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Verschollen an der Ostsee.
Emma Klar, ehemalige Polizistin und nun Privatdetektivin in Wismar, bekommt einen scheinbar einfachen Auftrag. Eine Frau macht sich um einen alten Schulfreund Sorgen, weil er sich lange nicht gemeldet hat. Emma stellt fest, dass Ingo Beyer tatsächlich verschwunden ist. Beyer stand einmal wegen Kindesmordes vor Gericht, er wurde jedoch freigesprochen. Hat sich nun jemand an ihm gerächt? Oder plant er einen neuen Mord? Als Emma eine Leiche findet, glaubt sie, einem Serientäter auf der Spur zu sein, und bittet daher Johanna Krass vom BKA um Unterstützung ...
Ein atmosphärischer Kriminalroman – von der Autorin der Bestseller "Hafenmord“, "Bornholmer Falle“ und "Todesstrand".
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Seitenzahl: 309
Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin.
Verschollen an der Ostsee
Emma Klar, ehemalige Polizistin und nun Privatdetektivin in Wismar, bekommt einen scheinbar einfachen Auftrag. Eine Frau macht sich um einen alten Schulfreund Sorgen, weil er sich lange nicht gemeldet hat. Emma stellt fest, dass Ingo Beyer tatsächlich verschwunden ist. Beyer stand einmal wegen Kindesmordes vor Gericht, er wurde jedoch freigesprochen. Hat sich nun jemand an ihm gerächt? Oder plant er einen neuen Mord? Als Emma eine Leiche findet, glaubt sie, einem Serientäter auf der Spur zu sein, und bittet Johanna Krass vom BKA um Unterstützung.
Ein sehr atmosphärischer Kriminalroman – von der Autorin der Bestseller »Hafenmord« und »Deichmord«
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Katharina Peters
Todeswoge
Ein Ostsee-Krimi
Inhaltsübersicht
Über Katharina Peters
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Impressum
Für ihn hatte dieser eine Tag seinen Schatten nie abgelegt. Sosehr er darum gekämpft und gefleht hatte. Leben darf man nicht gegeneinander abwägen. Auch nicht in der größten angenommenen Not, im Würgegriff einer Verzweiflung, die er nicht für möglich gehalten hatte. Aber genau das hatte er getan. Zwei unschuldige Leben geopfert, nein: genommen, gegen zwei andere unschuldige Leben, die ihm nahestanden, aufgewogen die alles für ihn waren. Frau und Kind. Die große Liebe. Er hatte die beiden gerettet und war seitdem verloren in seiner Schuld, denn wie man es auch drehte und wendete: Es war und blieb für immer und ewig Teufelswerk und er ein Mörder, der aus dem Bewusstsein tiefster Ausweglosigkeit getötet hatte.
An einem klaren und frostigen Tag wachte er auf und wusste im selben Moment, was er tun musste. Er war allein zu Hause, und er wunderte sich, dass er nicht viel eher darauf gekommen war. Er beendete die Arbeit an seinem letzten Schmuckstück, einem filigranen Anhänger aus Gold, der Erebos, den Gott der Finsternis, abbildete, drehte die Heizung herunter und ging hinaus zu dem alten Apfelbaum, den er so sehr liebte. Ein starker guter Baum, der sein Gewicht tragen, der ihm Beistand leisten würde. Vielleicht. Wenn er gnädig war. Und er betete, dass die Kinderstimmen im Tod verstummen würden.
Emma war mit dem ersten Licht zu Fuß zum Holzhafen aufgebrochen. Novembernebel schlich durch die Gassen, schluckte Farben und Geräusche, verwischte die Konturen; das Möwengeschrei klang dumpf und leise, und selbst die Gerüche schienen gedämpft. Wie mein Innerstes, dachte sie.
Am Abend zuvor hatte sie Johanna ihre endgültige Entscheidung am Telefon mitgeteilt, und obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, den Entschluss nicht zu diskutieren, war es der Kollegin dann doch gelungen, sie in ein längeres Gespräch zu verwickeln, das partout kein Ende nehmen wollte.
»Ich will keine Stelle beim BKA«, hatte sie in selbstsicherem Ton erklärt. »Weder in Berlin noch in Wiesbaden oder …«
»Es gibt andere Möglichkeiten, das weißt du. Ich kann einiges bewirken, gerade jetzt.«
Hauptkommissarin Johanna Krass war nach den geklärten Mordfällen vom Salzhaff zur Leiterin der Abteilung für verdeckte Einsätze des BKA befördert worden und hatte hauptberuflich wieder in Berlin zu tun. Sie klang hochzufrieden, tatendurstig, fast euphorisch, was nicht zuletzt auch damit zu tun haben dürfte, dass sie endlich ihre verhasste Vorgesetzte losgeworden war, die sich darüber sehr wahrscheinlich ähnlich ausgelassen freute, wie Johanna lachend erzählt hatte.
»Ich weiß, das hast du schon mehrfach betont, und ich freue mich, dass es für dich so gut läuft«, entgegnete Emma.
»Das könnte es für dich auch. Immerhin haben wir es deiner Hartnäckigkeit zu verdanken, dass kein Unschuldiger sitzt.« Sie räusperte sich. »Auch wenn deine eigenmächtige und riskante Vorgehensweise … Aber lassen wir das jetzt. Vielleicht brauchst du nur etwas Bedenkzeit.«
»Ich hatte Bedenkzeit, Johanna. Und das Ergebnis ist eindeutig: Ich will nicht zurück in den Polizeiapparat.«
»Warum nicht? Du kriegst alle Freiheiten, die du für nötig hältst.«
»Das ist Quatsch.«
»Na gut – ich würde dafür sorgen, dass …«
»Nein.«
Emma hörte, dass Johanna tief durchatmete. »Du willst also tatsächlich als private Ermittlerin in Wismar bleiben? Davon kannst du kaum leben, selbst wenn du in der Rostocker Detektei aushilfst«, warf sie ein.
