Traumschiff - Alban Nikolai Herbst - E-Book

Traumschiff E-Book

Alban Nikolai Herbst

4,7

Beschreibung

"Vielleicht das letzte Radikalgenie." Frankfurter Allgemeine Zeitung Das Leben ist ein Traum! Ist es das? Gregor Lanmeister, einst ein erfolgreicher, wenn auch zweifelhafter Geschäftsmann, ist auf Weltreise an Bord eines Kreuzfahrtschiffes. Mit ihm reisen 144 Auserwählte, die das Schiff nicht mehr verlassen werden. Sie bleiben, um zu gehen. So wie er selbst - das wird ihm zunehmend bewusst. Minutiös beobachtet er das Geschehen an Bord und findet sich bald inmitten einer Gesellschaft eigenwilliger Persönlichkeiten wieder - da ist Monsieur Bayoun, sein Lehrmeister und Freund, der ihm ein geheimnisvolles Spiel hinterlässt; da sind die dralle, freche Frau Seifert sowie Kateryna, eine junge russische Pianistin, die er liebevoll Lastotschka, Feenseeschwalbe, nennt, außerdem ein schrulliger Clochard zur See und die stolze Lady Porto - sie alle und noch viele mehr nehmen mit ihm Abschied. Sodass er, von einer ihm vorher gänzlich fremden Sehnsucht erfasst, zu erkennen beginnt, was es mit diesem Sperlingsspiel auf sich hat. Über das Meer entdeckt Lanmeister den stillen Reichtum Leben, es eröffnen sich ihm immer neue Momente von märchenhafter Schönheit, bis Zeit und Meer, Vergänglichkeit und Traum zu einem rätselhaft entrückten Kosmos verschmelzen. In seinem neuen Roman schlägt Alban Nikolai Herbst einen ungewöhn- lichen, zärtlichen und gütigen Ton an. Geistreich, unmittelbar und humorvoll erzählt er vom Sterben als einem letzten großen Gesang auf das Leben.

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mare

Alban Nikolai Herbst

TRAUMSCHIFF

Roman

mare

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind imInternet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2015 by mareverlag, Hamburg

CovergestaltungNadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

CoverabbildungJan Windszus

Lektorat     Elvira M.Gross, Wien

Typographie (Hardcover)Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Datenkonvertierung eBook bookwire

ISBN eBook: 978-3-86648-319-4

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-215-9

www.mare.de

Und nun das dörre Röhricht lassen, das zu ruhen scheint, und auf die Formen achten des sich verwitternden Lebens.

Montale, Ossi di seppia, No 3.

33° 14’ S / 13° 20’ O

Lange habe ich gedacht, dass wir einander erkennen. Aber das stimmt nicht. Wir verstehen uns nur. Dennoch lehne ich stets an der Reling des Promenadendecks, wenn die Reisegäste das Traumschiff verlassen. Und wenn die neuen eingeschifft werden, sehe ich mir jeden Menschen sehr genau an. Wie er seine Füße auf die Gangway setzt, zum Beispiel, ob fest, ob unsicher. Ob er sich am Geländer festhält.

Viele sind krank. Andere können nicht mehr richtig gehen und stützen sich auf rollbare Hilfen.

Ich möchte wissen, ob jemand das Bewusstsein schon mitbringt.

Ich habe es seit Barcelona. Das liegt lange zurück.

Einhundertvierundvierzig Passagiere von vierhundert, fünfhundert. Das ist ein Drittel, zumindest ein Viertel. Wie kann man sich da nicht erkennen?

»Vergangenheit«. Was für ein weiches Wort. »Gegenwart«. Was für ein hartes. Es bezeichnet doch alles, was ist. – Nicht aber alles auch, was war? Wissen das, frage ich mich, diese Menschen? Woran erkenne ich die, die es wissen? Erkennen sie mich?

Geht von den Neuen zufällig ein Blick zu mir hoch, schweift er meistens weiter. Als wäre ich nicht da oder niemand, der einem auffällt. Was auch stimmt. Auffällig bin ich wohl nicht. – Der einzige, der mich sofort bemerkte, und schneller als ich ihn, war Monsieur Bayoun. Dann war er abermals schneller, indem er mir vorausging.

Mein Rücken. Die Schulter. Das Bein. Von Frau Seiferts Gehstock sind unter meinen rechten Fingerwurzeln die schmalen Ballen zu Schwielen geworden. Sogar der Ring drückt. Wobei ich gar nicht weiß, wozu ich ihn noch trage. Von wem habe ich ihn? Schön ist er aber schon, mit diesem Mittwochs-Topas.

Obwohl er mir lieb ist, mag ich den Gehstock nicht.

An Monsieur Bayoun habe ich ein Gebrechen nie bemerkt. So etwas war zwischen uns kein Thema. Ich kam bei ihm auf gar nicht die Idee. So sehr hat seine Haut geglänzt, wie polierte Kaffeebohnen. Und wenn er lachte, musste man einfach mitlachen. Dann blitzten seine etwas schiefen, trotz der Cigarillos perlweißen Zähne. Er habe lange in Marseille gelebt, hat er mir erzählt. So leidenschaftlich sei sein Vater an den Unruhen beteiligt gewesen, dass seine Mutter mit ihm bis ganz nach dort habe fliehen müssen. Schieße deine Strahlen und schrecke sie! habe er oft ausgerufen.

Immer schwang ein Stolz mit, wenn Monsieur Bayoun seinen Vater erwähnte. Der meine, den ich nicht kenne, hat mich lebenslang beklemmt.

Ich habe darüber nachdenken müssen, ob es vielleicht die Diskretion so schwierig macht, dass wir einander erkennen. Darüber denke ich sogar ständig nach. Denn andererseits ist sie nötig. Das hat weniger mit dem eigenen Stolz zu tun als mit der Rücksichtnahme aufeinander. Für sich alleine klagt man ja auch nicht. Da wäre es stillos, seine Gebrechen vor anderen auszustellen. Das Bewusstsein ist, fürchte ich, nur bei jenen, die sich ein Leiden nicht anmerken lassen.

Aber vielleicht gibt es Blicke. Vielleicht gibt es Gesten. Einen bestimmten Lidschlag. Mit wie viel Bedacht jemand isst. Genau auf so etwas achte ich, wenn ich mir die neuen Passagiere ansehe. Vom Bootsdeck zur Gangway hinab.

Trotzdem mag ich diese Tage der Einschiffung nicht. Sie sind mir zu unruhig. Das fängt schon mit dem Tag der Ausschiffung an. Mindestens drei Tage vergehen, bis wir wieder ablegen. Das Schiff wird da komplett auf den Kopf gestellt. So gründlich wird geputzt, repariert und gewartet. Keine stille Ecke findet sich mehr. Dauernd wird man vertrieben.

Die nicht von Bord gehen, müssen zu denen mit dem Bewusstsein gehören – habe ich einmal zu uns gedacht? Dahinter steckte noch immer ein Wunsch. Ich bin noch nicht bereit gewesen. Vielleicht merkt man es d a ran. Als sich Monsieur Bayoun wieder von mir zurückzog, hätte ich aufmerken müssen. Dann wäre ich vorbereitet gewesen. So hat mich sein Fortgang fast ein bisschen schockiert.

Aber mir geht es um die Neuen. Ob auch irgend einer von denen.

Monsieur Bayoun wurde als letzter von Bord gebracht. Das war in Nizza. Wobei es falsch ist, »als letzter« zu schreiben, mit »r«. Was sie die Gangway hinuntertrugen, war nur noch sein Körper. Ich habe mir nie Illusionen gemacht.

Die Bahre war selbstverständlich abgedeckt. Sie wurde in ein Totenauto geschoben. Es stand schon einige Zeit lang an der Pier. Auch das sehr diskret. Die Passagiere wollen vom Sterben nichts wissen. Man möchte leben und muss sein Geld verdienen. Da zeigt man den Tod auch nicht dann, wenn alle längst fort sind. Die Reiseleitung hat mein Verständnis. Das Gebot gilt auch für sie. Dass sie verschweigt.

Je länger ich hier bin, desto rätselhafter wird mir, weshalb sie uns zulässt. Wir belegen Kabinen, die sie ohne uns vermieten könnte. Zum Beispiel habe ich selbst nur einmal gebucht. Ich habe auch nur für eine Reise bezahlt. Dennoch habe ich seither das Traumschiff nicht mehr verlassen. Doch niemand verlangt neues Geld. Stillschweigend sind wir geduldet. Wie zum Beispiel die Luft oder dass es heute zu heiß ist.

