Trügerischer Friede - Markus Heitz - E-Book
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Trügerischer Friede E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Nach der verheerenden Schlacht ist auf dem Kontinent Ulldart wieder Frieden eingekehrt. Doch die Ruhe trügt: Während Lodrik sich immer weiter zurückzieht, plant seine erste Frau Aljascha, an eine der mächtigen aldoreelischen Klingen zu gelangen, um die Herrschaft über Tarpol zu übernehmen. Und im fernen Norden ist jemand erschienen, den alle für tot gehalten haben. Die ehemaligen Kampfgefährten müssen erneut zusammentreffen, um Schlimmeres zu verhindern … – Mit dem Zyklus »Zeit des Neuen« kehrt der Bestsellerautor auf den Kontinent Ulldart zurück – ein idealer Einstieg für Neuleser und zugleich ein Wiedersehen mit den beliebtesten Helden und größten Schurken.

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ISBN 978-3-492-95056-5 Oktober 2016 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2005 Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München Umschlagabbildung: Emblem: Ciruelo, Barcelona / Schloß: Photonica / Eric Wessman Karte: Erhard Ringer Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck  

Was bisher geschah …

Aus Lodrik, dem jungen, unerfahrenen Kabcar von Tarpol, wurde im Lauf der Jahre zuerst ein viel versprechender, dann jedoch ein von finsteren Mächten beeinflusster Herrscher. Als beinahe einziger Magier Ulldarts eroberte er Land für Land des Kontinents und bereitete, ohne es zu ahnen, den Weg für die Rückkehr des Dunklen Gottes Tzulan.

Sowohl seine Cousine und Gattin Aljascha als auch sein Berater Mortva Nesreca, der von dem Gott des Bösen gesandt wurde, lenkten im Geheimen und lange Zeit sein Denken und sein Handeln. Lodriks alte Freunde wurden umgebracht oder mussten fliehen. Stoiko, sein Freund und Diener, landete im Gefängnis, seine Geliebte Norina und sein ehemaliger Leibwächter Waljakov flüchteten auf den Nachbarkontinent Kalisstron. Die Intrigen von Mortva kannten kein Erbarmen, bis Lodrik der mächtigste Mann Ulldarts war und doch völlig allein dastand.

Aus Lodriks Ehe mit Aljascha entsprangen die Drillinge: der grausame, magisch begabte Govan, die hübsche, ebenfalls magisch begabte Zvatochna und der geistig zurückgebliebene, aber enorm starke Krutor.

Aus der Beziehung mit Norina ging Lorin hervor, der auf dem Nachbarkontinent Kalisstron aufwuchs; aus der Liebelei mit einer Magd erwuchs sein Sohn Tokaro, der im elitären Ritterorden der Hohen Schwerter zu einem Krieger ausgebildet wurde.

Tokaros Lehrmeister war Nerestro von Kuraschka, der sehr von sich überzeugte Großmeister des Ordens. Nerestro verlor einst sein Herz an die Kensustrianerin Belkala, die aus ihrer Heimat verbannt wurde. Nach einer Beziehung voller Streit und Leidenschaft trennten sich ihre Wege, und Belkala begab sich nach Ammtára, einer Stadt, in der Menschen und Kreaturen des Sumpfes friedlich zusammenleben. Dort brachte sie die gemeinsame Tochter Estra zur Welt.

Indessen gerieten die ehrgeizigen Pläne des ungeliebten Herrschers ins Stocken. Vor allem Kensustria, das Land im Südosten mit den rätselhaften grünhaarigen Fremden, erwies sich als zäher Gegner und nur schwer einnehmbar. Dazu kam, dass Lodrik schließlich erkannte, welches Spiel Mortva und Aljascha mit ihm trieben. Im Lauf der Jahre wandelte er sich und erließ in den besetzten Gebieten umfassende Reformen, die vor allem dem einfachen Volk zugute kamen. Aljascha wurde schließlich gar in die Verbannung nach Granburg geschickt.

Gerade als er beschloss, sich auch von Mortva und dessen Verbündeten zu trennen, begingen sein Sohn Govan und seine Tochter Zvatochna auf Mortvas Geheiß hin an ihm Verrat. Ganz Ulldart war der festen Überzeugung, dass Lodrik in einem Steinbruch ums Leben gekommen sei.

