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Sie hat nie gelernt zu leben. Er legt ihr die Welt zu Füßen. L.A. ist wild und bunt, doch davon bekommt Kayla nichts mit: Denn wegen ihrer kontrollsüchtigen Mutter kennt sie nur das Innere ihres Hauses. Als Kayla eines Nachts durch Zufall einen Weg in die Freiheit findet, trifft sie auf den attraktiven Jake. Dieser zeigt ihr, wie schön das Leben sein kann, wenn man es richtig auskostet. Es fliegen die Funken, aber eigentlich haben sich die beiden online schon in jemand anderen verliebt. Plötzlich finden sie sich in einem Sturm der Gefühle wieder und müssen sich entscheiden: Für wen schlägt ihr Herz wirklich? Mit märchenhafter Romantik verzaubert der neue Young-Adult-Roman von Marina Maass, in dem Kayla und Jake um ihre Freiheit, ihre Träume und ihre Liebe kämpfen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 348
Prolog – Kayla
Kapitel 1 – Kayla
Kapitel 2 – Jake
Kapitel 3 – Kayla
Kapitel 4 – Kayla
Kapitel 5 – Jake
Kapitel 6 – Kayla
Kapitel 7 – Kayla
Kapitel 8 – Kayla
Kapitel 9 – Jake
Kapitel 10 – Kayla
Kapitel 11 – Kayla
Kapitel 12 – Jake
Kapitel 13 – Kayla
Kapitel 14 – Kayla
Kapitel 15 – Jake
Kapitel 16 – Kayla
Kapitel 17 – Kayla
Kapitel 18 – Kayla
Kapitel 19 – Jake
Kapitel 20 – Kayla
Kapitel 21 – Toni
Kapitel 22 – Jake
Kapitel 23 – Kayla
Kapitel 24 – Kayla
Kapitel 25 – Jake
Danksagung
Content Notes
Cover
Marina Maass
TONIGHT IT’SUS
Roman
© privat
Marina Maass wurde 1996 in Niedersachsen geboren und hat die Liebe zu Büchern und dem kreativen Schreiben bereits im frühen Alter entdeckt. Gemeinsam mit ihrer Familie und zwei Hunden lebt sie in einem kleinen Dorf am Rande der Südheide.
Tonight It’s Us ist der Auftakt ihrer ersten Dilogie.
Mehr zu Marina Maass gibt es auf Instagram unter:
marinamaass_official
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.
Copyright © 2022 bei Buntstein Verlag, ein Imprint des Bookspot Verlags
1. Auflage
Lektorat: Melanie Schneider
Korrektorat: Johannes Eickhorst
Satz/Layout: Martina Stolzmann
Covergestaltung: Ilona Gostynska-Rymkiewicz
Titelmotiv: © wacomka (stock.adobe.com), lulya (stock.adobe.com)
E-Book: Jara Dressler
ISBN 978-3-95669-191-1
www.bookspot.de
Für alle, die gerade ein Märchen brauchen.
Inhalt
Prolog – Kayla
Kapitel 1 – Kayla
Kapitel 2 – Jake
Kapitel 3 – Kayla
Kapitel 4 – Kayla
Kapitel 5 – Jake
Kapitel 6 – Kayla
Kapitel 7 – Kayla
Kapitel 8 – Kayla
Kapitel 9 – Jake
Kapitel 10 – Kayla
Kapitel 11 – Kayla
Kapitel 12 – Jake
Kapitel 13 – Kayla
Kapitel 14 – Kayla
Kapitel 15 – Jake
Kapitel 16 – Kayla
Kapitel 17 – Kayla
Kapitel 18 – Kayla
Kapitel 19 – Jake
Kapitel 20 – Kayla
Kapitel 21 – Toni
Kapitel 22 – Jake
Kapitel 23 – Kayla
Kapitel 24 – Kayla
Kapitel 25 – Jake
Danksagung
Content Notes
Liebe Leser:innen,
in diesem Buch werden Themen behandelt, die negative Reaktionen auslösen können. Deshalb findet ihr auf Seite 263 einen Hinweis zu den Content Notes.
Wir wünschen uns das bestmögliche Leseerlebnis für euch.
Eure Marina und der Bookspot Verlag
Ich habe nie groß darüber nachgedacht, wie mein Leben aussehen wird. Eigentlich dachte ich, dass es so verläuft wie bei den meisten anderen Leuten auch. Wie man es aus Erzählungen und Filmen kennt: In normalen Verhältnissen aufwachsen, zur Schule gehen und den Abschluss machen. Dann auf ein gutes College, einen netten Mann kennenlernen, heiraten, Kinder kriegen und glücklich im hohen Alter an seiner Seite sterben. Gut, ich gebe zu, das Ende ist vielleicht doch ein bisschen übertrieben. Die ganze Vorstellung ist idiotisch gewesen.
Mein Leben ist nicht ansatzweise so verlaufen, wie ich es mir als Kind ausgemalt habe. Versteht mich nicht falsch, ich will mich keinesfalls beklagen. Mir hat es nie an irgendetwas gefehlt. Ich habe in den schönsten Häusern gewohnt, hatte die besten Kindermädchen und eine behütende Mutter, die ab und an etwas zu gluckenhaft gewesen ist.
Meinen Vater habe ich vermisst, obwohl ich ihn niemals kennengelernt habe. Es fehlte einfach eine männliche Bezugsperson in meinem Leben. Vielleicht ist deshalb alles so gekommen, wie es kam.
Dass mein Leben mit 18 eine dramatische Wendung nehmen sollte, war so auch nicht geplant. Nicht, dass es vorher bilderbuchhaft verlaufen wäre. Aber wenn alles, so wie man es kennt, aus den Angeln gehoben und neu zusammengewürfelt wird, ist das nicht leicht zu verdauen.
Ich habe mir mein persönliches Märchen gewünscht, so wie jedes Mädchen es vermutlich mindestens einmal in ihrem Leben tut. Es hat doch jeder ein Anrecht auf sein eigenes Märchen. Einmal wie Dornröschen wachgeküsst werden. Wie Prinzessin Tiara einfach auf den richtigen Frosch setzen oder wie Cinderella einen Prinzen finden, der sein ganzes Königreich nach der einen Frau absucht, die ihm nicht mehr aus dem Kopf geht. In meinem Fall ist allerdings kein Prinz auf einem schillernden, weißen Pferd zu meiner Rettung geeilt, sondern der Gärtner …
Na ja, ich schweife zu sehr ab. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Jedes Mädchen verdient ihr eigenes Märchen, egal wie ihr Leben verläuft. Ein Märchen mit einem romantischen Happy End.
