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Die schönste und berühmteste Liebesgeschichte des Mittelalters in einer Ausgabe zum ersten Kennenlernen: für Wagner-Fans, Studierende der Mediävistik und alle, die sich mit dem Stoff um Tristan und Isolde vertraut machen möchten. Alle zentralen Passagen des Werks sind in der neuhochdeutschen Versübersetzung von Rüdiger Krohn vollständig wiedergegeben, zusammenfassende Zwischentexte verknüpfen sie miteinander und führen ein in das zwanzigtausend Verse umfassende Großepos aus Intrigen, Verstrickungen und Leidenschaften. Mit einem ausführlichen Nachwort. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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Seitenzahl: 159
Gottfried von Straßburg
Tristan
Auswahl
Übersetzt und herausgegeben von Rüdiger Krohn
Reclam
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961548-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019679-3
www.reclam.de
Tristan und Isolde mit dem Minnetrank. Kolorierte Federzeichnung aus einer Wiener Pergament-Handschrift, 1323.
Wollte man den nicht hochachten,
von dem der Welt Gutes widerfährt,
so zählte alles so viel wie nichts,
was Gutes in der Welt geleistet wird.
Wer das, was ein vortrefflicher Mann in bester Absicht 5
und nur zum Wohle der Welt tut,
anders als mit Wohlwollen
aufnimmt, der handelt unrecht.
Oft höre ich, wie eben das verunglimpft wird,
was man in Wahrheit doch gerne hätte: 10
einmal sind es zu viele Nichtigkeiten,
ein andermal will man, was man sonst geringschätzt.
Es gehört sich aber, das zu rühmen,
wessen man doch bedarf,
und man sollte es genießen, 15
solange es einem gefällt.
Lieb und teuer ist mir derjenige,
der Gut und Schlecht abzuwägen versteht,
der mich und jeden anderen
nach seinem Wert richtig beurteilen kann. 20
Anerkennung und Lob fördern die Kunst,
wo Kunst zum Lobe taugt.
Wo sie mit Lobpreis verherrlicht wird,
da blüht sie in vielerlei Art.
[6]So wie das Werk in Gleichgültigkeit absinkt, 25
das weder Lob noch Ruhm erworben hat,
so gefällt dasjenige, das gepriesen wird
und dem Lob nicht versagt bleibt.
Heute gibt es so viele,
die das Gute für schlecht, 30
das Minderwertige hingegen für gut halten.
Diese Leute helfen nicht, sie hindern vielmehr.
Künstlerische Fähigkeit und scharfer Verstand
harmonieren sehr gut miteinander.
Tritt aber noch Missgunst hinzu, 35
erstickt sie Kunst wie Verstand.
Ach, Vollkommenheit! Die Stege zu dir sind schmal
und die Wege mühsam.
Wohl dem, der diese Wege und Stege
betritt und geht! 40
Wenn ich meine Zeit unnütz vertrödelte,
obwohl ich doch reif bin zum Leben,
dann wäre ich in dieser Welt
nicht so sehr ein Teil der Gesellschaft, wie ich es tatsächlich bin.
Ich habe mir eine Aufgabe vorgenommen – 45
zum Nutzen der Welt
und zur Freude edler Herzen,
jener Herzen, für die mein Herz schlägt,
und jener Welt, in die mein Herz blickt.
[7]Ich spreche nicht von den gewöhnlichen Menschen – 50
wie etwa jenen, von denen ich höre, dass sie
kein Leid ertragen können
und sich immer nur in Freude wiegen wollen.
Gott möge sie in Freuden leben lassen!
Zu solchen Menschen und zu ihrer Lebensauffassung 55
passt, was ich sagen will, aber nicht.
Ihre Lebensart und meine sind grundverschieden.
Von ganz anderen Menschen spreche ich,
die gleichzeitig dies alles in ihrem Herzen tragen:
ihre süße Bitterkeit, ihr liebes Leid, 60
ihre Herzensfreude und ihre Sehnsuchtsqual,
ihr glückliches Leben, ihren traurigen Tod,
ihren glücklichen Tod, ihr trauriges Leben.
