Tristan. Auswahl - Gottfried von Straßburg - E-Book

Tristan. Auswahl E-Book

Gottfried von Straßburg

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Beschreibung

Die schönste und berühmteste Liebesgeschichte des Mittelalters in einer Ausgabe zum ersten Kennenlernen: für Wagner-Fans, Studierende der Mediävistik und alle, die sich mit dem Stoff um Tristan und Isolde vertraut machen möchten. Alle zentralen Passagen des Werks sind in der neuhochdeutschen Versübersetzung von Rüdiger Krohn vollständig wiedergegeben, zusammenfassende Zwischentexte verknüpfen sie miteinander und führen ein in das zwanzigtausend Verse umfassende Großepos aus Intrigen, Verstrickungen und Leidenschaften. Mit einem ausführlichen Nachwort. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 159

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Gottfried von Straßburg

Tristan

Auswahl

Übersetzt und herausgegeben von Rüdiger Krohn

Reclam

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961548-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019679-3

www.reclam.de

Inhalt

I. PrologII. Riwalin und BlanscheflurIII. RualIV. Die EntführungV. Die JagdVI. Der junge KünstlerVII. Wiedersehen mit RualVIII. Tristans SchwertleiteIX. Heimfahrt und RacheX. MoroldXI. TantrisXII. Die BrautfahrtXIII. Der Kampf mit dem DrachenXIV. Der SplitterXV. Das WahrzeichenXVI. Der MinnetrankXVII. Das GeständnisXVIII. BrangäneXIX. Rotte und HarfeXX. MarjodoXXI. List und GegenlistXXII. MelotXXIII. BaumgartenszeneXXIV. Das GottesurteilXXV. PetitcrüXXVI. Die VerbannungXXVII. Die MinnegrotteXXVIII. Entdeckung und VersöhnungXXIX. Rückkehr und TrennungXXX. Isolde WeißhandZu dieser AusgabeNachwortLiteraturhinweise

Tristan und Isolde mit dem Minnetrank. Kolorierte Federzeichnung aus einer Wiener Pergament-Handschrift, 1323.

[5]I. Prolog

Wollte man den nicht hochachten,

von dem der Welt Gutes widerfährt,

so zählte alles so viel wie nichts,

was Gutes in der Welt geleistet wird.

Wer das, was ein vortrefflicher Mann in bester Absicht    5

und nur zum Wohle der Welt tut,

anders als mit Wohlwollen

aufnimmt, der handelt unrecht.

Oft höre ich, wie eben das verunglimpft wird,

was man in Wahrheit doch gerne hätte:    10

einmal sind es zu viele Nichtigkeiten,

ein andermal will man, was man sonst geringschätzt.

Es gehört sich aber, das zu rühmen,

wessen man doch bedarf,

und man sollte es genießen,    15

solange es einem gefällt.

Lieb und teuer ist mir derjenige,

der Gut und Schlecht abzuwägen versteht,

der mich und jeden anderen

nach seinem Wert richtig beurteilen kann.    20

Anerkennung und Lob fördern die Kunst,

wo Kunst zum Lobe taugt.

Wo sie mit Lobpreis verherrlicht wird,

da blüht sie in vielerlei Art.

[6]So wie das Werk in Gleichgültigkeit absinkt,    25

das weder Lob noch Ruhm erworben hat,

so gefällt dasjenige, das gepriesen wird

und dem Lob nicht versagt bleibt.

Heute gibt es so viele,

die das Gute für schlecht,    30

das Minderwertige hingegen für gut halten.

Diese Leute helfen nicht, sie hindern vielmehr.

Künstlerische Fähigkeit und scharfer Verstand

harmonieren sehr gut miteinander.

Tritt aber noch Missgunst hinzu,    35

erstickt sie Kunst wie Verstand.

Ach, Vollkommenheit! Die Stege zu dir sind schmal

und die Wege mühsam.

Wohl dem, der diese Wege und Stege

betritt und geht!    40

Wenn ich meine Zeit unnütz vertrödelte,

obwohl ich doch reif bin zum Leben,

dann wäre ich in dieser Welt

nicht so sehr ein Teil der Gesellschaft, wie ich es tatsächlich bin.