Wobei es für diese Meeresgegend ziemlich kühl ist.

So dass ich mich entschlossen habe, ebenfalls zu schweigen. Wäre Monsieur Bayoun nicht gewesen, ich hätte große Zweifel, von einem »wir« zu sprechen. Aber er hat mir bewiesen, dass es außer mir noch andere gibt, die das Bewusstsein haben. Gelegentlich hat er in ihre Richtung genickt, in seltenen Fällen auf sie gezeigt. Eben, um mir das Zweifeln zu nehmen. Denn es ist nicht nur von persönlich großer Bedeutung, dass man sich sicher ist. Solange das nicht erreicht ist, bleibt man auf dem Traumschiff.

Einhundertvierundvierzig Ziegel.

In gewissem Maß sind die Aus- und Einschiffungstage wiederum interessant. Zum Beispiel, nachdem das Totenauto fortgefahren war. Da wurde auf der Pier ein flaches, geräumiges Zelt errichtet. Das wird so in kleineren Häfen wie Nizza gemacht, die keine Kreuzfahrt-Terminals haben. In solchen Zelten werden die neuen Passagiere empfangen. Da melden sie sich an, da werden die Kabinennummern vergeben oder bestätigt. Auch das Gepäck wird erst dort deponiert. Oft drängt und stapelt es sich bis nach draußen. Bis die Burmesen kommen, um es vor die zugeordneten Kabinen zu tragen. Es sind meistens Burmesen. Manchmal sind es Filipinos, die tief im Schiffsbauch leben.

Wenn die Passagiere eingecheckt haben, versammeln sie sich in der Lounge. Dort wird ihnen ein Cocktail gereicht. Der Kapitän hält eine kleine Begrüßungsansprache. Danach wird die Crew vorgestellt. Dazu spielt die Showband. Sie ist mir zu einem Greuel geworden. Das liegt aber nicht an den Musikern. Sondern es liegt an den Songs.

Früher habe ich die leichte Muse gemocht. Sogar nach Barcelona bin ich noch jeden Abend in die Shows gegangen. Doch sie stört das Bewusstsein. Wozu sie auch da ist, anders als der Wind und die Wellen und als das behutsame Stampfen der Motoren. Als ich das begriff, wurde sie mir unerträglich. Sie blieb es über Monate, vielleicht sogar Jahre. Genau kann ich das heute nicht sagen. Der Moment war ohne Konturen. Doch irgendwann fand ich meinen Frieden damit. Ohne ihre Banalität sind die Menschen nicht zu verstehen. Die das Bewusstsein haben, gehören zu denen gar nicht mehr richtig.

Wobei ich selbstverständlich nicht ohne Bekanntschaften bin. Zu Anfang habe ich sogar ständig neue gemacht, jedenfalls bis ich Monsieur Bayoun kennengelernt habe. Einen Fühsommermenschen hat er mich genannt, schon bei unserer ersten Begegnung. Frühsommermenschen sind niemals allein. Immer liegt, sagte er, vor uns der Sommer, der Winter aber hinter uns.

Deshalb werde ich jetzt, wo er weg ist, erneut Bekanntschaften machen. Trotz meines Schweigens. Manche Passagiere sprechen mich ja an, wenn wir zum Beispiel beim Essen sitzen. Ich esse aber nur noch selten. Vielleicht suche ich auch dort nur nach einem Hinweis auf Monsieur Bayoun. Ob von ihm etwas auf sie übergegangen ist. Ich weiß, dass das ungerecht ist. Es beschwert neue Bekanntschaften. Sowieso sind Gespräche aus dem Bewusstsein mit normalen Menschen kaum zu führen. Deshalb ziehen sie sich immer schnell von mir zurück. Ich meinerseits bin von ihnen genauso schnell enttäuscht. Mir fehlt für sie die Geduld. Nur zwischen Monsieur Bayoun und mir war ein Verständnis sofort da. Das blieb so bis zum Schluss. Bis auch er sich zurückgezogen hat.

Das ist wieder so ein Wort, »Schluss«. Wie wenn das Ende plötzlich wäre. Als flösse nicht alles sehr langsam aus. Selbst wenn nicht nur das Bewusstsein zunimmt, werden wir alle zunehmend leichter. Am Ende sind wir ein Rinnsal ins Meer. Niemand kann mir erzählen, von Monsieur Bayoun sei darin noch etwas erhalten. Es gibt in der See keine Seele. Sondern sie ist sie.

In dem Totenauto fuhr etwas weg, das es vorher so nicht gegeben.

Viele Passagiere sind ungefähr meines Jahrgangs, manche sogar älter. Schon wie sie in der Lounge ihren Cocktail trinken, zeigt ihren Willen, sich in den folgenden Tagen und Wochen auf jeden Fall zu amüsieren. Derweil stehen die silbernen Mädchen dabei. Sie halten auf silbernen Tabletts die immer schon nächsten Gläser. Nur hat mir Monsieur Bayoun das bestritten. Also, dass sie für alle da sind. Nämlich sagte er, die hätte nur ich gesehen. Sie nicht? habe ich gefragt, weil ich da noch gesprochen habe. Ich sehe sie nicht mehr, hat er geantwortet und das »mehr« betont. Sie begrüßen uns bloß mit ihren verborgenen Perlen. Bei welcher Formulierung er auflachen musste mit seinem Cigarillo zwischen den Zähnen. Diese Augen, fragte er, sind Ihnen nicht aufgefallen?

Wenn er das nicht gesagt hätte, hätte ich die Mädchen schließlich für eine Halluzination gehalten. Tatsächlich habe auch ich sie kein zweites Mal gesehen. Als ich eines von ihnen ansprach, schwieg es. Doch lächelte es mich ungezwungen an. Mit diesen herrlichen großen Augen.

Manchmal entdecke ich ein etwas jüngeres Paar. Dann denke ich, ihm sind Kinder versagt geblieben. Kreuzfahrten sind teuer, jedenfalls für jeden, der schließlich wieder geht.

»Schließlich«, »Schluss«. »Schließliche Menschen«. Durch unsere gewissesten Ausdrücke huschen die flüchtigsten Schatten. Für Übergänge haben wir überhaupt keine Sprache. Das liegt natürlich auch daran, dass man nach ein paar Wochen auf See Übergänge kaum noch merkt. Geht nicht gerade, wer bleibt? Ich bleibe lediglich an Bord. Um schließlich wirklich zu gehen. Hatte ich selbst Kinder? Ich habe einen Sohn.

Trotzdem bin ich mir sicher, gesund an Bord gekommen zu sein. Anders als die meisten anderen. Das mit der Schulter, wegen des Herzens, ist erst hier losgegangen, besonders das Bein. Darum hat mir Frau Seifert den Gehstock geschenkt. Ich entsinne mich aber nicht mehr der Botschaft, mit der sie ihn versehen hatte. Bestimmt liegt das Billet noch in meiner Kabine. Vielleicht, dass ich es gelegentlich suche.

Besser, ich tue es gleich. Eh ich es wieder vergesse.

Dieses Licht heute!

Dass ich an Frau Seifert so lange nicht mehr denken musste.

Sie war eine witzige, dralle, ein bisschen anzügliche Person. Fast so breit wie hoch, war sie aber klein hoch. Dabei erstaunlich beweglich. – Was fällt mir noch von ihr ein? Meine Großmutter hätte sie liederlich genannt.

Stets glühten ihre Wangen. Sie verließ das Achterdeck fast nur zum Schlafen. Selbst wenn es kalt war, blieb sie dort bis in die späte Nacht sitzen.

Sie rauchte.

Wir alle haben sie gemocht. Seit wann sie davonist, weiß ich nicht mehr.

Was vorher war und was noch kommt, versinkt in dem Bewusstsein. Doch alles geht nur langsam unter. Wir sehen ihnen zu, den Dingen, und denken, wie gut sie doch schwimmen. Dafür gibt es ein Wort, wenn man etwas gegen die See abdichtet. »Kalfatern«. Wir denken, uns kalfatert zu haben. Auch ich dachte es. Bis ich zu bleiben beschloss.

Hat mir Monsieur Bayoun erzählt, dass wir einhundertvierundvierzig sind? Die müssen sich doch erkennen lassen, wenn die alle nicht von Bord gehen!

