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Die Nordsee, fast achtzig Kilometer vor Sylt. Im Gerüst unter einer Versorgungsplattform wird die Leiche eines Tauchers gefunden. Unfall oder Selbstmord sind ausgeschlossen. Liv Lammers und ihre Kollegen von der Mordkommission fliegen mit dem Hubschrauber ein. Sie stoßen auf eine eingeschworene Gemeinschaft von Arbeitern. Bald aber zeigt sich: Hinter den Kulissen brodelt es. Als auch die Firmeninhaberin auf Sylt bedroht wird, nimmt der Fall eine neue Wendung, denn vielen Einheimischen ist die Offshore-Anlage vor der Insel ein Dorn im Auge ...
Liv Lammers ermittelt in ihrem 5. Fall vor und auf Sylt
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Seitenzahl: 446
Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitet nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem viele weitere folgten. Im Sommer 2017 erscheint ihr erster Kriminalroman, »Schwarze Brandung«. Unabhängig davon, ob sie gerade einen Krimi oder einen Historischen Roman schreibt: Sabine Weiß liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide bei Hamburg.
SABINE
WEISS
TÖDLICHESEE
Sylt-Krimi
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Textredaktion: Stefanie Kruschandl, Kopenhagen
Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: Ryszard Filipowicz | © Jenny Sturm | YesPhotographers | mapman
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-0377-2
luebbe.de
lesejury.de
Tief sinken seine Füße ein, als er auf die Dünenkuppe steigt und der feine Sand lawinenartig unter seinen Stiefeln wegrieselt. Das Blinken des Leuchtturms ist westwärts zu erahnen, aber die Fünf-Seemeilenfeuer des Offshore-Windparks sucht er vergeblich am Horizont. Wie ein weißes Segel schimmert das Kirchenschiff von Sankt Thomas in der Ferne. Hier spürt man, dass Hörnum auf drei Seiten vom Meer umgeben ist. Seewind umstreicht seine Beine, dringt klamm in seine Kleidung. Auf seinen Lippen brennt das Meersalz. Die Sonne, die heute bereits die Haut der Urlauber hummerrot färbte, scheint eine ferne Erinnerung. Trotzdem sind seine Hände feucht vor Hitze. Jede Faser seines Körpers ist auf sein Opfer ausgerichtet. Er kann das geronnene Blut riechen …
Weiter läuft er Richtung Wattseite. Einige Minuten später erreicht er sein Ziel. Die Villa kauert halb verborgen in einer Dünensenke. Von hier aus scheint es sich um eine der üblichen Sylter Friesenvillen zu handeln; sie ist nicht einmal besonders protzig. Weiß getünchte Wände unter Reetdach, Klöntür, Friesenwall. Was sich dahinter verbirgt, wissen die wenigsten. Hier herrschen eine Ruhe und Ungestörtheit, wie sie sich nur die Reichsten kaufen können. Selbst zum Watt hin ist der Weg versperrt.
Ab jetzt muss er geduckt gehen, um die ausgefeilte Sicherheitstechnik auszutricksen, wenig später robbt er sogar. Kaum nimmt er die Sandkörner wahr, die bereits nach wenigen Metern über seine Haut schmirgeln. Im Schutz einer Kartoffelrose blickt er auf die Rückseite des Gebäudes, den Anbau und das, was sich auf dem Grundstück verbirgt. Metall funkelt über dem Rasen. Durch das Glas der Fensterfront sieht er eine Gestalt. Die Frau beugt sich über Papiere. Sie wirkt einsam, aber er hat kein Mitleid. Es ist nicht das Geld, das ihn antreibt – nicht nur. Es ist ein Zwang. Eine Naturgewalt, wie die Kräfte, die um Sylt toben, die an der Insel reißen und zerren. Auch er kann nicht anders …
***
Geisterhaft wischen die Rotoren durch den Dunst. Die Strahler der Windräder leuchten wie gelbe Augen in die Nacht. Knatternd wirft der Sturm die Regentropfen gegen die Wohnplattform, diese überdimensionierte Metallbox, die im Schelfmeer den Elementen trotzt. Das Festland erscheint ihm auf einmal so weit weg wie der Mond. Von hier aus sind es achtzig Kilometer bis zur nächsten Küste, also nach Sylt. Sogar bis zum Meeresgrund müsste man vierzig Meter zurücklegen. Allerdings hätte einem die Nordseekälte ohne die richtige Ausrüstung schon auf dem ersten Wegstück die Kraft aus den Muskeln gesaugt. Dabei ist das Meer auf dem Schelf, dem Festlandsockel, genau genommen flach. Ein Planschbecken im Ozean.
Während er einen Blick aus dem Bullauge der Kabine wirft, kontrolliert er mit geübten Handbewegungen seine Waffe. Durch die spezielle Bauchatmung hat er seinen Herzschlag verlangsamt. Vor allem aber hat er alle Emotionen beiseitegeschoben.
Die Tür einen Spalt öffnen. Lauschen. Draußen ist es still. Keine Stimmen, kein Brabbeln der Fernseher, kein Geschirrklappern aus der Messe. Diese künstliche Insel schläft nie, und doch geht es nachts ruhiger zu. Nur Wind, Wellen und das Vibrieren der Stahlkonstruktion sind zu hören. Es klingt wie dieses Summen im Hinterkopf, das einem anzeigt, dass man durchdreht. Aber er ist nicht verrückt. Im Gegenteil: Noch nie ist er so klar gewesen. Die Zukunft der achtunddreißig Männer und sieben Frauen auf dieser Versorgungsplattform liegt in seinen Händen. An den kommenden Tag wird sich jeder erinnern, dafür wird er sorgen. Energie schießt bei diesem Gedanken durch seinen Körper. Monatelang hat er auf diesen Moment hingearbeitet.
Mit der Maske wischt er den Schweiß von der Stirn, ehe er sie einsteckt. Ein letzter Check des Geräts, das ihn so viel Zeit, Mühe und Geld gekostet hat. Die Systeme laufen stabil. Dann drückt er die Taste. Time to go.
***
Nur kurz hat sie sich frisch machen können. Sie drängt die Gefühle zurück, die noch immer in ihr toben. Ihr Blick flackert über die Großbildwand, über Displays und Monitore im Control Center. Sie muss sich zusammenreißen, denn von dieser Leitwarte aus wird der Windpark kontrolliert und gesteuert. Beruhigt stellt sie fest, dass alle Windräder bis auf eins laufen – auf dem Bildschirm bilden sie eine Kette leuchtender Punkte. Die Überwachungskameras registrieren keine ungewöhnlichen Vorkommnisse, nur lang gezogene, öde Gänge. Sie zeigen gähnend leere Räume. Wellen, die den Bootsanleger überspülen, die Stahlpfosten hochzüngeln. Jetzt das Wetterradar. Bald wird das Tief vorbeigezogen sein, keine Weather Downtime droht. Immerhin. Noch einmal überprüft sie alle technischen Anzeigen, alle Bildschirme. Sie stutzt. Da stimmt doch etwas nicht. Alarmiert spult sie die Aufnahme der Überwachungskamera zurück, zoomt. Was zur Hölle … Ihr Mund wird trocken. Wie kann das sein …
Sie fährt das System herunter, startet es neu. Wie erstarrt fixiert sie das Schwarz der Monitore. Da, endlich! Tatsächlich. Die Bilder haben sich verändert, vor allem eines. Es betrifft die Kamera, die die Gangway zeigt. Im Hintergrund, zwischen Plattform und Stahlpfeiler baumelt etwas. Ihre Finger beben, als sie erneut einzoomt. Ihr Atem stockt. Sie kann es nicht glauben. Ein Mensch hängt im Gestänge zwischen der Gangway und der aufgewühlten Meeresoberfläche. Verdreht sieht er aus, ein Spielball des Windes. Lebt er noch, oder ist er tot? Was soll sie tun? Für so eine Situation gibt es keinen Notfallplan.
Der Trommelwirbel schwoll an und wieder ab, dann ließ Liv ihr Schlagzeugsolo mit einigen wohldosierten Fill-Ins ausklingen. Nach dem letzten Ton riss sie ekstatisch die Hände in die Höhe, und kam sich sofort ein wenig albern vor. Wenn die Kriminellen, mit denen sie als Kommissarin zu tun hatte, sie jetzt sehen könnten, würden sie sie garantiert nicht mehr ernst nehmen. Andererseits hatte sie so lange von diesem Augenblick geträumt, so lange darauf hingearbeitet. Außerdem: Das Volxbad war ausverkauft, das Konzert lief super. Die Stimmung war schon bei der Vorband gut gewesen, jetzt aber tobte die Menge. Sven, der Sänger, brüllte ihren Namen, und der Applaus wurde noch lauter. Gitarre und Bass übernahmen Livs Rhythmus und improvisierten in den nächsten Song hinein.
