Tod in Dubrovnik - Ranka Keser - E-Book

Tod in Dubrovnik E-Book

Ranka Keser

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Beschreibung

Tod an der Perle der Adria Am idyllischen Stadtrand von Dubrovnik wird ein Pfarrer ermordet. Inspektor Roko Matić und seine Kollegin Maša Marlais werden auf den Fall angesetzt. Das Opfer war in der kleinen Gemeinde wegen seiner extrem konservativen Haltung nicht sonderlich beliebt, doch deutet nichts auf ein Mordmotiv hin. Dann stirbt eine weitere Person aus dem Kirchenumfeld. Der angebliche Selbstmord stellt sich schon bald als Mord heraus. Roko und Maša setzen alles daran, das Töten in dem malerischen Ort zu beenden...

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Ranka Keser ist in Kroatien geboren und in Deutschland aufgewachsen. Sie schreibt in verschiedenen Genres, sowohl unter ihrem richtigen Namen als auch unter Pseudonym. In ihren Romanen verwendet sie häufig Kroatien als Schauplatz; auch in ihren Sachbüchern präsentiert sie den deutschen LeserInnen ihr Geburtsland.

Sämtliche Orte im Buch sind real, außer dem Dorf Pažina. Dieser Ort entspringt der Phantasie der Autorin und ist wenige Kilometer südöstlich von Dubrovnik angelegt. Sollte es in Kroatien tatsächlich ein Dorf dieses Namens geben, so hat das nichts mit dieser Geschichte zu tun. Das Gleiche gilt für die Handlung und die Personen im Buch – Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus shutterstock.com/Ihor Pasternak, shutterstock.com/gyn9037

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-925-9

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann GbR, München.

Smrt ne gleda ničije lice,

jednako se od nje tlače

siromašne kućarice

i kraljevske te polače;

ona upored meće i valja

stara i mlada, roba i kralja.

Der Tod sieht niemandes Gesicht,

von ihm bedrängt sind gleichermaßen

ärmliche Behausungen

und königliche Paläste;

reihenweise fegt und walzt er hinweg

Alt und Jung, den Sklaven und den König.

Aus der Elegie »Suze sina razmetnoga« (Tränen des verschwenderischen Sohnes) von Ivan Gundulić (1589–1638), Dichter aus Dubrovnik

Der Abend zuvor

Pfarrer Gabrijel Jukić stand nachdenklich am Fenster und sah Marija nach, während sie über den Kiesweg zu ihrem Auto ging. Vierzehn Jahre war Marija mittlerweile bei ihm beschäftigt, doch blieb sie für ihn bis heute auf seltsame Art undurchdringlich. Im Grunde wäre sie nicht seine erste Wahl gewesen – wenn er damals überhaupt eine Wahl gehabt hätte. Aber heutzutage wollten Frauen nicht mehr als Pfarrhaushälterin arbeiten. Es war ihnen peinlich, als wäre das etwas Verwerfliches. Als wäre es redlicher, in diese grässliche Tourismusbranche zu gehen.

Er beobachtete, wie Marija in ihr Auto stieg und sich kurze Zeit später rollend vom Pfarrhaus entfernte, vorbei an der Kirche des heiligen Paulus, für die er Dienst tat. Dann verschwand sie aus seinem Sichtfeld und fuhr bergab zur Hauptstraße.

Langsam wandte er sich vom Fenster ab und ging über den kleinen Flur in die Küche. »Im Kühlschrank sind noch Papaline und Krautsalat von gestern«, hatte Marija gesagt, bevor sie hinausgegangen war. Sprotten mit Krautsalat – darauf freute er sich jetzt, denn Marija wusste diese kleinen Fische hervorragend zuzubereiten, sie so zu backen, dass sie nicht auseinanderfielen und schön knusprig wurden. Überhaupt gab es nichts, was Marija nicht köstlich zubereiten konnte. Für ihn wahrlich ein Segen, denn er war nun einmal ein leidenschaftlicher Esser. Mittlerweile konnte man es nicht mehr übersehen, dachte Pfarrer Gabrijel griesgrämig und nahm sich vor, bald mindestens zehn Kilo abzunehmen. Vielleicht könnte er sogar fünfzehn schaffen, wenn er Kuchen und Desserts reduzieren würde. Schuld war Marija, mit ihrer Backerei. Wie sollte er denn widerstehen, wenn sie nach dem Mittagessen die verlockende Süßspeise vor ihn hinstellte?

Pfarrer Gabrijel öffnete den Kühlschrank und ließ seinen Blick über die gestapelten Tupperware-Boxen schweifen. Unbewusst fing er an zu lächeln. Das war eine der Tugenden, die er an Marija zu schätzen wusste. Sie war fleißig, gewissenhaft, ordentlich (genau genommen pedantisch), eine hervorragende Köchin und dazu auch noch sparsam. Reste vom Mittagessen verpackte sie in Plastikbehälter und stellte sie in den Kühlschrank. Manchmal forderte er sie auf, etwas mit nach Hause zu nehmen, was sie auch tat, aber nicht ohne anzumerken, dass es eigentlich zu viel für sie allein sei. Anscheinend meinte Marija immer noch, dass er glaubte, sie lebe allein. Als ob er ihr deswegen Vorwürfe machen würde! Seltsamerweise waren die Menschen der felsenfesten Überzeugung, dass sämtliche katholischen Pfarrer über jeden den Stab brechen, der unverheiratet mit jemandem zusammenlebt.

Wie konnte er etwas gegen die Liebe haben, die zwei Menschen einander entgegenbrachten? Allerdings fand er es seltsam, dass einige Menschen ihre Liebe nicht von Gott segnen ließen. Neumodische Flausen, dachte er kopfschüttelnd.

Nachdem er die Papaline und den Krautsalat auf einen Teller verteilt hatte, setzte er sich an den alten Eichentisch und aß gedankenverloren vor sich hin. Zum ersten Mal verspürte er den drängenden Wunsch, sich jemandem anzuvertrauen.

Der Anruf.

Diese entsetzliche Beichte.

Und wie beides miteinander zusammenhing.

Er würde sich befreiter fühlen, wenn er mit jemandem darüber sprechen könnte, doch es käme für ihn niemals in Frage, das Beichtgeheimnis zu brechen. Wenn er sich überhaupt jemandem anvertrauen würde, dann Marija. Es gab nur zwei Menschen, die er aufrichtig gernhatte: Marija und Jere. Doch Jere war zu jung, als dass er sich an ihn wenden würde. Obwohl er mit seinen neunzehn Jahren reifer war als die meisten Jungen in seinem Alter.

Normalerweise nahm Marija die Anrufe entgegen, wenn seine Sekretärin Ana nicht da war und das Telefon in den Flur umgeschaltet war. Ana arbeitete nur drei Tage pro Woche. An jenem Vormittag letzte Woche, als der Anruf kam, war sie nicht hier gewesen. Es musste Dienstag gewesen sein, überlegte der Pfarrer. Marija war zu ihm in den Garten gekommen, der sich seitlich des Pfarrhauses und schräg gegenüber der Kirche befand.

»Hochwürden?«, hatte sie ihn gerufen und sich vor das Beet der blühenden Pfingstrosen gestellt. »Wir haben keine Butter mehr. Entschuldigen Sie, aber ich habe es heute Morgen vergessen.« Marija ging jeden zweiten Morgen einkaufen, bevor sie zum Arbeiten ins Pfarrhaus kam.

»Das dürfte kein Problem sein, Frau Marija. Dann kaufen Sie die Butter eben nächstes Mal«, war seine Reaktion gewesen.

»Das geht nicht. Ich brauche die Butter doch für das Püree!« Beim Kochen machte sie keine Kompromisse, alles musste perfekt sein. »Ich fahre schnell zum Supermarkt und bin in zwanzig Minuten zurück.« Sie war zum Auto gelaufen, bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte.

In dieser kurzen Zeitspanne war der Anruf eingegangen.