Dieses Leben will auch ich leben,
unter solchen Menschen will auch ich Mensch sein, 65
mit ihnen zugrunde gehen oder aber selig werden.
An sie habe ich mich bisher gehalten
und mein Leben mit ihnen verbracht,
die mir in Not und Schmerz
belehrend und leitend helfen sollten. 70
All ihnen habe ich mein Werk
zur Unterhaltung vorgelegt,
damit sie mit meiner Erzählung
ihren Kummer, der ihnen nahegeht,
wenigstens halbwegs lindern 75
und so ihre Qual mindern mögen.
Denn wer etwas vor Augen hat,
womit seine Phantasie sich beschäftigt,
der erleichtert so sein sorgenschweres Gemüt.
Das hilft gut gegen Kummer, der aus dem Herzen kommt.80
[8]Alle stimmen darin überein:
Wenn ein Müßiggänger
von Liebeskummer überwältigt wird,
dann vertieft Muße diesen Kummer noch.
Trifft Liebesnot auf Müßiggang, 85
so verschlimmert sie sich.
Darum ist es gut, wenn jeder, der Liebesqual
und Sehnsuchtsweh im Herzen fühlt,
mit Bedacht
für sich nach Ablenkung sucht. 90
Damit befreit er sein Herz,
und es tut ihm sehr wohl.
Jedoch würde ich niemals dazu raten,
dass jemals der, der auf Freude aus ist,
eine solche Zerstreuung erstreben sollte, 95
die der reinen Liebe schlecht anstünde.
Eine Liebesgeschichte –
damit möge sich ein Liebender
mit Herz und Mund beschäftigen
und so die Zeit versüßen. 100
Nun hören wir aber viel zu häufig eine Ansicht,
der ich gewiss nicht zustimmen mag:
dass nämlich ein liebeskrankes Herz, je mehr
es mit Liebesgeschichten umgehe,
davon nur umso kränker werde. 105
Dieser Ansicht würde ich mich anschließen,
wenn mich nicht etwas daran störte:
Wer wirklich liebt,
selbst wenn es ihn sehr schmerzt,
[9]der gibt doch auch immer sein Herz mit dran. 110
Wenn echte Liebe
in Sehnsuchtsschmerzen
mehr und mehr entbrennt,
dann liebt sie dadurch nur noch glühender.
Dieser Schmerz enthält so viel Freude, 115
dieser Kummer tut so innig wohl,
dass kein edles Herz darauf verzichten mag,
weil es dadurch erst zu sich selbst findet.
Ich weiß es todsicher
und aus eigener leidvoller Erfahrung: 120
Der vornehme Liebende
schätzt Liebesgeschichten.
Wer nun also nach einer solchen Erzählung sucht,
der braucht nicht weiter als bis hierher zu gehen.
Ich will ihm in rechter Weise berichten 125
von vornehmen Liebenden,
an denen sich vollkommene Leidenschaft bewies:
ein Liebender, eine Liebende,
ein Mann, eine Frau, eine Frau, ein Mann,
Tristan, Isolde, Isolde, Tristan. 130
Ich weiß wohl, dass es viele gab,
die schon von Tristan erzählt haben.
Es gab jedoch nicht viele,
die richtig von ihm erzählt haben.
Wenn ich jetzt aber so täte 135
und meine Worte so setzte,
als ob mir ihrer aller Deutung
dieser Geschichte missfiele,
[10]dann handelte ich anders, als ich sollte.
Das tue ich nicht. Sie haben gut erzählt, 140
aus durchaus edler Gesinnung,
mir und der Welt zum Besten.