Der junge Govan wurde zu seinem Nachfolger gekrönt. Durch den übermäßigen Einsatz der Magie wahnsinnig geworden, trieb er die Eroberungen rücksichtslos voran und wurde ein grausamer Herrscher, der bald das Volk gegen sich hatte. Was Lodrik in seinen letzten Jahren als Kabcar an Gutem für die eigenen Untertanen vollbracht hatten, kehrte sein Sohn nun ins Gegenteil. Er suchte sich Verbündete bei den Tzulandriern, einem Kriegervolk vom Kontinent Tzulandrien, und den Tzulani, radikalen Anhängern des Gottes des Bösen. Mit seiner magischen Überlegenheit, der Schläue Zvatochnas und der Stärke des armen, ausgenutzten Krutors stand er kurz davor, sein Ziel zu erreichen: die Unterwerfung des gesamten Kontinents.

Doch Lodrik war nicht tot; die Magie hatte ihn vor dem Sterben bewahrt, und so suchte er im Verborgenen nach einer Möglichkeit, seinen Sohn aufzuhalten. Scheiterte er, so würde Tzulan zurückkehren, und Mortva hätte sein Ziel erreicht.

Zu jener Zeit organisierten der König von Ilfaris, Perdór, und sein Hofnarr Fiorell den Widerstand von Kensustria aus; Torben Rudgass, ein rogogardischer Freibeuter, brachte die Freunde aus dem fernen Kalisstron zurück nach Ulldart. Zusammen mit den Kensustrianern, einem Heer aus Freiwilligen und der Hilfe von Lodrik, der zu einem Nekromanten geworden war, stellten sie sich Govan und seinen vernichtenden Plänen entgegen.

Es kam zu einer entscheidenden Schlacht, bei der Tokaro und der magisch begabte Lorin zusammen mit ihrem Vater Lodrik und Freunden aus alten Tagen gegen Govan und seine Gefolgschaft antraten. Im buchstäblich letzten Augenblick konnte die Rückkehr der Dunklen Zeit verhindert werden, wenngleich die Schlacht zahlreiche Opfer forderte.

Seither gelten Govan, Zvatochna und Mortva als tot, und die Tzulandrier befinden sich auf dem Rückzug.

Vieles auf dem Kontinent liegt in Trümmern und muss neu aufgebaut werden, aber die Menschen verspüren wieder Hoffnung.

Und doch scheint es bald, als sei der Friede alles andere als beständig. Manche nennen ihn auch trügerisch …

Zeit des Neuen – das passt sowohl für Ulldart als auch für mich.

Seit dem Erfolg von »Die Zwerge« und »Der Krieg der Zwerge« ist die Ulldart-Gemeinde gewachsen. Der elben-, ork- und zwergenfreie Kontinent bekommt die Aufmerksamkeit, die ich mir für ihn immer gewünscht habe. Und damit kann es für Lodrik und Konsorten weitergehen. Mein Lieblingsschurke Mortva ist zwar nicht mehr unterwegs und stiftet Unheil, aber auch ohne ihn verfügt das Böse über genügend Kraft.

Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, mich wieder nach Ulldart zu begeben, lose Enden zu verknüpfen – die der Leser vielleicht bislang gar nicht als solche erkannt hat – und neue Fäden zu spinnen. Neue, überraschende Fäden.

Mein Dank geht an die Testleserriege Nicole Schuhmacher, Sonja Rüther, Dr. Patrick Müller und Tanja Karmann. Nicht zu vergessen sind Lektorin Angela Kuepper und der Piper Verlag, die sich sehr um Ulldart gekümmert haben.

Prolog

Kontinent Ulldart, Königreich Borasgotan, Festung Checskotan, Sommer im Jahr 1 Ulldrael des Gerechten (460 n.S.)

Die Feuer brannten hell im Innenhof der Festung Checskotan und warfen ihren Schein gegen die altehrwürdigen Mauern. Die Fackeln auf den Wehrgängen überzogen das Wasser im Graben am Fuß des äußeren Walls mit einem roten Schimmer; es sah aus, als handelte es sich um glühendes gestocktes Blut. Das Bollwerk, das schon etliche Kriege zu unterschiedlichen Zeiten gesehen hatte, lockte mit seinem Licht und schreckte mit seinem Anblick.