Ich habe mir eine Aufgabe vorgenommen –    45

zum Nutzen der Welt

und zur Freude edler Herzen,

jener Herzen, für die mein Herz schlägt,

und jener Welt, in die mein Herz blickt.

[7]Ich spreche nicht von den gewöhnlichen Menschen –    50

wie etwa jenen, von denen ich höre, dass sie

kein Leid ertragen können

und sich immer nur in Freude wiegen wollen.

Gott möge sie in Freuden leben lassen!

Zu solchen Menschen und zu ihrer Lebensauffassung    55

passt, was ich sagen will, aber nicht.

Ihre Lebensart und meine sind grundverschieden.

Von ganz anderen Menschen spreche ich,

die gleichzeitig dies alles in ihrem Herzen tragen:

ihre süße Bitterkeit, ihr liebes Leid,    60

ihre Herzensfreude und ihre Sehnsuchtsqual,

ihr glückliches Leben, ihren traurigen Tod,

ihren glücklichen Tod, ihr trauriges Leben.

Dieses Leben will auch ich leben,

unter solchen Menschen will auch ich Mensch sein,    65

mit ihnen zugrunde gehen oder aber selig werden.

An sie habe ich mich bisher gehalten

und mein Leben mit ihnen verbracht,

die mir in Not und Schmerz

belehrend und leitend helfen sollten.    70

All ihnen habe ich mein Werk

zur Unterhaltung vorgelegt,

damit sie mit meiner Erzählung

ihren Kummer, der ihnen nahegeht,

wenigstens halbwegs lindern    75

und so ihre Qual mindern mögen.

Denn wer etwas vor Augen hat,

womit seine Phantasie sich beschäftigt,

der erleichtert so sein sorgenschweres Gemüt.    

Das hilft gut gegen Kummer, der aus dem Herzen kommt.80

[8]Alle stimmen darin überein:

Wenn ein Müßiggänger

von Liebeskummer überwältigt wird,

dann vertieft Muße diesen Kummer noch.

Trifft Liebesnot auf Müßiggang,    85

so verschlimmert sie sich.

Darum ist es gut, wenn jeder, der Liebesqual

und Sehnsuchtsweh im Herzen fühlt,

mit Bedacht

für sich nach Ablenkung sucht.    90

Damit befreit er sein Herz,

und es tut ihm sehr wohl.

Jedoch würde ich niemals dazu raten,

dass jemals der, der auf Freude aus ist,

eine solche Zerstreuung erstreben sollte,    95

die der reinen Liebe schlecht anstünde.

Eine Liebesgeschichte –

damit möge sich ein Liebender

mit Herz und Mund beschäftigen

und so die Zeit versüßen.    100

Nun hören wir aber viel zu häufig eine Ansicht,

der ich gewiss nicht zustimmen mag:

dass nämlich ein liebeskrankes Herz, je mehr

es mit Liebesgeschichten umgehe,

davon nur umso kränker werde.    105

Dieser Ansicht würde ich mich anschließen,

wenn mich nicht etwas daran störte:

Wer wirklich liebt,

selbst wenn es ihn sehr schmerzt,

[9]der gibt doch auch immer sein Herz mit dran.    110

Wenn echte Liebe

in Sehnsuchtsschmerzen

mehr und mehr entbrennt,

dann liebt sie dadurch nur noch glühender.

Dieser Schmerz enthält so viel Freude,    115

dieser Kummer tut so innig wohl,

dass kein edles Herz darauf verzichten mag,

weil es dadurch erst zu sich selbst findet.

Ich weiß es todsicher

und aus eigener leidvoller Erfahrung:    120

Der vornehme Liebende

schätzt Liebesgeschichten.

Wer nun also nach einer solchen Erzählung sucht,

der braucht nicht weiter als bis hierher zu gehen.

Ich will ihm in rechter Weise berichten    125

von vornehmen Liebenden,

an denen sich vollkommene Leidenschaft bewies:

ein Liebender, eine Liebende,

ein Mann, eine Frau, eine Frau, ein Mann,

Tristan, Isolde, Isolde, Tristan.    130

Ich weiß wohl, dass es viele gab,

die schon von Tristan erzählt haben.