Nun hielt es Liv nicht mehr auf dem Hocker. Um ihr Schlagzeug herum lief sie an den Bühnenrand. Ihre Hände pulsten, die Armmuskeln brannten, und das Top klebte ihr am Rücken. Ihre Bandmitglieder und sie peitschten die Zuschauer weiter an. Erfüllt von Aufregung und Stolz blickte Liv über die hüpfenden und tanzenden Köpfe, entdeckte viele bekannte Gesichter. Ihr Herz stolperte unvermittelt. Da war ein Gesicht, das sie nicht erwartet hatte. Was tat er hier? Bleib fokussiert, bleib in diesem Moment und genieße ihn, ermahnte sie sich.
Liv wirbelte die Drumsticks zwischen den Fingern und schleuderte sie in die Menge. Nun band sie mit einer schnellen Bewegung ihre langen rötlichblonden Haare zusammen. Sie breitete die Arme aus, ihre hohe, schlanke Gestalt warf einen Schatten in die Menge hinein. Gerade wollte sie sich umdrehen, um sich fallen und von der Menge tragen zu lassen, als sie es sah. Die junge Frau in der ersten Reihe war den Tränen nahe. Sie wehrte sich gegen einen Kerl, der sie grob festhielt und feixend zu küssen versuchte. Wut schoss unvermittelt in Liv hoch. Das war ihr Konzert, ihr gemeinsames Fest, und dieser Typ wagte es, die Enge und die Feierlaune auszunutzen?!
Mit einem Satz war Liv im Publikum und trennte die beiden.
Der Grabscher lachte ungläubig, dann brüllte er sie an: »Spinnst du?«
Liv packte ihn am Kragen. »Lass deine Finger bei dir und verpiss dich!«, schrie sie gegen die Musik an. »Du begehst gerade eine Straftat. Hier ist Polizei im Saal, die sich freut, wenn sie einen wie dich zu fassen bekommt!«
Kurz sah es aus, als ob er nach ihr schlagen wollte, aber dann bemerkten sie beide den Ordner – einen muskelbepackten Kumpel des Sängers –, der sich ihnen näherte. Prompt verzog sich der Grabscher. Die junge Frau, die inzwischen von ihrer Freundin getröstet wurde, schenkte Liv einen dankbaren Blick. An der Melodie erkannte Liv, dass gleich wieder Zeit für ihren Einsatz war, deshalb neigte sie sich zu der Frau. »Du kannst den Typen anzeigen. Das ist dein gutes Recht«, rief sie ihr ins Ohr.
»Ich weiß nicht …«
»Der darf damit nicht durchkommen!«
Die Gitarrenriffs wurden drängender. Liv eilte auf die Bühne zurück und ignorierte die fragenden Blicke ihrer Bandkollegen. Schnell hinters Drumset. Ein neues Paar Sticks, und weiter ging es …
Wenig später sah Liv noch einmal in die Menge. Erleichtert registrierte sie, dass die junge Frau wieder klatschte und tanzte.
Nach der letzten Zugabe traten alle Bandmitglieder vor und verbeugten sich. Ihr Sänger zog sie näher zu sich heran.
»Was war denn los?«
»Ein Grabscher. Direkt vor der Bühne. So ein Idiot.«
»Hättest mal was gesagt. Dem hätte ich ’ne Ansage gemacht«, erwiderte Sven sauer.
»Ich hab ihm auch eine Ansage gemacht.«
Er lachte. »Kann ich mir denken.«
Liv suchte noch einmal den Überraschungsgast in der Menge, den sie vor der Sache mit dem Grabscher entdeckt hatte. Zunächst konnte sie ihn nicht finden, dafür sah sie ihren Kollege Hennes von der Flensburger Mordkommission und ihre Tochter Sanna. Sie freute sich, dass Sanna so lange ausgehalten hatte. Eigentlich war es für einen Teenager ja ultrapeinlich, die eigene Mutter auf der Bühne zu erleben. Und da, auf der anderen Seite des Saals, da war er. Doktor Sebastian Gerlich. Ihn hätte sie nie und nimmer hier erwartet. Noch dazu hatte er getanzt, das hatte sie genau gesehen.
Seit den dramatischen Ereignissen im letzten Herbst hatte Liv sich ab und zu länger mit dem Rechtsmediziner unterhalten. Erstaunlich offen war er gewesen und überraschend unkonventionell. Als sie zuletzt aber beim Rechtsmedizinischen Institut in Kiel Informationen über einen Fall eingeholt hatte, hatte er das Gespräch mit ihr gemieden, zumindest war es ihr so vorgekommen. In diesem Augenblick hatte sie es bereut, Berufliches und Privates vermischt zu haben. Gefühle machten gesellschaftlichen Umgang immer so verflucht kompliziert. Sebastian jetzt hier zu sehen, verwirrte sie.
Kurz entschlossen tauchte Liv in die Menge ein, umarmte Freunde und ließ sich von Bekannten auf die Schultern klopfen. Sie hielt auch nach dem Grabscher und seinem Opfer Ausschau, aber beide waren verschwunden. Schließlich ging sie zu Sebastian. Offenbar war er mit einem Freund hierhergekommen. Liv hatte den Rechtsmediziner lange Zeit jünger geschätzt, wusste aber inzwischen, dass er ebenfalls Anfang dreißig war. Sie beide verband, dass sie früh verantwortungsvolle Positionen erreicht hatten, in denen sie sich wegen ihrer Jugend behaupten mussten. Bei der Arbeit sah sie ihn normalerweise formell gekleidet oder in Schutzkleidung, jetzt aber fügte er sich in Vans-Turnschuhen, engen Jeans und schwarzem Shirt perfekt in das Publikum ein. Ohne die Nickelbrille wirkte er smart und männlich, statt nerdig, wie Liv erstaunt feststellte.
Sebastian wandte sich ihr mit einem begeisterten Lächeln zu. »Das ging ja echt ab. Respekt.«
»Woher wusstest du …«
Kurz wirkte Sebastian verunsichert. »Du hattest mir von euren Auftritten erzählt, und als mein alter Schulfreund hier das Konzert erwähnte … Entschuldigt, wie unhöflich.« Er stellte sie einander vor. »Was war denn vorhin los? Ich dachte erst, du machst Stagediving, aber dann bist du in der Menge verschwunden.«
Liv erzählte Sebastian von dem Vorfall. »Das ist so widerlich!«, platzte er heraus und schüttelte so heftig den Kopf, dass seine dunklen Locken wippten. »Bei Festivals passiert leider auch immer so einiges. In der Rechtsmedizinischen Ambulanz haben wir es dann regelmäßig mit Übergriffen und Vergewaltigungen zu tun.«
»Ich dachte, du arbeitest nur mit Toten«, mischte der Schulfreund sich ein.
»Irrtum. Die Forensische Pathologie ist nur einer meiner Arbeitsbereiche. Wir beschäftigen uns auch mit Toxikologie, Genetik – also beispielsweise Vaterschaftstests –, Unfallrekonstruktion und vielem mehr. Die Ambulanz für Gewaltopfer nimmt einen bedeutenden Teil unserer Arbeit …«
In diesem Augenblick drängte sich Hennes zu ihnen. Mit knapp sechzig, huckeliger Nase und seinem Jeans-Ensemble wirkte er zwischen den anderen Konzertbesuchern wie ein Rock-Opa. Als er Sebastian Gerlich erblickte, wirkte Hennes irritiert. Genau wie Liv schien er nicht damit gerechnet zu haben, den Rechtsmediziner hier zu treffen. Dann jedoch richtete Hennes den Blick auf Liv und hob in einer vielsagenden Geste sein Handy. Es bedurfte keiner Worte. Liv wusste auch so, dass die After-Show-Party ausfallen würde. Zumindest für sie. Nüchtern war sie immerhin, und das nicht nur, weil sie beim Schlagzeugspielen gerne einen klaren Kopf hatte. Beim K1, der Mordkommission Flensburg, für die Liv seit zweieinhalb Jahren arbeitete, galt der Kodex der stillen Bereitschaft. Da das K1 personell etwas ausgedünnt war, seit ein Kollege in der Reha war, musste man immer mit einem Einsatz rechnen – auch bei einem Konzert.