Er hatte das Telefon gehört, widerwillig die Blumenkelle fallen lassen und war mit zügigen Schritten ins Pfarrhaus gegangen. Diese entsetzliche Beschuldigung! Er hatte sich während seiner sechsundfünfzig Lebensjahre stets bemüht, ein anständiger Mensch und ein tadelloser Pfarrer zu sein – und dann rief jemand an und nannte ihn einen Erpresser! Es war geradezu ein Schock gewesen. Kein Wort hatte er herausgebracht und aus Hilflosigkeit dann einfach den Hörer aufgelegt.

Am selben Tag – es musste kurz vor achtzehn Uhr gewesen sein, weil Marijas Arbeitstag sich dem Ende neigte – fragte sie: »Alles in Ordnung, Hochwürden? Sie sehen irgendwie besorgt aus.«

»Es ist nichts«, war alles, was er sagen konnte, dann war er unter einem Vorwand ins Büro gegangen. Am nächsten Tag hakte sie noch mal nach, und er gab dieselbe Antwort.

Darauf meinte Marija: »Haben Sie Probleme mit der Verdauung?«

Er fragte sich, was das eine mit dem anderen zu tun hatte, aber um seine Ruhe zu haben, sagte er: »Ja, ein bisschen Bauchschmerzen, weiter nichts.« Damals dachte er: Wäre der verflixte Anruf doch nur zehn Minuten später eingegangen! Marija hätte sich gemeldet und dem Anrufer die Leviten gelesen. Ihre spitze Zunge und Schlagfertigkeit wären in dieser Situation so passend gewesen – oder der Anrufer hätte bei Marija einfach aufgelegt.

Der Anruf hatte ihn zermürbt – und dann klärte sich bei dieser schrecklichen Beichte alles auf!

Doch er musste schweigen!

Womit nur hatte er das alles verdient? Dass sich in seiner Gemeinde so widerwärtige Dinge abspielten? Und am Ende sollte er dieser beichtenden Person auch noch persönlich verzeihen! Unter Tränen und Schluchzen war er darum gebeten worden. Sein Glaube lehrte ihn, demütig zu sein und zu vergeben.

»Ja«, hatte er gesagt, »ich vergebe dir.«

Stets hatte er sich bemüht, den Menschen zu helfen, ihnen Trost zu spenden und manchmal auch einen wohlmeinenden Ratschlag mitzugeben. Die Menschen schätzten ihn, das schon. Doch wusste er, dass sein Vorgänger beliebter gewesen war als er, weil dieser immer Scherze gemacht und ein Lächeln im Gesicht gehabt hatte. Ein Dauergrinser und Witzbold. Als ob das einen besseren Pfarrer aus ihm gemacht hätte. Aber so waren die Menschen nun einmal, oberflächlich und empfänglich für eine charmante Fassade.

Nach dem Essen spülte Pfarrer Gabrijel die Plastikbehälter ab und sah im Wohnzimmer eine Weile fern, bevor er zu Bett ging. Seit dieser Beichte fiel es ihm schwer, einzuschlafen. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf wie Murmeln, die nicht zum Stillstand kamen und ständig hin und her rollten.

Viel zu oft nahm er eine Schlaftablette, er hatte sich regelrecht daran gewöhnt. Und kaum hatte er beschlossen, das Zeug nicht mehr regelmäßig zu nehmen, war der Anruf gekommen, und ein paar Tage später hatte er dann diese fürchterliche Beichte abnehmen müssen. Es brachte ihn nun wieder um den Schlaf. Und er aß wieder mehr, weil es ihn beruhigte, wie damals als Kind.

Zwei Stunden wälzte er sich hin und her, bis er schließlich die Lampe anknipste, eine Tablette aus der Packung nahm und sie halbierte. Die halbe Dosis würde hoffentlich auch ihren Zweck erfüllen. Eine ganze wollte er nicht nehmen, weil er sonst morgen schwer aus dem Bett kommen würde, und mit seiner Konzentration stünde es dann ebenfalls nicht zum Besten. Er griff nach dem Wasserglas, das stets auf seinem Nachttisch stand, und spülte das chemische Wundermittel hinunter. Dann legte er sich auf den Rücken und wartete auf den Schlaf, der sich allmählich einstellte.

Irgendwann wachte er auf und glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Schlaftrunken blinzelte er und horchte.

Nein, das Geräusch musste Teil des Traums gewesen sein. Vielleicht auch ein Ast, der gegen eines der Fenster schlug. Es wäre nicht das erste Mal, doch er brachte es nicht über sich, dem großen und alten Walnussbaum vor seinem Fenster einen Ast abzusägen.

Schlaftrunken langte er zum Nachttisch und nahm die andere Hälfte der Tablette ein, um so bald wie möglich wieder einzuschlafen.

Er lag auf dem Rücken und lauschte. Mit einem Mal bereute er, den Rest der Tablette geschluckt zu haben.

Denn auch wenn kein Geräusch mehr zu hören war, quälte ihn ein mulmiges Gefühl. Als rational denkender Mensch wusste er, dass sowohl die Vordertür als auch die Hintertür abgesperrt waren. Ja, als rational denkender Mensch, für den er sich hielt, wusste er das. Aber er wusste auch, dass er etwas gehört hatte! Der Wind konnte es nicht gewesen sein, seit Tagen war es vollkommen windstill. Ein Haustier hatte er nicht, das durch die Räume schleichen konnte. Was war das Geräusch, das ihn immerhin aufgeweckt hatte?

Mit aller Macht kämpfte der Pfarrer nun gegen den Schlaf an. Hätte er doch nur nicht die andere Hälfte der Schlaftablette genommen! Er wollte aufstehen und der Sache auf den Grund gehen, doch ihm fielen die Augen zu, der Körper war zu schwer, um sich aufzurichten und nachzusehen …

Schon bald schlief Pfarrer Gabrijel wieder ein. Diesmal für immer.

Tag eins

Zufrieden lächelnd goss Roko Matić seinen Morgenkaffee in die Blümchentasse, die seinerzeit die Lieblingstasse seiner geliebten Nona gewesen war, der Mutter seiner Mutter. Seit er denken konnte, hatte Nona ihren Kaffee daraus getrunken, und er führte dieses Ritual fort. Es gab ihm das Gefühl, ihr auf diese Weise ein bisschen näher zu sein.

Es war ein Donnerstag Mitte Mai, und laut Wetterbericht sollte es ein wolkenloser, sonniger Tag werden. Vor ihm lag ein verlängertes Wochenende. Vid Tudor, sein Vorgesetzter, war gestern auf ihn zugekommen und hatte gesagt: »Wenn Sie wollen, Matić, können Sie sich ein paar Tage freinehmen und Ihre Überstunden abbauen.«

»Und die Ermittlung wegen der mutmaßlichen Brandstiftung?« Wieder einmal war Dalmatiens Hinterland von einem großflächigen Feuer heimgesucht worden. Im Sommer war es die Hitze, doch gab es auch hin und wieder deutliche Anzeichen für Pyromanie. Roko wusste, dass es sich dabei um eine psychische Störung handelte, aber es fiel ihm mitunter schwer, Anteilnahme für zerstörerische Menschen aufzubringen.

Tudor hatte die Schultern gezuckt. »Das kann Marlais auch mal ohne Ihre Hilfe. Also, machen Sie sich vier schöne Tage, ja?«

»Ganz bestimmt sogar, danke«, hatte Roko geantwortet.