Noch vor sechzehn Jahren hatte es dem ehemaligen Herrscher Borasgotans, Arrulskhán IV., als letzte Zuflucht gedient. In den Zeiten davor war es ein Ausgangspunkt für Eroberungszüge und ein Widerstandsnest gegen hustrabanische Angriffsversuche gewesen.

Die Festung stammte aus einer fast vergessenen Epoche, als Borasgotan eine mächtige Großmacht gewesen war und die Gebiete im Norden des Landes erobert hatte, um an die Schätze im Boden zu gelangen. Die Ureinwohner, das Volk der Jengorianer, war dabei beinahe ausgelöscht worden; die Letzten von ihnen lebten noch immer in den unzugänglichen Eisgebieten.

An diesem kühlen Sommerabend, nicht lange nach dem Sieg in Taromeel, stand bereits eine neue Auseinandersetzung bevor. Dieses Mal jedoch blieb die Zukunft des Reiches eine alleinige Angelegenheit der Borasgotaner, und einer von ihnen drohte zu spät zu kommen.

Ein Reiter trieb seinen Fuchshengst laut fluchend an und preschte auf den Versammlungsort zu, der von den Adligen des Landes ausgewählt worden war, um den kommenden Herrscher Borasgotans zu erwählen. Der Mann konnte das Ziel seiner Reise trotz der Dämmerung nicht verfehlen; die Feuer wiesen ihm den Weg.

Sein stürmisches Nahen wurde bemerkt.

Ein Dutzend Torwächter formierten sich auf der Mitte der Zugbrücke zu einer Mauer aus Menschen. Auf den gebrüllten Befehl ihres Obersten hin senkten sie die Hellebarden und reckten ihm die Spitzen entgegen. Todverheißend funkelten die metallenen Enden im Widerschein der Fackeln und verlangten stumm, dass der Reiter anhielt. Die beschlagenen Hufe glitten über die Bohlen; um ein Haar wäre das Pferd gestürzt, als der Reiter es vor dem Hindernis zum Stehen brachte.

Die Soldaten besaßen keine einheitlichen Uniformen. Die einen trugen die Monturen der gestürzten Bardri¢-Dynastie unter der Rüstung, wobei sie das Wappen der Familie abgerissen und durch das Zeichen Borasgotans ersetzt hatten: ein stilisierter Pferdekopf, umgeben von einem Kranz aus Tannennadeln. Andere hatten sich in einfache braune Wolloder Lederkleidung gehüllt und ihre Brustpanzer darüber geschnallt. So kurz nach der Niederwerfung von Govan Bardri¢ und seinen Verbündeten war noch keine Zeit gewesen, um sich über derlei Nebensächlichkeit Gedanken zu machen.

Ein sichtlich älterer Mann in einem zerschlissenen Obristenmantel und mit einer Pelzkappe auf dem Haupt trat nach vorn und grüßte militärisch. »Guten Abend. Zeigt mir Euer Einladungsschreiben, bitte.« Er musterte den Besucher, den er auf zwanzig Jahre schätzte. Dunkelbraune Haare schauten unter der Kappe hervor, die kastanienbraunen Augen schweiften gebieterisch über ihn und seine Männer. Ein Adliger, zweifelsohne.

»Sicher.« Der junge Mann langte nach seiner Satteltasche und suchte den Schrieb, reichte ihn an den Mann weiter.

Die Augen des Obristen huschten über die Zeilen; dann nahm er eine Liste hervor und verglich den Namen des Neuankömmlings mit den Eintragungen. »Tut mir Leid, Vasruc Raspot Putjomkin, aber Ihr seid nicht für das Treffen vorgesehen«, murmelte er, ohne aufzublicken. »Das Schreiben ging an Vasruc Bschoi, und indem Ihr seinen Namen durchstreicht und Euren darüber setzt, werdet Ihr nicht sein Stellvertreter.«