Als sie auf die Schiffbrücke hinaustraten, schlüpfte Liv in die Lederjacke und zog die Kapuze ihres Pullis über den Kopf. Es war spät, trotzdem stand sie auf dieser Straße zwischen Einkaufsviertel und Amüsiermeile im Licht. Hinter ihr war das frühere Volksbad mit seiner Backstein- und Putzfassade beleuchtet, vor ihr glitzerte der Flensburger Hafen. Eine Bö kräuselte das Wasser der Förde. Liv fröstelte, nass geschwitzt, wie sie war. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie ihre sechzehnjährige Tochter Sanna telefonierte; sicher mit ihrem Freund Kimi, denn sie tuschelte verliebt. In diesem Augenblick wirkte Sanna wie eine normale Jugendliche, die ihre erste Liebe erlebte. Kimi hatte ihr geholfen, den schrecklichen Vorfall zu bewältigen, der sich im vergangenen September zugetragen hatte: Sanna war nur knapp einem sexuellen Übergriff entkommen. Und als ob das nicht schlimm genug gewesen wäre, stammte der Täter auch noch aus dem engsten Umfeld. Es war Ocke, der gefürchtete Patriarch der Lammers-Familie. Ausgerechnet Sannas Großvater hatte versucht, sich an ihr zu vergreifen, und Sanna, als diese sich gewehrt hatte, brutal verprügelt. Entsprechend groß war Sannas Trauma. Neben Kimis Unterstützung hatten ihr auch die Gespräche mit einer Therapeutin geholfen. Aber Liv wusste, dass ihre Tochter seitdem nicht mehr dieselbe war. Das zeigten nicht nur die kurz rasierten Haare, der Verzicht auf Make-up und die weiten Klamotten. Vor allem psychisch hatte Sanna sich verändert.
Aber sie würden Ocke damit nicht durchkommen lassen. Selbstverständlich hatte Liv alle Bestechungsversuche ihres verhassten Vaters abgelehnt. Nie würde sie die Anzeige gegen ihren Vater zurückziehen, nie ihrer Tochter dazu raten. Nie würde sie sich Ocke Lammers unterwerfen, um irgendwann in den Schoß der Sylter Familie zurückzukehren und in den Genuss des Millionenerbes zu kommen. Das, was er von ihr verlangte, war kein Geld der Welt wert.
Hennes kramte in seiner Jackentasche, als ob er nach seinem Tabak suchte, holte dann aber nur sein Feuerzeug heraus und bewegte es zwischen den Fingern. »Kannst du jetzt mal die Rockstar-Allüren abschütteln und mir dein Ohr schenken?«
Liv verbannte die bedrückenden Gedanken wieder. »Was haben wir?«
»Ungeklärter Todesfall auf der Versorgungsplattform eines Offshore-Windparks vor Sylt. Hasselbrecht hat mit dem Staatsanwalt bereits alles Nötige in die Wege geleitet. Bente leitet die Ermittlung. Zwei Teams übernehmen den Ersten Angriff. Du sollst mit rüber, Kriminaltechnik und Rechtsmedizin auch – aber die ist ja schon hier.«
Es war ein präzise abgestimmtes Räderwerk, das mit der Meldung in Gang gesetzt worden war. Wegen jedes unnatürlichen oder ungeklärten Todesfalls musste ein Todesermittlungsverfahren eingeleitet werden, das besagte das Gesetz. Das K1, die nördlichste Mordkommission Deutschlands, hatte ein sehr großes Einsatzgebiet, denn es umfasste die weitläufigen Kreise Schleswig-Flensburg und Nordfriesland. Immer, wenn es an diesem Zipfel zwischen Nord- und Ostsee einen Mordverdacht gab, rückten Liv und ihre Kollegen aus. Auch das K6, die Kriminaltechnik, gehörte zur Polizeidirektion Flensburg. Die Rechtsmediziner reisten hingegen aus Kiel an.
Hennes warf Sebastian, der vor dem Volxbad gerade seinen Schulfreund verabschiedet hatte, einen scheelen Blick zu. »Wie praktisch, dass unser Rechtsmediziner zufällig gerade in Flensburg ist. Da sparen wir ja ’ne Menge Zeit.«
»Tja, Zufälle gibt’s«, meinte Gerlich nur.
Hennes fasste den Kenntnisstand zusammen: »Bei dem Opfer handelt es sich um Dennis Marzen, fünfundvierzig Jahre alt, wohnhaft in Tinnum. War früher Minentaucher bei der Marine, jetzt Berufstaucher.«
Er zeigte ihnen das Foto eines Mannes mit Stoppelfrisur. Marzen trug einen Neoprenanzug und hielt einen Taucherhelm. Seine aufrechte Haltung und die ernste Miene ließen ihn entschlossen und kompetent wirken. Nur die Dackelfalten auf der Stirn minderten diese Strenge ein wenig.
»Ein bisschen wie Hans Albers als Der Mann im Strom, oder?«, meinte Hennes. Liv blickte ihren Kollegen fragend an. »Mann, Liv, deine Allgemeinbildung schwächelt ja wohl! Die Verfilmung von Siegfried Lenz’ Roman über einen Minentaucher im Hamburger Hafen.«
»Wir haben nur Deutschstunde in der Schule gelesen.« Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. »Vielleicht ist es auch eine Generationenfrage.«
»Nu werd mal nicht frech, Klassiker veralten nicht!«, meinte Hennes doppeldeutig, ehe er auf den Fall zurückkam. »Schädelverletzung und Würgemale weisen auf eine unnatürliche Todesursache hin. Die Leiche hängt im Gestänge unter der Plattform, niemand scheint zu wissen, wie sie da hingekommen ist. Hasselbrecht hat Unterstützung für die Bergung angefragt, das wird aber so schnell nichts. Jetzt soll der Körper mit Hilfe der Industriekletterer vor Ort geborgen werden. Ist brenzlig, bei den widrigen Bedingungen.«
»Zumal wertvolle Spuren vernichtet und der Zustand der Leiche verändert werden könnte«, merkte Sebastian an.
»Wenn die Leiche ins Meer stürzt, haben wir gar nichts mehr. Das Umfeld des Leichenfundorts wurde so weit wie möglich eingefroren, ganz so, wie die Ermittlungen es erfordern. Alles ist abgesperrt, auch Marzens Kabine, das hat man mir versichert. Die Spurensuche wird trotzdem schwierig, schätze ich.«
»Da wird Botersen-Evers ja jubeln«, kommentierte Liv. Der Chef der Kriminaltechnik wurde für seine schroffe Art und seine berufliche Pingeligkeit gefürchtet.
Liv stellte fest, dass sie wenig Ahnung von der Offshore-Industrie hatte. »Wozu braucht ein Windpark Taucher?«
»Seekabel verlegen, die Schweißnähte an den Stahlfundamenten kontrollieren, so was. Ich stelle Hintergrundinfos zusammen, den Rest müsst ihr selbst herausfinden. Bente scheint ganz heiß auf den Einsatz zu sein. Ist vermutlich so ein Männerding.«
»Wo sonst kann man seine Männlichkeit besser beweisen als mit großen Maschinen und im Kampf gegen die Natur? Die Offshore-Industrie bietet beides«, mischte sich Sebastian ein.
»Hätte ich nicht schöner sagen können, Doc«, meinte Hennes spöttisch, aber nicht so bissig wie üblich.
Der Rechtsmediziner entfernte sich, um zu telefonieren.
Hennes ließ das Feuerzeug auf- und zuschnappen. »Ich wusste gar nicht, dass du und dieser … Gerlich so eng seid.« Ausnahmsweise nannte er den jungen Arzt nicht »Klugscheißer«.
»Sind wir nicht«, sagte Liv schnell.
»Ist ja auch nicht meine Tasse Tee.« Hennes winkte ab. »Der Windparkbetreiber schickt ohnehin einen Hubschrauber, da könnt ihr mit. Die Wellen sind möglicherweise heute Nacht zu hoch für das Anlanden der CTV …«, Hennes sprach es See-Tee-Wi aus.
»Der was?«
»Crew Transfer Vessel. Eine Art Shuttle oder Taxi für die Belegschaft. Die Verkehrssprache auf hoher See ist grundsätzlich Englisch. Wie auch immer: Das CTV kann möglicherweise nicht andocken und würde auch zu lange brauchen. Daher der Hubschrauber. Treffpunkt ist in einer Stunde am Flugplatz Schäferhaus.«
»Und du?«
»Ich fahre nach Sylt. Dort ist der Firmensitz von Hanzmann Energy. Ein privat geführtes Konsortium, was für ein Gemauschel das auch immer sein mag. Ich spreche mit der Geschäftsführerin Henriette Hanzmann, dann untersuche ich mit einem Sylter Kollegen die Wohnung des Opfers, rede mit Marzens Ex-Frau, befrage sein Umfeld und so weiter.«
»Du ziehst Sylt dem eigentlichen Tatort vor?«, wunderte sich Liv, denn Hennes hatte eigentlich eine Sylt-Allergie. »Und das als alter Seebär?« Zu gerne hätte sie endlich erfahren, wieso Hennes das Meer mied. Und das, obwohl er als junger Mann zur See gefahren war.