»Ich brauche nicht viel.«
»Das Modell war gut, als es darum ging, hochbrisante und komplizierte Fälle im OK-Bereich mit Rückendeckung und finanzieller Unterstützung des BKA voranzutreiben, aber was willst du jetzt noch dort? Hauptberuflich untreue Ehemänner oder -frauen beschatten? Geld eintreiben? Florian …«
»Hat sich anders entschieden, ich weiß«, unterbrach Emma sie schnell. Dieses Thema wollte sie auf keinen Fall mit Johanna diskutieren.
»Das war schlau.«
»Es war das Richtige für ihn.«
»Ich dachte, ihr beide …«
Emma blendete den Rest des Satzes aus, und irgendwann brach Johanna ab. Einen Moment herrschte ein unbehagliches Schweigen. Das BKA hatte Florian eine sechsmonatige Fortbildung angeboten, und die Aussichten auf ein Stellenangebot standen sehr gut für ihn. Emma hatte ihn nicht aufgehalten, und das war wohl verletzender als alles andere gewesen. Seit er weg war, hatten sie gerade zweimal telefoniert – kühl, distanziert, verunsichert. Es war vorbei, bevor es richtig begonnen hatte, und die Verblüffung über das seltsam unaufgeregte Ende war größer als der Schmerz.
»Falls du es dir doch noch anders überlegst, melde dich«, sagte Johanna schließlich.
»Mach ich.«
»Und wenn ich sonst etwas für dich tun kann oder du Hilfe brauchst, lass es mich wissen.«
»Ja. Danke.«
Johanna traute dem Frieden nicht, und Emma konnte es ihr nicht verdenken. Die intensive Zusammenarbeit der letzten Monate hatte sie einander nähergebracht, und Johanna – diese widerborstige, scharfsinnige und höchst eigenwillige Kommissarin – war wohl auf ihre ganz eigene Art besorgt, und zwar nicht nur, weil Emma ihrer Ansicht nach ihre Karriere verspielte, leichtsinnig und trotzig noch dazu.
Das Modell Wismar war eigentlich Emmas Idee gewesen, ursprünglich als Alleingang geplant und schließlich im Team mit dem BKA und der Rostocker Detektei realisiert. Getarnt als private Ermittlerin und unter neuer Identität, hatten sie Bruno Teith aufgestöbert, einen der miesesten Kriminellen, die je während ihrer Laufbahn beim LKA Dresden ihren Weg gekreuzt hatten und in dessen Gewalt sie sich eine Nacht befunden hatte. Diese Stunden hatten alles verändert: den Blick aufs Leben und das Wissen um Angst und Schmerz in der Nähe des Todes. Emma hatte sich befreien und fliehen können. Das lag inzwischen zweieinhalb Jahre zurück, aber Zeit spielte in dem Zusammenhang nicht die geringste Rolle. Oft hatte sie das untrügliche Gefühl, dass damals etwas in Gang gesetzt worden war, was sie nicht mehr aufhalten konnte, eine Art Wandlung, die sie manchmal gebannt, andere Male erschüttert und angstvoll verfolgte.
Teith war schließlich von einem seiner eigenen Leute ermordet worden; seine Gruppe hatte sich aufgelöst, die wichtigsten Leute saßen im Gefängnis, und das Team hatte kurz nach der erfolgreichen Zusammenarbeit im Auftrag des BKA einen zweiten Fall bearbeitet. Doch Ruhe, geschweige denn Frieden hatte Emma höchstens zeitweise gefunden. Stattdessen war ihr klargeworden, dass ein Teil von ihr immer auf der Suche sein würde – auf der Suche nach dem Bösen. Um es zu stellen, einzukreisen und den Kampf aufzunehmen. Einen Kampf, der die Möglichkeit zu töten ausdrücklich einschloss. Das war die tiefere Wahrheit.
Den Mörder vom Salzhaff hatte sie auf eigene Faust verfolgt, als die Polizei und ihre Mitstreiter den Fall längst zu den Akten gelegt hatten. Sie war das größtmögliche Risiko eingegangen und hatte ihn getötet. Zu ihrer Entlastung konnte man anführen, dass sie in einem Zweikampf auf Leben und Tod keine andere Möglichkeit gehabt hatte. Aber die Wahrheit war auch, dass sie zu keinem einzigen Zeitpunkt eine andere Wahl gewollt hätte. Sie hatte den Mann ertränkt, und für Momente hatte sie in diesem Augenblick auch Teith getötet.
Kein Wunder, dass ich mich so stark zu Christoph hingezogen fühle, dachte sie auf dem Nachhauseweg, als sie Brötchen bei ihrem Lieblingsbäcker kaufte. Er hat auch getötet und es nicht bereut, und er ist der Einzige, der wirklich weiß, wie es in mir aussieht. Vor ihm muss ich mich weder verstecken noch schämen.
Christoph Klausen, fünfzig Jahre alt, Exhäftling sowie ehemaliger Bundeswehrsoldat und -ausbilder, war aufgrund verschiedener Verknüpfungen zu Beginn ihrer letzten Ermittlungen in den Fokus geraten. Und den hatte er nie wieder verlassen, selbst als klargeworden war, dass er mit den Morden nichts zu tun hatte. Der Nahkampfmann, der sich jeder Beschattung entzogen, den Spieß umgedreht und doch wertvolle Hinweise geliefert hatte. Zwanzig Jahre älter als sie, kantig, wortkarg, geheimnisvoll. Der einsame Wolf.