»Vasruc Bschoi ist verstorben«, hielt Raspot unbeeindruckt dagegen und kramte im Innern der Satteltasche, bis er zwei weitere Briefe gefunden hatte. »Dies ist die eidesstattliche Erklärung seiner Witwe zu seinem Tod sowie die Bestimmung von Vasruc Bschoi, dass ich sein Nachfolger bin. Sowohl im Amt als auch bei der heutigen Versammlung.« Er erkannte am verschlossenen Gesicht des Obristen, dass es wohl längerer Verhandlungen bedurfte, in den erlauchten Kreis vorgelassen zu werden. Besser, er versuchte es mit einer kräftigen Portion Selbstsicherheit … Also reckte er das Kinn und blickte mit blitzenden Augen auf den Obristen herab. »Ich bin ein borasgotanischer Adliger und dazu ermächtigt, über das Schicksal meiner Heimat zu entscheiden.«

Der Mann nickte. »Ich verstehe, Vasruc, und gleichzeitig habe ich meine Befehle. Es tut mir Leid, Ihr werdet die Nacht vor den Toren verbringen.«

Raspot schwang sich aus dem Sattel seines Fuchshengstes, sprang auf den Boden und ging auf den Mann zu. »Ihr möchtet die Freundlichkeit haben, auf der Stelle jemanden rufen zu lassen, der über meine Papiere entscheidet.« Er hielt erst an, als sein Gesicht das des älteren Mannes fast berührte. Er roch den herben Schweiß seines Gegenübers und sah die Narbe seitlich an dessen Hals, die wohl von einem üblen Schnitt herrührte. »Ich habe meinen Hengst nicht geschunden und bin aus dem Südosten geradezu hierher geflogen, um von Euch mein gutes Recht verwehrt zu bekommen.«

Der Obrist hob den Arm mit den Briefen, schwenkte ihn über die Brüstung der Zugbrücke und öffnete die Finger; trudelnd segelten die Blätter nach unten, bis sie im brackigen Wasser landeten und auf der Oberfläche schwammen. Die Tinte verlief augenblicklich. »Welche Papiere, Vasruc?«, fragte er dann teilnahmslos. »Diejenigen, die Euch der Wind aus der Hand getragen hat? Ich glaube nicht, dass man sie noch lesen kann.«

»Der Wind?« Raspot tat so, als wollte er die Arme verschränken, stattdessen packte er den Obristen unvermittelt bei der rechten Schulter und versetzte ihm einen raschen Stoß, der den Mann von der Zugbrücke beförderte. Klatschend tauchte er in die Brühe des Wassergrabens ein. »Dann kann der gleiche Wind sie wieder in meine Hand zurücktragen«, rief er hinab.

Die Soldaten senkten die Hellebarden und bewegten sich drohend auf ihn zu; der Vasruc ging rückwärts zu seinem Pferd, eine Hand an den Griff seines Säbels gelegt. »Ihr werdet mich nicht von der Brücke drängen. Sorgt dafür, dass einer der …«

»Was ist hier los?«, donnerte es von den Zinnen des Wachturms herunter. Ein Mann im mittleren Alter in prächtigen Gewändern schaute missbilligend auf sie herab. Auch wenn man keine Insignien sah, es musste sich um einen Adligen handeln. »Saltan, was tut Ihr im Graben?« Er wandte sich Raspot zu. »Und Ihr? Was veranstaltet Ihr da für einen Aufruhr?«

Raspot nahm an, den Besitzer der Festung vor sich zu haben. Er deutete eine knappe Verbeugung an, stellte sich vor und erklärte mit wenigen Sätzen, was sich ereignet hatte. »Leider kann ich Euch die Richtigkeit meiner Worte nicht mehr beweisen, da der Obrist meine Dokumente wohl aus Versehen ins Wasser warf und auch sein Versuch, sie zu retten, scheiterte«, schloss er seinen Rapport.

»Saltan, ist das wahr?« Der grauköpfige Mann deutete auf zwei Soldaten und wies sie an, ans Steilufer des Grabens zu eilen und ihrem Anführer herauszuhelfen. »Habt Ihr in den Dokumenten gelesen, was der junge Mann behauptet?«

Prustend nickte Saltan. Er bekam die entgegengereckten Stiele der Hellebarden zu fassen, erklomm die Böschung und entkam dem übel riechenden Wasser. Offenbar wagte er keine Lüge vor seinem Vorgesetzten; vielleicht rechnete er es Raspot auch hoch an, dass er ihm vor dem Adligen die Peinlichkeit erspart hatte, zugeben zu müssen, dass er ihn überrumpelt hatte.