Bevor er sich dann in den Feierabend verabschiedet hatte, hatte Maša Marlais ihm zugerufen: »Lassen Sie es krachen, Roko!«

»Was sonst«, war seine Antwort gewesen, denn mittlerweile kannte er Mašas direkte Art. Oft musste er über ihren trockenen Humor lachen, doch es kamen auch Situationen vor, in denen er es sich verkneifen musste, um Professionalität zu wahren. Die beiden wussten noch nicht viel voneinander. Roko war erst kürzlich vom Inspektor zum höheren Inspektor befördert worden, und Maša nahm nun seine vorherige Stellung als Inspektorin ein. Seit sie zusammenarbeiteten, hatten Maša und Roko in Sachen Erpressung, Betrug, Raub und Sexualdelikten ermittelt. Die meisten Fälle, die sie bearbeiteten, waren bereits abgeschlossen. Der Fall der Brandstiftung machte ihnen zu schaffen, da es bis jetzt noch keine Rückschlüsse auf den Täter gab.

Als er erfahren hatte, dass er künftig mit einer Frau zusammenarbeiten würde, war er nicht begeistert gewesen. Dafür schämte er sich ein wenig vor sich selbst, weshalb er es niemandem erzählte. Dabei war er keinesfalls der Meinung, dass eine Frau diesen Job schlechter erledigte als ein Mann; vielmehr empfand er es als Belastung, eine größere Verantwortung zu haben, sie gegebenenfalls beschützen zu müssen. Sollte die selbstbewusste Maša davon erfahren, würde sie zu Recht wütend auf ihn sein.

Seine neue Stellung als höherer Inspektor war Himmel und Hölle zugleich, ein ambivalentes Gefühl. Einerseits hatte er für seine Karriere hart gearbeitet und sein Ziel nun erreicht. Andererseits war es verflucht schwierig, in die Fußstapfen seiner Vorgängerin und Mentorin Vesna Alujević zu treten. Als sie in den Ruhestand ging und Roko ihren Platz einnahm, wurde seine Freude über die neue Position von Schüben der Wehmut getrübt. Vesna war stets souverän, und gleichzeitig strahlte sie Herzlichkeit aus. Trotz ihrer Erfahrung und des Wissens um die Abgründe der Menschen hatte es ihr dennoch niemals an Respekt und Freundlichkeit gefehlt. Sie war in jeder Hinsicht ein Vorbild für Roko, und er war sich klar darüber, dass er von Tudor an ihr gemessen wurde, zumindest während der Anfangszeit.

Auf der Heimfahrt gestern hatte er sich in Gedanken einen Plan für das lange Wochenende erstellt: Sobald er zu Hause gewesen war, hatte er seine Staffelei, Kleidung zum Wechseln und die Malutensilien in den Kofferraum gepackt, und heute würde er Richtung Süden nach Cavtat fahren. Diese Gegend inspirierte ihn immer wieder aufs Neue. Morgen würde seine Ex-Frau Korina den Sohn bringen, damit Luka das Wochenende mit seinem Vater auf der Halbinsel Pelješac verbringen konnte. Dieses Kind, überlegte Roko und lächelte dabei, liebte er mehr als alles andere auf der Welt. Im September würde Luka in die Schule kommen, und bei diesem Gedanken wurde er fast ein bisschen traurig, weil die Kleinkindzeit für immer vorbei sein würde.

Roko hatte gestern Abend Viko überredet, von Freitag bis Sonntag nach Pelješac mitzukommen, dem Heimatort des Vaters. Das kleine Steinhaus hatten die Urgroßeltern errichtet und diesen Ort zeitlebens nicht verlassen. Erst der Enkel, Rokos und Vikos Vater, hatte sich aufgemacht, Pelješac verlassen und war nach Dubrovnik gegangen. Dort hatte er dann Rokos und Vikos Mutter kennengelernt.

Eventuell würde Viko es sich im Laufe des Tages noch anders überlegen und nicht mitkommen. Viko besaß einige Tugenden, doch Beständigkeit gehörte nicht dazu.

Mit der Blümchentasse in der Hand ging Roko ins Wohnzimmer, um durchs Fenster auf den Stradun – oder wie er offiziell hieß: Placa – zu blicken, die Flaniermeile und das Herzstück der von Wehrmauern eingerahmten und autofreien Altstadt. Rokos Wohnung lag im ersten Stock, an der Ecke des Stradun und einer der alten Gassen, nahe dem Pile-Tor – dem Haupteingang in die historische Altstadt.

Seit die neue Nachbarin gegenüber wohnte und es zu einem unangenehmen Blickkontakt gekommen war, vermied er es, in der Küche aus dem Fenster zu schauen. Zwischen den beiden alten Steinhäusern zog sich eine lange Steintreppe durch die Gasse, die vom Stradun in Richtung der Festung Minčeta führte. Rokos Küchenfenster befand sich direkt gegenüber dem ihren, zwischen ihnen die Steintreppe. Früher hatte dort die alte Magda gelebt, und sie hatten sich manchmal zugewinkt oder ein paar Worte gewechselt. Bis Magda an Altersschwäche gestorben und diese attraktive Frau in die Wohnung eingezogen war. Vor ein paar Tagen hatte er wie immer am Fenster gestanden und seinen Morgenkaffee getrunken, als sie plötzlich am Fenster aufgetaucht war und ihn demonstrativ wütend angestarrt hatte. Wie es aussah, hielt sie ihn für einen Voyeur.

Er hatte die Schultern gezuckt und hinübergerufen: »Was denn? Ich stehe oft morgens mit meinem Kaffee am Fenster. Das hat nun wirklich nichts mit Ihnen zu tun.«

Daraufhin hatte sie mit einer aggressiven Bewegung die Gardinen vorgezogen, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

»Was für ein kindisches Verhalten«, hatte Roko verärgert vor sich hin gemurmelt. Konnte man denn nicht mal mehr nachdenklich aus dem Fenster schauen, ohne als Spanner zu gelten?

Während er jetzt an seinem Kaffee nippte, beobachtete er die Touristen auf dem Stradun. Im Mai hielt sich die Anzahl noch in erträglichen Grenzen. Seit im Hafen nur noch zwei Kreuzfahrtschiffe pro Tag anlegen durften, konnte man sich als Einheimischer wieder einigermaßen normal fortbewegen. Es war vorgekommen, dass er von seiner Wohnung zum Parkplatz statt sechs bis sieben Minuten satte zwanzig gebraucht hatte, weil er sich durch die Menschenmassen hatte quetschen müssen.

Rokos Handy klingelte auf der Kommode im Flur. Möglicherweise reagierte Korina auf seine Nachricht und seinen Plan, Luka übers Wochenende nach Pelješac mitzunehmen. Aber weshalb sollte sie etwas dagegen haben, fragte er sich und hoffte, dass es nicht Korina war. Er verstand sich gut mit seiner Ex-Frau, aber wenn es um Luka ging, konnte sie manchmal überbehütend sein.

Immer noch die Kaffeetasse in der Hand, ging Roko in den Flur und blickte auf das Display: Maša Marlais.

Kein gutes Zeichen, wenn sie ihn jetzt anrief, an seinem freien Tag, um Viertel vor acht. Leise seufzte er auf, meldete sich aber mit freundlicher Stimme: »Dobro jutro. Was gibt es, Maša?«

»Dobro jutro. Tut mir leid, aber wir haben einen Mord.«

»Ach ja?« Auch wenn es irgendwann zu erwarten gewesen war, dass Maša und Roko gemeinsam als neues Team in ihrem ersten Mordfall zu ermitteln hätten, kam es jetzt unerwartet. »Wo ist der Tatort?«

»Ein kleines Dorf namens Pažina. Wissen Sie, wo das ist?«

»Ja, ein paar Kilometer südöstlich von Dubrovnik, in der Nähe von Mlini.«

»Das stimmt«, sagte sie und klang überrascht. »Also ich musste erst nachsehen.«

»Ja, aber Sie sind aus Imotski, und ich habe mein ganzes Leben hier verbracht.«

»Jedenfalls tut es mir wirklich leid, dass Sie Ihre freien Tage nun verschieben müssen.«

»Schon gut.« Was sollte er sonst sagen? Sich darüber aufzuregen brachte schließlich auch nichts. »Sind Sie sicher, dass es Mord war?« Die Tatsache, dass sich die letzte Ermittlung mit Vesna Alujević am Ende als Suizid herausgestellt hatte, veranlasste ihn zu der Frage.