Sie ließ sich Zeit mit dem Frühstück, überflog nebenbei die Nachrichten auf dem Laptop; später loggte sie sich in ihr Bankkonto ein. Es stimmte, sie brauchte nicht viel, aber die Miete musste bezahlt werden, und ohne Ermittlungsaufträge vom BKA war ihre Einnahmesituation alles andere als rosig. In die Rostocker Detektei war nach dem Ausscheiden von Florian inzwischen ein anderer Partner eingestiegen. Nicht auszuschließen, dass es hin und wieder dort mal einen Job für sie gab, aber als regelmäßige Einnahmequelle durfte sie das keineswegs betrachten. Ihre Reserven waren beruhigend, aber nicht üppig und würden bald aufgebraucht sein. Vor einigen Jahren, kurz bevor ihr Leben aus allen Fugen geriet, hatte sie mal aus reiner Neugier bei einer Online-Pokerrunde mitgemacht und an einem Wochenende fünfhundert Euro gewonnen. Ein paar Monate später, als sie dem LKA den Rücken gekehrt hatte, saß sie in unregelmäßigen Abständen am virtuellen Pokertisch. Es lenkte ab und beschäftigte ihren unruhigen Geist. Ihr Talent war nicht so groß, dass es zum Problem hätte werden können, aber sie verfügte über ein gewisses Spieltalent und hielt sich stets an ihre Regeln. Sie stieg aus, sobald sie fünfhundert gewonnen oder aber zweihundert verloren hatte. Im Schnitt hatte sie über einige Monate einen ansehnlichen Gewinn erspielt, eine Art Nebeneinkommen, von dem nur ein ehemaliger Kollege in Dresden wusste.
Patrick gehörte nach einer Schussverletzung vor fünf Jahren, die ihm eine steife Schulter beschert hatte, zum Rechercheteam des LKA Sachsen. Er wurde vorzugsweise mit Sonderaufgaben betraut und häufig zu brisanten Ermittlungen mit Nachrichtensperre hinzugezogen, darüber hinaus war er immer zur Stelle, wenn Emma ihn brauchte.
Vielleicht sollte ich mein Talent wieder aufleben lassen, dachte sie, während sie von ihrer Dachwohnung nach unten ins Büro ging und pünktlich die Ladentür aufschloss. Es würde keine Rolle spielen, ob sie den Laden um neun oder um zwölf aufsperrte, die Kundschaft drängelte sich nicht auf dem Bürgersteig, aber das war zweitrangig. Sie brauchte einen geregelten Tagesablauf, gerade jetzt.
Bis zum Mittag klingelte dreimal das Telefon. Eine – der Stimme nach zu urteilen – sehr junge Frau, die ihren Namen nicht nannte, wollte wissen, wie teuer eine vierundzwanzigstündige Beschattung war, ein zweiter Anrufer legte einfach wieder auf, und schließlich meldete sich eine forsche weibliche Stimme. »Ich würde gerne einen Gesprächstermin vereinbaren, nach Möglichkeit heute noch, da ich geschäftlich in Wismar zu tun habe.«
»Wann passt es Ihnen, Frau …?«
»Eichborn, Lilo Eichborn. In zehn Minuten.«
»Das könnte klappen.« Emma lächelte. »Bis gleich, Frau Eichborn.«
Emma schätzte das Alter der Frau, die wenig später ihr Büro betrat, auf Mitte dreißig. Lilo Eichborn war elegant und teuer gekleidet, etwas mehr als dezent geschminkt und stammte aus Hamburg. Sie sah sich einen Moment mit prüfenden Blicken um, bevor sie sich setzte und Emma in Augenschein nahm. Sie hat ein delikates Problem, dachte Emma, und zieht es vor, niemanden in ihrer Heimatstadt zu beauftragen. Delikate Probleme von Leuten mit Geld – und so wirkte sie nun mal – sprachen sich schnell herum.
»Es geht um einen alten Schulfreund – Ingo Beyer«, erklärte Eichborn, nachdem sie Platz genommen hatte, und öffnete den Verschluss ihrer Handtasche. Nach kurzem Zögern schloss sie ihn wieder. »Seit Anfang des Jahres wohnt er in Grevesmühlen, also nicht weit von hier, wie ich Ihnen wohl kaum zu sagen brauche.«
Emma nickte. »Ungefähr zwanzig Kilometer westlich von Wismar.«
»Er ist verschwunden.« Sie hob mit unbestimmter Geste die Hände und ließ sie wieder sinken. Einen Moment war ihr Blick voller Staunen. »Wir hatten in den letzten Jahren nur noch unregelmäßig Kontakt, aber es gibt einen Termin, den Ingo nie vergaß – meinen Geburtstag. Das klingt pathetisch, vielleicht sogar albern, doch so war es, und zwar seit ungefähr zwanzig Jahren. In diesem Jahr meldete er sich allerdings nicht, auch Tage später ließ er nichts von sich hören.«
Emma setzte eine interessierte Miene auf.
»Schließlich habe ich ihn zu erreichen versucht – Festnetz, Handy, Mail. Ohne Erfolg.« Sie schlug ein Bein über das andere. »Das Ganze hat mir keine Ruhe gelassen, aber ich war auf einer längeren Geschäftsreise und konnte nicht spontan alles stehen und liegen lassen und unverzüglich nach Grevesmühlen fahren.«
»Haben Sie sich an die Polizei gewandt?«
Eichborn verzog den Mund. »Das habe ich, ja. Ein Beamter erklärte mir, dass der Vogel wohl ausgeflogen sei.«
Emma runzelte die Stirn. »Ist das ein Zitat?«
»Nun, so ungefähr drückte er sich aus. Irgendjemand aus Ingos Bekanntenkreis hatte die Polizei alarmiert, weil er Termine verpasst hatte und nicht erreichbar war. Man stellte dann fest, dass er wohl verreist sei.«
»Wann war das?«
»Ende Juni.«
Emma runzelte die Stirn. Eichborn erwiderte ihren Blick und hob kurz die Hände. »Wie gesagt, wir hatten keinen regelmäßigen Kontakt, und mein Geburtstag war erst im letzten Monat. Demnach bestand vorher keine Veranlassung für mich, stutzig zu werden. Ich halte es jedoch für ausgeschlossen, dass er sang- und klanglos verreist ist, ohne sich noch einmal zu melden und auf keine Anfrage zu reagieren. Das passt einfach nicht zu ihm.«
»Haben Sie das dem Beamten erzählt?«
»Ja, natürlich. Es überzeugte ihn allerdings nicht. Es gab keinerlei Hinweise auf eine Straftat, und Herr Beyer könne frei entscheiden, wo er sich wie lange aufhalte und mit wem er über Reisepläne spreche.«
Emma nickte. »Das ist sachlich richtig.«
»Mag sein. Ich habe dann jedoch beschlossen, mich auf den Weg nach Grevesmühlen zu machen. Ingos Haus wirkt verlassen und vernachlässigt, das Unkraut wächst über den Zaun.«
Emma lehnte sich zurück.