»Dann kommt herein, Vasruc Putjomkin, und seid willkommen auf Checskotan, der Wiege des sich neu erhebenden Borasgotans.« Mit diesen Worten verschwand er hinter den Zinnen.

»Meinen Dank.« Raspot hob den Arm zum Gruß und führte seinen Hengst am Zügel durch das erste Tor.

Der Mann erwartete ihn unmittelbar dahinter. »Ich bin Hara¢ Fjanski, Gastgeber des bedeutenden Treffens und Anwärter auf den Thron des Landes.« Mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Wie so viele, die heute hier sind. Ihr etwa auch?«

»Ich? Beim weisen und gerechten Ulldrael, nein!«, beeilte sich Raspot zu versichern. »Ich bin hier, um einen von ihnen zu wählen.«

»So? Wie erfreulich.« Fjanski nickte ihm zu. »Ihr seid sehr jung und ohne Schramme, demnach habt Ihr nicht auf dem Wunderhügel bei Taromeel gegen die Truppen des verrückten Govan Bardri¢ und seiner Schwester gekämpft, nehme ich an?«

Raspot wurde rot vor Verlegenheit. »Ihr habt Recht, Hara¢. Ich befand mich zu Hause und beschützte das Gut von Vasruc Bschoi vor marodierenden Soldaten.«

Fjanski schnalzte mit der Zunge. »Noch so eine Seite des Krieges. Nicht genug, dass auf dem Schlachtfeld der Tod herrscht, er bringt auch Leid durch die eigenen Truppen in die Heimat. Es wird Zeit, dass Ordnung in Borasgotan einkehrt.«

Seite an Seite durchschritten sie das zweite Tor und gelangten in den großen Innenhof der beeindruckenden Festungsanlage, wo sich Stallungen, Wirtschaftshäuser und Unterkünfte an die dicken Wände schmiegten, als suchten sie trotz der friedlich gewordenen Zeit immer noch Schutz. Die schlichte, aber sehr unterschiedliche Kleidung der Menschen, die geschäftig hier ein und aus gingen, verriet Raspot, dass die Gefolgschaften der eingetroffenen Adligen ihre Lager darin bezogen hatten.

»Ich verstehe. Aus Dankbarkeit für Eure Taten hat Euch der alte Bschoi zu seinem Nachfolger ernannt.« Fjanskis Gesicht wurde noch ernster. »Dankt Ulldrael, dass Euch die Schlacht erspart geblieben ist. Es gibt genügend Überlebende, die nach durchstandenem Grauen ihren Verstand verloren haben. Der tapfere Saltan gehört zu jenen, denen es mit Müh und Not gelang, ihren Verstand zu behalten.« Er winkte einen Stallburschen herbei, den er anwies, sich um den Fuchshengst zu kümmern. Dann führte er Raspot in den einstigen Thronsaal, wo die übrigen Adligen ein Bankett feierten. »Ich lasse Euch später Eure Unterkunft zeigen, Vasruc Putjomkin. Zuerst die Arbeit.«

Der Raum war groß und vom wahnsinnigen Kabcar mit den kostspieligsten Stucken versehen worden, wobei dieser keine Rücksicht darauf genommen hatte, ob die Verzierungen zu dem dunklen, schweren Gebälk passten oder nicht. Üppige Malereien an Decke und Wänden erschlugen das Farbempfinden des Betrachters, eine Batterie kristallener Lüster tauchte den Saal in strahlendes Licht. Auf Raspot machte es den Eindruck, als sei der Raum völlig willkürlich von einem launischen, verzogenen Kind eingerichtet worden.

Die achtzig Gäste hockten klein und unscheinbar in der überbordenden Pracht und gingen selbst mit den gewiss kostspieligen Kleidern und all ihrem Prunk und Protz darin verloren. Leise Unterhaltungen drangen zu dem Gastgeber und dem Vasruc, es wurde vornehm gelacht und gescherzt.