Dass zu denen, zu uns, auch Frau Seifert gehört hat, habe ich erst später verstanden. Da war sie schon fort. Hätte sie das Schiff über die Gangway verlassen, ich hätte es bemerkt. Auch deshalb beobachte ich immer alles. Auch jeden Aufbruch zu den Landausflügen.

Wenn ein Hafen für das Traumschiff zu flach ist, klettern die Passagiere in Tenderboote. Oder weil es gar keinen gibt, sondern nur eine Mole. Wie in Mossel Bay neulich oder auf sehr kleinen Inseln. Wann haben wir vor San Félix gelegen? Die andere Seite der Welt. Fast alles von ihr hab ich gesehen. Aber selbst bin ich nie mehr vom Schiff.

32° 30’ S / 7° 30’ O

Das war überraschend. Eben setzte sich jemand zu mir, nahm meine Hand und gab vor, mich zu kennen. Das Meer ist heute völlig glatt, obwohl der Himmel bedeckt ist. Er leuchtet aber. Trotz des böigen Windes und obwohl wir ziemlich rollen. Nicht eine einzige Schaumkrone aber glänzt auf der See.

Ich habe meine Sonnenbrille in der Kabine vergessen. Meine normale muss reichen.

Aber dass sie doch meine Frau ist, sagte diese Person.

Was sollte ich tun? Ich wollte nicht abweisend wirken. Nur deshalb zog ich meine Hand nicht weg. Für ein Gespräch ist so etwas natürlich keine Grundlage. Darum reagierte ich auch dann nicht, als mein Besuch zu weinen anfing. Was ja ein Zeichen dafür ist, dass er das Bewusstsein nicht hat. Schon deshalb hätten wir uns nicht verständigen können. Darum hätte ich der Frau am liebsten gesagt, sie möchte bitte still sein. Hören Sie dem Wind zu, hätte ich ihr sagen wollen. Und dass es doch eigentümlich ist, so viel Wind und gar keine Wellen. So vieles Reden und gar kein Bewusstsein.

Dass man darüber dann weint, ist allerdings verständlich.

Bei Monsieur Bayoun hingegen hatte ich immer das Gefühl, ihn schon seit langem zu kennen. So, wie man jemandem nach Jahrzehnten wiederbegegnet. Wie man sich aus seiner Jugend an jemanden erinnert. Das war natürlich schon deshalb nicht möglich, weil er aus Marokko stammt. Er ist auch in Tanger an Bord gekommen. Wir hatten dort einen herrlichen Liegeplatz. Bis zur Kasbah konnte ich hinaufschauen und zugleich unten die Passagiere beobachten. Wie sie von der Stadt zurückkamen. Da guckte Monsieur Bayoun zu mir hoch.

Ein neuer Passagier, dachte ich nur. Aber sein Blick ließ nicht los.

Ich verspürte den Drang, ihm entgegenzugehen. Aber ich fürchtete, mir etwas einzubilden. Deshalb war er es, der mich ansprach. Es waren zwei Wörter, Vous aussi. Sie hätten eine Frage sein können. Es war aber eine Feststellung. Ich versuchte, mich an mein altes Französisch zu erinnern. Ich erinnere mich auch immer sofort, aber nur so, dass ich alles verstehe. Das Sprechen ist ein Problem. Man versteht, aber kann nicht antworten, jedenfalls nicht gleich. Zumal ich wusste, meine Antwort wird kompliziert. Trotzdem versuchte ich es, brach aber mittendrin ab. Ich weiß noch genau, wie ich die Antwort einfach auf deutsch gab.

Es war ein ziemliches Gedränge. Wenn wir einen Hafen verlassen, wird auf dem Achterdeck immer gefeiert. Goodbye-Party nennen sie das. Das gesamte Entertainment rückt für sie an. Es wird gesungen und getanzt, der immer kleiner werdenden Stadt zu- und den Passagieren vorgesungen. Nachgetanzt wird und vorgehampelt, weil die Passagiere mitmachen sollen. Die klatschen im Takt in die Hände. Nicht aber die silbernen Mädchen, sondern livrierte Kellnerinnen und Kellner laufen mit Tabletts herum.

Meist stammen sie aus Osteuropa, oft aus der Ukraine und aus Moldawien, wo man auch kleinen Lohn nimmt und trotzdem dankbar ist, Arbeit zu haben. Jedenfalls dröhnten und blechten aus allen Boxen die Evergreens und Tanzmusik, während wir uns zurück in die Meerenge schoben. Damals ging es Richtung Ägypten, wenn ich mich richtig erinnre.

Ich habe befürchtet, dass ich allein bin, sagte ich. Was nämlich hieß »befürchtet« auf französisch? Avoir peur, sagte er. Ich entsinne mich genau. Vous aviez peur que vous soyez seul. Aber das sind Sie keineswegs. Dennoch, den letzten Schritt tun wir ohne einander. Wir treten über die Schwelle ein jedes für sich. Woran mir sofort diese Formulierung auffiel, »ein jedes«. Das lag natürlich an seinem Deutsch. Aber, sagte er weiter, uns verbindet, dass wir es wissen und wollen. Auch das sagte er auf deutsch. Dabei war die Situation absonderlich genug. Er sagte aber noch etwas, eine Ergänzung. Zumal Sie wie ich, sagte er, ein Frühsommermensch sind.

Damit begann unsere Freundschaft.

Darf ich so nennen, was zwischen uns war?

In die Strukturen der Wogen versinken. Dass ich Fingernägel habe. Dass Monsieur Bayoun ein Berber war, hat er erst später erzählt, nicht schon bei unserm ersten Gespräch, ein aber, sagte er, Amazigh. Und dass das Meer wie die Wüste ist und sein Vater alleine hineinritt, um den Allerbarmer aufzusuchen. Weil seine Zeit gekommen war, kam er nicht wieder.

Ich weiß nicht mehr, ob Monsieur Bayoun das auf deutsch erzählte oder abermals auf französisch. Oder in einer anderen Sprache, die nur wir beide und die einhundertzweiundvierzig anderen verstehen. Sollte mein Freund recht gehabt haben, hätte auch in Nizza jemand Neues zusteigen müssen. Damit die Zahl stabil bleibt. Wenn einer von uns geht, kommt ein neuer Bewusster dazu.

Für die meisten stellt sich das Bewusstsein überhaupt erst auf dem Schiff ein. Mir geschah es in Barcelona, auf meiner ersten Reise. Nizza. Von Nizza aus ging sie los. Ausgerechnet.

Ich muss nachdenken.

Wie war die Tour?

Von Nizza aus nach Calvi, von dort nach Olbia und weiter bis Neapel. Kann das sein? Von Neapel aber zum Stromboli. Richtig. Es war nicht möglich auszubooten, der Scirocco zu heftig. Die See ging so hoch, dass die Außentüren zugesperrt wurden. Ich hätte ohnedies nicht hinausgekonnt. Mir war derart elend, dass ich mich kaum rühren konnte. Damals bin ich zum ersten Mal seekrank geworden, aber danach niemals wieder. Auch vorher nicht, wenn mich, wie hieß er noch gleich?, zum Segeln mitgenommen hat. Das habe ich immer geliebt. Meinen Schein habe ich trotzdem nie gemacht. Dafür war ich zu eingebunden in die Halbleiter. Für Sehnsucht ist keine Zeit gewesen.

Dann fuhren wir nach Palermo weiter und quer übers Meer bis Barcelona. Palermo habe ich aber noch gesehen. Ich hatte zwar auch in Barcelona herumspazieren wollen, mich sogar schon bereit gemacht. Auf dem Bootsdeck stand ich nur noch, weil ich mich nicht in die Schlange drängeln wollte. Vom Promenaden- bis zum Atlantikdeck waren die Treppen mit den Leuten verstopft.

Da begriff ich und blieb. So dass ich mich zum ersten Mal fragte, ob ich der einzige bin. Als wir wieder ablegten, um nach Ibiza weiterzufahren.

Auch in Valencia blieb ich an Bord, auch in Tanger, das in vollem Dienstag strahlte. Wo Monsieur Bayoun auf das Schiff kam, der das Bewusstsein aber schon mitgebracht hat. Deshalb habe ich manchmal das Gefühl, er ist eigens für mich hergeschickt worden. Obwohl er, erinnere ich mich, nicht allein war.