Sie taten es wahrlich in guter Absicht,
und was man in guter Absicht tut,
das ist auch gut und gelungen. 145
Wenn ich aber gesagt habe,
dass sie nicht richtig erzählt haben,
dann hat das, wie ich betone, seine Richtigkeit:
Sie haben nicht in der rechten Weise berichtet,
so wie es Thomas von Britanje tat, 150
der ein Meister der Erzählkunst war
und in bretonischen Büchern
das Leben aller Fürsten nachgelesen
und uns davon berichtet hat.
Aufgrund dessen, was er über Tristan erzählt, 155
begann ich, intensiv nach der richtigen Fassung
zu suchen,
und zwar in Büchern
sowohl welscher als auch lateinischer Herkunft.
Und ich bemühte mich eifrig darum, 160
nach seinem korrekten Vorbild
diese Dichtung abzufassen.
So stellte ich umfangreiche Nachforschungen an,
bis ich in einem bestimmten Buche
seinen ganzen Bericht bestätigt fand, 165
wie sich die Geschichte zugetragen habe.
Was ich aber dort gelesen habe
von dieser Liebesgeschichte,
das will ich nun aus freien Stücken
[11]allen hochgesinnten Menschen vorlegen, 170
damit sie sich daran erfreuen.
Es zu lesen, wird ihnen guttun.
Gut? Ja, überaus gut.
Es verschönt die Liebe und adelt das Herz,
macht Treue beständig und das Dasein wertvoll. 175
Es kann durchaus das Leben bereichern.
Wenn man nämlich hört oder liest
von so unverfälschter Treue,
dann gewinnt jeder aufrichtige Mann
die Treue und andere gute Eigenschaften lieb: 180
Liebe, Aufrichtigkeit, Beständigkeit,
Ansehen und andere Werte.
Nirgends sonst werden sie
so teuer wie dort,
wo man von Liebesfreuden erzählt 185
und über Liebesschmerzen klagt.
Liebe ist so beglückend,
ein so beseligendes Bemühen,
dass niemand ohne ihre Anleitung
zu innerem Wert oder Prestige kommen kann. 190
So viel ehrenwertes Leben, das die Liebe bewirkt,
so viel Vollkommenheit, die durch sie entsteht –
o weh, dass nicht alle Menschen
nach der wahren Liebe streben,
dass ich nur so wenige finde, 195
die reinen Liebesschmerz
um des Geliebten willen ertragen wollen,
nur wegen des jämmerlichen Kummers,
der dabei bisweilen
im Herzen verborgen liegt. 200
[12]Warum sollte vornehme Gesinnung
nicht bereitwillig für tausend Vorteile ein Übel,
für viel Freude ein wenig Kummer ertragen?
Wem niemals durch die Liebe Kummer widerfahren ist,
der hat auch niemals Glück durch sie erfahren. 205
Freude und Leid waren schon immer
untrennbar im Begriff der Liebe aufgehoben.
Mit beiden zusammen muss man
Ansehen und Lob erringen
oder ohne sie zugrunde gehen. 210
Wenn die Helden dieser Liebesgeschichte
nicht Schmerz aus ihrer Liebe
und tiefen Kummer aus ihrem Glück
zugleich in ihren Herzen getragen hätten,
dann würden ihr Name und ihre Geschichte 215
sehr vielen hochgesinnten Menschen nicht
zum Trost und zur Erquickung dienen.
Heute noch finden wir es angenehm,
süß und immer wieder neu,
von ihrer unverrückbaren Treue zu hören, 220
von ihrer Liebe, ihrem Kummer, ihrem Glück, ihrem Schmerz.
Und wenn sie auch schon lange tot sind,
so lebt ihr lieblicher Name doch fort.
Ihr Tod aber soll der Welt
zum Nutzen noch lange weiterleben, 225
den Treuesuchenden Treue
und den Ehrsuchenden Ehre geben.
Ihr Tod soll auf ewig
uns Lebenden lebendig sein und immer wieder neu.