Meine Geschichte entspringt aber nicht einem dicken, klobigen und verstaubten Buch. Es ist ein Märchen der anderen Art und das ist genau der Grund, warum es nicht mit »Es war einmal« beginnt.
»Kayla. Kayla bist du schon wach?« Grummelnd ziehe ich mir das Kissen über den Kopf.
»Kayla, du musst aufstehen.« Unbeeindruckt drehe ich mich auf die andere Seite. Ich habe gerade so schön geträumt! Ronan Rubinstein, einer der heißesten Schauspieler auf diesem Planeten, hat mich um ein Date gebeten. Mich! Zu dieser Situation will ich unbedingt wieder zurück.
»Kayla, die Schule geht gleich los. Ich bitte dich ein letztes Mal.« Langsam geht mir diese Stimme wirklich auf die Nerven. Es kann unmöglich schon acht Uhr morgens sein. Wer nervt mich also in dieser Herrgottsfrühe?
Ich bin doch eben erst ins Bett gegangen. Zufrieden stelle ich fest, dass in meinem Schlafzimmer wieder Ruhe einkehrt. Vielleicht habe ich mir die Stimme zur eingebildet. Perfekt! Seufzend kuschle ich mich tiefer in die Kissen und bin gerade dabei, wieder in das Reich der Träume zu gleiten, zurück zu Rubin und unserem Date, als ich unsanft in die Realität zurückgeholt werde.
Etwas Kaltes und Nasses trifft mich direkt im Gesicht. Verärgert setze ich mich auf.
»Ich habe dich gewarnt.« Francesca Marino, Haushälterin und die Mutter meiner besten Freundin, steht mit in die Hüften gestemmten Armen vor mir und funkelt mich böse an.
»Du bist schwerer zu wecken als Dornröschen nach ihrem 100-jährigen Schlaf!« Angeekelt nehme ich den nassen Waschlappen in die Hand und werfe ihn zurück in ihre Richtung. Lachend fängt sie ihn auf.
»Netter Versuch, Kleines, aber um mich zu erwischen, musst du schon früher aufstehen.« Haha, nette Retoure. »Und jetzt raus aus den Federn!«
Stöhnend lasse ich mich wieder zurückfallen. Sofort trifft mich der Waschlappen ein zweites Mal. Ein Blick auf den Wecker auf meinem Nachttisch zeigt mir allerdings, dass es erst halb sieben ist.
»Fran!« Entrüstet sehe ich sie an. »Ich habe noch anderthalb Stunden Zeit! Wieso zur Hölle hast du mich schon geweckt?«
»Weil du dich dringend noch unter die Dusche stellen solltest.« Zähneknirschend schlage ich die Decke zurück. Meine Schule steht fünf Meter von mir entfernt auf dem Schreibtisch. In Form eines Laptops und eines WLAN-Verstärkers. Es hätte also durchaus gereicht, wenn sie mich erst um halb acht geweckt hätte.
»Ich gehe Frühstück machen. Sieh zu, dass du ins Badezimmer kommst und … wasch vor allem dein Gesicht.« Sie tippt mir mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze, was mich kurz zum Lächeln bringt. »Du hast da noch Farbreste.«
Während Francesca den Weg in die Küche antritt, schlurfe ich wenig begeistert ins Bad. Nur die Aussicht auf das anstehende Wochenende und die damit verbundene Hoffnung, auszuschlafen, hebt meine Laune ein wenig.
Ein Blick in den Spiegel erklärt mir, was Fran gemeint hat. Überall in meinem leicht gebräunten Gesicht sind Sprenkel verschiedener Farben. Wenn sie nicht so bunt gewesen wären, hätte man sie glatt für Sommersprossen halten können. Gekrönt wird das Ganze von einem dicken, roten Klecks auf meiner linken Wange. Den wilden Umgang mit den Farben habe ich gestern gar nicht bemerkt. Na ja, meistens bin ich sowieso in einem kreativen Rausch, wenn ich male und blende alles andere um mich herum aus. Also kein Wunder, dass ich es nicht mitbekommen habe. Meistens hat das auch zur Folge, dass ich die Zeit vergesse und weniger schlafe, als ich eigentlich sollte. Aber immerhin kommen wundervolle Bilder dabei raus, die inzwischen großen Anklang in der Kunstszene finden.
Das Blinken meines Handys kündigt eine neue Nachricht an. Sie ist von meinem guten Freund Toni. Während ich ins Bad gehe, überfliege ich sie und mache einen kleinen Freudensprung. Er konnte eines meiner Bilder verkaufen! Damit bin ich 500 Dollar näher an meinem Traum, Kunst an der UCLA zu studieren. Mit dem Malen will ich später mein Geld verdienen. Ausstellen, mein Wissen weitergeben und vielleicht sogar eine eigene Galerie besitzen. Die größte Hürde, die ich für diesen Schritt in die Zukunft jedoch überwinden muss, ist meine Mom. Sie wäre damit nicht einverstanden, weshalb das Geld aus den Bildverkäufen auf ein separates Konto geht, von dem sie nichts weiß. Irgendwie werde ich sie schon noch davon überzeugen, aber das braucht Zeit, Geduld und jede Menge Fingerspitzengefühl.
Ich stelle das Wasser der Dusche an und schicke Toni ein Daumen-hoch-Emoji, bevor ich das Handy beiseitelege und mich ausziehe.
Frisch geduscht springe ich 15 Minuten später die Treppen ins Erdgeschoss hinunter. Meine langen, dunklen Haare habe ich zu zwei Zöpfen geflochten, damit sie mir nicht dauernd im Gesicht rumhängen. Ich bin kein Fan davon, Haare wie Rapunzel zu besitzen, aber Mom liebt es und besteht darauf, dass ich sie gut pflege. Wenn ich sie abschneiden ließe, würde ich vermutlich enterbt werden. Je näher ich der Küche komme, desto intensiver wird der Geruch von frischen Pancakes. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und mein Magen fängt direkt an zu knurren.
Plötzlich bin ich froh, dass Fran mich früher geweckt hat. Sie ist eine fantastische Köchin. Alle Angestellten lieben ihr Essen. Jeden Morgen bringt sie eine andere Köstlichkeit auf den Tisch und auch ich konnte mich ihren zauberhaften Kochkünsten nicht entziehen. Wo sie diese ganzen Rezepte herhat, ist mir schleierhaft. Sie muss hunderte Koch- und Backbücher in ihrer Küche stehen haben, aber wenn ich sie danach frage, schüttelt sie nur lächelnd den Kopf und tippt sich gegen die Schläfe. Bewundernswert.
