg. Von hier aus konnte sie zu Fuß zum ZKD am Waterlooplatz gehen.

In der Markthalle, dem Bauch von Hannover, herrschte wie immer um die Mittagszeit ein Höllenbetrieb. Sie schlängelte sich durch die Gruppen von Menschen, die an Stehtischen ihren Döner, ihr Hühnchen süßsauer oder eine Portion Sushi verzehrten. Charlotte steuerte ihre Salattheke an, wo es neben exotischen Salaten auch vegetarische Aufläufe gab. Für heute würde ein Salat reichen. Sie hatte gestern bei Miriam eine Riesenportion Lasagne gegessen, und nebenbei hatten die beiden fast zwei Flaschen Valpolicella geleert.

Zum Glück wohnte Miriam noch nicht mit Lukas zusammen. Dann würden ihre regelmäßigen Zusammenkünfte bestimmt nicht mehr so ausgelassen ausfallen.

Sie entschied sich für Couscous-Salat und grüne Bohnen mit Schafskäse. Danach würde sie direkt nebenan beim »Amorosa« noch einen Espresso trinken und sich eine imaginäre Zigarette genehmigen. Sie nickte Kohlsdorf, einem Kollegen aus der KFI2 zu, der nebenan eine Portion Nürnberger Würstchen mit Kraut vernichtete, und widmete sich ihrem Salat, der ihr nicht wirklich schmecken wollte.

***

Die Obduktion war für zwei Uhr angesetzt. Charlotte musste eigentlich nicht dabei sein, aber es war für sie eine Art Desensibilisierung, obwohl ihr dabei jedes Mal speiübel wurde. Dennoch war sie davon überzeugt, dass sie mit der Zeit abstumpfen würde, gegen die Grausamkeiten, gegen das, was Menschen einander antaten. Aber sie musste sich eingestehen, dass ihre Methode bisher nicht besonders erfolgreich war.

Als sie um Viertel nach eins in die Dienststelle kam, saß Bergheim vor seinem Computer.

»In einer Dreiviertelstunde wirst du dir wünschen, vor zwei Stunden etwas gegessen zu haben«, sagte Charlotte und setzte sich an ihren Schreibtisch, der dem seinen gegenüberstand. Sie war froh, dass sie den Papierkram vorerst aufschieben konnte.

»Ich hatte bereits ein Salamibrötchen, vielen Dank auch«, brummte ihr Kollege, ließ sich aber nicht von seinem Bildschirm ablenken.

»Hast du was rausgefunden?«

»Bisher nicht.«

Er trug ein langärmeliges Shirt und hatte die Ärmel hochgekrempelt. Seine Unterarme waren kräftig und gebräunt. Charlotte beobachtete, wie seine schlanken Finger sachte über die Tastatur glitten, und stellte sich vor, wie diese Hände eine Frau berührten.

Abrupt stand sie auf.

»Heute Abend sind wir hoffentlich schlauer.«

Es war kurz nach fünf, als Charlotte mit ihrem alten dunkelroten, mit neuem Auspuff veredelten Peugeot in die Tiefgarage ihres Mietshauses einfuhr. Sie hasste Tiefgaragen. Obwohl sie Polizistin war und sich durchaus zu verteidigen wusste, war sie jedes Mal froh, wenn die schwere Eisentür, die in den Hausflur führte, hinter ihr ins Schloss fiel. Besonders, wenn sie, wie heute, an einer nervenaufreibenden und dennoch wenig informativen Obduktion teilgenommen hatte. Wedel hatte kaum mehr zu sagen als am Fundort. Die Frau war nicht älter als dreißig, seit etwa zwanzig Stunden tot, und der Fundort war nicht der Tatort. Außerdem war die Frau nicht vergewaltigt worden. Sie mussten die Informationen aus dem Labor abwarten.

Charlotte beschloss, die Treppe zu nehmen, denn der Fahrstuhl in dem Gebäude gab wenig vertrauenerweckende Geräusche von sich. Obwohl der Hausmeister ihr versichert hatte, er würde regelmäßig gewartet, zog Charlotte es vor, sich ein wenig Bewegung zu verschaffen. Sie kämpfte immer noch mit dem Bild der jungen Frau, nackt auf dem kalten Obduktionstisch, aller Würde beraubt.

Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, und als sie im dritten Stock vor ihrer Wohnungstür stand, war sie ziemlich aus der Puste. Verflixt, dachte sie, du musst öfter trainieren. Sie friemelte noch an ihrem Schlüsselbund herum, als sie ein leises Wimmern hörte. Sie sah sich um und bemerkte, dass die Wohnungstür ihrer Nachbarin nur angelehnt war. Charlotte beschloss, keine weitere schlaflose Nacht zu riskieren, und klopfte an die Tür.

»Hallo, kann ich irgendwie helfen? Sind Sie krank?«

Es kam keine Antwort, und sie klopfte noch mal lauter. Nichts rührte sich. Vielleicht hatte sie sich verhört? Sie stieß die Tür auf. Ein ekelerregender Geruch schlug ihr entgegen.

»Puh«, sagte sie und wedelte mit der Hand vor der Nase, als ob das den Geruch vertreiben könnte. Ohne weiter nachzudenken ging sie durch die Tür, hinter der sie das Wohnzimmer vermutete. Die Wohnung war so wie ihre eigene geschnitten. Im Zimmer waren die Jalousien zugezogen, und es war dunkel. Charlotte machte Licht und stand in einem spärlich möblierten, unordentlichen Wohnzimmer. Es gab einen großen Fernseher, ein verschlissenes Sofa, das wohl auch als Bett diente, und eine Glasvitrine, in der neben ein paar Büchern auch Nippes stand.

»Ist jemand hier?«, fragte sie auf dem Weg zum Fenster. Sie zog die Jalousien hoch, öffnete das Fenster und schnappte nach Luft. Sie erhielt keine Antwort. Merkwürdig, dachte sie und ging über den kleinen Flur ins Schlafzimmer, wo der Geruch ihr fast den Atem nahm. Auch dieser Raum war dunkel, und sie hörte wieder das Wimmern. Nachdem sie das Licht angeknipst hatte, sah sie das Kind in einer Art Reisebett liegen. Das große Bett daneben war unbenutzt, die Decke war zurückgeschlagen.

Wo zum Kuckuck war die Mutter? Charlotte überwand ihren Ekel und hob das Kind aus dem Bett. Es war apathisch, der Schlafanzug war durchnässt und mit Kot verdreckt. Hier stimmte etwas nicht. Anscheinend hatte sich seit Längerem niemand um das Kind gekümmert.

Charlotte lief zur Küche und suchte nach einer Flasche. In der Spüle stand eine benutzte Babyflasche. Sie legte das Kind auf den Boden, nahm die Flasche, spülte sie nicht besonders sorgfältig aus und füllte sie mit Wasser aus der Leitung. Wahrscheinlich mach ich jetzt alles falsch, dachte sie noch, denn sie hatte wenig Erfahrung mit Kindern, wusste nur das bisschen, das sie bei ihrem Neffen mitbekommen hatte. Sie nahm das Kind hoch und benetzte die Lippen mit Wasser, es reagierte nicht. Sie stopfte ihm den Nuckel in den Mund, und langsam begann es zu saugen. Zuerst zaghaft, dann immer kräftiger. Charlotte setzte sich an den Tisch und versuchte, ihr Handy aus ihrer Jackentasche hervorzukramen, während sie das Baby mit der Flasche im Arm jonglierte.

Fünfzehn Minuten später stand ein Notarztwagen vor der Tür, und eine Beamtin vom Jugendamt war unterwegs. Das Baby lag immer noch in Charlottes Arm. Es schien eingeschlafen zu sein. Der Arzt nahm das Kind und begann es zu untersuchen.

»Ist ein bisschen ausgetrocknet, was haben Sie ihm gegeben?«, fragte er.