Denn dort, wo man noch erzählen hört 230
[13]von ihrer Anhänglichkeit, der Reinheit ihrer Treue,
von dem Glück und der Bitternis ihrer Liebe:
Dort finden alle edlen Herzen Brot.
Hierdurch lebt ihrer beider Tod.
Wir lesen von ihrem Leben, wir lesen von ihrem Tod, 235
und es erscheint uns erquicklich wie Brot.
Ihr Leben und ihr Tod sind unser Brot.
Also lebt ihr Leben und lebt ihr Tod.
Also leben auch sie noch und sind doch tot,
und ihr Tod ist für die Lebenden Brot. 240
Und wer nun will, dass man ihm erzähle
von ihrem Leben, ihrem Tod, ihrer Freude, ihrem Schmerz,
der öffne Herz und Ohren.
Hier findet er, was er sucht.
Dem eigentlichen Liebesroman schaltet der Autor die unglückliche Geschichte von Tristans Eltern vor, in der sich das traurige Schicksal des Liebespaares Tristan und Isolde typologisch vorgebildet findet: Der vornehme Ritter Riwalin Kanelengres aus Parmenien erscheint als Inbegriff höfischer Tugend. Zur weiteren Vervollkommnung kommt er in Cornwall an den Hof von König Marke, wo er dessen schöne Schwester Blanscheflur trifft und auf einem Maifest als idealer Ritter glänzt.
[14]Als nun das Kampfspiel vorüber war 733
und die Ritter sich zerstreut hatten
und jeder dorthin ging, 735
wohin er wollte,
da wollte es der Zufall,
dass Riwalin sich dorthin wandte,
wo die schöne Blanscheflur saß.
Da sprengte er näher heran, 740
und als er ihr in die Augen sehen konnte,
sagte er sehr freundlich auf Französisch zu ihr:
»Gott behüte Euch, meine Schöne!«
»Danke«, erwiderte das Mädchen
und fuhr schüchtern fort: 745
»Gott, der Allmächtige,
der alle Herzen froh macht,
der möge Euch Herz und Sinn beglücken.
Zwar verneige ich mich auch dankend vor Euch,
verzichte aber nicht auf das Recht, 750
Euch wegen etwas zur Rede zu stellen.«
»Ach, liebes Fräulein, was habe ich verbrochen?«
sprach da der edle Riwalin.
Sie antwortete: »An einem, der mir nahesteht,
dem besten, den ich je fand, 755
habt Ihr mir Kummer bereitet.«
»O Gott«, dachte er bei sich,
»was heißt das? Was habe ich
ihr zuleide getan?
Was wirft sie mir vor?« 760
Und er glaubte, dass er irgendjemandem
aus ihrem Gefolge
unwissentlich bei dem Ritterspiel
[15]Schaden zugefügt hätte
und dass ihr daher das Herz betrübt 765
und sie gegen ihn aufgebracht wäre.
Nein, der Freund, den sie erwähnte,
das war ihr Herz, das
um seinetwillen gelitten hatte.
Das war der Freund, von dem sie sprach. 770
Aber davon wusste er nichts.
Mit gewohnter Höflichkeit
sagte er freundlich:
»Meine Schöne, ich will nicht, dass Ihr
mich ablehnt oder mir zürnt. 775
Wenn also stimmt, was Ihr mir vorwerft,
dann sprecht selbst das Urteil über mich.
Was Ihr befehlt, will ich tun.«
Die Schöne erwiderte: »Wegen dieses Vorfalls
grolle ich Euch zwar nicht übermäßig, 780
aber ich liebe Euch deswegen auch nicht.
Ich will Euch noch einmal genauer prüfen,
wie Ihr mir büßen wollt
für das, was Ihr mir angetan habt.«
Damit verbeugte er sich vor ihr und wollte fort. 785
Das schöne Mädchen jedoch seufzte ihn
ganz heimlich an und sprach
aus tiefstem Herzen: »Ach!
Lieber Freund, Gott segne dich!«
Da empfanden sie zum ersten Mal 790
zärtliche Gedanken füreinander.