Taktwechsel beim Klicken des Zippos. »Also, wie gesagt, ich schicke so schnell wie möglich die Infos. Immerhin sind fünfundvierzig Menschen auf der Versorgungsplattform. Besser gesagt: vierundvierzig plus ein Toter. Hasselbrecht kümmert sich schon um Verstärkung.«
»Lieber früher als später. Allein die Befragungen werden ewig dauern, selbst wenn wir mit jedem nur zehn Minuten sprechen. Wurden die Leute auf ihre … Zimmer geschickt, damit ihre Aussagen nicht verfälscht werden oder sie sich absprechen können?«
»Zimmer? Kabinen meinst du wohl. Nein, wurden sie nicht.«
Das hatte Liv sich beinahe gedacht. Der Eingriff in die Grundrechte wäre zu stark. Die Bewegungsfreiheit konnten sie immer noch einschränken, wenn sie die ersten Befragungen vorgenommen hatten. Glücklicherweise flogen Absprachen unter Zeugen erfahrungsgemäß schnell auf.
Ein Anruf, den Hennes sofort annahm, unterbrach ihr Gespräch. Liv bedauerte es, dass sie dieses Mal nicht mit ihm zusammenarbeiten würde. Das war das Gute an den Vorfällen im Herbst gewesen: Sie waren noch enger als Team zusammengewachsen. Hennes hatte ihr und Sanna im Anschluss an den furchtbaren Angriff einige Selbstverteidigungstricks beigebracht. Und das Schmerzensgeld, zu dem Hennes aufgrund seiner beherzten Hilfeleistung verdonnert worden war, hatten sie geteilt.
Hennes rieb während des Telefonats seinen Oberarm. Vielleicht trug er eines der Nikotinpflaster, die Liv ihm angedreht hatte. Sein Husten zumindest war besser geworden. Voller heimlicher Vorfreude dachte sie an seinen Geburtstag, auch wenn sie sich noch immer nicht für ein Geschenk entschieden hatte. Hennes allerdings schien diesen sechzigsten Geburtstag zu fürchten, der ihn dem Pensionsalter erschreckend schnell näherbrachte. Auch Liv mochte gar nicht daran denken, dass ihr Teampartner in ein paar Jahren aus dem Beruf scheiden würde. Es war ein Schreck gewesen, als er vor einigen Monaten auf offener Straße zusammengeschlagen worden war. Hennes hatte gemeint, dass er nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre, aber Liv war da nicht so sicher.
»Sei vorsichtig. Man kann nie wissen …«, begann sie.
»Mir macht so schnell keiner Angst.«
Eine Segeljacht glitt über die Förde in den Hafen. Sanna hatte ihr Telefonat beendet und wischte unruhig über ihr Smartphone. Jetzt kehrte auch Sebastian zurück. Er informierte sie, dass er dem Rechtsmedizinischen Institut mitgeteilt hatte, dass er den Einsatz übernehmen werde. Seine Ausrüstung habe er sicherheitshalber immer dabei, und heute auch Wechselklamotten, weil er bei seinem Freund hatte übernachten wollen.
»Ich muss mich noch um mein Schlagzeug kümmern. Meine Bandkollegen könnten es sicher in meinem Bulli verstauen, aber dann …«, überlegte Liv laut.
»Lass den Bulli hier. Ich kann dich nach Hause fahren und danach zum Flughafen mitnehmen«, schlug Sebastian vor.
Hennes’ Augenbraue schnellte hoch, er sagte aber nichts, wofür Liv dankbar war.
***
Hennes ließ sich von Gerlich an der Ecke zum Oluf-Samson-Gang absetzen, einer schmalen Gasse in Hafennähe, die früher zum Rotlichtbezirk gehört hatte. Der junge Rechtsmediziner fuhr ein hochmodernes Auto mit Wasserstoffantrieb, was irgendwie zu diesem Neunmalschlau passte. Andererseits hatte Gerlich heute Abend gar nicht so extrem genervt, dachte Hennes. Er verabschiedete sich von Sanna mit einem Fistbump. Das Mädchen hatte das Herz am rechten Fleck, das fand er schon lange. Er wollte noch rasch seine Sachen zusammenpacken, damit er später direkt vom Revier am Norderhofenden aus nach Sylt aufbrechen konnte.
Aus Onkel Jule drang Gelächter. Normalerweise würde er noch auf einen Absacker in der Kneipe einkehren, aber dafür war jetzt keine Zeit.
Er lief an den mit Kletterrosen bewachsenen Fassaden entlang. Schon ewig wohnte er in dieser Gasse. Heute gingen nur noch zwei Damen in den alten Fischer- und Kaufmannshäuschen dem horizontalen Gewerbe nach, nette Nachbarinnen, die immer Zeit für einen Kaffee und eine Kippe hatten. Allerdings war der Oluf-Samson-Gang inzwischen viel zu schick für seinen Geschmack geworden. Tipptopp saniert und herausgeputzt. Ein halbes Museum. Wenn er keinen alten Vertrag hätte, könnte er sich die Miete schon lange nicht mehr leisten. Erst recht nicht, seit er Mist gebaut hatte.
Es kitzelte in seinem Hals, als ob er hüsteln müsste. Wie sehr er sich nach einer Zigarette sehnte! Beinahe instinktiv tastete er nach der Brusttasche, in der er früher seine Tabakpackung oder seine Zigarren verwahrt hatte.
Hinter ihm schrappten Schritte über das Pflaster. Hennes ging schneller, nur mühsam den Husten unterdrückend. Nicht, dass er Angst hätte. Wehren konnte er sich auch. Aber er war eben nicht mehr der Jüngste. Zudem hatte er der No-Sports-Mentalität zu lange gefrönt. Und er selbst hatte Fehler gemacht. Was mit Gelegenheitswetten und Glücksspiel am Automaten bei langweiligen Kneipenabenden angefangen hatte, hatte ihn bald sein ganzes Gehalt gekostet. Er hatte zu Notlügen gegriffen, seine gesamte Kohle verbraten, und schließlich waren ihm Vertreter eines Flensburger Rockerklubs auf die Spur gekommen, hatten seine Schulden aufgekauft und versucht, ihn zu erpressen. Auch heute noch musste er sich beherrschen, um seine Kröten nicht zu verzocken. Um nicht in einen Gewissenskonflikt zu geraten, hatte er anderen Kollegen alle Ermittlungen überlassen, die mit Rockerkriminalität in Verbindung standen. Bis zum letzten Jahr …
Liv und er waren den Falschen auf die Füße getreten. Seit dem Herbst war er nachts nur unter größten Vorsichtsmaßnahmen unterwegs gewesen, was ihm enorm gegen den Strich ging. Dennoch hatten sie ihn erwischt. Die Botschaft war deutlich gewesen, überbracht mit Fäusten und Stiefelspitzen.
Seine Finger zitterten, weshalb er Schwierigkeiten hatte, den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Jetzt eine Zigarette! Er konnte den Rauch förmlich auf der Zunge spüren. Wieder glaubte er, hinter sich Schritte zu hören. Entschlossen zwang er sich zur Ruhe. Die konnten ihm drohen, so viel sie wollten – einknicken würde er auf keinen Fall. Die paar Jahre bis zur Pensionierung würde er ja wohl noch würdevoll hinter sich bringen!
***
Einige Minuten später erreichte Liv mit Sanna und Sebastian ihr Kapitänshaus. Nur vereinzelt brannten noch Lichter im Viertel Jürgensby, auch der Flensburger Hafen wirkte von diesem Stadthügel aus verschlafen. Liv bat Sebastian mit herein, obgleich sie es ungewohnt fand, einen fremden Mann in ihrem Frauenhaushalt zu haben.
Elise kam in einem bunt gestreiften Schlafanzug und den türkisfarbenen Puschen, die Sanna ihr gefilzt hatte, aus ihrem Schlafzimmer. Die alte Dame mit dem flotten grauen Schopf wirkte trotz der späten Stunde munter. »Schlafen wird überbewertet«, sagte sie immer. Dennoch gaben die Schlafstörungen ihrer Großmutter Liv zu denken. Natürlich schlief man im Alter weniger – »senile Bettflucht« nannte Elise das selbstironisch –, aber auch mit Ende siebzig musste man sich ausruhen, um gesund und leistungsfähig zu bleiben.
Ihre Großmutter hatte immer zu Liv gehalten, sogar als diese als Fünfzehnjährige schwanger geworden und es zum Bruch mit ihrer Familie auf Sylt gekommen war. Ihre ältere Schwester Annika und ihr Vater hatten sich gegen sie verbündet. Damals hatten sie gemeinsam Livs Heimat verlassen und waren nach Flensburg gezogen. Sie drei liebten und vertrauten einander. Nicht auszudenken, wenn Elise eines Tages …
»Na, wie ist das Konzert gelau…« Elise brach ab, als sie bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Besorgt huschte ihr Blick zu Sanna. »Ist alles in Ordnung?«
»Nur ein Einsatz«, beruhigte Liv ihre Großmutter. »Ich muss gleich wieder los.«
Sanna starrte unablässig auf ihr Smartphone, während sie zum Sofa schlappte, dem natürlichen Lebensraum aller Pubertierenden. Auf dem Weg ließ sie ihre Jacke fallen.