»Ingo würde so etwas nicht tun – einfach abhauen und sein Haus verkommen lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte wissen, was passiert ist, und da mir die Polizei nicht weiterhelfen kann, dürfte ich bei einer privaten Ermittlerin genau richtig sein.«
»Sind Sie. Können Sie mir ein bisschen was zu Ihrem Schulfreund erzählen?«
»Ingo hat als freiberuflicher Finanz- und Vermögensberater gearbeitet, war einige Jahre im Ausland und davor in Hamburg. Alles andere werde ich Ihnen per Mail zukommen lassen, wenn Sie den Fall übernehmen. Haben Sie Interesse?«
»Ja.«
»Wie lange brauchen Sie für die ersten Recherchen?«
»Zwei, drei Tage«, erklärte Emma.
»Konditionen?«
»Tagessatz vierhundert plus Spesen, die Hälfte im Voraus.«
Eichborn zuckte mit keiner Wimper.
Emmas Zugangsberechtigung für verschiedene BKA-Datenbanken war nicht mehr gültig. Einen Moment lang hatte sie gehofft, dass sie zumindest noch ein paar Tage auf diese höchst bequeme Art recherchieren könnte. Eine unsinnige Hoffnung, wie sich herausstellte. Von nun an musste sie Johanna direkt ansprechen oder Patrick fragen, wenn sie, schnell und gründlich recherchiert, an fundierte Informationen gelangen wollte. Sie entschied sich, den Exkollegen anzurufen, bevor sie sich auf den Weg nach Grevesmühlen machte. Sie konnte nicht ausschließen, dass der Beamte in der dortigen Dienststelle nicht bereit war, auch nur ein einziges Wort über Ingo Beyer zu verlieren. Das musste er nämlich nicht, mehr noch: Er durfte es gar nicht. Unter Umständen ließ er sich jedoch in ein Gespräch verwickeln, sobald Emma ihn mit internen Kenntnissen konfrontierte.
Sie war nach wie vor davon überzeugt, dass die Geschichte mit dem Schulfreund, der sich zuverlässig einmal im Jahr meldete, zumindest geschönt, wenn nicht eine Schutzbehauptung war. Womöglich war er ihr Lover gewesen, und Eichborn wollte unbedingt wissen, warum er alles stehen und liegen gelassen hatte und verschwunden war. Doch wenn die angegebenen Rahmendaten stimmten und der Mann tatsächlich seit Juni in der Versenkung verschwunden war, konnte alles Mögliche passiert sein.
Polizeihauptkommissar Norbert Seifert hatte dem Drängen der besorgten Chorleiterin schließlich nachgegeben, und das lag nicht nur daran, dass er vor Urzeiten selbst mal im Chor gesungen hatte und Linda persönlich kannte. Ihre Sorge war echt gewesen und irgendwie rührend. In Zeiten, in denen in Großstädten erst die Polizei benachrichtigt wurde, wenn es in der Nachbarwohnung nach Verwesung roch, war ihre Fürsorge etwas Besonderes – oder auch: das eigentlich menschlich Normale.
»Der Mann ist wie vom Erdboden verschluckt«, hatte sie Anfang Juni betont. »In seiner Badmintongruppe wundert man sich auch schon. Er ist zu einem Turnier, bei dem er letzte Woche gemeldet war, einfach nicht angetreten, und das ist nicht seine Art.«
»Und woher weißt du das so genau?«
»Ganz einfach – ich habe nachgehakt. Ingo ist sehr zuverlässig, er hätte ganz sicher zumindest abgesagt. Das gilt sowohl für den Sport als auch für den Chor.«
»Verstehe.«
»Lass uns doch mal nachsehen – bitte! Sicher ist sicher.«
Das hatten sie gemeinsam getan, nachdem er noch einen Moment vor sich hin gebrummelt hatte, dass er in Teufels Küche käme und so weiter. Die gleiche Litanei hatte er fast wortgetreu noch einmal vom Stapel gelassen, bevor er die Haustür dann doch öffnete, nachdem Linda keine Ruhe gegeben und seine Bedenken kopfschüttelnd übergangen hatte.
Die Luft war abgestanden, ansonsten: keine Spur von Beyer, kein Hinweis auf ein Verbrechen oder andere Auffälligkeiten. Gemeinsam waren sie durch die Räume gegangen. Der Bungalow wirkte aufgeräumt und verlassen, selbst im Schuppen am Ende des Grundstücks war alles ordentlich. Nach Seiferts Einschätzung war er schlicht verreist, und zwar per Bahn oder mit dem Flugzeug, denn sein Wagen stand im als Garage genutzten Teil des Schuppens.
Linda wirkte konsterniert und zutiefst unzufrieden, vielleicht auch nur verunsichert.
»Mehr kann ich nun wirklich nicht tun«, hatte Seifert betont. »Der Mann ist plötzlich verreist und hat sich nicht bei euch abgemeldet. So was soll vorkommen. Und hier bei ihm zu Hause sieht alles völlig normal aus. Wenn er jetzt um die Ecke käme, hätte ich ein echtes Problem, unser Eindringen zu rechtfertigen.«
Damit war die Sache für ihn erledigt, doch Linda meldete sich einige Wochen später erneut auf der Wache und beharrte, dass etwas passiert war. Erneut ließ er sich erweichen und führte nun höchstpersönlich einen gründlichen Hintergrundcheck zu Ingo Beyer durch, dessen Ergebnis Linda dann ziemlich schockierte und auch ihn nicht kaltließ. Der Mann war fünf Jahre zuvor in Hamburg des zweifachen Kindsmordes angeklagt gewesen, und sein Freispruch hatte einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Beyer war dann für einige Jahre abgetaucht, wie es schien, denn eine deutsche Meldeadresse war nicht verfügbar, und hatte sich schließlich Anfang des Jahres als freiberuflicher Finanzberater in Grevesmühlen niedergelassen. Wollte man so einen als Nachbarn haben? Wenig später war in Wismar ein Kind verschwunden. Nach einem anonymen Hinweis war Beyer von einem Kollegen aus der Hansestadt überprüft worden – ohne dass sich ein Verdacht erhärten ließ.