Kanelengres ritt fort
in tiefen Gedanken.
Er bedachte immer wieder,
[16]was Blanscheflur bekümmere 795
und was diese Geschichte bedeute.
Ihre Begrüßung, ihre Worte bedachte er.
Ihr Seufzen, ihren Segen, ihr ganzes Verhalten
– das alles prüfte er genau,
und dabei begann er, 800
ihr Seufzen und ihren lieblichen Segen
im Sinne von Liebe zu deuten.
Tatsächlich kam er auf den Gedanken,
beide seien
ausschließlich aus Liebe geäußert worden. 805
Das entflammte ihn so,
dass er im Geiste wieder hinging,
Blanscheflur mitnahm
und sogleich
in Riwalins Herzensreich führte 810
und sie dort
zu seiner Königin krönte.
Ja, Blanscheflur und Riwalin,
der König und die liebliche Königin,
teilten getreulich 815
das Königreich ihrer Herzen.
Das ihre gehörte Riwalin,
dafür gehörte ihr seines.
Und doch wusste keiner von ihnen,
wie es dem anderen erging. […] 820
Der gedankenverlorene Riwalin 841
bewies durch sein Beispiel,
dass der Verliebte
so wie ein freier Vogel handelt,
[17]der sich im Gefühl der Freiheit, die er genießt, 845
auf die Leimrute niederlässt.
Wenn er den Leim dann bemerkt
und sich zur Flucht emporheben will,
klebt er unten mit den Füßen an.
Also schwingt er die Flügel und will fort. 850
Dabei kann er aber die Rute
an keiner Stelle (und sei es auch nur ein wenig) berühren,
ohne dass sie ihn fesselte und festhielte.
So flattert er denn mit aller Kraft
hierhin, dorthin und wieder hierhin, 855
bis er schließlich
kämpfend sich selbst besiegt
und festgeleimt auf der Rute liegt.
Genauso handelt ein Mensch,
bevor seine Sinne von Liebe überwältigt sind: 860
Wenn sehnsüchtige Gedanken ihn ergreifen
und die Liebe an ihm ihr Wunder bewirkt
mit dem Schmerz der Leidenschaft,
dann will der Verliebte
wieder in die Freiheit zurück, 865
aber die Süße
der mit Leim bestrichenen Liebe zieht ihn nach unten.
Darin verstrickt er sich
so sehr, dass er sich
weder so noch so zu helfen weiß. 870
So erging es Riwalin,
den auch seine Überlegungen
in der Liebe
zu seiner Herzenskönigin verstrickten.
Seine Verwirrung hatte 875
[18]ihn in sonderbare Selbsttäuschung versetzt,
denn er wusste nicht, ob Blanscheflur
ihm übel oder wohl gesonnen war.
Er erkannte nicht,
ob sie ihn liebte oder hasste. […] 880
Seine Sehnsucht blieb auch 957
der liebeskranken Blanscheflur nicht erspart.
Sie litt die gleiche Not
durch ihn wie er durch sie. 960
Die Gewaltherrscherin Liebe
war auch in ihre Gedanken
ein wenig zu stürmisch eingedrungen
und hatte ihr gewaltsam
fast ihre ganze Selbstbeherrschung geraubt. 965
Ihr Benehmen war
ihr selbst und ihrer Umgebung
ungewohnt.
Alles, was sie früher genossen,
alle Kurzweil, die sich für sie geschickt hatte, 970
widerstand ihr nun.
Ihr Leben gestaltete sich nur so,
wie es dem Kummer angemessen war,
der sie schwer bedrückte.
Und sosehr sie auch litt 975
an Liebesschmerz,
so wusste sie doch nicht, was sie quälte.
Sie hatte nämlich nie erfahren,
was diese Schwermut
und Herzensnot bedeuten. 980
Immer wieder sagte sie sich:
[19]»O Gott! Was für ein Leben!
Was ist denn mit mir geschehen?