»Tudor hat etwas von durchgeschnittener Kehle und einem Messer erwähnt, das noch in der Brust steckt. Wenn Sie meine Meinung hören möchten: Ich tendiere zu der Annahme, dass es sich hier um Mord handelt.«

»Verstehe.« Auf Mašas Ironie ging er nicht ein. Seine leichte Verärgerung darüber, dass ausgerechnet jetzt ein Mord passieren musste und er sich aus vollkommen anderen Gründen Richtung Cavtat aufmachen würde, schob er nun endgültig beiseite.

»Der Mord ist im Pfarrhaus von Pažina passiert«, ergänzte Maša. »Es ist der Pfarrer. Das Opfer, meine ich, nicht der Täter.«

»Hätte mich auch gewundert. Aber unmöglich ist gar nichts, wie Tudor immer sagt. Wie heißt die Kirche?«

»Kirche des heiligen Paulus. Ich mache mich jetzt auf den Weg, Roko. Wir treffen uns dort, ja?«

»Gut. Hat Tudor bereits Matana verständigt?«

»Sie meinen, ich soll den Chef fragen, ob er daran gedacht hat, dem Gerichtsmediziner Bescheid zu geben?«

»Alles klar. Bis gleich.«

Während er die Taste drückte, schüttelte er den Kopf über seine Kollegin. Selbst am frühen Morgen war Maša redselig und quirlig. Das hatte er an Korina immer zu schätzen gewusst: Sie war ein Morgenmuffel wie er selbst und brachte keine ganzen Sätze zustande, bis sie ihren Kaffee getrunken hatte.

Roko ging ins Schlafzimmer, zog Jeans und T-Shirt aus und nahm eine schwarze Stoffhose und ein dunkelgrünes Hemd aus dem Schrank. Er hatte kürzlich ein kleines Vermögen dafür ausgegeben, doch das Material und die Farbe hatten ihm gefallen. Für ihn war es wichtig, immer gut gekleidet zu sein und gepflegt auszusehen. Dabei hatte er keinen überquellenden Kleiderschrank, im Gegenteil. Bei seiner Kleidung zählte Qualität statt Quantität. Korina hatte ihn manchmal damit aufgezogen und gemeint, er hätte Designer werden sollen. Nein, hätte er nicht, denn er konnte weder nähen noch Muster oder Formen erfinden. Das Faible für gutes Aussehen hatte er von seiner Mutter. Viko kam nach dem Vater, der immer nur Jeans und Sneakers getragen hatte.

Zwischen Kleiderschrank und Fenster war der Tresor, den er nun aufsperrte, um das Halfter mit der Waffe herauszunehmen. Als Roko sich später im Flur die Schuhe zuband, kam Viko aus dem Gästezimmer.

»Ach, du fährst schon los?«, meinte er gähnend.

Viko trug Boxershorts und Socken, weil ihm an den Füßen immer kalt war. Viko hatte das gleiche dunkelbraune Haar und die gleichen grünen Augen wie Roko, war jedoch etwas stämmiger und ein paar Zentimeter kleiner als sein Bruder.

»Es hat einen Mord gegeben«, erklärte Roko.

»Ach, verdammt. Tut mir leid für dich. Aber vielleicht tröstet es dich, dass es für den Toten noch schlimmer ist.«

Roko steckte Geldbörse und Schlüssel in die Hosentasche. »Du und Maša würdet mit eurem seltsamen Humor gut zusammenpassen.«

»Wie alt ist sie eigentlich, diese Maša?«

»Achtundzwanzig.«

»Ist sie heiß?«, fragte Viko grinsend.

»Keine Ahnung, darauf achte ich nicht.«

»Natürlich nicht. Aber wenn du schon so antwortest, nehme ich an, dass sie heiß ist.«

»Ich arbeite mit dieser Frau zusammen. Es interessiert mich nicht, ob sie heiß ist.«

»Verheiratet?«

»Geschieden.«

»Kinder?«

»Keine.« Er nahm das schwarze Sakko vom Haken und zog es sich über.

»Oh, gut, keine lästigen Anhängsel. Versteh mich nicht falsch.« Mit den Händen machte er eine abwehrende Geste. »Ich liebe Luka, aber das muss ich ja als Onkel, und Luka ist weder verzogen noch nervig.«

Vor drei Wochen war Viko bei Roko aufgekreuzt und hatte gefragt, ob er für eine Weile einziehen könne, bis er etwas anderes gefunden hätte. Wieder einmal war eine von Vikos Beziehungen gescheitert, was keine große Überraschung gewesen war. Er hangelte sich von einer Frau zur anderen und von einer Arbeitsstelle zur nächsten. Zurzeit jobbte er abends in einem Café ein paar Gassen von der Wohnung entfernt. Roko konnte seinem Bruder das Wohnrecht nicht verwehren, denn die Vier-Zimmer-Wohnung hatten sie schließlich gemeinsam geerbt. Vielleicht würde sie später allein Luka gehören, da nicht zu erwarten war, dass Viko noch sesshaft wurde. Ein Kind zeugen konnte er natürlich trotzdem, außerdem war Viko erst vierunddreißig, zwei Jahre jünger als er.

Roko legte die Hand auf die Klinke und warf noch einen Blick auf Viko, bevor er die Tür öffnete. »Ich glaube, ich habe noch nie erlebt, dass du vor halb zehn aufgestanden bist.« Er sah ihn abwartend an.

Viko blinzelte und tat verwirrt. »Ach, das war eine Frage. Ich dachte, du redest laut mit dir selbst. Aber nein, ich steh noch nicht auf, gehe bloß zur Toilette.«

Roko hob die Augenbrauen. »Entschuldige, mein Fehler«, sagte er ironisch und verschwand dann aus der Wohnung.

Kurz bevor er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, rief Viko: »Mach dir keine Vorwürfe. Entschuldigung akzeptiert.«

Die Hauptstraße, die aus Dubrovnik Richtung Cavtat führte, war eine angenehme Strecke, zur Linken eine bergige Landschaft, und auf der rechten Seite war der Blick auf die Küste versperrt, obwohl sich das Meer nur ein paar hundert Meter weit weg befand. Erst hinter Srebreno, wenn man weiter Richtung Süden fuhr, konnte man im Ort Mlini das Meer wieder sehen.

Roko rief Korina über die Freisprechanlage an. Sie arbeitete als selbstständige Architektin und war deshalb meistens zu Hause.

»Hallo, Roko«, meldete sie sich.

»Hallo, Korina. Es gibt ein Problem«, kam er gleich zur Sache. »Ein Mordfall. Ich bin gerade auf dem Weg zum Tatort. Du weißt ja, dass ich nicht sagen kann, wie lange das dauern wird. Einen Tag, eine Woche, keine Ahnung.«

»Und wer wurde ermordet?«

»Der Pfarrer von Pažina.«

»Pažina? Wo ist das noch mal?«

»Ein kleines Dorf bei Mlini. Hör zu, Korina, wegen Luka …«

»Ach, mach dir darüber doch keine Gedanken. Ihr holt das nach.«

»Ich dachte, dass du ihn vielleicht trotzdem bringen könntest und Viko tagsüber auf ihn aufpasst. Während einer Ermittlung komme ich zwar spät nach Hause, aber am Wochenende darf Luka ja länger aufbleiben. Viko arbeitet zurzeit abends und ist den ganzen Tag zu Hause. Falls es bei mir spät wird, kann Viko bestimmt mit seinem Chef ausmachen, dass er etwas später zur Arbeit kommt.«

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Korina, mir ist klar, dass Viko nicht der ideale Kinderhüter ist, aber er müsste versprechen, dass er nicht mit Luka rausgeht. Nur in der Wohnung.«

»Du weißt, dass ich nichts gegen Viko habe, aber ich möchte das lieber nicht. Sei nicht böse, aber du kannst Luka immer zu dir holen, wenn du freihast. Wir haben darüber nie eine Liste führen müssen. Aber Viko auf ihn aufpassen lassen? Damit habe ich ein Problem.«

»Ja, schon klar«, meinte er enttäuscht. »Ich kann dich verstehen.«

»In Ordnung. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deinem ersten Mordfall. Und wegen Luka werden wir uns einig, sobald du wieder Zeit hast, ja?«

»Ja, danke. Mach’s gut.«

»Bis bald, Roko.«

Beim Wegweiser Cavtat seufzte er unbewusst auf und bog dann nach links ins Landesinnere. Als er in Pažina Richtung Kirche fuhr, war Cavtat vergessen, und die Sache mit Luka musste nun ebenfalls zur Seite geschoben werden.