Obwohl die Pancakes meinen Namen rufen und mich durch ihren verführerischen Duft Richtung Küche ziehen, bleibe ich kurz am Fuß der Treppe stehen. Mit den Fingerspitzen streiche ich über den kleinen, goldenen Kleiderhaken, über dem ein verblasstes Foto eines strahlenden, blonden Mädchens von etwa drei Jahren hängt. »Guten Morgen, Lizzie«, meine ich leise und beiße mir auf die Unterlippe. Ich würde meine ältere Schwester so gern kennen und mit ihr über meine Wünsche und Zukunftspläne sprechen, aber das ist nicht möglich.
»Du bist eine der wenigen, die nicht vor diesem Bild wegrennt«, reißt Fran mich aus meinen Gedanken. Ich drehe mich zu ihr um und zucke mit den Schultern.
»Daran ist auch nichts zum Weglaufen. Giulia und Toni finden es nur gruselig, weil Mom jedes Mal ausrastet, wenn jemand dem Bild zu nahe kommt. Als wäre es eine Art Altar.« Ich schüttle mich kurz bei dem Gedanken, wie sie den Handwerker angefahren hat, der es wagen wollte, dieses Bild zu entfernen. Wenn ich sie nicht zurückgehalten hätte, hätte sie die Firma gefeuert und wir wären noch länger in diesem Hotel geblieben, was sich nicht nach Zuhause anfühlte.
»Jeder trauert auf seine Weise, Kayla. Und deine Mom ist … eben speziell.« Fran wählt ihre Worte weise und obwohl ich weiß, dass sie recht hat, finde ich diesen Gedanken absurd.
»Aber es ist 20 Jahre her, seit Lizzie hier ertrunken ist.« In einem Pool, der zwar immer noch existiert, aber kein Wasser mehr beinhaltet. »Sie hätte schon längst damit abschließen können, wenn sie nur mal drüber reden würde. Aber nein, dieses Thema wird totgeschwiegen.«
»Jeder trauert unterschiedlich und jeder benötigt dafür unterschiedlich viel Zeit. Der Verlust eines Kindes ist immer schrecklich. Du solltest diesbezüglich nicht so hart mit deiner Mom sein.« Ich beiße mir auf die Unterlippe, um einen bissigen Kommentar runterzuschlucken, doch es funktioniert nicht wie beabsichtigt.
»20 Jahre sind in meinen Augen genug Zeit. Sie hat doch sogar die Stadt verlassen, um dem Schmerz zu entfliehen. Weil sie es hier nicht mehr ausgehalten hat. Wenn sie jetzt nicht dieses Jobangebot bekommen hätte, wären wir doch niemals zurückgekommen.« Fran sieht mich mitfühlend an. Für mich ist es schwer zu verstehen, weshalb Mom sich keine professionelle Hilfe gesucht hat. Ihre Tochter ist gestorben und ihre Ehe ist in die Brüche gegangen. Kein Mensch kann sowas allein bewältigen. Stattdessen geht sie nach Europa, behält trotzdem das Haus in Los Angeles, in dem das Unglück passiert ist, und spricht nicht mal mit mir über meine Schwester. Das will mir nicht in den Kopf.
»Komm, Liebes, wir frühstücken erstmal.« Fran lächelt mich an und mein Magen knurrt auf einmal so laut, dass ich beinahe über meine eigenen Füße stolpere, um in die Küche zu kommen. Dort wartet schon ein Berg Pancakes mit Ahornsirup und Früchten auf mich, der mich verzückt aufseufzen lässt. Also lasse ich mich auf einen freien Hocker fallen und verputze die Portion in Rekordgeschwindigkeit. Das schmeckt einfach himmlisch!
»Pass auf, dass du nicht erstickst mit den ganzen Pfannkuchen im Mund.« Grinsend lehnt sich Antonio Diez, der Gärtner des Hauses, gegen den Frühstückstresen und funkelt mich amüsiert aus seinen dunklen Augen an.
»Kann nicht sprechen«, erwidere ich kurz angebunden,
»Foodkoma.«
Lachend drückt er mir einen Kuss auf die Schläfe und nimmt dankend das Wasser entgegen, das Francesca ihm reicht. Wir haben uns auf Anhieb verstanden, auch wenn er sechs Jahre älter ist als ich. Toni ist für mich der große Bruder, den ich nie hatte. Es freut mich jedes Mal, wenn er da ist, auch wenn es nur drei Tage in der Woche sind. Er arbeitet für die Garten- und Landschaftsbaufirma seines Vaters und betreut einige Gärten hier in Beverly Hills, weshalb er immer viel zu tun hat.
Mom ist unsere Freundschaft ein Dorn im Auge. Aber so war das bisher mit jedem Jungen, mit dem ich mich länger als zwei Minuten unterhalten habe. Ich vermute, dass sie durch Lizzies Unfall viel überbehütender geworden und ihre Angst zu groß ist, noch ein Kind zu verlieren. Das ist auch der Grund, weshalb ich online unterrichtet werde. Da draußen, in der »richtigen« Welt, lauern in ihren Augen zu viele Gefahren für mich. Dass ich demnächst 19 werde und im Herbst ausziehen will, davon möchte sie nichts hören.
Der Versuch, dieses Thema anzuschneiden, artet jedes Mal in einen furchtbaren Streit aus.
Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass es beinahe Viertel vor acht ist. Verdammt! Hektisch springe ich auf, was mir von Toni und Francesca überraschte Blicke einbringt.
»Ich … ähm … ich habe noch was vergessen. Wir sehen uns zum Mittagsessen!« Mit meinem halb vollen Latte renne ich die Treppenstufen zu meinem Zimmer hoch. Natürlich immer darauf bedacht, die Arme nicht zu hektisch zu bewegen, damit noch etwas Kaffee in der Tasse bleibt. Ein wenig außer Atem reiße ich dann schließlich die Balkontür auf und trete nach draußen.
Los Angeles zeigt sich schon von seiner besten Seite. Es ist angenehm warm und die Sonne sucht sich ihren Weg hinter den Wolken hervor. Ein schneller Blick auf mein Handy zeigt, dass ich es gerade noch pünktlich geschafft habe: 7:44 am. Denn jetzt beginnt mein Lieblingsteil des Morgens. Kurz darauf biegt ein Jogger um die Ecke. Es ist eine glückliche Fügung, dass ich von meinem Balkon aus direkt auf die Straße sehen kann.