Es gab jedoch nicht viele,

die richtig von ihm erzählt haben.

Wenn ich jetzt aber so täte    135

und meine Worte so setzte,

als ob mir ihrer aller Deutung

dieser Geschichte missfiele,

[10]dann handelte ich anders, als ich sollte.

Das tue ich nicht. Sie haben gut erzählt,    140

aus durchaus edler Gesinnung,

mir und der Welt zum Besten.

Sie taten es wahrlich in guter Absicht,

und was man in guter Absicht tut,

das ist auch gut und gelungen.    145

Wenn ich aber gesagt habe,

dass sie nicht richtig erzählt haben,

dann hat das, wie ich betone, seine Richtigkeit:

Sie haben nicht in der rechten Weise berichtet,

so wie es Thomas von Britanje tat,    150

der ein Meister der Erzählkunst war

und in bretonischen Büchern

das Leben aller Fürsten nachgelesen

und uns davon berichtet hat.

Aufgrund dessen, was er über Tristan erzählt,    155

begann ich, intensiv nach der richtigen Fassung

zu suchen,

und zwar in Büchern

sowohl welscher als auch lateinischer Herkunft.

Und ich bemühte mich eifrig darum,    160

nach seinem korrekten Vorbild

diese Dichtung abzufassen.

So stellte ich umfangreiche Nachforschungen an,

bis ich in einem bestimmten Buche

seinen ganzen Bericht bestätigt fand,    165

wie sich die Geschichte zugetragen habe.

Was ich aber dort gelesen habe

von dieser Liebesgeschichte,

das will ich nun aus freien Stücken

[11]allen hochgesinnten Menschen vorlegen,    170

damit sie sich daran erfreuen.

Es zu lesen, wird ihnen guttun.

Gut? Ja, überaus gut.

Es verschönt die Liebe und adelt das Herz,

macht Treue beständig und das Dasein wertvoll.    175

Es kann durchaus das Leben bereichern.

Wenn man nämlich hört oder liest

von so unverfälschter Treue,

dann gewinnt jeder aufrichtige Mann

die Treue und andere gute Eigenschaften lieb:    180

Liebe, Aufrichtigkeit, Beständigkeit,

Ansehen und andere Werte.

Nirgends sonst werden sie

so teuer wie dort,

wo man von Liebesfreuden erzählt    185

und über Liebesschmerzen klagt.

Liebe ist so beglückend,

ein so beseligendes Bemühen,

dass niemand ohne ihre Anleitung

zu innerem Wert oder Prestige kommen kann.    190

So viel ehrenwertes Leben, das die Liebe bewirkt,

so viel Vollkommenheit, die durch sie entsteht –

o weh, dass nicht alle Menschen

nach der wahren Liebe streben,

dass ich nur so wenige finde,    195

die reinen Liebesschmerz

um des Geliebten willen ertragen wollen,

nur wegen des jämmerlichen Kummers,

der dabei bisweilen

im Herzen verborgen liegt.    200

[12]Warum sollte vornehme Gesinnung

nicht bereitwillig für tausend Vorteile ein Übel,

für viel Freude ein wenig Kummer ertragen?

Wem niemals durch die Liebe Kummer widerfahren ist,

der hat auch niemals Glück durch sie erfahren.    205

Freude und Leid waren schon immer

untrennbar im Begriff der Liebe aufgehoben.

Mit beiden zusammen muss man

Ansehen und Lob erringen

oder ohne sie zugrunde gehen.    210

Wenn die Helden dieser Liebesgeschichte

nicht Schmerz aus ihrer Liebe

und tiefen Kummer aus ihrem Glück

zugleich in ihren Herzen getragen hätten,

dann würden ihr Name und ihre Geschichte    215

sehr vielen hochgesinnten Menschen nicht

zum Trost und zur Erquickung dienen.

Heute noch finden wir es angenehm,

süß und immer wieder neu,

von ihrer unverrückbaren Treue zu hören,    220

von ihrer Liebe, ihrem Kummer, ihrem Glück, ihrem Schmerz.