Die kleine weiß getünchte Kirche befand sich auf einer Anhöhe, wie das häufig der Fall war. Sie war jüngeren Datums, etwa im 18. Jahrhundert errichtet, schätzte Roko. Außerdem war sie in ihrer Ästhetik bescheidener als die Kirchen früherer Jahrhunderte, die im Stil der Gotik, Renaissance oder des Barocks entstanden waren. Diese Kirche schien aufgrund ihrer klaren Linien und der relativen Schlichtheit zum Stil des Rokoko oder Klassizismus zu gehören.

Zwei Streifenwagen, Mašas Auto und die Fahrzeuge des Gerichtsmediziners und der Spurensicherung waren bereits vor Ort und im Vorhof zwischen Kirche und Pfarrhaus geparkt. Auf einem kleinen Parkplatz, neben dem Pfarrhaus, erblickte er ein ihm unbekanntes Auto. Wahrscheinlich gehörte es einem Angestellten, überlegte Roko. Neben dem Pfarrhaus erstreckte sich ein beeindruckender Garten, der aus verschiedenen Beeten bestand. In gleichen Abständen zueinander wuchsen drei Palmen, welche die Blumenbeete voneinander trennten.

Einer der uniformierten Polizisten war gerade mit dem Absperrband beschäftigt und forderte vier betagte Schaulustige auf, Abstand zu wahren. Aufgereiht hinter dem Absperrband, redeten sie aufgeregt miteinander. Immer wenn Nachbarn die Polizei eintreffen sahen, kamen sie aus ihren Häusern oder Wohnungen und fragten nach, was geschehen war. Danach tauschten sie untereinander ihre Betroffenheit aus – und dann begannen Vermutungen und Spekulationen. Das hatte er oft genug erlebt, als er mit Vesna Alujević unterwegs gewesen war.

Roko stieg aus und schaute sich um. Einen schönen Ausblick hatten die Bewohner dieses idyllischen Ortes inmitten von Olivenbäumen und Pinien. Von dieser Anhöhe aus hatte man einen Blick auf das weite Meer, das näher schien, als es in Wirklichkeit war. Roko nahm den Duft von Lavendel wahr, der um diese Jahreszeit allmählich zu blühen anfing. Er entdeckte zwei Sträucher am Eingang zur Kirche. Roko liebte diesen Duft. Er erinnerte ihn an die Sommerferien auf Pelješac. Seine Nona väterlicherseits hatte kleine Säckchen genäht, mit Lavendelblüten gefüllt und in den Schränken verteilt.

Roko ging auf das Grüppchen zu. Die vier Greise sahen ihn mit einer Mischung aus Neugier und Ängstlichkeit herankommen. »Pozdrav«, sagte Roko, da ihm ein Dobro jutro in solchen Situationen stets unangemessen erschien. Lieber ein Wort des Grußes, denn ein guter Morgen war es keinesfalls.

Roko erntete Nicken und gemurmelte Begrüßungen.

»Sie sind die Nachbarn?«, fragte er, auch wenn es offensichtlich war. Aber es konnte nicht schaden, sich schon einmal vorzutasten, und diese Frage war der einfachste Einstieg.

»Ja«, bestätigten sie. Eine schwarz gekleidete Frau antwortete zwei Sekunden später als die anderen.

»Inspektor Roko Matić. Polizei Dubrovnik. Wir werden Sie noch befragen, aber vielleicht hat jemand von Ihnen schon jetzt eine hilfreiche Information?«

»Hilfreiche Information?«, wiederholte der älteste unter ihnen, der sich auf seinem Gehstock abstützte. Er sah Roko an, als hätte dieser eine abstruse Frage gestellt.

»Ja. Hat jemand von Ihnen vielleicht etwas beobachtet oder gehört, das uns helfen könnte? Etwas Ungewöhnliches?« Nachdem er nur Schweigen oder Kopfschütteln geerntet hatte, fuhr er fort: »Vielleicht haben Sie eine unbekannte Person gesehen, ein fremdes Auto – oder ein Geräusch gehört?«

»Unsere Häuser sind doch viel zu weit weg, als dass wir was hätten sehen können«, antwortete ein Mann, den Roko auf Mitte siebzig schätzte. »Mein Name ist Ðuro Farac.« Er zeigte auf die Frau neben sich. »Das ist meine Frau Celesta.« Dann bewegte er den Arm zur rechten Seite der Kirche und zeigte auf ein Haus, das mindestens dreißig Meter entfernt lag. »Wir wohnen in dem rosa Haus da drüben. Die Farbe hat sich unsere Schwiegertochter ausgesucht, dafür können wir nichts«, fügte er entschuldigend hinzu.

»Das ist wahr«, bestätigte seine Frau.

Roko lächelte, dann blickte er in die Gesichter der beiden anderen Greise. Der Mann mit dem Gehstock stellte sich als Bepo vor und sagte, er könne Roko nicht helfen. Daneben stand eine gebückte Frau, ganz in Schwarz gekleidet, mit unzähligen Falten und Furchen im Gesicht.

»Es gibt also nichts, das jemand von Ihnen mir derzeit sagen könnte?«, hakte Roko nach.

Sie nickten, die gebückte Frau etwas zeitverzögert, was Roko schon vorher aufgefallen war. Deshalb wandte er sich jetzt an sie.

»Haben Sie etwas gesehen?«

»Sie müssen lauter sprechen, junger Mann!«, schrie sie mit ihrem brüchigen Stimmchen.

»Tonka hat nichts gehört, weil sie überhaupt kaum noch was hört«, erklärte Bepo.

»Aber sie hat doch reagiert«, wunderte sich Roko, »den Kopf geschüttelt oder genickt.«

»Sie wartet einfach ab, was die anderen machen, und dann macht sie es nach.«

»Ah, ach so.«

Das hier hatte keinen Sinn, weshalb Roko sich verabschiedete und von der Gruppe entfernte.

Er passierte sich duckend das blau-weiße Absperrband. Die vier alten Dorfbewohner blieben wie angewurzelt stehen und musterten ihn neugierig.

Vor der Kirche stand einer der Streifenpolizisten und nickte ihm grüßend zu, dann zeigte er auf ein Gebäude, vor dem mehrere seiner Kollegen postiert waren. »Der Mord ist im Pfarrhaus passiert, Inspektor.«

»Ja, ich weiß.«

»Herr Butigan möchte später auch die Kirche nach Spuren untersuchen. Deshalb halte ich hier die Stellung.«

»Gut, danke.«

Während Roko zum Pfarrhaus ging, spürte er immer noch die neugierigen Blicke im Nacken. Er sah wieder zu dem prachtvollen Garten. Der Pfarrer musste einen der besten Gärtner der Stadt beschäftigt haben, überlegte Roko.