Verzückt stütze ich mich mit den Armen auf dem Geländer ab und lehne mich etwas vor, weshalb meine Haare rapunzelmäßig darüber fallen und beobachte, wie der junge Mann die Straße entlangläuft. Jeden Morgen kommt er um diese Zeit hier vorbei und wenn ich rechtzeitig aufgestanden bin, stehe ich auf dem Balkon und schmachte ihn an. Er ist groß, muskulös und tätowiert. Sein Gesicht konnte ich bisher nicht erkennen, aber wer einen so durchtrainierten Körper hat, muss auch ein hübsches Gesicht haben.
Heute scheint mein Glückstag zu sein, denn er läuft seit langem mal wieder oberkörperfrei. Ein richtiger Hingucker, uff. Verträumt stütze ich das Kinn in die Hand, als eine vertraute Stimme mich aus meiner Blase holt.
»Was vergessen also …« Überrascht zucke ich zusammen und hätte fast meinen Kaffee fallen lassen.
»Halt die Klappe, Toni«, erwidere ich und funkle böse zu ihm nach unten.
»Ich glaube, dir läuft hier ein bisschen Sabber runter.« Grinsend tippt er mit dem Finger gegen seinen Mundwinkel, woraufhin ich ihm die Zunge rausstrecke. So ein Idiot!
»Was beobachtest du da überhaupt?« Ertappt richte ich mich auf und merke, wie ich rot anlaufe.
»Gar nichts«, sage ich schnell und höre nur sein schallendes Gelächter.
»Ne, ist klar.«
»Du kannst so ein Arsch sein«, murre ich.
»Aber das magst du doch an mir.« Ich schneide eine kurze Grimasse, bevor ich den Blick wieder zur Straße lenke.
Seufzend schwenke ich den Kaffee in der Tasse umher. So ein Mist! Der hübsche Jogger ist leider nirgends mehr zu sehen.
»Vielen Dank auch, Toni«, murre ich leise und verschwinde in meinem Zimmer.
Ein lautes Klopfen reißt mich aus dem Tiefschlaf. Nein, eigentlich ist es kein Klopfen. Eher ein wütendes Hämmern, vor dem man Angst haben muss, dass es gleich meine Tür zerstört. Mein Gott, wer kann so früh schon was von mir wollen? Stöhnend schiebe ich die vollbusige Blondine von mir herunter, ziehe mir eine Boxershorts über und schlurfe zur Tür. Mein Besucher scheint noch nicht müde geworden zu sein, denn er klopft weiterhin unnachgiebig.
Genervt reiße ich die Tür meines Bungalows auf und schaue in das Gesicht meines Vaters.
»Guten Morgen, Jake. Schön, dass du dich dazu entschlossen hast, mir zu öffnen.«
»Ich hatte nicht wirklich eine Wahl, oder?«, erwidere ich und fahre mir mit der Hand einmal übers Gesicht. Oh Mann. Wir müssen gestern ordentlich gefeiert haben. Die kurze Nacht sitzt mir deutlich in den Knochen. Ein Blick über Dads Schulter zeigt mir, dass die Gärtner gerade ihre Arbeit aufnehmen. Also muss es etwa sieben Uhr sein.
»Was treibt dich hierher?« Lässig stütze ich mich mit dem Arm im Türrahmen ab, damit er das Chaos hinter mir nicht sieht.
»Deine Mutter.« Sofort richte ich mich auf und schlucke.
»Ist alles in Ordnung mit ihr?« Dad schiebt seine Hände in die Hosentaschen seines dunkelblauen Armani-Anzugs und wippt auf den Füßen vor und zurück. Ich schlucke einen Kommentar darüber herunter, dass er zu so früher Stunde noch nicht so perfekt gekleidet sein muss. Auch nicht, wenn ihm als Immobilienmogul halb Los Angeles gehört.
»Ich denke schon«, antwortet er jetzt endlich. »Sie kocht.«
»Sie kocht?!« Mir fällt die Kinnlade herunter, während mein Vater nur selig lächelt.
Heute scheint einer ihrer guten Tage zu sein. Vor sechs Wochen wurde bei einer Routineuntersuchung eine Auffälligkeit in ihrer Schilddrüse entdeckt. Sieben Tage später bekamen wir dann die traurige Gewissheit, dass es sich um Krebs handelt. Eine sehr aggressive Form, deren Heilungschance sehr gering ist. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht alles verstanden, was Dr. Mitchell damals erklärt hat, aber die Tatsache, dass Mom mit etwas Glück noch sechs Monate leben wird, hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Obwohl es beinahe aussichtslos ist, unterzieht sie sich einer Chemo- und Strahlentherapie, um gegen die Krankheit zu kämpfen.
Eine innere Zufriedenheit breitet sich in mir aus und mischt sich mit Glücksgefühlen, die ich kaum beschreiben kann. Ich freue mich enorm, dass es ihr heute gut genug geht, um aufstehen zu können und dass sie sogar kocht, lässt mich innerlich einen Freudensprung machen. Heute ist ein guter Tag!
»Vielleicht solltest du vor dem Frühstück nochmal duschen gehen. Du stinkst wie eine Kneipe.« Dad verzieht angewidert das Gesicht. »Denkst du nicht, dass du die Partys langsam hinter dir lassen solltest, um dich aufs Wesentliche zu konzentrieren?«
Mit der Zungenspitze fahre ich mir einmal über die Lippen. War ja klar, dass er dieses Thema noch auf den Tisch bringen muss. Aber besser hier als später beim Frühstück.
»Und was wäre das?« Ich kenne seine Antwort ganz genau. Trotzdem verschränke ich die Arme vor der Brust, recke das Kinn vor und richte mich noch ein wenig auf, sodass ich Dad jetzt um ein, zwei Zentimeter überrage.
»Dich aufs Studium konzentrieren und eine Frau finden, die du heiraten kannst. In deinem Alter war ich schon verlobt und habe die Grundsteine für die Firma gelegt. Justin steht auch schon kurz vor seiner Hochzeit.« Ich verdrehe die Augen. Mein Bruder Justin ist auch vier Jahre älter als ich, kennt das Wort »Leben« nur vom Hörensagen und ist seit der High School mit seiner jetzigen Verlobten zusammen. Ich hingegen habe nicht vor meine Zwanziger zu verschwenden und in einem Büro zu versauern. Die passende Frau für eine feste Beziehung habe ich ebenfalls noch nicht gefunden. So eine Suche braucht Zeit.