»Einfach Wasser aus der Leitung.«

Der Arzt nickte nur, und Charlotte ging ins Wohnzimmer, um das Telefon zu suchen. Nach einer Weile fand sie es auf dem Sofa. Sie drückte auf Wahlwiederholung. Irgendwie musste doch rauszukriegen sein, wo die Mutter sich herumtrieb. Charlotte musste sich eingestehen, dass sie wenig über ihre Nachbarin wusste. Wahrscheinlich war sie seit mindestens gestern Abend nicht hier aufgetaucht, wenn man den Zustand des Babys bedachte.

Es läutete ein paarmal, und Charlotte wollte schon wieder auflegen, als sich endlich jemand meldete.

»Brandes«, sagte eine Frauenstimme. Charlotte zögerte. »Spreche ich mit Corinna Brandes?«

»Nein, das ist meine Schwester, ich bin Sabine.« Die Stimme verstummte für einen Moment. »Ist irgendwas nicht in Ordnung? Rufen Sie vom Telefon meiner Schwester aus an? Wer sind Sie?«

»Ich bin die Nachbarin Ihrer Schwester und habe eben einen Notarzt und das Jugendamt benachrichtigt. Es hat sich offensichtlich seit Längerem niemand um das Kind gekümmert.«

»Oh Gott, wie kann sie… Ich komme sofort. Bleiben Sie bitte da. Ich wohne in der List und bin in zwanzig Minuten da.«

»Na klasse«, murmelte Charlotte.

In diesem Moment erschien eine füllige Frau mittleren Alters in der Wohnungstür. »Hallo, Lüttich, mein Name, ich bin vom Jugendamt«, sagte sie. »Haben Sie das Baby gefunden?«

Charlotte nickte. »Kommen Sie rein, der Arzt ist wohl noch mit der Untersuchung beschäftigt, aber Sie können sich ja schon mal umsehen.«

Nach einer Weile erschien der Arzt mit dem Baby auf dem Arm. Frau Lüttich hatte in der Küche bereits ein sauberes Fläschchen und Baby-Fencheltee gefunden. Sie schraubte den Nuckel auf, nahm das Kind und gab ihm die Flasche. Das Kind umklammerte die Flasche und trank mit weit geöffneten Augen. Charlotte schüttelte den Kopf. Was war das bloß für eine Mutter?

»Es scheint so weit gesund zu sein, abgesehen vom Flüssigkeitsmangel. Ich werde es ins Krankenhaus einweisen und an den Tropf legen. Und… irgendwer sollte es wickeln, wahrscheinlich ist es schon wund.«

Von draußen hörte man, wie jemand die Treppe heraufhastete. Wenig später wurde die Wohnungstür aufgestoßen und eine blonde, schlanke Frau mit kurzem Haar stürmte atemlos in die Diele. Sie trug Sportschuhe, Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Für eine Jacke hatte die Zeit wohl nicht gereicht. Sie schaute verwirrt von Charlotte zu Frau Lüttich, die das Kind im Arm hatte.

»Was ist passiert? Wo ist meine Schwester?« Dabei trat sie zu dem Baby, das seiner Tante die Ärmchen entgegenstreckte.

»Das wüssten wir auch gerne«, antwortete Charlotte, noch bevor Frau Lüttich etwas sagen konnte.

»Haben Sie schon im ›Brauhaus Ernst August‹ angerufen? Da kellnert sie«, sagte Sabine.

»Nein, haben Sie die Nummer?«

»Ist gespeichert.«

Charlotte nahm den Hörer und drückte auf den Tasten herum. Endlich hatte sie die Telefonliste und das »Brauhaus Ernst August« gefunden. Während sie telefonierte, sprach Sabine leise auf das Baby ein. »Was hat die Mami sich da wieder gedacht? Und jetzt musst du aber unbedingt gewickelt werden.«

Der Notarzt hatte mittlerweile eine Überweisung geschrieben und drückte sie Frau Lüttich in die Hand, die Sabine schweigend beobachtete.

»Sie kümmern sich darum«, sagte er und wies mit dem Kopf auf die Frau, die mit geübten Griffen das Kind wickelte. »Leider muss ich weiter.« Damit eilte er zur Tür hinaus.