Die Frau war mir wegen ihres weitkrempigen Huts aufgefallen und wegen des hellrot gelockten Haars. So stellte ich mir eine Keltin vor. Mächtig wie eine Walküre. Wirklich habe ich erst gedacht, die singt in der Oper Tragödien. – Manchmal sehe ich sie noch. Wie sie die Relings entlangschreitet, immer mit diesem Hut, immer in Begleitung. Oft hört man sie auflachen. Aber ihr Gesicht kann ich wegen des Schleiers nicht erkennen. Den zieht sie immer herunter, wenn sie aus dem Überseeclub tritt.

Damals, mit Monsieur Bayoun, spazierte sie gern morgens. Was ein bisschen grotesk aussah, dieser grazile Mann und die enorme Frau. Von mir hat sie sich ferngehalten, auch nach Nizza. Wobei Monsieur Bayoun über sie nie mit mir gesprochen hat. Ich hatte den Eindruck, er wollte sie für sich alleine behalten. Das habe ich respektiert. Denn das Bewusstsein hatte ich schon ohne ihn.

Woher hat er das mit den einhundertvierundvierzig gewusst? »Spatzen«, seltsam. Monsieur Bayouns Chinesisches Domino. Was aber ein falsches Wort für das Mah-Jongg ist. Mit Domino hat es gar nichts zu tun. Doch werden auch da die Spielsteine »Ziegel« genannt. Schauen Sie, sagte Monsieur Bayoun und hielt eines der Plättchen hoch. Aus echten Walknochen. Es gibt so etwas, sagte er, auch aus Menschenknochen.

Was wird aus unseren Fingernägeln? fragte ich mich da.

Es ist nicht leicht, einen Körper wirklich zu erfassen, nicht einmal den eigenen. Das ist sogar viel schwieriger, als die Seele zu verstehen. Wie eng sie mit ihm verwandt ist, merken wir aber, wenn er ermüdet. Wie vernäht unsere Augen mit ihm sind. Wie dicht die Seele in jeden Muskel geknöpft ist.

Bei mir ist es das Bein und ein bisschen vom Herzen der Arm. Bei anderen sind es die Augen oder die Zähne, oder es ist alles zusammen. So bilden sich in der See blasse Flecken. Die verblassen aber immer noch weiter. Bis sie zu Löchern geworden sind. Durch die sieht das Bewusstsein aufs Meer und sieht der eigenen Auslöschung zu. Ein fester Ort nach dem anderen wird aus uns gelöscht. Wir hören schlechter, unser Geschmackssinn verkümmert. Nur die Fingernägel, sagt man, wachsen lange noch weiter.

Gewiss möchte keiner sich lächerlich machen. Manchmal denke ich, es ist eine Frage der Bescheidenheit. Anders als die übrigen Passagiere kennen wir unsere Ankunft nicht, weder die Zeit noch den Ort. Und möchten niemandes Schamgefühl verletzen. Schon dass ich von »Ankunft« schreibe, ist ein Ausdruck dieser Scham. Und von unserer Angst. Es stimmt nämlich nicht, dass die Zeit »fließt«. Sondern sie steht, und das Schiff bewegt sich durch sie hindurch.

Wir haben sehr viel gelacht, Monsieur Bayoun und ich, weil keiner das bemerkte. Woran wir uns dann d o c h erkennen könnten. Es ist ja nicht so, dass man nicht erschreckt, wenn das Bewusstsein sich erstmalig einstellt. Wenn einem plötzlich klar wird, was geschieht.

Ich entsinne mich der dämmervollsten Melancholie. Sie hielt von Barcelona bis Tanger an. Davor bin ich ein fröhlicher Mensch gewesen. Schon aus beruflichen Gründen hatte ich für Grübeleien überhaupt nicht die Zeit. Was den Raum dafür meint. Mit den Halbleitern habe ich schon jung begonnen. Sie haben mich Jahrzehnte ernährt. Bis die Chinesen kamen und ich die Firma verkaufen musste. Einfach, weil sie die … – es gibt dafür einen Begriff. Ich hatte für Deutschland die Strukturen. Wobei natürlich auch Siemens den Vertrag wollte. War es Siemens? Aber wegen Gisela hat Petra dann die Scheidung eingereicht. Auch wegen ihr.

Alles das ist nicht mehr wichtig.

Manpower, richtig. Weil sie die Manpower hatten. So dass ich wahrscheinlich kein guter Mensch gewesen bin.

Manneskraft. Ganz vieles ist witzig, aber nicht komisch.

Was hat das alles mit dem Mah-Jongg zu tun? Seit Monsieur Bayoun wieder weg ist, steht das Spiel unangerührt in meiner Kabine. Die einhundertvierundvierzig Steine liegen in den herausziehbaren Laden einer Kiste aus, so nannte er es, Hühnerfedernholz. Eine schwere Kiste, nachtschwarz lackiert und mit nachtblauem Samt ausgeschlagen. Ein Mittwochabendblau ist das. Mit einem kleinen Schloss kann man die zwei Türen vor den Laden verschließen.

Manchmal denke ich, dass ich der allerälteste Mann auf dem Schiff bin. Dabei feiere ich im kommenden Jahr erst meinen Siebzigsten. Natürlich werde ich nicht feiern.

Wem geb ich das Sperlingsspiel weiter?

Ich habe nämlich verstanden, dass dies meine Aufgabe ist. Wegzugehen wird wundervoll sein, wenn ich sie erfüllt haben werde. Ich werde, umgeben von Wasser, schwimmen, ohne dass ich es merke.

Vorhin sah ich lange die riesigen Ohren eines alten Mannes an, verwundert, erschrocken. Ich sah sie von hinten, so dass sie rot waren, dienstagsrot. So schien durch sie das Licht hindurch. Da dachte ich, ich verstehe sie nicht. Es kommt aber genau darauf an. Zum Beispiel kommt es darauf an, diese Ohren zu verstehen.

Was verstehe ich schon?

Was ist wahr? Was ist falsch?

Ein blinder Passagier ist auf dem Oberdeck gelandet, erschöpft von einem langen Flug. Ein Spatz. So fern vom Land zitterte er an der stählernen Bordwand. Er drückte sich gegen sie und breitete seine Flügelchen aus, um sie zu trocknen. Die kleine Lunge ging und ging.

Einer der Inder vom Service bückte sich zu ihm hinab und strich ihm mit zwei Fingern über das Gefieder. Dann ging er wieder, kehrte aber mit einer Serviette zurück. Darin nahm er den Vogel auf und barg ihn an seiner Brust. Eine Hand über Serviette und Spatz, trug er das Tierchen hinein. Nahe dem nächsten Land wird er es wieder fliegen lassen.

24° 31’ S / 3° 20’ W

Wenn die Zeit in Wirklichkeit stillsteht und wir uns durch sie hindurchbewegen, verliert man natürlich manches aus den Augen. Das ist im Raum genauso. Eine Stadt zum Beispiel sieht man nach hundert Kilometern nicht mehr, sogar schon nach dreißig. Menschen erkennt man bereits nach achthundert Metern nicht. Es merkt auch keiner, dass sich die Erde dreht und wir mindestens einmal am Tag auf dem Kopf stehen. Das ist natürlich gut so. Wir hätten sonst Angst, für immer ins Weltall hinunterzufallen.

Zum Beispiel könnte man sagen, dass die Seelen in Wirklichkeit hinabpurzeln, statt zum Himmel aufzusteigen. Das wäre sehr viel logischer. Vielleicht ist das damit gemeint, dass wir uns fallenlassen können.

Wenn ich also hin und wieder etwas vergesse, dann liegt das schlicht daran, dass sich mein Raum davon entfernt hat. Außerdem bewege ich selbst mich im Raum, nämlich als sehr kleiner Teil von ihm, der insgesamt durch die Zeit zieht. Weshalb ich an ein Buch aus meiner Jugend denken muss, das einem unkompliziert die Relativitätstheorie erklärt. Zum Beispiel sieht man einen Zug fahren. In dem geht ein Mensch in die fahrtgleiche Richtung. Vielleicht muss er aufs Klo. Oder er hat Hunger und will ins Bistro. Aber obwohl er sich überhaupt nicht beeilt, ist er schneller als der Zug. Das aber nur, wenn man ihm von draußen zusieht. Im Zug selbst geht er normal.