»Ich werde pünktlich um acht da sein«, meine ich schließlich und drehe mich um. Für eine Fortführung dieser Diskussion bin ich noch nicht wach genug. Geräuschvoll lasse ich die Tür ins Schloss fallen, was meinen besten Freund Wes weckt, der mit einer hübschen Brünetten auf dem Sofa liegt.
»Alter, hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«
»Viertel nach sieben«, knurre ich und werfe ihm sein T-Shirt zu. »Ich wurde um acht zum Familienfrühstück zitiert, also müsst ihr drei verschwinden.«
Wes macht ein gequältes Gesicht. »Mom … kocht«, füge ich erklärend hinzu, woraufhin er in der Bewegung innehält und mich ungläubig ansieht.
»Sie kocht?« Ich nicke und gehe zu meinem Bett, um die immer noch schlafende Blondine zu wecken. Sanft rüttle ich an ihrer Schulter.
»Hey, es tut mir echt leid …«, verdammt, wie war ihr Name nochmal? Haben wir uns letzte Nacht überhaupt vorgestellt?
»Allie«, hilft sie aus und setzt sich auf, bevor sie sich mit der Hand einmal übers Gesicht streicht. Allie, genau.
»Also, Allie. Es tut mir echt leid, aber du und deine Freundin müsst jetzt gehen.« Wes rappelt sich ebenfalls auf und weckt sein Mädchen, die nur unter leisem Protest die Augen öffnet. Er steht auf und klopft mir verständnisvoll auf die Schulter.
»Ich räume hier auf. Kein Ding, Mann.« Dankbar lächle ich ihn an. Wir kennen uns in- und auswendig, deshalb weiß er ganz genau, wie glücklich ich über den heutigen Tag bin.
»Ich geh joggen. Wäre cool, wenn ihr weg sein könntet, wenn ich zurückkomme.« Wes salutiert kurz und Allie nickt, während ich mir eine Sporthose anziehe und ihr 200 Dollar in die Hand drücke.
»Ich weiß nicht mehr, wo ihr wohnt, aber damit solltet ihr nach Hause kommen und frühstücken gehen können.« Normalerweise schmeiße ich niemanden so Hals über Kopf raus, aber heute ist ein besonderer Tag und an besonderen Tagen vergesse ich meine Manieren manchmal. Glücklicherweise scheinen weder Allie noch ihre Freundin ein Problem damit zu haben. Mit Kopfhörern in den Ohren verlasse ich das Grundstück am Fuße des Franklin Canyon Reservoir und fange an zu laufen.
Nach den ersten Metern spüre ich, wie sich meine Gedanken klären. Ich beruhige mich und bin optimistisch, dass ich nach meiner Runde am Frühstückstisch sitzen kann, ohne explodieren zu müssen. Dad versteht einfach nicht, dass ich mit 21 Jahren noch nicht bereit bin, mein Leben aufzugeben, um mich vollkommen der Firma zu widmen. Ich bin nicht wie Justin, der von Anfang an scharf darauf war, das Geschäft irgendwann zu übernehmen. Nur leider möchte Dad, dass ich das mit ihm gemeinsam tue. Die Tatsache, dass ich vielleicht ganz andere Pläne habe, wird dabei komplett außen vorgelassen. Momentan möchte ich mein Studierendenleben genießen. Mir die Nächte um die Ohren schlagen, mit schönen Frauen schlafen und einfach leben. Ist es so verwerflich, dass ich mich nicht mit Betriebswirtschaftslehre und Immobilienrecht rumschlagen will?
Ich biege um die nächste Ecke und gelange auf die Straße, die auf meiner Strecke am interessantesten ist: Der Summit Drive. Dort wo die Häuser nicht hinter weitläufigen Gartenflächen versteckt, sondern von der Straße aus gut erkennbar sind. Seit einigen Monaten ist das frühere Haus meines Patenonkels wieder bewohnt. Ein zweistöckiges Gebäude aus weißem Backstein, das fast 20 Jahre unbewohnt war und jetzt in neuem Glanz erstrahlt. Eine junge Frau ist dort eingezogen und steht beinahe jeden Morgen auf dem Balkon, wenn ich daran vorbeilaufe. Normalerweise wäre ich nicht auf sie aufmerksam geworden, doch vor einigen Wochen habe ich meine Kopfhörer vergessen und ihr Lachen hat meine Aufmerksamkeit erregt. Ein Lachen, das ich so schnell nicht wieder vergessen konnte. Es war Freude, pure Lebensfreude und so herzlich, dass ich seither jeden Morgen hier vorbeilaufe, in der Hoffnung, es noch einmal zu hören.
Durch die spärlich gepflanzten Bäume kann ich schon von Weitem sehen, dass sie bereits auf dem Balkon steht. Sofort werde ich langsamer und ziehe meinen rechten Kopfhörer aus dem Ohr. Ihre langen, dunklen Haare hat sie heute zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr fast bis unter die Taille reichen. Das ist neu. Normalerweise trägt sie immer einen Pferdeschwanz oder einen Dutt. Sie erinnert mich an Rapunzel aus dem Lieblingsfilm meiner Schwester. Öfter als mir lieb ist, bin ich damals mit Jolina und Mom ins Kino gegangen und habe zugesehen, wie Rapunzel gemeinsam mit ihrer Bratpfanne, ihrem Chamäleon und Flynn Ryder die Welt erkundet hat. Die Ähnlichkeiten zu Jolinas liebster Filmheldin werden mir heute zum ersten Mal so richtig bewusst. Ihr Balkon geht sogar lustigerweise von einer Art Turm ab! Gut, der ist nicht rund, sondern rechteckig und hat auch kein spitz zulaufendes, sondern ein Flachdach. Trotzdem hebt er sich deutlich vom Rest des imposanten Hauses ab. Ob sie darin genauso gefangen gehalten wird wie Rapunzel im Film? Ich schüttle den Kopf und grinse. Was für ein absurder Gedanke. Da geht schon wieder die Fantasie mit mir durch. Ich kenne dieses Mädchen nicht mal! Dennoch bin ich kurz davor, die Hand zum Gruß zu heben, aber ihre Stimme lässt mich innehalten.
»Halt die Klappe, Toni!« Verwirrt bleibe ich stehen. Mit wem redet sie denn da? Ein schneller Blick durch die Gitterstäbe des Zauns zeigen mir einen jungen Mann in zerschlissenen Jeans und schwarzem Muskelshirt. Vielleicht ihr Bruder?
Dieselben dunklen Haare haben sie jedenfalls. Einen Moment überlege ich noch länger hier zu verweilen, um vielleicht doch mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber ein kurzer Blick auf die Uhr zeigt, dass ich zu spät zum Frühstück komme.