»Hallöchen, Prinzessin!«, rief Liv. Als ob es sich um eine Zumutung handelte, schälte Sanna sich aus den Polstern und klaubte die Jacke auf.
Elise hatte den Vorgang amüsiert beobachtet und wandte sich nun wieder an Liv. »Wat’n Aggewars«, sagte sie auf Petuh. »Für meinen Geschmack ist jeder Einsatz einer zu viel. Und dann noch um diese Uhrzeit.«
Verschlafenes Knurren und Japsen machten Livs Antwort unnötig. Zorro, ihr Mischlingsrüde, tapste aus seinem Korb und beschnupperte Sebastian neugierig, der gerade die Haustür geschlossen hatte.
Jetzt erst bemerkte Elise den jungen Mann. Liv stellte ihn knapp vor, die Zeit lief ihnen weg. »Sebastian war auf dem Konzert und fliegt jetzt ebenfalls mit zu dem Einsatz.«
»Fliegen?«
»Wir nehmen den Hubschrauber – aufregend, oder? Ich habe Sebastian mal erwähnt. Er ist der Rechtsmediziner, der Sylt mit dem Kajak umrundet hat.«
»Ach, ja, daran erinnere ich mich. Interessante Freizeitbeschäftigung.« Die alte Dame musterte ihn. »Sie sehen gar nicht aus wie jemand, der Tote aufschneidet.«
»Wie sieht denn so jemand Ihrer Meinung nach aus?«, fragte Sebastian freundlich und hockte sich hin, um Zorro zu kraulen.
Elise überlegte, dann lachte sie auf. »Gute Frage. Das weiß ich auch nicht. Ich rede wohl Dummtüch.«
»Wie wir alle manchmal. Sie sagten vorhin Aggewars? Das Wort habe ich noch nie gehört. Was soll das denn bedeuten?«
»So’n Aggewars, das ist Stress, Gerödel – auf Petuh«, erklärte Elise.
»Petuh?«, fragte Sebastian.
»Ein beinahe ausgestorbener Flensburger Dialekt. Ich bin sozusagen einer der letzten Dinosaurier.«
Liv schenkte für Sanna, Sebastian und sich Apfelschorle ein. Während Liv trank, hörte sie Elise fragen: »Sind Sie denn in festen Händen, junger Mann?«
Beinahe hätte Liv die Apfelschorle durch den Raum geprustet. Hitze schoss ihr ins Gesicht. »Oma!«, rief Liv.
Unschuldig hob Elise die Schultern. »Man darf doch mal fragen.«
Sebastian grinste. »Darf man. Meine Frau und ich leben getrennt. Wir teilen uns das Sorgerecht für unseren Sohn. Noah kommt dieses Jahr in die Schule«, sagte er offen.
Von der Trennung hatte Liv nichts gewusst, und sie bemühte sich, sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Elise schien zufrieden.
»Willst du Oma nicht erzählen, wie das Konzert war?«, lenkte Liv ab.
Sanna hatte sich einen ihrer dicken Fantasywälzer geschnappt. »Mam hat den Laden gerockt«, sagte sie abwesend, dann sah sie auf. »Für einen Augenblick habe ich gefürchtet, sie würde Stagediving machen. Das wäre so mega uncool gewesen! Aber irgendwas war dann …« Sannas Blick wanderte von Liv zu Sebastian, doch keiner sagte etwas, also konzentrierte sie sich wieder auf das Buch. »Glücklicherweise hat sie’s gelassen«, murmelte sie.
Liv war froh, dass Sebastian die unausgesprochene Frage ihrer Tochter nicht beantwortet hatte. Sanna musste nichts von dem Übergriff wissen, es würde sie nur wieder aufwühlen. »Kannst du mir helfen, die Wollpullis herauszusuchen? Könnte kalt werden auf See«, sagte sie zu Elise. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre Großmutter Sebastian weiter ausquetschte.
»Ich wollte noch ein bisschen mit unserem Gast schnacken …«
»Bitte, Oma. Wir müssen uns beeilen.«
In ihrem Schlafzimmer angekommen, schlug Liv lachend die Hände vor das Gesicht. »Wie konntest du Sebastian das nur fragen!«, stieß sie hervor.
Tausend Fältchen zeigten sich auf Elises Gesicht, als sie mitlachte. »Wieso? Sebastian macht einen sympathischen Eindruck. Du bist schon viel zu lange allein.«
»Oma!«
Elise legte zärtlich die Hand auf Livs Wange. »Ist doch wahr! Du bist beziehungsunfähiger als ein eingefleischter Junggeselle. Eine ganze Seite deines Gefühlslebens liegt brach. Das ist ein Jammer. Das Leben ist so schnell vorbei …«
»So ganz stimmt das nun auch nicht.«
»Ach ja? Nenn mir einen Mann, den du in den letzten Jahren wirklich an dich herangelassen hättest. Mir hast du auf jeden Fall keinen vorgestellt.«
Liv küsste die Hand ihrer Großmutter; sie wusste, dass Elise es nur gut meinte. Es gab durchaus Männer in Livs Leben, meist blieb es allerdings bei kurzen Affären. Vielleicht erinnerte Liv sich deshalb noch so genau an die intensiven Gefühle der ersten Liebe, weil sie es sich seit damals nicht mehr erlaubt hatte, sich so sehr auf jemanden einzulassen.
Eilig zog Liv sich aus und warf die Kleidung in den Wäschekorb. Dann betrat sie das kleine Bad und sprang unter die Dusche. Nachdem sie sich umgezogen und notdürftig die Haare geföhnt hatte, hatte Elise ihr bereits Norwegerpulli, dicke Socken und Merinounterwäsche herausgesucht. Liv warf alles in einen kleinen Rollkoffer.
Als sie wieder nach oben kam, saß Sebastian auf dem Sofa. Zorro hatte den Kopf auf seine Knie gelegt und ließ sich hinter den Ohren kraulen. Sanna war verschwunden. Liv rief einen Abschiedsgruß die Treppe hoch, und tatsächlich ließ sich ihre Tochter dazu herab, kurz zu kommen und ihr einen Kuss zu geben. Auch Elise drückte sie fest.
Die alte Dame reichte Sebastian lächelnd die Hand. »Bis zum nächsten Mal. Dann plaudern wir länger über Petuh. Oder Sie kommen mal mit zum Handball in die Hölle Nord.«
Liv wäre am liebsten im Erdboden versunken.
»Warum nicht? Ich kann Ihnen aber nicht garantieren, dass ich für die SG juble – schließlich bin ich aus Kiel.«
»Ohaueha, stimmt ja.« Elise zwinkerte. »Wir nehmen Sie trotzdem mit.«
Liv ging mit Sebastian zum Auto. Sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. »Entschuldige, ich weiß nicht, was in meine Großmutter gefahren ist. Elise ist sonst nie so aufdringlich.«
Sebastian lächelte. »Sie muss doch wissen, mit wem ihre Enkelin es zu tun hat. Wo sollen wir lang?«
Liv wies ihm den Weg. Der Flughafen lag nur wenige Kilometer abseits des Flensburger Stadtzentrums. Die Straßen waren leer, die Ampeln ausgeschaltet. Sebastian fuhr schnell und sicher. Liv sah ihn verstohlen von der Seite an. Er hatte beinahe klassische Gesichtszüge – mit einer geraden Nase, sanft geschwungenen Lippen und langen Wimpern. Sollte sie darauf eingehen, was sie gerade gehört hatte? Oder es ignorieren?
»Das tut mir leid, mit dir und deiner Frau«, sagte Liv schließlich.
Sebastian wich ihrem Blick nicht aus. »Das muss es nicht. Wir waren seit unserer Jugend zusammen, haben uns beide verändert. Ohne dass es uns bewusst gewesen ist, haben wir uns auseinandergelebt. Ich hätte trotzdem keine Entscheidung getroffen, schon für Noah nicht. Larissa hat es getan. Und jetzt ist es gut so.«
»Wie kommt Noah damit klar?«
»Gut, weil ich eine Wohnung im selben Haus gefunden habe. Wir sehen uns beinahe täglich.«
Vermutlich hofft sein Sohn, dass die Eltern wieder zusammenkommen, dachte Liv.
Kurz schwiegen sie. »Nette Dame, deine Großmutter. Ein Original. Von diesem Dialekt hatte ich noch nie gehört«, sagte Sebastian.