Charlotte hatte mittlerweile herausgefunden, dass Corinna Brandes seit zwei Tagen nicht mehr bei der Arbeit erschienen war und sich damit bei den Kolleginnen ziemlich unbeliebt gemacht hatte. Über den Grund wusste niemand etwas, sie hatte wenig Kontakt zu den anderen Kellnerinnen. Charlotte grübelte.

»Haben Sie sie erreicht?«, fragte Sabine.

»Nein. Sie ist gestern und heute nicht am Arbeitsplatz erschienen.«

Sabine sah zur Seite und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Ich dachte, sie hätte diese Woche Tagesschicht.«

»Hat sie wohl auch. Wer betreut das Baby, wenn Ihre Schwester arbeitet?«, fragte Charlotte.

»Wenn sie abends arbeitet, schläft Kevin bei mir, und tagsüber bringt sie ihn zu einer Tagesmutter. Aber meistens arbeitet sie abends.«

»Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Nein«, sagte Sabine und wiegte das Kind, das immer noch an der Flasche nuckelte.

Frau Lüttich schien ungeduldig zu werden. »Wie dem auch sei, der Arzt hat gesagt, der Junge soll zur Beobachtung ins Krankenhaus…«

Sabine sah die Beamtin bestürzt an. »Aber das ist doch nicht nötig, dem Jungen fehlt doch weiter nichts. Kann ich ihn nicht einfach mit zu mir nach Hause nehmen? Ich hab alles da, was er braucht, er ist ja sowieso die Hälfte der Zeit bei uns.«

»Darüber unterhalten wir uns morgen, aber jetzt müssen wir uns auf den Weg machen. Vielleicht sollten Sie noch ein paar Sachen für den Jungen zusammenpacken. Und wir sollten einen Zettel schreiben, damit die Mutter, falls sie wieder auftaucht, weiß, wo ihr Kind geblieben ist– auch, wenn sie’s nicht verdient hat«, fügte sie leise hinzu.

»Hat Ihre Schwester so was schon mal gemacht? Es ist schon merkwürdig, denn die Wohnungstür war nur angelehnt«, sagte Charlotte zu Sabine, die den Jungen ins Bett gelegt hatte und ein paar Sachen zusammensuchte. Sie schaute verstohlen von Charlotte zu Frau Lüttich, der dieser Blick keineswegs entging.

»Nein«, sagte sie, »ist mir unbegreiflich.«

Die drei Frauen verließen die Wohnung und wurden von einem jungen Mann mit großem Hund überrascht, der gerade aus dem Fahrstuhl trat. Frau Lüttich wich erschrocken zurück, und Sabine Brandes, die das Baby trug, stieß ein leises »Oh Gott« aus.

Der Hund zerrte an der Leine und bellte, was in dem kahlen Treppenhaus einen furchtbaren Lärm verursachte.

Der junge Mann, der eher wie ein großer Junge wirkte, starrte die Frauen wortlos an.

»Was ist denn hier los? Wo ist Corinna?«, rief er und versuchte erfolglos, den Hund zu beruhigen. Kevin fing an zu schreien.

»Gar nichts!«, zischte Sabine, schloss hastig die Wohnungstür ab und wollte an dem Mann vorbeigehen, aber der hielt sie am Arm zurück.

»Wo bringst du ihn hin? Corinna hat mir gesagt, ich soll heute Abend auf ihn aufpassen.«

Sabine schüttelte seinen Arm ab. »Das kommt nicht in Frage. Außerdem sind wir auf dem Weg ins Krankenhaus. Kevin soll für eine Nacht zur Beobachtung dortbleiben.«

Während der gesamten Unterhaltung bellte der Hund unverdrossen weiter, und das Kind weinte. Charlotte, die es gewohnt war zu handeln, zog dem Hund mit dem Schlüsselbund eins über das Hinterteil. Das Tier japste erschrocken auf und legte sich hin.

Auch das Kind hörte auf zu schreien. Für den Bruchteil einer Sekunde genossen alle die Stille.

»Was ist denn da oben los?«, rief jemand von unten. Es war der Hausmeister. Niemand klärte ihn auf.