Und wenn sie auch schon lange tot sind,

so lebt ihr lieblicher Name doch fort.

Ihr Tod aber soll der Welt

zum Nutzen noch lange weiterleben,    225

den Treuesuchenden Treue

und den Ehrsuchenden Ehre geben.

Ihr Tod soll auf ewig

uns Lebenden lebendig sein und immer wieder neu.

Denn dort, wo man noch erzählen hört    230

[13]von ihrer Anhänglichkeit, der Reinheit ihrer Treue,

von dem Glück und der Bitternis ihrer Liebe:

Dort finden alle edlen Herzen Brot.

Hierdurch lebt ihrer beider Tod.

Wir lesen von ihrem Leben, wir lesen von ihrem Tod,    235

und es erscheint uns erquicklich wie Brot.

Ihr Leben und ihr Tod sind unser Brot.

Also lebt ihr Leben und lebt ihr Tod.

Also leben auch sie noch und sind doch tot,

und ihr Tod ist für die Lebenden Brot.    240

Und wer nun will, dass man ihm erzähle

von ihrem Leben, ihrem Tod, ihrer Freude, ihrem Schmerz,

der öffne Herz und Ohren.

Hier findet er, was er sucht.

II. Riwalin und Blanscheflur

Dem eigentlichen Liebesroman schaltet der Autor die unglückliche Geschichte von Tristans Eltern vor, in der sich das traurige Schicksal des Liebespaares Tristan und Isolde typologisch vorgebildet findet: Der vornehme Ritter Riwalin Kanelengres aus Parmenien erscheint als Inbegriff höfischer Tugend. Zur weiteren Vervollkommnung kommt er in Cornwall an den Hof von König Marke, wo er dessen schöne Schwester Blanscheflur trifft und auf einem Maifest als idealer Ritter glänzt.

[14]Als nun das Kampfspiel vorüber war    733

und die Ritter sich zerstreut hatten

und jeder dorthin ging,    735

wohin er wollte,

da wollte es der Zufall,

dass Riwalin sich dorthin wandte,

wo die schöne Blanscheflur saß.

Da sprengte er näher heran,    740

und als er ihr in die Augen sehen konnte,

sagte er sehr freundlich auf Französisch zu ihr:

»Gott behüte Euch, meine Schöne!«

»Danke«, erwiderte das Mädchen

und fuhr schüchtern fort:    745

»Gott, der Allmächtige,

der alle Herzen froh macht,

der möge Euch Herz und Sinn beglücken.

Zwar verneige ich mich auch dankend vor Euch,

verzichte aber nicht auf das Recht,    750

Euch wegen etwas zur Rede zu stellen.«

»Ach, liebes Fräulein, was habe ich verbrochen?«

sprach da der edle Riwalin.

Sie antwortete: »An einem, der mir nahesteht,

dem besten, den ich je fand,    755

habt Ihr mir Kummer bereitet.«

»O Gott«, dachte er bei sich,

»was heißt das? Was habe ich

ihr zuleide getan?

Was wirft sie mir vor?«    760

Und er glaubte, dass er irgendjemandem

aus ihrem Gefolge

unwissentlich bei dem Ritterspiel

[15]Schaden zugefügt hätte

und dass ihr daher das Herz betrübt    765

und sie gegen ihn aufgebracht wäre.

Nein, der Freund, den sie erwähnte,

das war ihr Herz, das

um seinetwillen gelitten hatte.

Das war der Freund, von dem sie sprach.    770

Aber davon wusste er nichts.

Mit gewohnter Höflichkeit

sagte er freundlich:

»Meine Schöne, ich will nicht, dass Ihr

mich ablehnt oder mir zürnt.    775

Wenn also stimmt, was Ihr mir vorwerft,

dann sprecht selbst das Urteil über mich.

Was Ihr befehlt, will ich tun.«

Die Schöne erwiderte: »Wegen dieses Vorfalls

grolle ich Euch zwar nicht übermäßig,    780

aber ich liebe Euch deswegen auch nicht.