Nachdem er das Pfarrhaus betreten hatte, gab ihm einer von Butigans Assistenten im Flur die übliche Schutzkleidung. Maša stand in einem anderen Raum und hob kurz die Hand zum Gruß, als sie ihn bemerkte. Während er die Schutzkleidung anlegte, schossen ihm Vikos Worte über Maša durch den Kopf. Im nächsten Moment versuchte er, sie aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Darüber wollte er gar nicht erst nachdenken! Außerdem war zwischen Maša und ihm zum Glück keinerlei erotische Spannung. Das hätte ihm gerade noch gefehlt. Maša war auf aparte Weise attraktiv, das musste er zugeben. Ihr mittellanges blondes Haar war immer zu einem tief liegenden Pferdeschwanz gebunden. Die hellblauen Augen schminkte sie mit einer schwarzen Umrandung, was ihren direkten und forschen Blick noch eindringlicher machte. Sie war schlank und sehnig, trug Jeans und Lederjacke und immer weiße Hemden, in den kühleren Monaten unter einem Pullover. Sie musste unzählige weiße Hemden und Blusen besitzen.

Roko ging zu dem Raum, aus dem die üblichen Geräusche eines Ermittlungsteams kamen und in dem Maša stand und nach unten schaute. Noch nie hatte er diese Blässe in ihrem Gesicht gesehen. Er trat ein und entdeckte Stanko Matana, den Gerichtsmediziner, der sich über den Leichnam beugte.

Roko blickte auf das Bett mit der Leiche. Für einen kurzen Moment erstarrte er. »Großer Gott«, murmelte er zu sich selbst, als er das viele Blut sah.

Die Kehle des Mannes war so tief durchgeschnitten, dass sein Kopf zur Hälfte abgetrennt war. Die Klinge des großen Messers steckte fast vollständig in seiner Brust, etwas nach links versetzt. An der Stelle, an der man das Herz vermutete.

Alles war voller Blut. Der Pyjama war gänzlich durchtränkt und nahm nun eine bräunliche Färbung an. Bettdecke, Kissen und Laken waren ebenfalls voller Blut. Auf dem Parkettboden war unübersehbar eine große Lache, die allmählich an den Rändern trocknete. In dem Körper konnte kaum noch ein Liter seines Lebenssaftes verblieben sein.

»Wie ist der Name des Pfarrers?«, wollte Roko wissen, ohne den Blick vom Opfer abzuwenden.

»Gabrijel Jukić«, antwortete Maša. »Grauenhaft, oder?« Im nächsten Moment trat sie zur Seite, um dem Polizeifotografen Platz zu machen.

Matana richtete sich auf und sah Roko an. »Ich habe ja schon viel gesehen, aber so etwas geschieht zum Glück selten.«

Stanko Matana war Ende vierzig und hatte bereits eine Halbglatze, was ihm Schwierigkeiten zu bereiten schien. Wahrscheinlich bearbeitete er deshalb seinen Haarkranz täglich mit einem Rasierapparat. Was Roko an Matana mochte, war die Tatsache, dass er trotz seines Jobs nicht völlig abgestumpft war. Er konnte gelegentlich sogar etwas betroffen wirken, besonders wenn es um junge Opfer ging.

»Wir haben es hier mit einer Übertötung zu tun«, erklärte Matana jetzt überflüssigerweise. »Hinter der Tat steckt wohl viel Hass.« Er beugte sich wieder zur Leiche, um seine Untersuchung fortzusetzen.

»Oder die Lust am Töten«, sagte Maša. »Ich meine, sehen Sie sich das an, Roko. Rache und Hass hin oder her, aber hierbei geht es doch um Blutrausch. Der Stich ins Herz hätte gereicht, oder eine durchgeschnittene Kehle. Aber er hat ihm fast den Kopf abgetrennt.«

Roko nickte, dann wandte er sich wieder an den Gerichtsmediziner. »Können Sie schon sagen, wann ungefähr der Tod eingetreten ist, Stanko?«

Ohne den Kopf zu heben, antwortete dieser: »Ich will mich noch nicht festlegen, aber als wahrscheinlich erscheint mir ein Zeitrahmen zwischen zwei und vier Uhr morgens. Genaueres erfahren Sie morgen früh.«

Frane Butigan, der Kriminaltechniker, öffnete den Spurensicherungskoffer und bat Roko und Maša, nun den Raum zu verlassen. Butigan war immerzu freundlich und gelassen. Selbst dieser Tatort konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen.

Bevor er Butigans Bitte nachkam, ließ Roko seinen Blick über das Schlafzimmer des Pfarrers schweifen. Die Möbel waren altmodisch und betagt, allem Anschein nach aus massivem Holz, wahrscheinlich Nussbaum. Keine Tapete, stattdessen ein großes Kruzifix über dem Bett und ein überdimensioniertes Bild, das die Madonna mit dem Jesuskind zeigte. Es hing an der Seitenwand über der Kommode, in einem antiquiert geschnörkelten Bilderrahmen. Es gab kein einziges Foto von jemandem, wie es normalerweise der Fall war. Darüber wunderte sich Roko, denn schließlich hatte auch ein Pfarrer Verwandte.

Als sie hinaustraten und sich zügig von der Schutzkleidung befreiten, fragte er: »Wer hat ihn gefunden?«

»Die Pfarrhaushälterin. Mehr weiß ich noch nicht, bin ja nur zehn Minuten vor Ihnen angekommen.«

»Wo ist die Haushälterin?«

Maša machte eine Kopfbewegung zur Tür neben ihr, gegenüber der Haustür. »In der Küche.«

Durch das Milchglas konnte er eine dunkle Gestalt ausmachen, die sich ein wenig bewegte. »Wie heißt sie?«

»Marija Šain.«

»Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«

»Nein. Einer der Streifenpolizisten hat mir ihren Namen mitgeteilt. Die arme Frau sitzt die ganze Zeit in der Küche und wartet auf uns.«

Roko drückte die Klinke nach unten und schob die Tür langsam weiter auf, als befürchtete er, die Haushälterin zu erschrecken. Er erwartete eine schluchzende und aufgelöste Frau. Doch sie saß gefasst und mit geradem Rücken auf der Eckbank und blickte abwartend zur Tür. Auf dem Tisch vor ihr stand ein Glas orangeroter Flüssigkeit, das sie noch nicht angerührt hatte. Rokos Blick fiel auf die Dose mit der Aufschrift »Cedevita«, Geschmackssorte Rote Orange, die auf der Anrichte abgestellt worden war.

Roko schätzte die Haushälterin auf Mitte vierzig. Das schwarze Haar hatte sie zu einem lockeren Dutt hochgesteckt. Die dunkelblaue Bluse mit hellblauen Perlknöpfen war geschmackvoll, aber auch einen Hauch spießig. Die Goldkette mit dem Kruzifix war ein regelrechter Blickfang, was an der beeindruckenden Größe des Anhängers lag.

Die großen braunen Augen der Haushälterin waren auf Roko gerichtet. Er konnte keine Tränen darin entdecken, und dennoch glaubte er, eine Spur von Traurigkeit zu sehen. Aber vielleicht war es auch Angst. Zu leicht konnte man als Beobachter diese beiden Gefühle verwechseln.

»Sie sind Marija Šain, die Haushälterin?«, fragte Roko und blieb ein paar Schritte vor ihr stehen.

Sie nickte.