»Wenn Sie Ihren Hund nicht erziehen können, sollten Sie sich keinen anschaffen!«, schnauzte Charlotte, aber der junge Mann schien sie nicht zu hören.

»Was ist mit ihm, wieso soll er ins Krankenhaus?«, fragte er Sabine mit einem Blick auf Kevin.

»Wer sind Sie überhaupt?«, mischte sich jetzt Frau Lüttich ein, die die ganze Situation schweigend beobachtete.

»Ich bin Kevins Vater.«

»Oh«, meinte Frau Lüttich und schaute Sabine an. »Ist das wahr?«

»Ja«, sagte Sabine und ging an dem Jungen vorbei zum Fahrstuhl, »aber er und Corinna sind nicht verheiratet, und er bezahlt auch nichts.« Dabei drückte sie das Baby fester an sich.

Frau Lüttich schien einen Moment zu überlegen. »Wir bringen ihn ins Kinderkrankenhaus auf der Bult, wenn Sie wollen, können Sie sich dort erkundigen. Das Kind muss jetzt in ärztliche Betreuung. Die Formalitäten regeln wir später.« Damit folgte sie Sabine in den Fahrstuhl und nickte Charlotte zu.

Als sich die Fahrstuhltür geschlossen hatte, standen sich Charlotte und der Junge schweigend gegenüber.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Charlotte.

»Was geht Sie das an?«

Charlotte versuchte eine andere Taktik und lächelte.

»Haben Sie einen Schlüssel zu der Wohnung? Ich hab mein Handy nämlich drinnen liegen lassen.«

Der Junge schien unschlüssig. Dann nickte er widerwillig und schloss auf.

»Vielen Dank«, sagte Charlotte und schlüpfte durch die Tür. Er folgte ihr mit dem Hund, der jetzt winselte. Sie verschwand entschuldigend im Badezimmer und kam nach ein paar Sekunden mit ihrem Handy in der Hand wieder heraus.

»Na, Gott sei Dank, ist mir das noch eingefallen«, flötete sie.

Er starrte sie mürrisch an. »Was ist hier los? Wo ist Corinna? Und wieso muss Kevin ins Krankenhaus?«

Charlotte antwortete mit einer Gegenfrage. »Wann haben Sie denn mit Corinna gesprochen?«

Er blickte sie misstrauisch an. »Letzten Montag hat sie mich angerufen und gesagt, ich sollte heute Abend auf ihn aufpassen.«

»So, so«, sagte Charlotte. »Ich glaube, dass Ihr Sohn seit mindestens gestern Abend allein ist. Er hat nämlich die halbe Nacht geschrien. Heute bin ich misstrauisch geworden. Die Tür war offen, und ich habe nachgesehen. Das Kind war völlig verdreckt und apathisch, da habe ich den Notarzt gerufen.«

Der Junge – er hatte Pickel am Kinn und einen spärlichen Bartwuchs– sah sie ausdruckslos an. Sie war ihm hier noch nie begegnet.

Charlotte wartete, aber anscheinend hatte ihr Gegenüber keine Fragen mehr, denn es wandte sich ab und spielte mit dem Schlüsselbund. Aber Charlotte tat ihm nicht den Gefallen zu verschwinden.

»Haben Sie eine Ahnung, wo Corinna sein könnte?«, fragte sie stattdessen.

Er zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich, bestimmt wieder mit einem ihrer Typen unterwegs.«

»Hat sie das schon öfter gemacht?«

Der Junge wurde ungeduldig. »Was geht Sie das eigentlich an? Und wieso rufen Sie gleich den Notarzt? Hätten Sie nicht noch ein bisschen warten können? Stattdessen haben wir jetzt dieses Theater. Warum gehen Sie nicht einfach heim?«

Charlotte forschte in seinem Gesicht und sah ein, dass sie nichts mehr ausrichten konnte.

Grußlos ging sie an ihm vorbei. Der Hund suchte Schutz hinter den Beinen des Jungen.