Für Seifert stand jedoch fest, dass der Mann alles andere als sauber war und sich schlichtweg aus dem Staub gemacht hatte, weil es in irgendeiner Weise eng für ihn hätte werden können. Dafür sprach auch, dass er per Handy nicht mehr erreichbar war. Wenigstens war das Thema nun endgültig vom Tisch; davon zumindest ging er so lange aus, bis sich Monate später zunächst eine Frau aus Hamburg nach Beyer erkundigte und wenig später eine Privatdetektivin aus Wismar vor der Tür stand.
»Emma Klar«, stellte sie sich vor. Ihr Händedruck war zupackend und erstaunlich fest für so eine schlanke Frau, und ihr Blick wirkte sehr direkt.
Seifert hatte zum ersten Mal in seiner Laufbahn mit einer privaten Ermittlerin zu tun, und er war gespannt, ob und wie es ihr gelingen würde, ihn aus der Reserve zu locken. Ihr feines Lächeln war jedenfalls nicht der schlechteste Versuch.
»Sie wissen, dass ich Ihnen nichts erzählen darf«, erklärte er freundlich, aber bestimmt und lächelte zurück.
»Natürlich nicht. Aber vielleicht kann ich Ihnen ja ein bisschen was erzählen – sofern Ermittlungsbedarf von offizieller Seite besteht und Sie interessiert sind.«
Er sah sie abwartend an. Er war davon überzeugt, dass sie längst darüber informiert war, dass es kein Ermittlungsverfahren gab, und sie sich ein bisschen mit ihrem Hintergrundwissen brüsten wollte.
»Oder auch nur ein allgemeines Interesse«, fuhr sie fort. »Ist ja schon merkwürdig, wenn ein Typ aus der Nachbarschaft einfach so verschwindet, oder?«
Seifert nickte langsam und wies mit einer knappen Handbewegung auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Eine alte Schulfreundin von Beyer sucht nach ihm, sie ist meine Auftraggeberin und hat schon mit Ihnen gesprochen«, erklärte die Detektivin. »Frau Eichborn ist davon überzeugt, dass etwas passiert ist. Darüber hinaus scheint sie ja nicht die Einzige zu sein, die sich Sorgen macht oder zumindest gemacht hat, wie sie Ihren Hinweisen entnehmen konnte.«
Er hob das Kinn.
»Andererseits frage ich mich natürlich, ob der Mann nicht einen sehr guten Grund hatte, unterzutauchen.«
Seifert kniff die Augen zusammen.
»Er war ja schon mal ein paar Jahre in der Versenkung verschwunden. Dieser Prozess in Hamburg wird ihm ewig nachhängen, oder?«
»Sie sind gut informiert.«
»Das ist mein Job.« Ihr Lächeln bekam eine übermütige Note. »Und dann ist da ja noch die Sache mit dem vermissten Mädchen aus Wismar. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, wurde Beyer überprüft …«
»Ja, und es fanden sich keine Überschneidungen«, warf er rasch ein. »Falls es das ist, was Sie unbedingt wissen wollen.«
»Sie haben ihn durchgecheckt?«
»Grevesmühlen ist ein kleines, friedliches Städtchen, man kennt sich, und wenn jemand beunruhigt ist, forscht man auch mal nach, ohne dass ein offizieller Beschluss vorliegt«, entgegnete Seifert ausweichend.
»Kann ich gut nachvollziehen.«
»Dann sind wir uns ja einig.«
»Und ob. Haben Sie sich im Haus umgesehen?«
»Frau Klar, ich …«
»Natürlich haben Sie das getan«, fuhr die Detektivin augenzwinkernd fort. »Er dürfte sich aus dem Staub gemacht haben, oder?«
Seifert beugte sich über den Tisch vor. »Es gibt keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen, das dürfen Sie Ihrer Auftraggeberin gerne ausrichten. Ich schätze, der Mann ist verreist, für längere Zeit.« Er musterte sie einen Moment schweigend. »Lassen Sie mir Ihre Visitenkarte hier?«
»Gerne.«
»Vielleicht meldet sich jemand bei Ihnen, der Beyer näher kennengelernt hat und mehr erzählen kann, als ich es darf.«
»Das wäre hilfreich, danke.«
Die Detektivin lächelte erneut und stand auf. Sie zögerte einen Moment, dann verabschiedete sie sich. Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, griff Seifert zum Telefon und rief Linda an. »Du wirst es nicht glauben, eine Privatdetektivin sucht nach Beyer. Willst du dich mit ihr in Verbindung setzen?«
Emma parkte vor dem verlassenen Bungalow. Patrick hatte in kurzer Zeit bemerkenswert viele Informationen zu Beyer beziehungsweise zu dem Fall zusammengetragen, der vor fünf Jahren die Hansestadt in Aufruhr versetzt hatte. Brisante Informationen, die dem anfänglich schlicht wirkenden Suchauftrag möglicherweise eine völlig andere Richtung gaben.