Wenn es um Elise ging, musste Liv immer lächeln. »Petuh ist Elises Steckenpferd. Sie hat ein Buch herausgebracht und wird bald sogar Lesungen abhalten.«
»Das ist ja klasse – in dem Alter! Ihr drei geht so liebevoll miteinander um. Ich habe mich gefragt, wie es eigentlich kam, dass du von deinen Eltern und von Sylt weg bist.«
»Uff. Das ist kein Thema für diese kurze Autofahrt«, stieß Liv hervor. Auf einmal war ihr in der Belstaffjacke, dem Norwegerpulli, Jeans und Halbstiefeln viel zu warm. Wie viel hatte Sebastian in den letzten Jahren nebenbei von ihrer Geschichte mitbekommen? Und wollte sie jetzt wirklich darüber reden? Ihre Reaktion musste schroffer geklungen haben, als sie gemeint gewesen war. Also fügte sie rasch hinzu: »Danke, dass du Sanna gegenüber nicht erwähnt hast, was im Publikum losgewesen ist.«
»Ich dachte mir, dass Sanna nichts von der Belästigung wissen muss. Deine Tochter scheint den Vorfall im Herbst einigermaßen überwunden zu haben.«
»Ich hoffe es.«
»Was ist aus der Anzeige gegen deinen Vater geworden?«
»Liegt noch bei der Staatsanwaltschaft. Das Zwischenverfahren ist noch nicht einmal aufgenommen worden. Wir wissen also nicht, wie die zuständige Staatsanwältin die Klage beurteilt und ob sie hinreichenden Tatverdacht sieht.« Nicht selten dauerte es fast ein Jahr von der Tat bis zur Verhandlung – unerträglich lange! Wie quälend es war, darauf warten zu müssen, dass Übeltäter bestraft und einem Gerechtigkeit zuteilwurde!
»Das ist bitter, aber nicht ungewöhnlich. Ich erlebe es bei der Rechtsmedizinischen Ambulanz leider häufiger, dass das Gesetz und seine Vertreter es den Opfern schwer machen. Nicht nur wegen der langen Ermittlungsverfahren, sondern auch, weil ihnen nicht geglaubt wird.« Sebastian ließ seine Augen kurz über Livs Gesicht wandern. »Und wie geht es dir?«
»Gut.« Herrgott, wie zickig sie klang! »Entschuldige. Aber das sind alles Themen … Wenn ich erst mal anfange, darüber zu reden, höre ich so schnell nicht auf. Und ich stehe sowieso noch unter Strom, von dem Konzert.«
»Unter Strom – genau so ist es! Diese Energie hat sich direkt auf das Publikum übertragen. Wusstest du, dass der Schlagzeuger von Grateful Dead mit Hirnforschern zur Behandlung von Hirnkrankheiten zusammengearbeitet hat?«
»Mickey Hart?«
Sebastian lachte. »Kann sein, dass er so heißt. Den Namen des Hirnforschers könnte ich dir eher sagen.«
»Ich wundere mich, dass du dich für so etwas interessierst. Musik und Forschung, das passt doch für viele ernsthafte Wissenschaftler«, sie setzte die Formulierung durch eine Geste in Anführungsstriche, »nicht zusammen.«
»Mich interessieren Fakten und das, was funktioniert. Was andere davon halten, ist mir egal. Abgesehen davon bin ich viel zu lange auf keinem Konzert mehr gewesen.« Sebastian sprach schnell, begeistert.
Ihr Handy vibrierte. Liv bedauerte die Unterbrechung. Sie las die Textnachricht. »Bente fragt, wo ich bleibe. Er hat offenbar Fotos von Fundort und Leiche erhalten.«
Beinahe zeitgleich mit dem Wagen der Kriminaltechnik kamen sie am Flugplatz an. Hier herrschte ländliche Idylle, was nicht nur am Naturerlebnisraum Stiftungsland Schäferhaus lag, der an den Flugplatz grenzte. Von der langen Geschichte des Flugplatzes – die Anfänge mit der Fluglinie Hamburg–Kiel–Westerland, die Nutzung durch die britischen Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg, bis zur Linienflugverbindung nach Frankfurt am Main – war nichts mehr zu spüren. Die ganze Gegend lag im Dornröschenschlaf.
Einzelne Strahler erhellten die wenigen Baracken und das Flugfeld. Eine Bö ließ die Kälte bis unter Livs Mütze dringen. Der April war ungewöhnlich warm gewesen, und Anfang Mai herrschten beinahe sommerliche Temperaturen. Allerdings war der Wind schon den ganzen Tag aufgefrischt. Jetzt stand der Windsack beinahe waagerecht. Bei welcher Windstärke konnte ein Helikopter noch starten? Sie hatte keine Ahnung.
»Kommt auf den Heli an. Bei manchen ist bei Windstärke elf Schluss, andere können noch bei schwerem Sturm oder Orkan fliegen – das hängt dann vom Piloten ab«, sagte Sebastian, als habe er ihre Gedanken gelesen.
»Was du alles weißt«, sagte Liv halb anerkennend, halb ironisch.
Sebastian legte lächelnd den Kopf schief und holte den Tatortkoffer aus seinem Wagen. Karlpeter Botersen-Evers, der Chef des K6, lud gemeinsam mit der Kriminaltechnikerin Oda Haldens das Equipment aus. Der massige Mann und die zierliche Blondine waren ein ungleiches Gespann, aber ein gutes Team. Botersen-Ebers erwiderte ihren Gruß knapp.
»Doktor Gerlich, das ist ja eine Überraschung. Sind Sie so schnell von Kiel hierhergekommen? Ich bin übrigens Ihrem Rat gefolgt und habe …«, redete Oda auf Sebastian ein, als ob sie ein eben abgebrochenes Gespräch fortsetzten.
Liv wollte nicht indiskret sein und ging zu Bente, der mit ihren Kollegen Wanda und Aziz zusammenstand. Sie waren so wenige! Immerhin war bei der informatorischen Befragung keine Belehrung über die Rechte notwendig, weil es lediglich darum ging, einen ersten Überblick zu erhalten. Die meisten Gespräche würden daher kurz sein – ansonsten wäre die Befragung von so vielen potenziellen Zeugen mit nur vier Kommissaren viel zu langwierig.
Dass Bente die Teamleitung innehatte, war ein Plus. Er spielte sich nicht als Chef auf, sondern setzte auf Teamarbeit und übernahm bei Ermittlungen häufig eine eher moderierende Funktion. Fremde öffneten sich ihm gegenüber leicht, was auch an seiner verbindlichen Art und seiner harmlos wirkenden, genuschelten Aussprache lag. Liv hatte mit dem Dänen einige intensive Vernehmungen geführt und wusste, dass er auch anders konnte. Trotz der nachtschlafenden Stunde sah Bente wie aus dem Ei gepellt aus, nur Gesicht und Haare wirkten zerknautscht. Ihr Kollege Aziz schien auch jetzt abgeklärt und gelassen zu sein. Der kleine, arabischstämmige Mann war in ihrem Team der Computerexperte, der am liebsten im Hintergrund wirkte. Wanda war zwar eine gute Polizistin, aber auch anstrengend. An ihrem Perfektionismus scheiterte sie oft, und an der Erfüllung ihres Kinderwunsches hatte sie ebenso hart gearbeitet wie an der Aufklärung eines Falles. Dass sie mit Anfang vierzig noch immer nicht schwanger war, schien sie als persönliche Niederlage zu empfinden. Unter ihren Stimmungsschwankungen hatte auch Liv in letzter Zeit zu leiden gehabt.
Vereinzelte Fledermäuse und Nachtfalter durchkreuzten das Licht der Flughafenstrahler. Bente setzte die Kommissare über den Stand der Dinge in Kenntnis. »Bis wir auf der Plattform ankommen, dürften Hasselbrecht und die Kollegen einige Infos über die Mitarbeiter zusammengestellt haben. Wir müssen herausfinden, wer was beobachtet hat, wer mit dem Toten befreundet oder verfeindet war und so weiter«, sagte Bente.
»Wie bei Nachbarschaftsbefragungen also«, meinte Wanda und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
»Ich hätte dich gern als Aktenführerin. Du untersuchst zudem die Dienstpläne der Plattform-Besatzung und die sonstigen Papiere, damit wir Verbindungen erkennen und die Mitarbeiter in einer möglichst sinnvollen Reihenfolge befragen können«, sagte Bente zu Wanda.
»Wird gemacht.« Wanda riss den Mund nun doch so weit auf, dass Liv um die Sicherheit der Nachtfalter fürchtete.
»Bestimmt können uns Kriminaltechnik und Rechtsmedizin bald weitere Anhaltspunkte geben. Dann können wir schneller aussieben und mit dem Rest der Belegschaft ins Detail gehen«, hoffte Liv.
Bente wandte sich an Aziz. »Du nimmst dir Funkdaten, WLAN und Sicherheitstechnik vor. Es muss einen Router geben, eine Schnittstelle, über die der Datenverkehr läuft. Im Zweifelsfall kontaktierst du die Computerforensiker vom LKA.« Aziz nickte nur. Bente sah auf seine Notizen. »Bis vor Kurzem war DanTysk der einzige Windpark mit einer Wohnplattform da draußen. Raan wurde erst im letzten Jahr fertiggestellt. Die fünfundsiebzig Windräder …«
»Raan?«, fragte Liv nach.