Genau so ist es mit dem Bewusstsein. Wer es hat, der sieht sich von draußen, obwohl er gleichzeitig drinnen ist. So dass er wirklich versteht, was passiert. Aber so komme ich mir dauernd beobachtet vor. Weil ich nicht nur die anderen beobachte, sondern genauso mich selbst.

Morgen werden wir vor Sankt Helena liegen. Wieder werde ich an der Reling stehen und zuschauen, wie die Tenderboote genommen werden. Wenn dann die Touristen an Land sind, beginnt für uns die Stille. In den Gängen hört man auf den Teppichen zwar sowieso keine Schritte. Doch auch auf dem Achterdeck wird es schlagartig ruhig, die auf dem Schiff Gebliebenen bewegen sich kaum noch. Es wird auch keine Musik gespielt. Alle sehen nur, ganz wie ich selbst, auf das Meer und das Land. So sind wir zusammen ein einziges Blicken.

Das Traumschiff ist selber die Zeit.

Über uns schreien die Möwen, unter denen die Kellner huschen. Auch das fast geräuschlos. Unser ruhiges Schaukeln hat sie am Ellbogen genommen und um die Taille gefasst. Sogar jeder Gedanke ist nur ein flüchtiges Wirbeln von Sand. Er ist Sand nämlich selbst. Wie ein Unssein, wie Wasser. So steigen wir fast schon gemeinsam, indem wir fallen, auf.

Das sind lange Momente einer letzten Vorbereitung. Doch ist es nicht wahr, dass noch einmal das ganze Leben an dem inneren Auge vorbeizieht. Das tut es selbst dann nicht, wenn wir die Lider, obwohl wir weiter aufs Meer schauen, schließen. Sie sind keine Leinwand, die Lider. Und keine Pupille ist ein Projektor. Sondern wie draußen Stille, so drinnen Dunkel.

Weil die Kellnerinnen aber den Eindruck haben, dass wir nun schlafen, fragen sie uns nicht, ob wir noch etwas haben möchten. Das tun sie sonst auf den Achterdecks dauernd. Oder sie laufen herbei und zupfen an einem herum. Dann soll man sich hinlegen, obwohl ich viel lieber sitze. Oder Tatiana meint, dass mir die Sonne nicht guttut. Deshalb setzt sie mir oft etwas auf den Kopf, wenn ich die Kabine verlasse.

Ich könnte mich dagegen wehren. Aber wenn ich ihr besser mit Mütze gefalle, dann tu ich ihr die Freude. Oder wenn sie es schöner findet, dass ich mir am Abend einen Schal um den Hals lege. So lasse ich mir die Mütze eben aufsetzen und bekomme um die Schultern den Schal.

Außerdem hat Tatiana oft Angst, dass ich zu wenig esse. Dabei habe ich meistens nur keinen Hunger. Alleine deshalb esse ich wenig. Eine Kleinigkeit morgens und erst am Abend etwas Warmes. Was auch daran liegt, dass mich das Essen anstrengt und ich nicht dauernd schlafen möchte. Mit Appetitlosigkeit hat das gar nichts zu tun. Im Gegenteil weiß ich heute ein gutes Gericht sehr viel mehr zu schätzen als früher.

Gerade an Bord will ich nicht wahllos sein, wo es täglich sechs, sieben Mahlzeiten gibt. Ich staune immer wieder darüber, was Menschen alles essen können. Schon das ist ein Grund für mein Befremden. Maßlos stopfen sie in sich hinein. Ich habe derart vollgetürmte Teller gesehen, dass mir fast schlecht geworden ist.

Zu den Essenszeiten meide ich deshalb den Überseeclub und das Waldorf.

Aber wenn wir unter uns sind, kommt sowas nicht vor, dass man mir zu essen aufzwingt.

Während die anderen auf ihren Exkursionen sind, kann man auf Deck friedlich liegenbleiben. So dass ich mir nun die Zurückgebliebenen ansehen könnte. Denn nur wer das Schiff nie verlässt, kann zu uns gehören. Hab ich das schon notiert?

Aber nicht alle einhundertvierundvierzig haben das Bewusstsein bereits. Das ist ein Problem. Es stellt sich bei manchen erst irgendwann ein. Weil es andere aber schon haben, wäre es sinnlos, zum Beispiel die Verbliebenen durchzuzählen. Dennoch kann der Tag einmal kommen, an dem wirklich nur die einhundertvierundvierzig nicht an Land gehen. Dann wäre auf einen Schlag klar, zu wem ich gehöre. So dass ich Kontakte knüpfen könnte, ohne in meinem ständigen Zweifeln zu sein. Denn jeder von ihnen wüsste sofort, wovon ich spreche. Da bekäme zu sprechen wieder einen Sinn, weil auch ich die anderen verstünde. Dann müsste ich nicht meine Selbstgespräche halten. Die schreibe ich nur deshalb nieder, weil es mir das Gefühl gibt, dass ich mich an jemanden wende. Zum Beispiel an einen alten Freund oder an eine Bekannte von früher. Da nimmt sie den Umschlag aus ihrem Briefkasten und ist ganz gerührt, weil ich sogar in meiner Ferne an sie gedacht habe. Weil sie das nie vermutet hätte.

Erst einmal bereitet sie sich in ihrer Wohnung zweiter Stock links einen Kaffee. Bevor sie den tiefschwarzen Brieföffner nimmt, den wir aus Kenia mitgebracht haben. Handarbeit aus Ebenholz. Nur dass Gisela keinen Kaffee, sondern immer Tee getrunken hat, Earl Grey. Ständig hat sie nach Bergamotte gerochen. Wirklich alles an ihr, sogar noch in der Badewanne.

Wenn sie nicht nach Hund gerochen hat wie schließlich insgesamt die Wohnung.

Also deshalb wartet sie, bis der Kessel pfeift.

Aber weil ich sie verlassen habe, schreibe ich bestimmt an jemand anderen. Trotzdem ist durchzuzählen eine gute Idee.

Nur reicht das nicht.

Wenn ich ein Klebeband hätte, würde ich Nummern auf die Abschnipsel kritzeln und jedem Erkannten eine hinten dranpappen. Das haben wir als Jungs so mit Zetteln gemacht, auf denen »Ich bin blöde« stand. Was wir uns schiefgelacht haben, wenn es Herr Grundmann nicht gemerkt hat! »Bullerbacke«, richtig, Bullerbacke ist sein Spitzname gewesen. Wir mussten das Wort nur flüstern, schon wurde er knallerot vor Wut. Lehrer haben damals noch gebrüllt. Uns schlagen haben sie aber schon nicht mehr gedurft. Bullerbacke trägt ’ne Jacke, die Hose is’ voll Lehrerkacke.

Selbstverständlich würde ich ebenfalls eine Nummer tragen. Denn zweidrei Menschen wiederzuerkennen, ist keine große Sache. Aber einhundertvierundvierzig, das kriegt man nicht hin.

Oder ich gehe umgekehrt vor. Ich besorge mir den Decksplan, weil da die Unterkünfte mit eingezeichnet sind. Dann streiche ich, immer wenn jemand das Schiff verlässt, seine Kabinennummer durch. Dafür habe ich Zeit von der ersten Einbis zur letzten Ausschiffung jeder neuen Reisegruppe. Sogar jetzt gleich, wo wir noch ganze drei Wochen vor uns haben, kann ich damit anfangen. Am Ende bleiben nur die Kabinen der einhundertvierundvierzig übrig. Das wäre auch weniger albern als das mit den Nummern. Wir müssten uns nur die Hänger an den Kabinenschlüsseln zeigen und wüssten gleich Bescheid.

Oje, schon wieder diese Heulsuse. Das nimmt allmählich überhand. Vor allem, weil auch sie die schwere Tür immer zuschlagen lässt, die zum Bootsdeck hinausführt. Das geht den ganzen Tag über so. Niemand achtet darauf, den Griff festzuhalten, um der Stahltür ihren Schwung zu nehmen. Weil sie obendrein mit Holzplanken beschlagen ist, knallt sie ihr Gewicht gleich doppelt heftig zu.

Jedesmal zucke ich zusammen und sehe auch jedesmal hin.