Verdammt!
In Windeseile lege ich den Rest der Strecke zurück, springe in meinem Bungalow unter die Dusche und schlüpfe in schlichte schwarze Trainingshosen und ein weißes T-Shirt.
Wes hat echt ganze Arbeit geleistet in den 20 Minuten, die ich nicht anwesend war. Die beiden Frauen sind verschwunden und er hat sogar die vollen Aschenbecher geleert, die Flaschen entsorgt und die Fenster zum Lüften geöffnet. Auf den Mann ist einfach Verlass, dabei kommt unsere Putzfrau Rosa ohnehin noch vorbei.
Locker jogge ich über den penibel gestutzten Rasen zum Haupthaus, wo meine Eltern und Jolina wohnen. Bis vor zwei Jahren hatte ich dort auch noch mein Zimmer, doch als Justin den Bungalow freigegeben hat, um mit Abigail zusammenzuziehen, habe ich ihn mir unter den Nagel gerissen. Ein erster Schritt Richtung Unabhängigkeit.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, um zu checken, ob ich neue Nachrichten habe. Eine Welle der Enttäuschung durchflutet mich, als keine kleine grüne 1 am Symbol der VersacioApp sitzt. Vor einiger Zeit habe ich eine Frau in diesem Chatroom kennengelernt, als ich mal wieder einen Abend zuhause verbringen musste. Wir waren direkt auf derselben Wellenlänge und schreiben uns seitdem jeden Tag. Das Besondere daran ist, dass ich weder weiß, wie sie aussieht, noch weiß ich, wo sie wohnt, und ich bin mir nicht mal sicher, ob Lynn überhaupt ihr richtiger Name ist. Versacio funktioniert vollkommen anonym. Per Zufallsgenerator wird man einem Gesprächspartner zugeteilt und meldet sich nur mit einem Nickname an. Es wird kein Foto hochgeladen. Natürlich steht es jedem frei, Bilder und auch persönliche Informationen im Chat auszutauschen, aber Lynn und ich haben darauf verzichtet. Ich würde sie gern im realen Leben treffen, aber ich akzeptiere ihren Wunsch, die Anonymität beizubehalten. Zumindest vorerst. Sie kennt Seiten von mir, die ich nicht einmal Wes oder meinen Geschwistern zeige. Ich fühle mich ihr tief verbunden und würde sogar so weit gehen zu sagen, dass ich in ihr meine beste Freundin gefunden habe. Vielleicht sogar mehr als das. Sie löst Gefühle in mir aus, die ich so überhaupt nicht kenne. Eine ungewohnte, aber schöne Empfindung.
Mit leichter Verspätung spaziere ich um 08:02 in die Küche und werde mit dem Geruch von frischen Eiern und Speck begrüßt. Sofort ist die Sorge über ihre fehlende Nachricht verschwunden und ein breites Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.
»Mom, das riecht ja fantastisch!« Ich drücke ihr einen Kuss auf die Wange und stibitze mir einen fertigen Streifen Bacon aus der Pfanne. Sofort bekomme ich einen Klaps auf den Handrücken.
»Jacob Van Wyngaarden, reiß dich zusammen! Es ist genug für alle da.« Obwohl sie versucht streng zu klingen, verrät das sanfte Lächeln um ihren Mund, dass sie überhaupt nicht sauer ist. Warum sollte sie auch? Jolina, Justin und Dad machen sich bereits über ihre vollen Teller her. Selbst Wes hat sich zum Frühstück eingeladen und schlürft genüsslich seinen Kaffee.
»Du siehst gut aus«, meine ich leise und zupfe an dem Ende ihres grünen Tuchs, worunter sie ihre Glatze versteckt.
Durch die Chemo hat sie alle Haare, inklusive Augenbrauen und Wimpern, verloren, aber in meinen Augen ist sie immer noch die schönste Frau der Welt.
»Und weißt du, was noch viel besser ist? Beim Geruch von Essen wird mir nicht direkt schlecht.« Sie grinst und ich tue es ebenfalls. Mom so zu sehen, macht mich sehr glücklich. »Setz dich, Liebling. Sonst wird dein Essen kalt.« Sie drückt mir einen vollen Teller in die Hand und schiebt mich sanft Richtung Esstisch.
»Was machst du eigentlich hier? Hatte ich dir nicht gesagt, dass du nach Hause gehen sollst?«, frage ich Wes, nachdem ich mich neben ihn hab fallen lassen.
»Ein Frühstück ist doch das Mindeste dafür, dass er dein Chaos aufgeräumt hat«, entgegnet Dad, ohne von seiner Zeitung aufzuschauen. Ups, dann hat er vorhin wohl doch mehr gesehen, als er sollte.
»Außerdem«, fügt Mom hinzu und lässt sich ebenfalls auf ihrem Platz nieder, »gehört Wes doch inzwischen zur Familie.« Das warme Lächeln, das sie meinem besten Freund daraufhin schenkt, lässt ihn erröten und mir zieht es schmerzhaft das Herz zusammen. Es ist für mich noch immer unvorstellbar, dass sie bald nicht mehr da sein soll. Diese Frau hat das wohl größte Herz, das mir bisher begegnet ist.
Sie ist stärker als die tapferste Kriegerin und die beste Mom aller Zeiten. Es ist so unfair, dass gerade sie dem Krebs zum Opfer gefallen ist. Das hat sie nicht verdient.
»Dad, ich möchte mich nachher mit Ashley und Jillian treffen. Kannst du mich nach der Schule abholen und fahren?« Jolina lächelt Dad an, der daraufhin seine Zeitung beiseitelegt und seine jüngste Tochter entschuldigend ansieht.
»Ich würde gerne, mein Schatz, aber ich habe einen wichtigen Termin. Jake kann dich sicher fahren. Immerhin ist dein Cabrio noch zur Reparatur.« Er wirft mir einen kurzen Blick zu und ich unterdrücke ein Seufzen. Das kaputte Cabrio war der Grund für meinen Abend zuhause, durch den ich Lynn kennengelernt habe.
»Klar, ich hole dich ab«, entgegne ich, um den Frieden am Tisch zu bewahren. Auch, wenn ich mir Schöneres vorstellen kann, als meine kleine Schwester durch die Gegend zu kutschieren.
»Hey, wenn du deinen Speck nicht willst … ich esse ihn gern.« Ich bin so abgelenkt durch das Gespräch mit Jolina und Dad, dass ich erst im letzten Moment bemerke, dass Wes bereits dabei ist, nach meinem Teller zu langen. Im letzten Moment kann ich seine Hand noch wegschlagen.