»So heißt der Offshorepark. Wieso?«
»Seltsamer Name. Raan oder Rán ist die altnordische Meeresgöttin. Sie ist eine Art rachsüchtige Meerjungfrau. Ihre neun Töchter stellen die verschiedenen Wellenarten dar, wenn ich mich recht erinnere. Henriette Hanzmann, die Geschäftsführerin der Anlage, hat wohl eine Vorliebe für Mythologie.«
»Irrelevant«, mischte Wanda sich ein.
»Der kaufmännische Geschäftsführer wird uns begleiten und über die Verhältnisse auf der Plattform informieren«, machte Bente weiter.
»Wieso kommt Hanzmann nicht selbst?«
»Die kriegt man anscheinend nicht von Sylt weg.«
»Mit dem Windpark Butendiek hat Hanzmann aber nichts zu tun?«
»Soweit ich weiß, nicht.«
Liv erinnerte sich noch gut an die Diskussion über die Errichtung des ersten Windparks vor Sylt. Ein Rechtsgutachten im Auftrag der Umweltschutzorganisation Nabu hatte gezeigt, dass Butendiek niemals hätte genehmigt werden dürfen, weil das Gebiet in der Kinderstube der Schweinswale und beim Jütlandstrom lag, der für ein hohes Fischvorkommen sorgte. Bei klarem Wetter konnte man von Westerland aus den Windpark am Horizont sehen. Obgleich die Windräder in der Ferne klein und verwischt wirkten, missfiel Liv diese Zerstörung der Weite.
Als Sebastian und die Kriminaltechniker hinzutraten, rief Bente die Fotos auf seinem Handy auf. Das erste war aus einer seltsamen Perspektive aufgenommen und zudem unscharf. Ein gewaltiges gelbes Gerüst füllte den Großteil des Bildes. Das Meer leckte weit das Metall hoch, Gischt hatte das Kameraobjektiv besprüht. In einem V aus einem Stahlpfosten und einer dünneren Verstrebung baumelte der Körper. Mit seinem Arm und der Kleidung hatte sich der Tote anscheinend im Gestänge verklemmt. Sein schwarzer Overall war verrutscht, die aufgerissenen Augen, die Verletzungen am Hals, die herausgequollene Zunge und die Blutspuren auf seinem Gesicht waren gut zu erkennen. Fragen schossen durch Livs Kopf. Wie war Dennis Marzen auf dieses Gerüst gekommen? Warum war der Körper dort hängen geblieben? Wie kam man überhaupt an diesen unwegsamen Ort? Hatte Marzen zu diesem Zeitpunkt noch gelebt? Oder hatte jemand ihn getötet und versucht, seine Leiche im Meer zu entsorgen? Wenn ja, war es ein Einzeltäter gewesen oder hatte er einen Helfer gehabt? Hatte jemand etwas von der Tat mitbekommen? Und natürlich: Was war das Motiv für diesen Mord – wenn es denn einer war?
Gemeinsam sprachen sie die Informationen durch, die sie bisher erhalten hatten. Dann folgte Liv ihrem Kollegen zu seinem Dienstwagen, wo Bente ihr ihre Walther P99 und das Holster aushändigte. Für einen Augenblick wog Liv die Dienstwaffe in der Hand. Noch immer hatte sie an den Vorfällen zu knapsen, die den letzten Herbst in den dunkelsten ihres Lebens verwandelt hatten. Natürlich hatten ihr das Disziplinarverfahren und die Ermittlung, die gegen sie eingeleitet worden waren, zu schaffen gemacht. Ausgerechnet in dem Beruf, den sie liebte, dem sie so vieles unterordnete, stand sie unter Beschuss! Sie fühlte sich an den Pranger gestellt, obgleich sie nur getan hatte, was nötig gewesen war: Sie hatte von der Schusswaffe Gebrauch gemacht, um Menschenleben zu retten; der Täter war jedoch durch ihre Hand gestorben. Glücklicherweise war sie inzwischen offiziell entlastet. Ihre Chefin Hilke Hasselbrecht und die meisten im Team standen zu ihr, aber der eine oder andere Kollege der Polizeidirektion ließ sie spüren, was er über sie dachte.
Quälender jedoch waren die Vorwürfe, die sie selbst sich machte. Erst nach langen Gesprächen mit Freunden und dem Polizeiseelsorger in Eutin war es ihr gelungen, ihr seelisches Gleichgewicht einigermaßen wiederzufinden. Auch Sebastian hatte ihr ein wenig mit seiner sachlichen und dennoch einfühlsamen Art geholfen. Schließlich hatte Liv sich schonungslos ihrer Schuld gestellt. Hatte getrauert.
»Alles in Ordnung?«, fragte Bente.
»Natürlich«, sagte Liv schnell, legte das Holster an und steckte die Pistole ein. Sie bemerkte Wandas abschätzigen Blick und hielt ihm stand, bis ihre Kollegin sich die Augen rieb. Nie hatte Liv leichtfertig von der Dienstwaffe Gebrauch gemacht, aber in Zukunft würde sie es noch genauer nehmen. Niemand sollte ihr zum zweiten Mal nachsagen, sie habe unprofessionell gehandelt.
Mit einem entfernten Knattern kündigte sich der Hubschrauber an. Die Kommissare trugen ihre Ausrüstung zum Landeplatz, wo Sebastian und Oda bereits warteten. Schnell wurde der Hubschrauberlärm ohrenbetäubend. Scheinwerfer durchschnitten die Nacht. Livs Puls beschleunigte sich beim Anblick des tonnenschweren Fluggeräts. Noch nie war sie mit einem Heli geflogen. Mit wehenden Jackenschößen kam Botersen-Evers zu ihnen.
Als der gleißende Lichtschein die kleine Gruppe auf dem Flugfeld bestrahlte, verspürte Liv einen Energieschub. Sie hatten sich hier eingefunden, um herauszufinden, warum ein Mensch gestorben war. Um gemeinsam die Ursache für einen Todesfall zu ergründen. Um möglicherweise einen Verbrecher dingfest zu machen und der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Eine Gemeinschaft mit einem wichtigen Auftrag, das waren sie.
Unwillkürlich zog sie den Kopf ein, als der Hubschrauber zur Landung ansetzte und sich das Dröhnen in ein mühlenartiges Flappern wandelte.
»Ah, ein Leonardo AW139. Dann kann ja nichts schiefgehen«, meinte Bente begeistert. »Habe ich an Größe, Fenstern und Rotoren erkannt. Bis zu sieben Tonnen. 306 km/h in der Spitze. Geräumige Kabine. Oft nachtflugtauglich ausgerüstet. Wird wegen seiner Zuverlässigkeit und Sicherheit gerne für Offshore-Einsätze und bei der Küstenwache eingesetzt.«
»Dann bin ich ja beruhigt.« Wanda wirkte erleichtert.
»Ein verlässliches Transportmittel ist viel wert. Allerdings ist beispielsweise bei Ölbohrinseln die Anreise immer das Gefährlichste«, meinte Sebastian beiläufig.
Wanda verzog säuerlich das Gesicht. »Danke, die Info war unbedingt nötig.«
Sebastian hob unschuldig die Schultern, und Liv musste sich ein Lächeln verkneifen. »Es wird schon alles gut gehen. Die Piloten sind ja sicher erfahren«, sagte sie aufmunternd zu ihrer Kollegin.
»Aber wir nicht.«
»Um meine Aussage etwas zu relativieren: Am gefährlichsten ist der Offshore-Transfer mit den Schiffen. Hubschrauber sind sicherer«, ergänzte Sebastian noch, aber Wandas Laune war im Keller.
Als die Rotoren beinahe zum Stillstand gekommen waren, wurde die Schiebetür geöffnet. Ein Mann um die fünfzig kletterte aus dem Heli. Er war mittelgroß und schlank, die Haare sehr dunkel für sein Alter, und er wirkte angespannt, was Liv ihm nicht verdenken konnte.
»Quirin Darss, kaufmännischer Geschäftsführer von Hanzmann Energy«, rief er, in dem Bemühen, den Hubschrauberlärm zu übertönen. Der Mann hatte ein Zahnpastalächeln und sprach sauberes Hochdeutsch, auch wenn Liv einen leicht bayerischen Einschlag zu hören glaubte. Darss führte sie zu einer der Baracken, weg vom Lärm des Helikopters. »Frau Hanzmann lässt sich entschuldigen. Sie hat mich gebeten, Sie zu begleiten. Auf der Plattform werden Sie ihren Gatten antreffen, der den Forschungszweig unseres Unternehmens betreut.«
»Woran wird denn da draußen geforscht?«, wollte Liv wissen.