Was aber jetzt ganz gut ist, dass ich es tat. So war ich vorbereitet. Denn das hat sich herausgestellt, dass es das beste ist, nicht nur zu schweigen. Sondern insgesamt muss man den Eindruck vermitteln, dass man nicht da ist. Seelisch nicht da ist, meine ich. Wenn man durch die Leute einfach nur durchguckt, ist es ihnen viel unangenehmer, als wenn man schimpft oder sich wehrt. Tut man das nämlich, werden sie erst recht tätig. Dann kommt man aus der Aufregung gar nicht mehr raus. Das kann richtiggehend missbräuchlich werden. Schweigt man aber stur, geben sie ziemlich schnell auf.

Trotzdem verschwinde ich mal besser. Noch hat sie mich nicht gesehen.

Ich besorge mir jetzt den Decksplan.

Ist das zu fassen? Erst einmal drängte sich da eine lange Menschentraube vor der Rezeption. Das hängt natürlich mit dem Ausflug zusammen, weil sie zu Napoleon wollen. Nur haben sie vorher vergessen, die Exkursion auch zu buchen. Was sie jetzt nachholen müssen. Andererseits ist man in so einer Schlange geschützt, weil man nicht so schnell erkannt wird.

Deshalb habe ich immer lieber in Städten gewohnt. Auf dem Land fällt man als schlechter Mensch viel zu schnell auf. In Städten dagegen wird eine gewisse Gerissenheit vorausgesetzt. Man hat da viel mehr Möglichkeiten. Zum Beispiel hat es mir wirklich Spaß gemacht, Gisela sitzenzulassen, die sich nach den drei Jahren an die große Wohnung ja gewöhnt hatte. Oder waren es vier? Ohne mich hätte sie die Miete nie bezahlen können. So dass sie dann endlich freiwillig ging, quasi. Das war meine Rache dafür, dass ich nach meiner Trennung für Petra weiterzahlen musste. Als Ehefrau, hat der Anwalt gesagt, habe sie darauf ein Recht. Da habe ich nur drauf gewartet, mir dafür Satisfaktion zu holen. Wobei es egal war, bei wem. Sagt man das, »Satisfaktion«? Es hat auch absolut geklappt. Im Kempinski gab es richtig eine Szene mit Schreien, Gläserschmeißen und allem. Trotzdem bekam ich zwar den Decksplan, aber man wollte mir die Liste mit den Passagieren nicht geben. Dabei war ich zu der jungen dunkelhaarigen Russin wirklich freundlich.

Bitte gehen Sie jetzt wieder auf Ihr Zimmer, sagte sie, womit sie meine Kabine meinte. Man kann es den jungen Dingern nicht übelnehmen, wenn ihnen manchmal eine Vokabel fehlt. Sie haben in der Schule kein Englisch gehabt und schon gar nicht Deutsch gelernt und müssen jetzt alles auf einmal nachholen. In Bremerhaven wird sowieso die Crew wechseln. Dann kommen wieder nur deutsche Passagiere an Bord. Die Engländer und Australier steigen schon in Harwich aus. Jedenfalls weiß ich jetzt, dass es 547 Kabinen sind. Die Suiten aber mitgezählt.

So viele Leute sind diesmal gar nicht an Bord. Also muss ich jetzt auch noch jeden Raum herausbekommen, der auf dieser Reise nicht belegt ist. Gäbe man mir die Passagierliste, wäre das nicht nötig.

Das alles schoss mir an der Rezeption durch den Kopf. Wovon mich eine solche Erschöpfung überkam, dass ich zu weiterer Überzeugungsarbeit unfähig war.

Ich werde mich wegen der Liste später an den Hoteldirektor wenden. Früher hat man so jemanden einen Quartiermeister genannt. Wenn einer einen Doktor vor seinem Namen stehen hat, geht das natürlich nicht mehr.

Natürlich habe auch ich so etwas einmal haben wollen. Einen Doktor, meine ich. Dann war mir das aber zu teuer. Es hat diese Investition auch gar nicht gebraucht, weil bei den Chinesen viel mehr mein Alter gezählt hat. Dass ich über fünfzig war. Einen Dreißigjährigen hätten die als Verhandlungspartner überhaupt nicht ernstgenommen. Egal, ob mit oder ohne Doktor. Wobei ich natürlich Glück gehabt habe, dass die Gegenseite nicht noch älter, sondern sogar viel jünger war als ich, und zwar die gesamte Schlitzaugenriege. Ich seh sie noch vor mir da in München. Ein falsches Gucken neben dem andern. In Wirklichkeit hätte die Schlitzaugen aber ich haben müssen. Also wenn es stimmt, dass man einem die Gerissenheit ansieht.

Mir hat man sie nie angesehen. Ich war stets gepflegt, aber unauffällig in dunkelblauem Anzug, im Sommer ein bisschen heller im Blau. Auch schon mal grau. Krawatte, Lederschuh, Ende. Und natürlich die Brille. Das hat die Chinesen vertraulich gestimmt. Ich habe von allem Anfang an gewusst, dass sie mir eines Tages das Messer an die Kehle setzen würden.

In einer solchen Situation hat man für eine Familie keine Zeit.

In einer solchen Situation muss man auf dem Kiwief sein. Monatelang. Was heißt das, »Kiwief«? Oder schreibt man »Kiewief«, mit beide Male »e«? – Jedenfalls habe ich sowen wie Gisela einfach gebraucht. Geld spielte sowieso keine Rolle. Nach den Chinesen war ich entweder reich oder absolut pleite. Da konnte es mir schnuppe sein, ob ich nun zweitausend oder zehntausend für Gisela ausgab. Oder für Koks. Als der Coup dann aufging, war es erst recht egal.

Wobei ich mich an Frau Seiferts Gehstock allerdings gewöhnt habe. Das muss ich wiederholen, dass er mir lieb ist. Es ist kein besonders schönes, schon gar nicht wertvolles Stück, sondern ein einfacher Holzstock mit einem dünnen schwarzen Griff. Fast wie von einem Regenschirm.

Natürlich war mir das erst peinlich, weil es sichtlich ein Damenstock ist. Andererseits merkt man so kein Gewicht. Monsieur Bayouns Klarheit habe ich aber immer noch nicht. Ich stelle sie mir als eine weite Klarheit vor, als eine Klarstheit. Sie wird mir gar keinen Raum mehr für Gedanken an Gisela lassen oder an die Chinesen und Petra. Weil das alles ganz unwichtig wird.

Immerhin kann ich jetzt schon hinschreiben, dass ich kein guter Mensch gewesen bin. Es kommt darauf wirklich nicht länger an. Es stört mich auch nicht mehr, was in den Zeitungen stand. Dass ich ein Verbrecher war und so weiter. Ich bin vielleicht ein Gauner gewesen, ein Verbrecher aber bestimmt nicht. Die Chinesen übers Ohr zu hauen hatte insofern etwas Gerechtes. Das hat die Staatsanwaltschaft später genauso gesehen, na, nicht ganz. Aber die Untersuchung wurde eingestellt, Punkt. Woraufhin Petra die Klage einreichen konnte, von wegen, dass wir die Firma schließlich jahrelang gemeinsam geleitet hätten. Dabei war sie für Sven ständig zuhause gewesen und hatte alles für sich. Den Pool und das Heimkino. Während ich immer nur im Büro gehockt habe, um den Chinesen die Halbleiter zu verticken. Die hatte ich aus China vorher importiert, aber ein bisschen verändert. Weil sie dann deutsche Wertarbeit waren. Was mich sowieso immer amüsiert hat, dieser Begriff. Jedenfalls hat sie ihnen dann die Regierung wieder abgekauft unter noch mal einer anderen Bezeichnung. Die hatten aber die Chinesen gefälscht. Irgendeine Firma in Detroit.

Darum durfte ich einfach nicht zögern, als sie mit dem Kaufangebot kamen. Die Triaden lassen nicht mit sich spaßen. So dass ich Rentier geworden bin, wie das heißt. Also nachdem die Staatsanwaltschaft damit aufgehört hatte, weiter in dem Schlamm rumzuwühlen. Denn je tiefer sie grub, desto übler hat es gemüffelt. Bis es schließlich nach sämtlichen Klos der Hardthöhe stank.

Außerdem habe ich eine ganze Menge der Kirche gespendet. Erstens weiß man nicht, ob es nicht doch einen Gott gibt, oder sogar eine Hölle. Und zweitens vermittelt es einem ein großes Gefühl. So dass man zum Beispiel zu Essen eingeladen wird, bei denen es um nichts anderes geht, als dass man dabei ist. Denn man ist nun eine respektable Person, die sich sogar als Vorbild eignet. Detailliert kriege ich die ganze Geschichte grad nicht mehr zusammen.