Wenig später war Charlotte allein in ihrer Wohnung. Sie ging in die Küche, öffnete eine Schublade und kramte einen kleinen Plastikbeutel hervor. Dann griff sie vorsichtig in ihre Jackentasche und zog ein Bündel Haare heraus, das sie in den Beutel steckte, den sie sorgfältig verschloss. Den Beutel steckte sie in ihre Jackentasche. Dann ließ sie sich müde aufs Sofa fallen und hoffte, dass sie sich irrte und ihre Nachbarin einfach nur eine schlechte Mutter war und bald wieder auftauchen würde.

Allerdings hatte sie das Kind vorher noch nie so ausgiebig schreien hören. Aber wahrscheinlich lag das daran, dass es oft außer Haus war. Entweder bei der Tante oder der Tagesmutter. Sie war der Mutter nur einmal im Fahrstuhl begegnet. Es war schon ziemlich spät gewesen, und das Kind hatte über ihrer Schulter gelegen und geschlafen. Damals hatte Charlotte den Eindruck, die Mutter hatte getrunken. Nicht viel, aber Charlotte hatte es bemerkt, als sie kurz miteinander sprachen. Was hatte sie noch gesagt? Irgendwas über die Wohnung, aber Charlotte konnte sich nicht erinnern. Und der Vater schien nicht wirklich überrascht zu sein, dass das Kind allein gewesen war. Sie sah auf die Uhr. Mittlerweile war es halb acht, und sie hatte noch nicht zu Abend gegessen.

Heute konnte Charlotte nichts mehr tun. Sie stand auf und ging in die Küche, um sich ein schnelles Abendessen zuzubereiten. Sie nahm Bacon und ein Ei aus dem Kühlschrank und stellte die Pfanne auf den Herd. Wenig später zog der Duft von gebratenem Speck durch die Wohnung. Dazu gab es Brot und Bier. Sie setzte sich mit ihrem Teller vor den Fernseher an den Couchtisch. Auf einem der dritten Programme lief ein alter Schinken mit Paul Newman. Als sie aufgegessen hatte, lehnte sie sich zurück und guckte noch eine Weile in die Flimmerkiste. Nach einiger Zeit rieb sie sich den Nacken. Irgendwie stand der Bildschirm anders, sodass sie den Kopf verdrehen musste. Verwundert fragte sie sich, wann sie das Fernsehgerät verschoben hatte.

Freitag, 14.Juni

Noch eine halbe Stunde, dann hatte sie endlich Feierabend. Sie saß an der dritten Kasse des Supermarkts in Altwarmbüchen, und die Kunden standen seit heute Morgen Schlange. Wahrscheinlich fahren die alle in Urlaub, dachte Margit, und schob die Geldschublade zu.

»Guten Tag«, sagte sie zu dem nächsten Kunden, ohne den Kopf zu heben, und griff nach dem ersten Artikel, den sie über das Lesegerät zog. Sie hatte wie immer, wenn sie an der Kasse saß, das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen, aber dazu blieb heute einfach keine Zeit. Zum Klo musste sie auch, aber die halbe Stunde würde sie schon noch durchhalten. Ein Blick auf die Uhr, noch achtundzwanzig Minuten. Die Zeiger trödelten, obwohl sie das Gefühl hatte, dass sich bei der Geschwindigkeit an ihrem Laufband die Zeit selbst überholte.

Um halb drei würde sie sich mit Goran treffen. Ihr Herz klopfte bei dem Gedanken. Goran war bestimmt fünf Jahre jünger als sie und sah so gut aus! Er war der Erste, mit dem sie sich seit ihrer Scheidung vor sechs Jahren mehrmals getroffen hatte. Eigentlich wunderte sie sich, dass dieser Mann sich überhaupt mit ihr abgab, denn sie hatte immer mit ihrem Gewicht zu kämpfen. Goran war ein athletischer Mann: groß, dunkel und männlich. Und Geld schien er auch zu haben. Er kleidete sich sehr gut.

Alle fünf Minuten sah sie auf die Uhr, und jedes Mal hatte sie das Gefühl, eine halbe Stunde wäre vergangen.