»Unser Unternehmen ist führend bei der Entwicklung von Wellenkraft-Anlagen, schwimmenden Windrädern, sowie der Offshore-Wasserstoffproduktion«, sagte Quirin Darss bedeutungsschwer. »Wir rechnen damit, dass Frau Hanzmann und ihr Team noch in diesem Jahr einen Durchbruch auf einem dieser Gebiete – oder gleich auf mehreren – erzielen werden. Das wäre eine globale Sensation und ein epochaler Wendepunkt für die Energiewirtschaft.«
Eine Nummer kleiner geht es wohl nicht, dachte Liv. »Ich dachte, der Ehemann leitet die Forschungsabteilung.«
»Der Großteil der theoretischen Grundlagenforschung findet in unserem Labor auf Sylt statt. Herr Hanzmann verantwortet dagegen die technische Erprobung vor Ort.«
»Ist er Teilhaber der Firma?«, fragte Bente nach.
»Lauritz Hanzmann ist im Besitz von Anteilen. Frau Hanzmann ist weisungsberechtigt.«
In einem kargen Büro in der Baracke holte er ein Tablet heraus, während ein weiterer Mann im Sicherheitsanzug eine große Alubox bereitstellte.
»Sollten wir nicht so schnell wie möglich aufbrechen?«, wunderte Bente sich.
»Ohne eine korrekte Sicherheitseinweisung ist das nicht möglich. Eigentlich dürften wir Sie gar nicht einfach mit in den Windpark nehmen. Sie müssen bedenken, dass wir uns in einem lebensfeindlichen Umfeld bewegen. Jeder – ob Geschäftsführer, ob Mitarbeiter – muss zunächst geschult werden. Ein Offshore-Sicherheitstraining ist für alle Pflicht.«
»Ich verstehe Ihre Bedenken. Aber leider kann ein Tötungsdelikt nicht warten«, sagte Bente.
Darss strich sich durch die Haare, die mit ziemlicher Sicherheit gefärbt waren. »Wenn es sich denn um ein Tötungsdelikt handelt. Wir gehen von einem Unfall aus, wollen aber der Ermittlung nicht im Wege stehen.« Auf seinem Tablet rief Darss nun einen kurzen Film auf, in dem die Ermittler mit den Sicherheitsanzügen und dem Verhalten im Notfall vertraut gemacht wurden. Es ging darum, wie man sich aus einem notgewasserten Hubschrauber befreite, einen Verunglückten an Bord holte oder eine Rettungsinsel aufrichtete. Manches war wie eine Sicherheitseinweisung im Flugzeug, aber der Gedanke, mit einem Hubschrauber abzustürzen, erschien Liv absurderweise ungleich gefährlicher.
Der »Hoist-Operator«, wie Darss den Mitarbeiter nannte, der die Winde zum Abseilen bediente, versorgte sie mit Sicherheitsanzügen und Überlebenswesten. Im Nebenraum zogen sie sich bis auf die Unterwäsche aus und den Anzug an; Liv war froh, dass sie ihre lange Merinowäsche anhatte.
Die Spurensicherungskoffer und weitere Ausrüstung wurden im Helikopter verstaut. Die Kommissare stiegen durch die Schiebetüren in die Kabine. Zwei blaugepolsterte Sitzreihen standen einander gegenüber. In der Mitte befand sich ein weiterer Sitz, auf dem Quirin Darss Platz nahm. Neben Liv saßen Bente und Wanda, gegenüber Sebastian, Oda und Botersen-Evers. Bente hantierte nervös mit dem Gurt, bis Liv ihm half. Sie schnallte sich an und nutzte die Zeit, um auf dem Smartphone im Internet zu suchen. Der korpulente Kriminaltechniker holte ein Frikadellenbrötchen aus seiner Tasche, wickelte es aus dem Papier und biss hinein.
Botersen-Evers ist wie eine Dampfmaschine, die meist mit Zucker statt mit Kohlen läuft, dachte Liv.
»Muss das sein? Wie das riecht!«, platzte Wanda heraus.
»Mein Magen braucht was – sonst werde ich unleidlich. Ich habe auch noch Donuts. Möchte jemand?« Botersen-Evers zog eine Brötchentüte mit pink glasierten Krapfen aus der Tasche, doch alle lehnten ab. Sein Sicherheitsanzug war schon jetzt von Krümeln und Ketchupflecken übersät.
Nun versorgte der Hoist-Operator sie mit Gehörschutz. »Wir werden Sie ausnahmsweise per Funk verbinden, das machen wir üblicherweise nur bei Trainingssituationen, aber sonst können wir während des Flugs nicht sprechen. Diese Mickey-Mäuse hier«, Quirin Darss wies auf die Kopfhörer, »haben Mikros. Beim Flug herrscht hier ansonsten eine Geräuschkulisse wie in der Disko – und wer will schon die ganze Zeit schreien?«
Als die Tür zugeschoben wurde, waren nur noch der Sicherheitscheck der Piloten über die Kopfhörer und das schriller werdende Wubbern der Rotoren zu hören. Dann bekamen sie das Okay des Towers, und der Hubschrauber setzte sich in Bewegung. Nachdem sie ein Stück gerollt waren, hob sich das Vorderrad vom Boden und sie stiegen auf. Der Hubschrauber neigte sich so sanft, als würden sie auf einem fliegenden Teppich sitzen. Livs Magen hüpfte. Sie tauschte einen Blick mit Sebastian, dem die Bewegungen ebenfalls nichts auszumachen schienen. Quirin Darss war hingegen beinahe in seinem Sicherheitsanzug versunken. Bente schien sich gleichfalls nicht gerade wohlzufühlen, holte aber eine Tüte Lakritz heraus und ließ sie herumgehen. Liv nahm einen der starken dänischen Bonbons. Wanda bekam nichts davon mit, sie hatte die Augen zugekniffen und sich in den Sitz gekrallt.
Als sie die Flughöhe erreicht hatten, zog Quirin Darss Unterlagen aus einer Aktenmappe und verteilte sie. Bente und Botersen-Evers bekamen zusätzlich Grundrisse der Plattformen. Die Broschüren waren offenbar für Investoren gedacht. Bei schönstem Wetter aufgenommen, zeigten sie die Nordsee als spiegelnde Fläche. Weiß, mit gelbem Fuß, reihten sich die Windräder aneinander wie Balletttänzerinnen, die grazil die Arme schwenkten. Am Rande des Windparks staksten zwei rot-graue Kästen auf gelben Stelzen, die mit Querverstrebungen gesichert und mit einer Gangway verbunden waren. Die Plattformen waren hässliche Klötze mit kleinen Fenstern und dem grünen Teller eines Hubschrauberlandeplatzes.
»Die fünfundsiebzig Windräder stehen in der Nähe der dänischen Grenze. Der Windpark erstreckt sich auf einer Fläche von etwa sechzig Quadratkilometern. Die Wassertiefe beträgt dort zwischen dreißig und vierzig Metern«, referierte Darss über das Mikro. Liv lüpfte kurz die Ohrmuschel des Gehörschutzes; es war wirklich sehr laut.
»Unglaublich! Wie haben Sie denn bei dieser Tiefe die Pfosten in den Meeresgrund bekommen?«, wollte Bente wissen.
»Wir haben Monopiles und Jackets verwendet, also einzelne Fundamentrohre oder vierbeinige Stahlkonstruktionen. Absolut sicher und nach dem neuesten Stand der Technik.«
»Sind diese Stahlpfosten bei Umweltschützern nicht umstritten?«, wandte Liv ein.
Quirin Darss lächelte nachsichtig. »Wie man es nimmt. Die Fische und Hummer lieben die Fundamente der Windkraftanlagen sogar. Für das Einrammen haben wir Blasenschleier genutzt. Diese entstehen, wenn rund um die Rammstelle aus Schläuchen Luft ins Wasser gepumpt wird. Die Schleier aus Luftblasen brechen den Schall und vermindern damit den Lärm, sodass auch die Schweinswale geschützt werden. Das wird von Umweltschutzorganisationen empfohlen.« Quirin Darss klang wie ein PR-Texter. »Die gesamte Stromerzeugung des Windparks wird zu der Umspannplattform geleitet und dort in Wechselspannung umgewandelt. Das ist ein komplizierter Prozess, den ich Ihnen gerne näher erläutere, wenn Sie möchten. Per Seekabel gelangt der Strom an Land. Wir versorgen knapp vierhunderttausend Haushalte mit sauberem Strom.«
»Und die Arbeiter?«
»Unsere Mitarbeiter stammen aus Deutschland, Dänemark und Schottland.«
»Wen wundert’s, in meiner Heimat ist die Windenergie ein wichtiger Arbeitgeber. Dänemark exportiert seine Windenergie bereits in andere Länder, übrigens auch nach Deutschland«, sagte Bente nicht ohne Stolz.
»Viele Mitarbeiter haben Erfahrung mit der Offshore-Industrie, auch durch die Ölförderung. Gearbeitet wird im Schichtbetrieb, jeweils zwölf Stunden. Nach vierzehn Tagen folgt die Ausgleichszeit onshore.«
»Dann geht es also aufs Festland. Wann ist der nächste Teamwechsel?«, wollte Liv wissen.
»Übermorgen kommt das nächste Team mit dem CTV