Tramontana - Andreas Neumann - E-Book

Tramontana E-Book

Andreas Neumann

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Beschreibung

Warum verschwindet jemand – einfach so? Das fragt sich einer, dessen Jugendfreund in den Südtiroler Alpen vermisst wird. Also sucht er ihn und macht dabei ganz persönliche Erfahrungen …

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Seitenzahl: 54

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INHALTSVERZEICHNIS

EINSTIEG

ANSTIEG

AUFSTIEG

ZUGANG

FORTGANG

ABGANG

1. EINSTIEG

Unschärfe, ratternde Bilder – Schmalfilmzeit …

Ein streifig verblasster Vorstadtrand im Revier …

Kinderzeit, grobkörnig gefärbt von wochentäglichen Grundschulwegen entlang jener verlockend bunten Kaugummiautomaten, vorbei an knallorangenen VW-Käfern und vereinzelten, letzten Kohlehaufen vor dunklen Kellerfenstern.

Unzählige gemeinsame Nachmittage mit dem Klassenkameraden, bestem Freund: Fahrradfahrten, Umgebungserkundungen – durchtränkt alles von traumversunkenen Regentagen vor dem Kassettenspieler.

Dann der gemeinsame Wechsel ans Gymnasium … Jene Westwindfrühlinge, gefolgt von endlos scheinenden Sommerferien: sonnenölduftige Freibadaufenthalte, unerreichbare Blickfänge in neonfarbenen Bikinis, Top 100 Songs aus weit geöffneten Fenstern, ´5, ´86 und noch 1987 – unsere Zeit. Das ist, was uns verband: eine unbeschwerte Dekade Jugendfreundschaft bis zum Familienumzug, der mich weit nach Süddeutschland trug, uns trennte – räumlich anfangs, vollständig später.

Erst zur Zeit des gewichtigen Kanzlerwechsels, Handybooms und Börsenhypes sollten wir uns am Münchener Bahnhof wieder über den Weg laufen. Sprichwörtlich. Denn irgendwie und einfach so und plötzlich er – da: hager wie seit jeher, blass, markanter noch sein Profil, knitterfreies Hemd, Krawatte, akkurat gescheiteltes Haar, Alu-Aktenköfferchen!

„Das gibt´s ja nicht!“ hatte er gesagt, ich lediglich ein „Du hier?!“ hervorgebracht, und wenige Verständigungsblicke später steuerten wir bereits einen Kaffeestand an, umsurrt von blechernen Lautsprecherdurchsagen, dem heiseren Kreischen einfahrender Bahnen.

In zunächst knappen Zügen wurde einander berichtet, bald darauf ausführlicher geschildert, bis dass wir angesichts vieler Gegenfragen – „Weißt Du noch …?“ – irgendwann in Vergangenheitsdetails lachend verharrten. Dabei zeigte er wie damals die irritierende Angewohnheit, unter einem dumpf ausgestoßenen „Ha!“ den Kopf kurz in den Nacken zu werfen und gleichzeitig die Oberlippe etwas nach oben zu ziehen. Mit irritierend meine ich, dass jene Eigenart zwischen verachtender Ablehnung sowie heiterer Zustimmung angesiedelt werden konnte und daher ausschließlich für Geübte wie mich, wenngleich zu diesem Zeitpunkt etwas entwöhnt, zu deuten war.

Befremdlich neu allerdings war nicht nur diese offensichtliche Zwanghaftigkeit, sondern auch jenes intensive Gestikulieren: Nachdem er nämlich das Aktenköfferchen vor sich auf den Tisch gelegt hatte, musterte er in immer wiederkehrenden Abständen die frontseitig spiegelsymmetrisch angeordneten Rädchenkolonnen der Nummernschlösser, um gleich darauf mit seinen Fingerkuppen über diese von außen nach innen zu gleiten und zurück. Dass jedoch ein wertvoller Inhalt solch ein auffälliges Verhalten hätte rechtfertigen können, war abwegig. Und wie er bei alledem so sprach, mit mir sprach, vermittelten seine raumgreifend untermalenden Handbewegungen zunehmend eine Art von Beschwingtheit, die irgendwie mit seiner nüchternen, regelrecht amtlichen Erscheinung nicht in Einklang zu bringen gewesen war.

Seit damaligem Zusammentreffen mit obligatorischem Mobilnummern-, Mailadressenaustausch sowie Übergabe seiner mit München adressierten Visitenkarte war unser einst brüderliches Verhältnis wiedererwachsen: Kamen wir anfangs auf Bar-Abende in Schwabing zusammen, deren Abstände sich allerdings schleichend verdichteten, so gerieten die Treffen auch ausufernder. Einander Anvertrautes wurde dabei immer intimer, bis dass wir uns irgendwann im Wechsel von aktuellen Beziehungsfindungen ´mal zu dritt, zu zweit und dann zu viert trafen, um schließlich gemeinsame Wochenendtrips, Urlaube zu planen.