»Ich bin Inspektor Roko Matić. Das ist Inspektorin Maša Marlais.«

»Ich habe auf Sie gewartet. Sie möchten mir bestimmt ein paar Fragen stellen, nicht wahr?«

»Das müssen wir, ja. Sie haben den Toten gefunden?«

»Das ist richtig.« Dann sah sie von Roko zu Maša, streckte den Arm zur anderen Seite der Eckbank aus und sagte: »Nehmen Sie doch bitte Platz.«

Sie kamen der Aufforderung nach. Kaum hatten sie sich gesetzt, sagte Roko: »Sie sind sehr gefasst, Frau Šain. Erstaunlich in Anbetracht des brutalen Mordes an dem Menschen, für den Sie gearbeitet haben.«

Für den Bruchteil einer Sekunde deutete sie ein kaum merkliches Lächeln an. »Soll das heißen, ich muss die Erwartungen der Polizei erfüllen, um nicht verdächtig zu erscheinen?«

»Nein, Frau Šain«, erklärte Roko freundlich. »Sie müssen überhaupt nichts, schon gar nicht eine Rolle spielen. Ich bewundere nur Ihre Stärke. Das ist alles.«

Sie sah ihm direkt in die Augen. »Im Grunde können Sie nur vermuten, was in mir vorgeht, aufgrund meiner äußeren Hülle. Nicht mehr und nicht weniger.«

Äußere Hülle? Roko wunderte sich kurz über die etwas gestelzte Ausdrucksweise. Wenn sie sich da mal nicht täuschte, ging es ihm durch den Kopf. Die Hülle verriet nicht selten, was im Inneren vor sich ging. Durch Stimme, Gesten, Gesichtsausdruck und Augen. Aber er wollte sie gern in diesem Glauben lassen. Aus den Augenwinkeln sah Roko, wie Maša Block und Stift aus ihrer Tasche holte.

»Wie lange arbeiten Sie schon für den Pfarrer?«, fragte Maša.

»Vierzehn Jahre.«

»Ist das eine Vollzeitstelle?«

»Selbstverständlich«, antwortete Marija pikiert, als wäre das eine dumme Frage. »Es gibt für mich genug zu tun.«

»Das glaube ich gerne. Leider haben wir keinerlei Kenntnisse über Ihren Beruf.«

»Natürlich nicht, woher auch. Diesen Beruf will heute sowieso kaum noch jemand machen.«

Roko ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er fragte: »Können Sie sich vorstellen, wer dem Pfarrer das angetan haben könnte? Haben Sie einen Verdacht?«

»Nein, wirklich nicht. Ein krankhaftes Monster hat das getan, aber ich kenne niemanden, der ein krankhaftes Monster ist.«

»Ich nehme an, Sie haben einen Schlüssel fürs Pfarrhaus. Besitzt sonst noch jemand einen Schlüssel?«

»Ja, mehrere Leute.«

»Mehrere?«, fragte Maša überrascht.

»Ja, eben diejenigen, die für die Kirche arbeiten.«

Roko und Maša warteten darauf, dass sie weitersprach, doch sie sah die Beamten nur schweigend an. Maša klang leicht ungeduldig, als sie fragte: »Würden Sie uns dann bitte Namen und Beruf der Leute nennen?«

»Meinetwegen. Da ist zunächst Ana Prović, die Sekretärin. Sie kümmert sich um die Verwaltung, kommt dreimal pro Woche und arbeitet im Büro.« Marija machte eine Kopfbewegung nach links. »Das liegt zwischen Schlafzimmer und Küche. Sie ist aus Pažina, wohnt aber seit einiger Zeit in Dubrovnik.«

»Kommt sie an bestimmten Tagen?«, wollte Roko wissen.

»Sie arbeitet montags, mittwochs und freitags von neun bis fünfzehn Uhr. Mit einer Stunde Pause zwischendrin, denn sie isst mit uns zu Mittag. Hochwürden legte Wert darauf, dass das Essen Punkt zwölf auf dem Tisch stand. Nach der Arbeit besucht Ana meistens noch ihre Eltern und den Bruder. Das ist die Familie Farac – das Haus mit der hässlichen babyrosa Fassade. Ana kommt fast jeden Sonntag nach Pažina und besucht mit ihrer Familie die heilige Messe. Hochwürden hat Ana eingestellt, weil sie früher Ministrantin war und mit ihrem Aushilfsjob als Lehrerin nicht weit kommt.«

»Sie nennen ihn Hochwürden?«

Marija zuckte die Schultern. »Ein bisschen altmodisch, ich weiß, aber er wurde gerne so genannt, obwohl er es nie gesagt hat. Manches weiß man eben voneinander, wenn man sich lange genug kennt.«

»Gut, erzählen Sie weiter«, lenkte Roko das Thema wieder zu den Angestellten. »Wer arbeitet noch für die Kirche und besitzt einen Schlüssel?«

»Ich, Ana Prović und Ante Mijoč, der Küster.«

»Der Küster. Hm, leider weiß ich auch über diesen Beruf nicht allzu viel, aber das hat erst mal Zeit.«

»Normalerweise sperrt er morgens um acht Uhr die Kirche auf, aber er hat sich diese Woche wegen einer schweren Erkältung krankgemeldet. Folglich übernehme ich diese Woche größtenteils seine Aufgaben. Schließlich bin ich es, die als Einzige hier eine Vollzeitstelle hat. Ana, Senka und Ante sind nebenberuflich tätig. Nun ja, es ist eben eine kleine Gemeinde.«

»Wer ist Senka?«

»Ach ja, Senka Ivandić hat ebenfalls einen Schlüssel. Sie arbeitet als Putzfrau hier, dienstags und freitags von vierzehn bis siebzehn Uhr, hauptberuflich ist sie Zimmermädchen im Hotel Rixos. Eigentlich ist Senka nur für die Kirche und den Hof zuständig, doch sie besitzt auch den Schlüssel zum Pfarrhaus, weil Hochwürden meinte, es könne nicht schaden, falls ich mal nicht kommen könne. Als ob ich jemals nicht zur Arbeit erschienen wäre.« Auf Marijas Gesicht machte sich ein gekränkter Ausdruck breit.

»Na ja«, warf Maša ein, »jeder kann doch mal krank werden.«

»Ich nicht!«, rief sie entschieden. »Ich war noch niemals krank.«

Maša hob für eine Sekunde die Augenbrauen. »Okay«, sagte sie und machte sich eine Notiz.

Marija griff nach ihrem Glas und nahm einen Schluck von der orangeroten Flüssigkeit. Dann setzte sie mit einer hastigen Handbewegung das Glas ab. »Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihnen ja gar nichts angeboten! Das ist mir bisher noch nie passiert, wirklich!« Sie legte die rechte Hand auf die Brust. »Mein Gott, wie unhöflich von mir …«

Maša sah sich veranlasst zu sagen: »Bitte beruhigen Sie sich, Frau Šain.«

Die Frau war rot geworden, so peinlich schien ihr das zu sein. »Möchten Sie einen Saft? Limonade? Kaffee?«

Beide lehnten dankend ab.

»Sind das alle, Frau Šain?«, wollte Roko wissen.

»Wie bitte?«, fragte sie irritiert. Anscheinend war sie mit ihren Gedanken noch immer bei ihrem Versäumnis, das für sie geradezu unverzeihlich zu sein schien.

»Haben Sie uns alle Personen genannt, die einen Schlüssel zum Pfarrhaus haben?«

»Soweit ich weiß, dürften das alle sein.«

Maša notierte es und blickte nicht auf, während sie ihr Anliegen äußerte: »Wir brauchen noch die Telefonnummern und Adressen dieser Leute.«

»Kein Problem«, meinte Marija. »Ich habe sie in der Telefonkommode im Flur.«

»Sie waren die ganze Nacht zu Hause, nehme ich an?«, wollte Roko wissen.

Entsetzt sah sie ihn an. »Ja, wo denn sonst um Himmels willen? In einem Nachtclub?«

»Kann jemand bezeugen, dass Sie die ganze Nacht zu Hause waren?«

Marija räusperte sich, bevor sie erklärte: »Ja, mein Lebenspartner Tomislav Franušić. Wissen Sie, ich lebe mit ihm zusammen. Seit vielen Jahren schon, aber von den Leuten hier weiß das niemand.«

Roko bezweifelte, dass sie mit ihrer Annahme richtiglag.