Ich habe doch viele Männer gesehen,
von denen mir niemals Kummer widerfuhr. 985
Aber seit ich diesen Mann gesehen habe,
ist mein Herz niemals wieder
so frei und unbeschwert gewesen wie vorher.
Dieser Anblick
hat mir 990
schweren Kummer zugefügt.
Mein Herz, das solche Not bisher nicht kannte,
ist dadurch tief verwundet.
Er hat mich völlig verändert
an Leib und Seele. 995
Wenn es jeder Frau,
die ihn hört oder sieht,
so wie mir ergeht
und wenn dies in seiner Natur liegt,
dann ist seine große Schönheit verschwendet 1000
und er lebt zum Schaden anderer. […]
Bei Gott, wie ist mir durch ihn 1008
Schmerz und Not widerfahren!
Ich habe doch wirklich 1010
weder ihn noch sonst irgendeinen Mann je
feindselig angeschaut
oder gehasst.
Womit kann ich es mir also verdient haben,
dass jemand mir Kummer zufügt, 1015
den ich freundlich ansah?
Aber warum mache ich dem Guten Vorwürfe?
Möglicherweise trifft ihn hieran keine Schuld.
[20]Welche Herzensnot ich durch ihn
und um seinetwillen auch erleide, 1020
Gott weiß, dass das meiste
das Werk meines eigenen Herzens ist.« […]
Als nun das vornehme Mädchen 1077
mit vollem Herzen
in ihrem Innersten eingesehen hatte
(wie es alle Verliebten tun), 1080
dass ihr Gefährte Riwalin
ihrem Herzen zur Freude gereichen
und ihr größter Trost, ihr schönstes Leben sein würde,
da begann sie, ihm viele Blicke zu schenken
und ihn anzusehen, wo immer sie konnte. 1085
Wann immer der Anstand es erlaubte,
grüßte sie ihn heimlich
mit zärtlichen Blicken.
Ihre sehnsuchtsvollen Augen
sahen ihn häufig 1090
lange und verliebt an.
Als das der liebende Mann,
ihr Geliebter, zu bemerken begann,
da erst verstärkten sich
seine Liebe und seine Neigung zu ihr, 1095
da erst entzündete sich seine Leidenschaft,
und seither erwiderte er die Blicke der Schönen
kühner und verliebter
als zuvor.
Wenn es ging, 1100
grüßte auch er mit den Augen zu ihr hin.
[21]Als ein Feind in Markes Reich einmarschiert, zieht auch Riwalin zur Verteidigung in den Krieg. Schwer verletzt kehrt er nach Tintajol an Markes Hof zurück. Verkleidet gelingt es Blanscheflur, an sein Bett zu gelangen. In ihrer Umarmung empfängt sie ein Kind. Riwalin erholt sich unversehens, aber das Glück des Liebespaares ist kurz: Riwalin muss, von seinem treuen Marschall Rual li Foitenant gerufen, nach Parmenien zurück, um dort den feindlichen Eindringling Morgan zu vertreiben. Seine schwangere Geliebte, die ihrem Bruder Marke ihre Not verheimlicht, folgt ihm in sein Reich. Auf Ruals Raten hin macht Riwalin sie dort zu seiner Frau. In der Schlacht aber wird er im Zweikampf von Morgan getötet.
Ich bin mir völlig sicher:
Wenn je eine Frau um ihren geliebten Mann 1720
tödliches Herzweh erlitt,
dann ging es auch ihr so im Herzen.
Das ihre war voller Todesleid.
Sie bewies deutlich vor aller Welt,
dass sein Tod ihren Lebensnerv getroffen hatte. 1725
Niemals wurden ihre Augen
in all diesem Schmerz tränenfeucht.
Ja, Gott und Herr, warum
weinte sie nicht?
Ihr Herz war versteinert. 1730
Kein Leben war darin
außer der lebendigen Liebe
und dem sehr lebendigen Schmerz,