Doch änderte sich alles mit dem Dienstag, als seine Frau spätnachmittags bei mir anrief, sie mache sich Sorgen, „große Sorgen“, denn er sei seit Tagen überfällig – „richtig überfällig!“, wie sie nachdrücklich feststellte. Zwar habe er ihr auch diesmal zuvor vom Büro gemailt, er fahre direkt nach der Arbeit, über das Wochenende in die Berge auf Tour, und typischerweise habe er wie immer „keine genaue Adresse hinterlassen, aber …“

Aber mir schien die Situation weniger dramatisch, als sie aus dem Hörer klang. Immerhin war seine Familie bereits zu unseren Kinderzeiten regelmäßig nach Norditalien gefahren, hatte dort ihre Osterferien mit Ausflügen nach Meran sowie Wandertouren im unteren Vinschgau verbracht. Einmal geprägt, war er dieser Tradition treu geblieben, wenngleich mit altersbedingten Abtönungen: Die Ferienaufenthalte waren sporadischen Wochenenden und die Meraner Stadtausflüge sowie Wanderungen anspruchsvolleren Touren in Seitentälern gewichen. Dass er also dorthin fuhr, stellte nichts Unübliches dar, ebenso wenig die eingeschlichene Unart, gelegentlich einen, zwei Tage anzuhängen und währenddessen sein Smartphone auszuschalten, netzfrei zu sein, weshalb ich ihre Aufregung nicht teilte, sondern vielmehr versuchte, sie zunächst zu beruhigen.

Nichts half!

Nach langem und längerem Zureden, Zuhören, ihrer Überzeugungsarbeit „sonst gebe ich eine Vermisstenmeldung auf“ und wegen meines Verantwortungsgefühls entschied ich mich: Du musst fahren, ihm nachfahren, ihn suchen!

So brach ich nach einem unvermeidbar intensivem Abendbrotgespräch bereits am nächsten Morgen vom nördlichen Münchener Hinterland, wo ich zwar längst beruflich, aber noch lang nicht kulturell geerdet bin, auf in Richtung Alpen: eine willkommene Abwechslung zu den Papierbergen, welche sich auf meinem Schreibtisch stapelten.

Die Routenwahl fiel zugunsten der etwas schnelleren A8 aus, sodass nach etwa einer Stunde der Rasthof Irschenberg anflog, den ich für eine erste Pause nutzte. Hier ging es zunächst auf die Toilette, dann organisierte ich, in eine laute Jugendreisegruppe geratend, mir einen XXL-Coffee to go, wurde mit den Schreiern hinausgespült und rauchte, an die Autotür gelehnt, bei leichtem Nieselregen eine schnelle Mentholzigarette, während aus dem Becher der Kaffeedampf zog.

Mit ihm schweifte mein Blick über die grüngesättigte Landschaft, wurde von sanften Erhebungen dorthin gezogen, wo unter tief hängenden Wolken erste Gipfel zu erahnen waren: Dort, inmitten der schroffen Wetter-, Sprach- und Kulturbarriere kraxelte mein langjähriger Schulfreund, Bruder im Geiste, spannte aus, schwieg. Ich stellte mir vor, wie er momentan auf einem Berghof pausierte, ja, wähnte mich bereits bei ihm, wobei ich herzhaft gähnte und ausgiebig die Augen rieb: „Wir werden schon sehen, was da los ist!“

Hiernach wurde die Kippe weggeschnippt, fädelte ich mich ungelenk auf den Sitz, klemmte den überschwappenden Becher mit spitzen Fingern in den Getränkehalter der Mittelkonsole, startete den Motor und fuhr weiter und weiter …

Die ausgewiesen tempolimitierten Streckenabschnitte schienen nebst mutigen Münchnern übermütigen Rosenheimern zu gehören, wenngleich es bei zunehmendem Niederschlag, bei leiser Radioberieselung auch für alle anderen Südwärtsfahrer zügig vorangehen sollte: Denn Staumeldungen trafen ausschließlich aus nördlicher Richtung ein, unterbrochen von Aktuellem in aktualisierter Dauerschleife aus Politik, Wirtschaft, Wetter, Sport.

Doch war es wiedererwachende Müdigkeit oder vielmehr Schuld, Schuld jener Techniksegnungen wie Automatik, Tempomat, Abstandshalter etc., die es derart schwierig machten, aufmerksam zu fahren? Wie auch immer, mein Untersatz wurde fliegender Teppich, wurde Sänfte, Bett, und so kam es, dass ich mich – mir nichts, dir nichts – in strömendem Regen auf der Europabrücke wiederfand.