Ich will Euch noch einmal genauer prüfen,

wie Ihr mir büßen wollt

für das, was Ihr mir angetan habt.«

Damit verbeugte er sich vor ihr und wollte fort.    785

Das schöne Mädchen jedoch seufzte ihn

ganz heimlich an und sprach

aus tiefstem Herzen: »Ach!

Lieber Freund, Gott segne dich!«

Da empfanden sie zum ersten Mal    790

zärtliche Gedanken füreinander.

Kanelengres ritt fort

in tiefen Gedanken.

Er bedachte immer wieder,

[16]was Blanscheflur bekümmere    795

und was diese Geschichte bedeute.

Ihre Begrüßung, ihre Worte bedachte er.

Ihr Seufzen, ihren Segen, ihr ganzes Verhalten

– das alles prüfte er genau,

und dabei begann er,    800

ihr Seufzen und ihren lieblichen Segen

im Sinne von Liebe zu deuten.

Tatsächlich kam er auf den Gedanken,

beide seien

ausschließlich aus Liebe geäußert worden.    805

Das entflammte ihn so,

dass er im Geiste wieder hinging,

Blanscheflur mitnahm

und sogleich

in Riwalins Herzensreich führte    810

und sie dort

zu seiner Königin krönte.

Ja, Blanscheflur und Riwalin,

der König und die liebliche Königin,

teilten getreulich    815

das Königreich ihrer Herzen.

Das ihre gehörte Riwalin,

dafür gehörte ihr seines.

Und doch wusste keiner von ihnen,

wie es dem anderen erging. […]    820

Der gedankenverlorene Riwalin    841

bewies durch sein Beispiel,

dass der Verliebte

so wie ein freier Vogel handelt,

[17]der sich im Gefühl der Freiheit, die er genießt,    845

auf die Leimrute niederlässt.

Wenn er den Leim dann bemerkt

und sich zur Flucht emporheben will,

klebt er unten mit den Füßen an.

Also schwingt er die Flügel und will fort.    850

Dabei kann er aber die Rute

an keiner Stelle (und sei es auch nur ein wenig) berühren,

ohne dass sie ihn fesselte und festhielte.

So flattert er denn mit aller Kraft

hierhin, dorthin und wieder hierhin,    855

bis er schließlich

kämpfend sich selbst besiegt

und festgeleimt auf der Rute liegt.

Genauso handelt ein Mensch,

bevor seine Sinne von Liebe überwältigt sind:    860

Wenn sehnsüchtige Gedanken ihn ergreifen

und die Liebe an ihm ihr Wunder bewirkt

mit dem Schmerz der Leidenschaft,

dann will der Verliebte

wieder in die Freiheit zurück,    865

aber die Süße

der mit Leim bestrichenen Liebe zieht ihn nach unten.

Darin verstrickt er sich

so sehr, dass er sich

weder so noch so zu helfen weiß.    870

So erging es Riwalin,

den auch seine Überlegungen

in der Liebe

zu seiner Herzenskönigin verstrickten.

Seine Verwirrung hatte    875

[18]ihn in sonderbare Selbsttäuschung versetzt,

denn er wusste nicht, ob Blanscheflur

ihm übel oder wohl gesonnen war.

Er erkannte nicht,

ob sie ihn liebte oder hasste. […]    880

Seine Sehnsucht blieb auch    957

der liebeskranken Blanscheflur nicht erspart.

Sie litt die gleiche Not

durch ihn wie er durch sie.    960

Die Gewaltherrscherin Liebe

war auch in ihre Gedanken

ein wenig zu stürmisch eingedrungen

und hatte ihr gewaltsam

fast ihre ganze Selbstbeherrschung geraubt.    965

Ihr Benehmen war

ihr selbst und ihrer Umgebung

ungewohnt.

Alles, was sie früher genossen,

alle Kurzweil, die sich für sie geschickt hatte,    970

widerstand ihr nun.

Ihr Leben gestaltete sich nur so,

wie es dem Kummer angemessen war,

der sie schwer bedrückte.

Und sosehr sie auch litt    975

an Liebesschmerz,

so wusste sie doch nicht, was sie quälte.