»Untersteh dich mein Frühstück anzufassen«, knurre ich leise, was den ganzen Tisch zum Lachen bringt. An dieses Familienfrühstück werde ich mich gern erinnern. Das weiß ich jetzt schon!
Um zwei Uhr ist die Schule endlich vorbei. Jeder, der denkt, dass es cool ist, online unterrichtet zu werden, hat keine Ahnung, wie anstrengend es ist, sechs Stunden auf einen Bildschirm zu starren. Selbstverständlich haben wir zwischendurch Pausen, trotzdem überfordert es meine Augen schon sehr. Ich kann nicht nachvollziehen, wer diese Art des Lernens vorzieht. Da würde ich mich lieber sechs Stunden lang mit einem Privatlehrer in einem verschlossenen Raum einsperren lassen. Dann hätte ich wenigstens noch jemanden, mit dem man sich unterhalten könnte. In einer Onlineschule Anschluss zu finden, ist nämlich unheimlich schwer.
Ich werfe einen letzten Blick auf die Gesichter meiner Mitschüler, die bereits darüber sprechen, was sie am Wochenende tun werden. Also verlasse ich die Konferenz und lehne mich auf dem Stuhl zurück. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden, kein Teil dieser elitären Gemeinschaft zu werden. Als Tochter einer angesehenen Immobilienmaklerin kann man nicht mit prominenten Eltern mithalten.
Erschöpft fahre ich mir mit den Händen übers Gesicht. Der Unterricht ist zwar vorbei, aber morgen muss ich noch ein Schulprojekt einreichen, welches längst noch nicht fertig ist. Außerdem habe ich noch die eine oder andere Hausaufgabe zu erledigen, die Montag besprochen werden soll. Natürlich liegt das Wochenende dazwischen, aber ich erledige die unschönen Aufgaben gerne so schnell wie möglich, um mich dann entspannteren Dingen hinzugeben. Dem Malen zum Beispiel.
Jetzt laufe ich allerdings erstmal die Treppe herunter. In der Küche trällert Francesca irgendeine italienische Arie mit und der Duft von frisch gebackenen Waffeln hängt in der Luft. Heute muss mein Glückstag sein!
»Riecht köstlich!« Schwungvoll biege ich um die Ecke und entdecke Fran mit einer teigbeklecksten Schürze an der Spüle. »Ist Giulia schon da?«
Ich schnappe mir einen Teller und schaufle einige Waffeln drauf. Aufgrund eines unangekündigten Tests ist mein Mittagsessen leider ausgefallen, weshalb ich jetzt umso größeren Hunger habe. Zu meiner Enttäuschung schüttelt Francesca den Kopf.
»Sie hat noch einen Job nach der Schule. Wahrscheinlich kommt sie gegen fünf.« Seufzend schiebe ich mir ein Waffelherz in den Mund. Ich kann es kaum erwarten, dass Giulia endlich hier ist. Mom und ich haben in Tschechien, Frankreich und England gelebt und nirgendwo habe ich eine Schule besucht, geschweige denn Freunde gehabt. Deshalb ist die Zeit, die ich mit Giulia und Toni verbringen kann, unheimlich kostbar für mich. Durch sie sehe ich, was mir das Leben für Möglichkeiten bietet, und der Wunsch, an der UCLA zu studieren, wächst mit jedem Tag mehr. Ich will ein normales Leben führen, wie jeder andere in meinem Alter auch. Immerhin werde ich bald 19. Wenn nicht jetzt, wann dann?
»Okay … ich gehe dann mal Hausaufgaben machen. Sie soll einfach hochkommen, wenn sie da ist.« Francesca nickt und lächelt mich an, bevor ich mit dem Teller in der Hand wieder nach oben verschwinde.
In den nächsten drei Stunden erledige ich alle noch offenen Schulaufgaben, beende das morgen abzugebende Projekt und schicke es ab.
Anschließend schlüpfe ich in eine alte, zerrissene und mit Farbe bespritzte Jeans und in ein altes T-Shirt. Ich öffne die Zöpfe von heute Morgen und fasse meine Haare zu einem Dutt zusammen. Für dieses Wochenende habe ich mir ein besonderes Projekt vorgenommen. Seit ich ins Turmzimmer gezogen bin, habe ich nicht wirklich etwas verändert. Mom hat die Handwerker gebeten hier nur an manchen Stellen den Putz zu erneuern. Den Rest überlässt sie mir. Also habe ich die Wände in einem schlichten Eierschalenweiß gestrichen und langsam kann ich das nicht mehr sehen. Dieser Raum benötigt dringend etwas Farbe!
Mit geneigtem Kopf sitze ich jetzt auf meinem Bett und betrachte die Wand neben der Tür. Am liebsten würde ich den Schrank beiseiteschieben, eines der Bücherregale an der angrenzenden Wand abnehmen und das Zimmer mit einem Meer aus Rosen bunter wirken lassen. Um das bewerkstelligen zu können, brauche ich allerdings Hilfe. Diesen blöden Schrank habe ich schon beim ersten Streichen nicht von der Stelle bekommen.
»Hey, Bestie, was geht?« Meine Pläne werden jäh unterbrochen, als Giulia durch die Tür kommt und sich neben mich fallen lässt.
»Ich plane mein Wochenendprogramm«, entgegne ich, was sie eine Grimasse schneiden lässt.
»Was hast du denn Spannendes vor?« Ich kann das Feixen in ihrem Gesicht erkennen und stoße sie leicht mit der Schulter an. Giulia macht kein Geheimnis daraus, wie fragwürdig sie die Erziehungsmethoden meiner Mom findet. Tausendmal hat sie mich schon angefleht aus dem Haus zu schleichen, um sie auf irgendwelche abgefahrenen Partys zu begleiten. Aber so gern ich das auch getan hätte, es klingt leichter, als es in Wirklichkeit ist. Jede Tür in diesem Haus, die nach draußen führt, ist ab neun Uhr abends alarmgesichert. Sobald sie sich auch nur einen Spalt öffnen, geht eine furchtbar laute Sirene los. Dasselbe gilt für die Fenster im Erdgeschoss. Unentdeckt zu verschwinden ist also schier unmöglich.
»Ich wollte das Zimmer endlich streichen. So wie es aussieht, werden wir wohl eine ganze Weile hierbleiben, dann kann ich dem Ganzen auch einen persönlicheren Touch verleihen.«
Giulia nickt, doch ich sehe in ihren Augen, dass sie gern eine rebellischere Antwort gehört hätte.