Zwei Mädchen im Alter von acht und zehn Jahren waren im Abstand weniger Tage aus Hamburg-Altona verschwunden. Ihre Leichen wurden eine Woche später in der Nähe des Flugplatzes Uetersen, zirka dreißig Kilometer nordwestlich von Hamburg, in einem Container entdeckt. Beide waren erdrosselt worden; ein Missbrauch konnte nicht ausgeschlossen werden, war aber nicht zweifelsfrei nachweisbar. Beyer war der Vermögensberater der Eltern gewesen, kannte beide Familien sehr gut und geriet aufgrund von belastenden Zeugenaussagen in den Fokus der Ermittler. Bei Vernehmungen hatte er sich in Widersprüche verstrickt, und sein Alibi war überaus dünn, doch im Prozess wirkten die Zeugen der Anklage plötzlich seltsam unaufrichtig, zudem war Beweismaterial verlorengegangen, und der DNA-Abgleich war nicht eindeutig. Den Rest erledigten dann seine Anwälte, die hervorragende Arbeit leisteten und dafür sorgten, dass die Staatsanwaltschaft am Ende als schlampig agierende Behörde dastand, in der jeder sein eigenes Süppchen gekocht hatte. Die meisten Prozessbeteiligten hatten zum Auftakt der Verhandlungen keine Sekunde an Beyers Schuld und seiner Verurteilung gezweifelt, aber dem Richter war am Ende gar nichts anderes übriggeblieben, als ihn freizusprechen. Der Fall war dann zwar weiterverfolgt, aber nie aufgeklärt worden, was für die Ermittlungsbehörde ein Desaster war.
Emma war dezent angesäuert, dass Lilo Eichborn die Geschichte komplett ausgeklammert hatte, worüber sie in absehbarer Zeit einige offene Worte mit ihr sprechen würde. Oder wie Johanna es ausdrücken würde: »Verarschen kann ich mich alleine.« Die Frage war, wie viel die Hamburger Lady noch verschwiegen hatte und was sie sich davon versprach.
Du bist nicht mehr als LKA-Ermittlerin unterwegs, ermahnte Emma sich selbst. Eichborn war keine Zeugin, die ihr Rede und Antwort stehen musste, sondern hatte eine Dienstleistung in Auftrag gegeben, für die sie gut bezahlte. Letztlich war es ihre Entscheidung, ob sie Hintergrundmaterial lieferte oder eben nicht.
»Deine Auftraggeberin gehört übrigens zum gehobenen Hamburger Geldadel«, hatte Patrick weiter ausgeführt.
»Ja, das passt.«
»Die Familie führt in dritter Generation mehrere Juweliergeschäfte, nicht nur in Hamburg. Sie ist geschieden.«
»Und wie sieht es mit Beyers Familie aus? Die Ausführungen von Eichborn, die sie mir per Mail zur Verfügung stellte, sind auch an der Stelle ein bisschen dünn. Ingo und sie kannten sich seit der Schulzeit, aber Leute wie sie gehen kaum auf eine normale Schule. Demnach dürfte er aus einem ähnlichen Umfeld stammen.«
»Anzunehmen. Gib mir ein bisschen Zeit, um da nachzuhaken. Dann kann ich dir Genaueres sagen.«
»Klar doch. Danke dir. Wie sieht es eigentlich mit Einzelheiten zu diesem Prozess aus?«
»Ich fürchte, da musst du andere Wege gehen. An diese Details komme ich nicht so ohne weiteres heran.«
»Okay.«
Emma legte das Handy beiseite und sah grübelnd zum Fenster hinaus. Beyer hat nur das Nötigste gepackt und alles andere zurückgelassen, überlegte sie. Jemand hat was über ihn ausgegraben, und er hielt es für angebracht, sofort abzuhauen. Durchaus denkbar oder aber … Das Handy klingelte – unbekannter Anrufer.
Sie stellte die Verbindung her. »Emma Klar, private Ermittlerin.«
Leises Räuspern. »Warum jetzt?« Der Stimme nach zu urteilen, handelte es sich um eine jüngere Frau. »Hat ihn all die Monate wirklich niemand vermisst?«
»Verraten Sie mir Ihren Namen?«
»Linda Brach. Polizeihauptkommissar Seifert hat mir Ihre Nummer gegeben. Ich bin Leiterin des Chores, in dem Ingo gesungen hat. Er ist im Juni verschwunden und erst jetzt …«
»Eine Freundin aus Schulzeiten, der er zuverlässig seit zwei Jahrzehnten jedes Jahr zum Geburtstag gratulierte, hat mich beauftragt, der Sache nachzugehen, nachdem Beyer sich in diesem Jahr nicht meldete und nicht erreichbar war«, warf Emma ein. »Sie hat leider erst im Oktober Geburtstag, sonst wäre wohl schon deutlich früher etwas in Bewegung geraten.«
»Ach so. Ich verstehe.«
»Frau Brach, was halten Sie von einem Treffen?«, schlug Emma vor. »Ich bin zurzeit in Grevesmühlen.«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.«
»Sie waren die Erste, die sich über sein Verschwinden wunderte und nach relativ kurzer Zeit die Initiative ergriff …«
»Er hat im Chor gesungen und Badminton gespielt. Ansonsten lebte er sehr zurückgezogen. Er hat ja zu Hause gearbeitet. Mehr weiß ich doch gar nicht.«
»Ich lade Sie zu einem Kaffee ein.«
»Und was versprechen Sie sich davon?«
Sie weiß von der Anklage, der Dienststellenleiter dürfte ihr die Ergebnisse seiner Überprüfung gesteckt haben, überlegte Emma. Und nun will sie nichts mehr mit Beyer zu tun haben, nicht mehr als unbedingt nötig. »Er ist damals freigesprochen worden«, erklärte sie nach kurzem Überlegen. »Vielleicht zu Unrecht, vielleicht zu Recht. Das weiß außer ihm letztlich niemand.«
Die Chorleiterin schwieg. Ob sie der Vorstoß beeindruckte, war schwer einzuschätzen, aber Emma hoffte, dass sie die Neugier davon abhielt, das Gespräch einfach zu beenden.