Dass ich keine Ahnung mehr habe, wie Gisela ausgesehen hat, wundert mich allerdings nicht. Nur, dass ich sie immer Bergamottchen genannt habe. Was sie überhaupt nicht gemocht hat. Es war überhaupt immer leicht, sie aufzuziehen. Jetzt ist ihr Gesicht ebenso weg wie Petras, die immerhin meine Frau war. Also wenn die Erinnerung stimmt. Ich weiß nicht mal mehr ihr Alter. Alles wird nebensächlich, wenn plötzlich der Himmel ein einziger Regenbogen ist.

Über dem Nebel der Gischt, die der Wind von den Wogen bläst, schießen seltsame Funken auf.

Wenn ich nachdenke, dann kann Monsieur Bayoun nicht schon auf meiner ersten Reise an Bord gekommen sein. Oder war es so, dass wir von Tanger nicht nach Osten, sondern nach Lissabon weiterfuhren? Da wäre meine erste Seefahrt dann zuende gewesen. Nur dass ich eben schon wusste, ich gehe nie mehr von Bord.

Also habe ich dort, in Lissabon, zum ersten Mal eine komplette Ausschiffung erlebt. Dann das Reinschiff, dann meine zweite Einschiffung. Ist das so? Woraufhin wir nach Osten gefahren sind und nach dem Suezkanal über den Indischen Ozean bis nach Bali. Dann bin ich da also schon zweimal gewesen, das erste Mal mit Monsieur Bayoun. Der natürlich, ganz wie ich, nicht dort ausstieg. Sondern er brachte mir das Sperlingsspiel bei, das wir von nun an oft gespielt haben, Hunderte Partien. Beim zweiten Mal war ich allein, weil er schon für immer gegangen war.

Wo hat dieses Totenauto gestanden?

Schwarzer, glänzender Kastenwagen mit ultrablauen Faltengardinen hinter den schmalen Scheiben. Hoher langer Dachrücken, vorne die wulstige Stoßstange. Ich sehe noch, wie sie unter dem aufgewölbten Kühlergrill zu leuchtendem Silber poliert war. Wie in einem alten Film, hatte ich denken müssen und an die Dächer von Nizza gedacht. Wie hieß sie nochmal, die dann gleich nebenan eine Königin wurde?

Erschreckend war dieses Auto aber deshalb, weil das Blau der Gardinen genau das Blau von dem Samtfutter in dem Mah-Jongg war.

15° 55’ S / 5° 43’ W

Die Insel schob sich uns unter den schweren Wolken der vergangenen Nacht entgegen. Es war früher Vormittag. Der dauernde Regen hatte das Licht in ein fiebernd helles Gelb zersetzt, das treibende Löcher in die noch immer tiefen Ballungen riss.

Da wir von Südosten kamen, schwammen wir einmal halb um das felsige Land herum. Anfangs wirkte es roh und zerspalten. Doch überall, wo durch die Löcher warme Strahlen hinunterfassten, nahm es ein basaltiges Rot an. Das wurde erst gegen Mittag zu dem grauen Braun in Fladen erstarrter Auswürfe.

Dann kam die Hitze.

Dennoch, obwohl die Sonne lange hoch stand, gab es einen Wolkensturz. Der war derart massiv, dass sich das Felsgestein zu einer vollkommenen Schwärze vollsog, überall. Wo es trotz des neuen Sonnenprallens nass blieb, schimmert es nun wie mattiertes Satin bis ganz auf die Gipfel.

Aber das ist es nicht, was mich seit Stunden auf meinem Liegestuhl festhält.

Während des Gusses hatte ich mich unter das kurze stählerne Vordach in die Raucherecke geflüchtet. Da hatten aber nur die beiden Sängerinnen und der junge Mann gesessen. Ein »Trainee«, sagt man. Den schwärmten sie unentwegt an. So schnieke, hätte meine Großmutter gesagt, sah er mit seinen hellblauen Augen in der weißen Uniform aus. Dazu die leuchtenden Zähne, als es so dunkel geworden war. Im Nu hatte uns das Wasser bis zu den Knöcheln gestanden. Die Millionen fetter Tropfen, wenn sie auf die Planken klatschten, waren ein jeder meterweit gespritzt.

Dann hatte sich das Unwetter erschöpft, und die Sonne war wieder durchgekommen. So dass erneut die Luft von reinen weißen Paaren durchjagt ist. Es sind zwanzig, dreißig, vielleicht vierzig wie Schwalben kleiner und so auch segelnder Vögel. Wahrscheinlich sind es Möwen. Sie kapriolen nicht nur ihre Flugkunst, kann man das sagen: »Sie kapriolen ihre Flugkunst«?, sondern sie umsegeln sich immer auch selbst, jedes Paar einander. Das ist wie ein niemals endendes Liebesspiel. Dabei stoßen sie glückhafte Schreie aus, als wenn sie sich allen verkünden wollten, jedem Geschöpf auf der Welt.

Zu der sie bestimmt aber gar nicht gehören. Sondern es sind die Seelen von Feen, dachte ich, Kunstfliegerfeen. Die sind aus den Eiern einer helleren und freieren Zwischenwelt geschlüpft, als unser Diesseits, dachte ich, ist. Sogar als das Jenseits. So dass ich plötzlich denken musste, das ist doch nicht möglich, dass du dich plötzlich verliebt hast. Ich bin in kleine weiße Schwalben verliebt. Und dass ich sowas niemals vorher gefühlt habe.

Vor allem, weil sie überall sind, über dem Meer und über dem Land und unter dem ganzen irdischen Himmel.

Aber ich verstehe natürlich, dass es damals von hier kein Entkommen gab. Hätte Napoleon das Bewusstsein gehabt, er wäre natürlich froh drum gewesen. Und jetzt sind die Leute zu seinem Grab unterwegs. Da werden sie sich drängen, um es zu fotografieren. Allein wir an Bord Gebliebenen schweigen, oder es wird nur gedämpft gesprochen.

Als aber dann doch jemand rief, dass wir nach Backbord kommen sollten. Schnell! Schnell! Die Arme zum Wasser ausgestreckt, waren es hingerissene Zeigearme. Die wirbelten zu uns her und wehten fast. Natürlich wurde auch wieder gerufen. So dass ich mich ebenfalls erhob. Langsam schritt ich zur Reling und sah die Delphine nun auch. Kleine Leiber, vierzig, vielleicht fünfzig Zentimeter lang, die erst, flitzigen Torpedos ähnlich, knapp unter dem glatten Wasserspiegel sausten. Dann sprangen sie, als würden sie sich uns vorführen wollen. Sie hörten damit gar nicht mehr auf.

Ich habe das Hunderte Male gesehen, doch immer ist es neu. So nah dem kleinen Hafen. Nur eine Mole, quasi, ist er. Über sie hinweg drangen das Durcheinanderrufen vieler Kinder und ihr Lachen zu uns herüber. Dazu wehte eine Lautsprecherstimme über das letzte Stückchen Meer. Ich vernahm sogar den Knall einer Pistole. Ein Sportplatz, dachte ich erst, aber es war ein Schwimmbad. So dass ich mich zu erinnern versuchte, wann denn ich zuletzt in einem war. Ich weiß es nicht mehr, doch ich roch noch das Chlor auf der Haut. Ich hörte den dumpfen Klang unter Wasser, wenn ich nach den Ringen tauchte, und wie ich als Junge immer gehofft habe, dass den Mädchen beim Schwimmen etwas zwischen den Beinen verrutscht. Das ist aber nie vorgekommen. Nur manchmal konnte man die Spalte erahnen. Und dass ich das alles vergessen hatte. Was für ein Mysterium sie war.

Jetzt flutete es mich. Es flutete mich wieder.

So sprangen die Delphine drunten, und sausten. So jagten droben die Feen und umschwärmten einander in ihren Ellipsen. Dabei riefen sie und riefen, als wenn sie ein Echo der Kinder wären. Das warf rechts der Vulkanfels zurück, den ganz die Jakobsleiter hinaufführt. Dass sie so heißt, hat mir vorhin Mister Gilburn erzählt. Zweidrei Gestaltchen sah ich sie emporklimmen. Sicher war es niemand vom Traumschiff, kein Passagier jedenfalls. Sie ist viel zu steil.