Sie hatte nämlich nie erfahren,

was diese Schwermut

und Herzensnot bedeuten.    980

Immer wieder sagte sie sich:

[19]»O Gott! Was für ein Leben!

Was ist denn mit mir geschehen?

Ich habe doch viele Männer gesehen,

von denen mir niemals Kummer widerfuhr.    985

Aber seit ich diesen Mann gesehen habe,

ist mein Herz niemals wieder

so frei und unbeschwert gewesen wie vorher.

Dieser Anblick

hat mir    990

schweren Kummer zugefügt.

Mein Herz, das solche Not bisher nicht kannte,

ist dadurch tief verwundet.

Er hat mich völlig verändert

an Leib und Seele.    995

Wenn es jeder Frau,

die ihn hört oder sieht,

so wie mir ergeht

und wenn dies in seiner Natur liegt,

dann ist seine große Schönheit verschwendet    1000

und er lebt zum Schaden anderer. […]

Bei Gott, wie ist mir durch ihn    1008

Schmerz und Not widerfahren!

Ich habe doch wirklich    1010

weder ihn noch sonst irgendeinen Mann je

feindselig angeschaut

oder gehasst.

Womit kann ich es mir also verdient haben,

dass jemand mir Kummer zufügt,    1015

den ich freundlich ansah?

Aber warum mache ich dem Guten Vorwürfe?

Möglicherweise trifft ihn hieran keine Schuld.

[20]Welche Herzensnot ich durch ihn

und um seinetwillen auch erleide,    1020

Gott weiß, dass das meiste

das Werk meines eigenen Herzens ist.« […]

Als nun das vornehme Mädchen    1077

mit vollem Herzen

in ihrem Innersten eingesehen hatte

(wie es alle Verliebten tun),    1080

dass ihr Gefährte Riwalin

ihrem Herzen zur Freude gereichen

und ihr größter Trost, ihr schönstes Leben sein würde,

da begann sie, ihm viele Blicke zu schenken

und ihn anzusehen, wo immer sie konnte.    1085

Wann immer der Anstand es erlaubte,

grüßte sie ihn heimlich

mit zärtlichen Blicken.

Ihre sehnsuchtsvollen Augen

sahen ihn häufig    1090

lange und verliebt an.

Als das der liebende Mann,

ihr Geliebter, zu bemerken begann,

da erst verstärkten sich

seine Liebe und seine Neigung zu ihr,    1095

da erst entzündete sich seine Leidenschaft,

und seither erwiderte er die Blicke der Schönen

kühner und verliebter

als zuvor.

Wenn es ging,    1100

grüßte auch er mit den Augen zu ihr hin.

[21]Als ein Feind in Markes Reich einmarschiert, zieht auch Riwalin zur Verteidigung in den Krieg. Schwer verletzt kehrt er nach Tintajol an Markes Hof zurück. Verkleidet gelingt es Blanscheflur, an sein Bett zu gelangen. In ihrer Umarmung empfängt sie ein Kind. Riwalin erholt sich unversehens, aber das Glück des Liebespaares ist kurz: Riwalin muss, von seinem treuen Marschall Rual li Foitenant gerufen, nach Parmenien zurück, um dort den feindlichen Eindringling Morgan zu vertreiben. Seine schwangere Geliebte, die ihrem Bruder Marke ihre Not verheimlicht, folgt ihm in sein Reich. Auf Ruals Raten hin macht Riwalin sie dort zu seiner Frau. In der Schlacht aber wird er im Zweikampf von Morgan getötet.

Ich bin mir völlig sicher:

Wenn je eine Frau um ihren geliebten Mann    1720

tödliches Herzweh erlitt,

dann ging es auch ihr so im Herzen.

Das ihre war voller Todesleid.

Sie bewies deutlich vor aller Welt,

dass sein Tod ihren Lebensnerv getroffen hatte.    1725

Niemals wurden ihre Augen

in all diesem Schmerz tränenfeucht.

Ja, Gott und Herr, warum

weinte sie nicht?

Ihr Herz war versteinert.    1730

Kein Leben war darin

außer der lebendigen Liebe

und dem sehr lebendigen Schmerz,