»Tomislav will nicht heiraten, weil er schon zweimal verheiratet war und es ihm peinlich wäre, schon wieder die Verwandten einzuladen und Geschenke anzunehmen.«

»Verstehe. Sie sind also zur Arbeit gekommen, haben die Tür aufgesperrt, sind eingetreten und … was dann? Haben Sie nach dem Pfarrer gerufen?«

»Nein, weil … dieser Geruch in der Luft lag. Der Geruch von Blut, meine ich.«

»Ja, Blut hat einen metallischen Geruch, besonders in dieser Menge. Erzählen Sie bitte weiter, Frau Šain.«

»Die Tür von seinem Schlafzimmer stand offen, was ungewöhnlich war. Ich bin näher getreten und … na ja, Sie wissen ja, was ich dann sah.«

»Haben Sie laut aufgeschrien? Sind Sie aus dem Haus gerannt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Zuerst konnte ich das gar nicht richtig in mir aufnehmen. Ich stand wie angewurzelt da und konnte mich nicht rühren. Dann bin ich zur Toilette und habe mich übergeben. Als ich aus der Toilette kam, habe ich die Polizei angerufen.«

»Hatten Sie keine Angst, dass der Mörder sich noch im Haus befinden könnte?«, fragte Maša.

»Nein, wegen dem getrockneten Blut. Auf dem Boden war dieser riesige Fleck, aber am Rand der Lache war es schon getrocknet. Der Mörder musste längst über alle Berge sein.«

Roko wunderte sich darüber, dass sie in dieser Situation alles so klar überdenken konnte.

Die Tür ging auf. Einer der jungen Streifenpolizisten machte einen Schritt in die Küche, bevor er in strammer Haltung sagte: »Inspektor Matić, Inspektorin Marlais, ich soll Ihnen ausrichten, dass es Einbruchspuren an der Hintertür gibt. Herr Butigan wird sich das später noch genauer ansehen.«

Der junge Beamte schien nervös zu sein. Roko war ihm erst ein paarmal über den Weg gelaufen, er war noch nicht lange dabei.

»Danke«, sagte Roko.

Der junge Polizist nickte ernst. »Inspektor Matić, Inspektorin Marlais«, dann entfernte er sich.

Maša warf Roko einen kurzen Blick zu. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ein Lachen zu unterdrücken. Roko beschloss, dem jungen Beamten bei nächster Gelegenheit freundlich mitzuteilen, dass er es nicht übertreiben musste und sie hier nicht beim Militär waren.

Nachdem die Tür wieder geschlossen worden war, meinte Maša: »Einbruchspuren an der Hintertür also. Dann war es doch Einbruch, und der Täter hatte keinen Schlüssel.«

»Kann sein«, kommentierte Roko, dann wanderte sein Blick wieder zur Haushälterin. »Sie kommen immer durch die Vordertür, Frau Šain?«

»Ja, jeder von uns. Die Hintertür nutzte nur Hochwürden, wenn er aus dem Garten kam, weil neben der Hintertür gleich das Bad ist. Er wollte hier nichts schmutzig machen. Hochwürden war sehr rücksichtsvoll und schätzte mein Bemühen um Sauberkeit.«

Maša blickte nachdenklich zu Roko. »Offenbar wurde der Pfarrer im Schlaf ermordet und hat den Einbrecher nicht gehört.«

»Das wundert mich nicht«, sagte Marija. »Hochwürden litt manchmal unter Schlaflosigkeit, weshalb er oft eine Schlaftablette nahm. Das weiß ich deshalb, weil ich beim Arzt das Rezept abgeholt und dann aus der Apotheke die Tabletten mitgebracht habe.«

Roko lehnte sich auf der Eckbank zurück und versuchte, eine entspannte Stimmung herzustellen, soweit dies in dieser Situation möglich war. »Nahm er diese Tabletten regelmäßig?«

»Mehr oder weniger, ja.«

»Erzählen Sie mir ein wenig über Gabrijel Jukić. Sie kannten ihn von allen am besten, nehme ich an. Wie war er als Mensch? Wie war er als Pfarrer?«

Marija atmete hörbar aus, als hätte er ihr eine unlösbare Aufgabe gestellt. Es verging eine Weile, bis sie sagte: »Es fällt mir schwer, ihn zu beschreiben.«

»Bitte, versuchen Sie es.«

»Es gab vieles, das ich an ihm schätzte, aber auch einiges, das ich nicht an ihm mochte. Hochwürden war mit Leib und Seele Pfarrer. Damit meine ich, ein wirklich guter katholischer Pfarrer, wie er sein sollte. Immer nahm er sich Zeit, wenn jemand ein Problem hatte. Er tat sein Bestes, kümmerte sich um Alte und versorgte ein paar arme Familien aus den beiden Nachbardörfern regelmäßig mit Lebensmitteln. Er lebte bescheiden, besaß nicht einmal ein Auto. Das Geld, das ihm zur Verfügung stand, investierte er zu einem großen Teil in die Kirche oder gab es den Bedürftigen. Letztes Jahr wurden die Bänke in der Kirche erneuert, obwohl manche meinten, das sei noch nicht nötig. Für sich selbst hat er aber kaum Geld ausgegeben, nur für das Nötigste.«

Roko sah sich in der Küche um und bemerkte, dass die Möbel aus Eichenholz zwar gepflegt und sauber waren, die besten Zeiten jedoch hinter sich hatten.

»Das klingt ja fast, als wäre er ein Heiliger gewesen«, meinte Maša.

Darüber dachte Marija kurz nach. »Ich weiß nicht, ob ich es so nennen würde. Das Einzige, bei dem er nicht bescheiden war, war das Essen. Hochwürden war ein Genießer und schätzte meine Kochkünste.« Sie lächelte stolz. »Jedenfalls war er als Pfarrer vorbildlich. Trotzdem war die Kirche nie voll, wie bei seinem Vorgänger Ludvig Marelić. Wie ich gehört habe, war dieser sehr beliebt. Irgendwie tat mir das für Hochwürden leid. Die älteren Dorfbewohner erzählen, dass niemand so viel Gutes für die Kirche und die Menschen getan hat wie Pfarrer Gabrijel, und trotzdem haben sie seinen verschwenderischen Vorgänger angehimmelt, nur weil er ihnen Honig ums Maul geschmiert hat. Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise.«

Roko fragte sich, wofür sie sich entschuldigte – und ob sie sich schon immer so gewählt ausgedrückt oder sich das beim Pfarrer antrainiert hatte.

»Aber wie hat dieser Vorgänger es geschafft, die Kirche vollzubekommen?«, fragte er. »In diesem kleinen Dorf mit – wie vielen Einwohnern?«

»Pažina besteht aus elf Häusern mit achtundzwanzig Einwohnern. Aber es kommen ja auch die Einwohner der beiden benachbarten Dörfer, die keine eigene Kirche haben.«

»Dann könnte es sein«, überlegte Roko laut, »dass jemand aus einem umliegenden Dorf heute Nacht hierherkam und den Mord verübt hat. Theoretisch, falls es einen Kirchgänger gab, der den Pfarrer aus irgendeinem Grund hasste.«

Marija schüttelte vehement den Kopf. »Das halte ich für ausgeschlossen.«

»Warum?«

»Weil niemand hierherkommen kann, ob zu Fuß oder mit dem Auto, ohne von den Nachbarn beobachtet zu werden.«

»Nachts steht doch niemand mehr am Fenster«, gab Roko zu bedenken.

»Aber sie hören alles«, ergänzte Marija, »außer der alten Tonka, die so gut wie taub ist.«

»Die Nachbarn würden einen Fußgänger hören?«

»Ja, weil im Dorf die beiden Hunde anschlagen würden. Meistens sind sie draußen. Außerdem würde man ein Auto hören, und zu Fuß hier heraufgehen und dann später zu Fuß flüchten? Der Weg führt direkt zur Hauptstraße, und dort hätte er das Auto parken müssen, aber wo? Es gibt keine Möglichkeit dafür. Und auf anderem Wege flüchten kann man nicht, weil Pažina von großen Karstfelsen umgeben ist. Der Mörder müsste ein Klettergenie sein.«

»Frau Šain, weshalb war Pfarrer Gabrijel nicht beliebt, wenn er doch so anständig und wohlwollend war?«