»Hast du Lust, mir zu helfen?« Sie nickt wieder und fasst ihre langen, fast schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Wenn man uns so nebeneinandersitzen sieht, könnte man uns glatt für Schwestern halten. Wir haben beide dunkle Haare, ähnlich gebräunte Haut und sind fast gleich groß. Aber im Gegensatz zu mir hat Giulia perfekte 90-60-90 zu bieten, weshalb sie neben der Schule modelt. Entdeckt wurde sie durch den Friseursalon ihres Vaters. Irgendeine hochrangige Agentin hat dort beim Haareschneiden ihre Bilder gesehen und sie direkt unter Vertrag genommen. Als ich letztens mit Mom Essen gewesen bin, habe ich meine beste Freundin plötzlich in Lebensgröße auf einem Plakat an einer Hauswand gesehen. Das war schon beeindruckend. Aber wenn der Charakter nicht stimmt, kann man noch so gut aussehen, wie man will. Glücklicherweise ist Giulia innen genauso schön wie außen.
»Womit fangen wir an?« Sie sieht mich erwartungsvoll an.
»Lass uns den Schrank zur Seite schieben. Vielleicht schaffen wir das ohne Tonis Hilfe.«
Voller Tatendrang packen wir das massive Möbelstück an. Ich ziehe und Giulia schiebt. Und tatsächlich bewegt er sich!
»Warte mal«, schnaufend wische ich mir mit dem Handrücken über die Stirn. »Wenn wir so weitermachen, zerkratzt mir das das ganze Laminat.«
Giulia schnalzt nachdenklich mit der Zunge. »Was, wenn wir Pappe drunter schieben? Dann rutscht er vielleicht auch besser.«
»Du bist ein Genie!« Schnell flitze ich in mein angrenzendes Atelier und komme mit bemalter Pappe zurück. Unter größter Anstrengung wuchten wir den Schrank nach vorne und nach hinten, bis die Pappstücke richtig positioniert sind. Schon jetzt rinnt mir der Schweiß die Schläfen hinunter. Wieso musste Mom sich vor 25 Jahren so ein derart schweres Möbelstück anschaffen? Sie steht eigentlich gar nicht auf diesen Vintagestil. Aber zum Glück behält Giulia recht, denn der Schrank rutscht jetzt deutlich besser über den Boden.
Doch kaum haben wir die zu bemalende Stelle freigelegt, kommt der nächste Hammer: Dahinter wurde gar nichts verputzt!
Stattdessen sind da noch immer Tapetenreste von vor 20 Jahren. War den Handwerkern wohl auch zu mühsam, den Schrank zu bewegen. Na super!
»Sieht so aus, als müssten wir erstmal die Tapete abreißen, hm?« Giulia greift nach einer abstehenden Ecke und zieht daran. Doch anstatt nur ein Stück abzureißen, löst sich die Bahn komplett und fällt zu Boden. Und was jetzt zum Vorschein kommt, hätte ich nie für möglich gehalten.
»Ist das … eine Tür?« Sie klingt so überrumpelt, wie ich mich fühle. Fassungslos tauschen wir einen Blick. Vor uns in der Wand ist eine alte Holztür eingelassen. Sie sieht aus, als wäre sie schon lange nicht mehr geöffnet worden. Vielleicht weiß auch niemand, dass sie überhaupt existiert. Ich bin immer davon ausgegangen, dass Mom diesen Schrank gekauft hat, aber plötzlich bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht steht er schon seit ihrem Einzug an genau derselben Stelle und niemand hat sich je die Mühe gemacht, ihn zu verschieben oder wegzuwerfen.
»Wohin die wohl führt?« Vorsichtig umfasse ich den runden Türgriff und drehe leicht daran.
»Vielleicht in die Folterkammer deiner Mom?« Grinsend wackelt Giulia mit den Augenbrauen.
»Witzig.« Mit etwas Kraft drücke ich gegen die Tür, die sich daraufhin quietschend öffnet. Ein ungutes Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. Wie konnte niemand von einer versteckten Tür wissen, die anscheinend in einen weiteren Raum führt? Wir recken die Hälse, um etwas sehen zu können. Erkennen aber lediglich eine schmale Steintreppe, die hinunter in die Dunkelheit führt.
»Ein bisschen gruselig, oder?« Ich schlucke und klopfe mir den Staub von den Händen, der am Türknauf hing. Dieser Weg wurde definitiv schon lange nicht mehr genutzt.
»Gruselig? Vielleicht. Ich finde es vielmehr aufregend!« In Giulias Augen funkelt die Abenteuerlust, während mein Herz schneller schlägt. Ich spüre, wie meine Handinnenflächen schwitzig werden, und habe das Gefühl, alles viel deutlicher wahrzunehmen als zuvor. Als wäre mein Körper in Alarmbereitschaft. »Kay, wenn niemand von dieser Tür weiß und sie womöglich nach draußen führt, dann ist sie nicht alarmgesichert.«
Unsicher kaue ich auf dem Nagel meines Daumens herum. »Ich weiß nicht, Giulia …«
»Lass uns nur mal gucken, bitte.« Seufzend willige ich ein. Sie ist ohnehin nicht von dieser Idee abzubringen. Sofort schaltet sie die Taschenlampe an ihrem Handy an und beginnt den Abstieg. Ich bin dabei dicht hinter ihr. An den Wänden sind altmodische Kerzenhalter angebracht, die rundum mit Spinnweben umhüllt sind. Igitt! Leises Rascheln und Quieken lässt mich ahnen, dass wir nicht allein sind. O Gott, bitte lass die Mäuse nicht in mein Zimmer laufen!
»Wann ist das Haus nochmal gebaut worden?« Giulia dreht sich kurz zu mir um. »Das sieht alles sehr alt aus.«
»Ich habe keine Ahnung«, erwidere ich schulterzuckend. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass es nicht so alt ist. Inzwischen sind wir am Fuß der Treppe angekommen und finden uns vor einer weiteren Tür wieder. Diesmal ist Giulia diejenige, die sie öffnet. Sofort flutet Tageslicht den dunklen Gang und ein Schleier Efeu ermöglicht uns nur eine bedingte Sicht auf den Garten. Wie gut, dass Mom vom dem Efeu so angetan war, dass sie Toni die Anweisung gegeben hat, den ja nicht abzuschneiden.
»Der Wahnsinn!« Giulia sieht aus, als würde sie vor Freude gleich anfangen zu weinen. Vorsichtig schiebt sie das Grünzeug beiseite und steht in meinem Garten.