Aber vielleicht waren es welche von der Crew. Sonst kommt ja kaum jemand her von der Welt. Aber wie ich so in die Sonne sah über dem Meer, sah ich mich selbst da kraxeln. Das fiel mir sehr leicht, weil auch diese Schwalben an ihr bis in den Himmel hinaufflogen und wieder von ihm herab. Sie taten es, um mich anzuspornen. Es waren aber nur wieder die Kinder, die im Schwimmbad auf den Bänken saßen. Sie riefen und klatschten, damit ihre Freunde schneller schwammen und noch immer schneller. Wer dann als erster ankam, den empfing ein solches Jubeln, dass mir kurz etwas schwindelig wurde. Obwohl die Entfernung alles so dämpfte. Als lauschte ich in eine Muschel hinein.

Ich habe mich sogar festhalten müssen. Dabei legte ich meine linke Hand auf die rechte des Mannes, der neben mir stand. Das bemerkte ich erst aber gar nicht, sondern nur, weil er mich fragte, ob alles in Ordnung mit mir ist. Ich glaube, dass er sogar zweimal fragen musste, ehe ich begriff.

Jaja, sagte er, indem er meinem Blick folgte und den Vögeln ebenfalls zusah, Gygis alba. Da kann einem schon leicht schwindelig werden. Aber Sie setzen sich vielleicht besser mal hin.

Seltsamerweise war mir die Situation nicht peinlich. Ich ließ sogar meine Hand, wo sie war. Dabei machte ich mir langsam klar, dass dies seit Monaten der erste Mensch war, mit dem ich wieder Kontakt hatte. Natürlich abgesehen von den Zimmermädchen.

Ich ließ mich von ihm sogar zu einem der Tische führen. Er half mir, Platz zu nehmen. Sofort eilte eine der Kellnerinnen herbei. Vielleicht war ich wirklich ein bisschen blass. Dass ich besser auf mein Zimmer gehe, sagte sie, um mich hinzulegen. Ich werde noch verrückt mit diesem »Zimmer«. Aber natürlich war auch sie eine Russin, oder sie kommt aus der Ukraine oder aus Moldawien. Deshalb hat sie dieselben Probleme mit den richtigen Wörtern wie an der Rezeption die Frau.

Das ist bestimmt auch schon wieder einen Monat her.

Wo habe ich eigentlich den Decksplan gelassen?

Es ist wie verhext. Denn ich habe ja keine große Kabine, auch wenn ich sie trotz der zwei Betten alleine bewohne. Aber ich lege etwas ab und finde es einfach nicht wieder. Nur wollte ich jetzt natürlich nicht suchen, schon gar nicht hineingehen und dann bis zu meinem Baltikdeck hinunter. In der Kabine rauscht sowieso nichts als die ewige Klimaanlage. Sondern ich wollte an der freien Luft bleiben, unter den fliegenden Feen. Auch das Rufen wollte ich weiter hören, ihres und das vom Schwimmbad.

Sowieso ging es mir wieder besser. Deshalb hatte ich wirklich Glück, dass die Kellnerin woandershin gerufen wurde. Das wird hier mit ständigem Elektronikpiepen gemacht. Sie gab nur einem Kollegen einen, merkte ich sofort, heimlichen Wink. Woraufhin er mir ein Glas Wasser holte. Indessen der Mann sich neben mich setzte. Dann stellte er sich vor. Sogar das empfand ich als Glück. Ganz wie die fliegenden Feen und die Kinder. Auch wenn ich nichts davon sagte.

Er heißt Mister Gilburn und hat das Bewusstsein wie ich. Auch er hat einen engen Freund verloren. Und wie der meine, Monsieur Bayoun, ist auch er mit Frau Seifert befreundet gewesen.

Ihm hat sie ebenfalls etwas nachgelassen, aber ein Halstuch. Das legt er, sagte er, nur zum Schlafen ab. Außerdem hat er mir von der Jakobsleiter die Geschichte erzählt. Er hat sie eine Legende genannt. Das habe ich mir gemerkt, weil das auch Guf ist, die Halle der, hat er gesagt, ungeborenen Seelen. Von der mir Monsieur Bayoun erzählt hat.

An Mister Gilburns engen Freund konnte ich mich unscharf erinnern, wie wir so auf dem sich wiegenden Achterdeck saßen. Mister Gilburn bestellte sich einen Gin Tonic. Ich nippte immer mal wieder von meinem Wasserglas. Derweil rann mir im Nacken der Schweiß.

Angenehm ist an Mister Gilburn, dass er raucht. Selbstgedrehte aber. Jedesmal, wenn er sich eine ansteckt, murmelt er ironisch einen Dank. Zum Beispiel, was ist der Mensch, dass du dich seiner so annimmst? Wobei er mir zuzwinkert. So dass ich sofort denken musste, wie schön, jetzt kannst du deine letzten Zigarren in Gesellschaft genießen. Die bewahre ich mir, obwohl ich ja aufgehört habe. Doch eines Tages, an meinem letzten vielleicht, will ich sie anzünden in ganz dem Bewusstsein. Dann kommt es auf mein Herz nicht mehr an. Und auch ein Name tut nichts mehr zur Sache.

Es ist ja schon gut, dass überhaupt noch geraucht werden darf. Dafür gibt es die ausgewiesenen Zonen, die Mister Gilburn allerdings ein bisschen, so nennt er es, grenzüberschreitend interpretiert. Er hat überhaupt viel Humor, dieser drahtige, ein wenig vorgebeugte Mann, der mir grad bis zur Stirn reicht. Dabei bin ich selber nicht groß.

Ein bisschen älter als ich mag er sein, mit seinem grauen Haarkranz. Den sah ich aber erst, als er die beige Schirmmütze abgelegt hatte. Er hält ihn sehr kurz. Einen Bürstenschnitt hat meine Großmutter zu sowas gesagt. Nur dass auch sein Bart ein Bürstenschnitt ist. Über den Wangen scharf ausgeschnitten. Wäre seine Haut nicht so hell, er hätte etwas Arabisches oder auch Jüdisches. Das darf man natürlich nicht sagen und schon gar nicht zusammen. Trotzdem ist diese Nase beeindruckend groß, wie ich den Mann auch insgesamt beeindruckend finde. Da ist nichts Kindisches an ihm, nur die gleiche, bei ihm aber spöttische Klarheit, die ich von Monsieur Bayoun liebevoller kenne. Doch trotz seiner Witze und der Adlernase bleibt er mir gegenüber unüberheblich. Zum Beispiel gibt er mir keine gutgemeinten Ratschläge. Er will auch nicht dauernd, dass ich aus der Sonne gehe oder mir etwas auf den Kopf setze. Und wenn ich nichts essen, mich aber auch nicht ins Bett legen will, sondern draußen bleiben, akzeptiert er es sofort. Man muss das achten, hat er gesagt, dass ein Mensch frei ist. Als sich sein Freund verabschiedet hat, habe das genauso gegolten.

Es ist jetzt soweit, habe der gesagt. Er wolle sich für die gemeinsamen Stunden bedanken. Da haben sie sich eine Sekunde länger in den Arm genommen als sonst. Als der Freund dann weggegangen sei, habe er ihm nicht hinterhergesehen. Statt dessen lange von der Reling ins Meer geschaut und vor sich hinlachen müssen. Darum, sagte er, bitte ich Sie, dass auch Sie mir nicht hinterhersehn.

Das werde ich versuchen. Ob ich aber dann lachen kann, weiß ich heute natürlich noch nicht. Aber wenn wir uns das richtig vorstellen, sagte Mister Gilburn, dass gar nichts von einem zurückbleibt, wirklich keine Spur, während es doch immer noch dieselbe Luft ist, die wir heute atmen, die vor zweitausend Jahren Cäsar, zum Beispiel, geatmet hat, ganz dieselben Luftmoleküle, kommen wir, sagte er, gar nicht umhin, das in einem umfassenden Sinn für komisch zu halten. Es könne nämlich durchaus sein, dass er soeben, in diesem Moment, einen Luftzug nehme, den vor noch nicht einem einzigen Jahr sein Freund ganz genauso genommen hat.

Der Gedanke beschäftigt mich. Selbst jetzt noch, wo die Passagiere zurück von ihren Ausflügen sind und ich vor der unvermeidlichen Ablegeparty auf das Bootsdeck hinuntergeflüchtet bin, backbords aber diesmal.