»Und Sie hätten mich kaum angerufen, wenn Sie das Ganze nicht doch noch irgendwie beschäftigen würde, oder?«
»Da ist wohl was dran«, entgegnete Linda Brach schließlich. »Außerdem hatte ich noch nie etwas mit einer Privatdetektivin zu tun.«
»Dann wird es höchste Zeit, finde ich.«
»In der Wismarschen Straße gibt es ein kleines Café. In einer halben Stunde könnte ich dort sein. Ich sitze immer am Fenster neben dem Tresen.«
Als sie in dem Lokal eintraf, bestellte Brach gerade Cappuccino und Kuchen, Emma entschied sich für einen Tee. Linda Brach war klein und etwas füllig, sie hatte feuerrotes Haar und ein rundes Gesicht voller Sommersprossen. Emma schätzte sie auf dreißig und war verblüfft. Eine Chorleiterin hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt. Einen Moment lang war sie seltsam enttäuscht, was aber bei näherer Betrachtung ziemlich albern war. Linda Brach war Musiklehrerin an einer Grundschule und leitete den Grevesmühlener Freizeitchor seit fast fünf Jahren, wie sie mit einem Anflug von Stolz berichtete.
»Und wie haben Sie Beyer kennengelernt?«
Linda Brach zwinkerte und griff nach ihrer Tasse. »Ganz einfach: Wir haben per Annonce neue Tenöre gesucht, und er hat vorgesungen. Seine Stimme passt zu unserem Repertoire und war ausbaufähig, fand ich.« Sie nickte und zwinkerte erneut. »Er war immer pünktlich und zuverlässig und hat die Proben sehr ernst genommen.«
»Haben Sie ihn näher kennengelernt?«
Brach runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Nun – war es üblich, nach den Proben oder nach einem Auftritt mal etwas trinken zu gehen und ein bisschen zu reden, über die Chorbelange hinaus?«
»Ach so – ja, klar.« Linda Brach lächelte. »Viel erzählt hat er allerdings nicht von sich. Manchmal wurde er nach Finanztipps gefragt, dann blühte er so richtig auf. Der hat richtig was auf dem Kasten, soweit ich das beurteilen kann.«
Emma erwiderte das Lächeln. »Sie mögen ihn.«
Brachs Lächeln huschte eilig davon. Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Wenn das mit den Kindern stimmt …« Sie schüttelte den Kopf und zog kurz die Schultern hoch. »Vorstellen kann ich mir das allerdings überhaupt nicht, aber das ist wohl kein schlagendes Argument.«
»Nein«, stimmte Emma zu. »Hinter einem sanften Gesicht kann sich ein mieser Killer verbergen und umgekehrt natürlich.«
»Das Gericht hat ihn freigesprochen«, betonte Brach. Ihre Stimme klang, als müsste sie sich selbst überzeugen.
»Ja. Die Beweislage war zu dünn. Aber wie ich schon am Telefon sagte – wir können nicht beurteilen, was geschehen ist.«
Die Chorleiterin nickte eifrig, dann hielt sie inne. »Glauben Sie wirklich, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, weil ihn irgendjemand erkannt hat und er keine Lust auf Spießrutenlaufen in einer Kleinstadt hatte?«
»Spießrutenlaufen kann sehr unerfreulich sein. Es klingt jedoch, als würden Sie an der Variante zweifeln.«
»Na ja – wenn es so wäre, warum lässt er dann sein Haus verrotten? Nicht mal den Wagen hat er mitgenommen, und an dem hat er ziemlich gehangen. Er könnte sich in eine andere Stadt abgesetzt haben oder sogar ins Ausland, aber was hindert ihn daran, sein Eigentum zu verkaufen oder verkaufen zu lassen?«, bemerkte Linda Brach. »Ingo ist Vermögensberater, Finanzfachmann – so einer lässt doch sein Geld, sein Eigentum nicht komplett den Bach hinuntergehen.«
Sie kennt ihn besser, als sie zugibt, dachte Emma. Sie weiß sogar, dass er sein Auto zurückgelassen hat – Kommissar Seifert dürfte ausführlich geplaudert haben. »Ein interessanter Einwand, aber womöglich hat er ja inzwischen jemanden beauftragt, sich um den Verkauf zu kümmern. Solche Geschäfte werden ja nicht unbedingt von heute auf morgen abgewickelt.«
Brach schüttelte den Kopf. »Die Immobilie taucht auf keinem Verkaufsportal auf.« Sie lächelte verlegen. »Ich schaue hin und wieder mal nach, nur so …«
Nur so. Emma trank einen Schluck Tee und ließ die Chorleiterin nicht aus den Augen.
»Jedenfalls ist das alles ziemlich merkwürdig.«
»Ich stimme Ihnen zu.«
Linda Brach schob ihren Kuchenteller beiseite. »Was ist, wenn …«
»Ja?«
Sie atmete tief durch. »Vielleicht hat sich jemand an ihm gerächt.«
»Jemand?«
»Ich denke, Sie wissen, worauf ich anspiele.« Für einen winzigen Augenblick wirkte sie ungeduldig.
»Durchaus. Aber es gibt keine Hinweise auf ein Verbrechen, wie mir auf der Polizeidienststelle versichert wurde«, wandte Emma ein. Auch wenn das gar nichts heißen muss, dachte sie.
»Das kann alles Mögliche bedeuten, oder?«
Emma hielt ihren Blick fest. »Ist Ihnen je irgendetwas aufgefallen oder merkwürdig vorgekommen? Hat Beyer hin und wieder nervös gewirkt?«
»Jeder ist doch mal nervös.« Linda Brach schüttelte den Kopf und schloss kurz die Augen. »Ich bin ratlos, um ehrlich zu sein.« Sie hob den Blick. »Und ich bin gespannt, wie Sie vorgehen werden, um der Sache auf den Grund zu gehen.«
»Nun, das Gespräch mit Ihnen ist ein erster Versuch, die Lage zu sondieren. Viel mehr kann ich im Moment gar nicht tun. Falls Ihnen noch etwas einfällt, lassen Sie es mich bitte wissen.«
»Natürlich.«
»Würden Sie mir eine Liste der Chormitglieder zur Verfügung stellen?«
Brach zögerte einen Moment. »Na schön. Ich schicke Sie Ihnen aufs Handy.«
»Danke.« Macht nichts, wenn es schnell geht, schob sie in Gedanken hinterher. Wenige Minuten später beendeten sie die Unterredung.
Linda Brach wollte noch Kuchen für ihren Mann kaufen. Emma verließ das Café als Erste und ging mit raschen Schritten zu ihrem Wagen; sie wartete, bis die Chorleiterin zur Tür heraustrat. Man sollte die Sache mit dem Bauchgefühl nicht übertreiben, aber Emma wurde den Eindruck nicht los, dass die Frau Beyer nicht nur deutlich besser kannte, sondern keineswegs mit offenen Karten spielte.
Brach fuhr auf direktem Weg zu sich nach Hause und parkte in der Auffahrt. Emma war ihr in einigem Abstand gefolgt. Das Garagentor war geöffnet. Ein Mann in blauen Latzhosen sah Brach entgegen. Er rief ihr etwas zu, als sie ausstieg und nach dem Kuchenpaket angelte. Sie verschloss den Wagen und eilte zu ihm. Sekunden später rollte das Garagentor mit leisem Summen herunter.
Linda Brach hatte es offenbar nicht eilig, die Liste der Chormitglieder herauszurücken. Emma kaute einen Moment auf dem Gedanken herum, sie daran zu erinnern, kaum dass sie zu Hause eingetroffen war, entschied sich dann jedoch dagegen. Ich könnte Christoph anrufen, dachte sie etwas später, und zum Abendessen einladen; dabei könnten sie ein wenig über den Fall reden, ein paar Blicke tauschen, schweigen und überhaupt … Sie schob die Idee rasch wieder beiseite, aß schließlich vor dem Fernseher und informierte sich später auf einer knallbunten Website, für die Brach persönlich verantwortlich zeichnete, über den Chor und seine Mitglieder. Zwei Dutzend Männer und Frauen zwischen zwanzig und schätzungsweise gut sechzig sowie das bunte Chorleben der Gruppe wurden dort vorgestellt.
Linda Brach war als künstlerische Leiterin und Dirigentin tätig, sie hatte die Texte der Homepage verfasst und einen Großteil der Fotos geschossen. Interessanterweise war Beyer nirgendwo explizit erwähnt und tauchte lediglich auf einem Gruppenfoto auf, das bei einem Auftritt zur Osterzeit in Wismar entstanden war. Sehr wahrscheinlich hatte er darauf bestanden, im Hintergrund zu bleiben.
Emma machte einige Telefonnummern ausfindig und sprach mit drei, vier Chormitgliedern, ohne dass dabei allzu viel Neues herauskam. Beyer wurde als zurückhaltend und zuverlässig beschrieben, er war sympathisch, und niemand konnte sich erklären, was geschehen war. Eine jüngere Frau, die Altstimme, wie sie im Nebensatz erklärte, erwähnte beiläufig, dass Linda ihn unter ihre Fittiche genommen hatte, so wie sie alle unter ihre Fittiche nahm. Auf Nachfrage meinte sie in lapidarem Ton: »Linda geht grundsätzlich davon aus, dass ohne sie nichts läuft, im Job nicht und im Chor schon mal gar nicht. Sie ist eine Bestimmerin«, fügte sie noch hinzu, wollte aber nicht zitiert werden.
Emma wusste sofort, was sie meinte. Ihre eigene Mutter passte sehr gut in diese Kategorie; Menschen, die stets alle Fäden in der Hand halten mussten, weil sie davon ausgingen, dass ansonsten alles im Chaos versank. Aber im Grunde ging es vornehmlich darum, die Geschicke zu lenken, Macht auszuüben und darüber hinwegzutäuschen, dass das Leben manchmal verdammt unberechenbar war. Das durfte man natürlich niemals sagen, schon gar nicht laut. Emma hatte sich mit Beginn ihrer Polizeilaufbahn von ihrem Elternhaus distanziert; lediglich der Großvater stand ihr noch nahe, und manchmal war sie selbst verblüfft, dass ihre Eltern eine derart untergeordnete Rolle in ihrem Leben spielten – schon immer gespielt hatten. Trotzdem dachte sie kaum über die Hintergründe nach. Manchmal bestand die einzige familiäre Bindung in einem gemeinsamen genetischen Code. Ende.
Am späteren Abend schrieb sie eine E-Mail an den Trainer der Badmintongruppe, der sich fast umgehend telefonisch bei ihr zurückmeldete. »Nett, etwas introvertiert, ganz gut in Form, der Ingo. Der könnte bei entsprechendem Training durchaus was reißen. Viel mehr kann ich aber kaum über ihn sagen.«
»Was haben Sie gedacht, als er einfach nicht mehr zum Training kam und sich schließlich herumgesprochen hatte, dass er verschwunden ist?«, fragte Emma.
»Ich habe gedacht, dass es um Geld geht«, antwortete der Trainer, ohne zu zögern.
»Ach?«
»Der hat mit größeren Geldbeträgen jongliert, das war zumindest mein Eindruck. Da kann ja auch mal was schiefgehen.«
»Im Sinne einer falschen Beratung?«
»Nicht auszuschließen, denke ich.«
»Kennen Sie vielleicht jemanden, der Geld verloren hat, weil er sich auf Beyer verließ?«
»Nein, das nicht, und herumgeprahlt hat er mit seinem Job auch nicht, aber er wirkte irgendwie – ja: erfolgreich auf eine stille, selbstverständliche Art. Man hat ihm angesehen, dass er über das nötige Kleingeld verfügt, wie es immer so schön heißt. Und das nötige Kleingeld verdient man nicht, wenn man harmlose Anlegertipps weitergibt, wie sie in jeder Zeitschrift verbreitet werden.«
Da war was dran. Das Grundstück hatte allerdings von außen eher bescheiden auf Emma gewirkt, aber ein unbewohntes Haus, das von Wildwuchs und Unkraut überwuchert wurde, verlor sehr schnell von seinem Charme und wirkte ungepflegt. Zudem konnte die Innenausstattung ja durchaus luxuriös sein.