»Willkommen in der Schlangengrube«, lächelte ihm Fjanski warnend zu. »Hört, wie sie zischeln und fauchen, Gift spucken und zubeißen, sich um ihre Gegner winden. Was manche für eine freundliche Umarmung gehalten haben, wurde rasch zu einem tödlichen Druck. Zu viele Nattern verlangt es nach dem Thron.« Er gab dem Ausrufer ein Zeichen, während ein Bediensteter neben Raspot erschien und ihm den staubigen Mantel abnahm. Darunter kam eine nicht sonderlich teuere, aber geschmackvolle Garderobe zum Vorschein. »Seid wachsam, Vasruc.«

Der Ausrufer stieß mit dem Stock dreimal auf den Boden, das Gelächter und die Unterhaltungen wurden leiser. Beinahe alle Anwesenden wandten sich zum Eingang und betrachteten den unerwarteten Besucher; man war neugierig, wen Hara¢ Fjanski dieses Mal brachte. Die mürrischen Gesichter entspannten sich sogleich, als man hörte, wer er war: nämlich kein weiterer Aspirant auf den Titel des Kabcar von Borasgotan.

»Stärkt Euch und schließt Bekanntschaften«, riet ihm der Hara¢ väterlich. »Wir werden zusammenhalten müssen, wenn wir unsere Macht in Borasgotan zurückerlangen wollen.«

»Das Land braucht demnach einen Schlangenbeschwörer«, bemerkte Raspot und bezog sich dabei auf den Vergleich von Fjanski.

»Gut erkannt! Die unglücklichen Reformen von Lodrik Bardri¢ sind den meisten einfachen Menschen in viel zu guter Erinnerung geblieben. Sie sollen sich nicht an die Freiheiten gewöhnen.« Er klopfte ihm auf die Schulter und kehrte zu seinem Platz zurück.

Raspot setzte sich neben einen alten, vom Alkohol gezeichneten Mann, unter dessen dichtem Bart die geplatzten Äderchen in der Haut zu sehen waren; die Nase war überdimensional angeschwollen und erinnerte an eine überreife rote Frucht, die jeden Augenblick zu zerplatzen drohte. Zusammen mit der Uniform, an der noch Orden von Arrulskhán IV. prangten, wirkte er wie eine Karikatur der vergangenen Zeit. Ihn würde sicherlich niemand wählen.

Diener brachten Raspot ein Gedeck und boten ihm die verschiedensten Speisen an, von geschmortem Wildbret über erlesene Früchte bis hin zu ausgefallenen Süßspeisen, deren Herstellung ein Vermögen gekostet haben musste. Fjanski besaß gewiss einen geheimen Vorrat an Parr, um das alles bezahlen zu können.

Nach dem langen Ritt war der junge Adlige hungrig, und so sehr er sich Mühe gab, vornehm zu essen, zerteilte und kaute er sein Essen doch schneller als gewöhnlich.

Fjanski erhob sich, schlug mit dem Löffel gegen das Glas; die Gespräche verebbten. »Ich kämpfte in Taromeel für die Freiheit Ulldarts«, begann er seine Ansprache, »und ich wohnte den anschließenden Verhandlungen bei. Es wurde mit König Perdór vereinbart, dass wir unseren nächsten Kabcar oder die nächste Kabcara aus unseren eigenen Reihen erwählen. Deshalb sind wir hier, in Checskotan. Auf Borasgotan!« Er hob sein Glas; sein Trinkspruch wurde erwidert, der Wein geleert. Fjanski stellte das Glas ab und schaute musternd in die Runde. »Ich bat Euch darum, mir mitzuteilen, wer Anspruch auf den Thron erhebt, und diesen Anspruch zu begründen.« Ein Livrierter trat zu ihm und reichte ihm ein gerolltes Dokument, das Fjanski in einer theatralischen Geste öffnete und es hoch in die Luft hielt, damit alle sahen, wie viele Namen darauf standen. »Zweiundzwanzig.« Der Hara¢ ließ die Zahl im Raum hallen und über perückengezierten Häuptern schweben, während aufgeregtes Getuschel unter den Adligen einsetzte. »Zweiundzwanzig!«, wiederholte er mit Nachdruck und warf das Blatt achtlos auf die lange Tafel. »Die mitunter haarsträubenden Begründungen möchte ich erst gar nicht wiedergeben.«

»Wie lautet Eure noch gleich, Hara¢?«, schmatzte der Mann neben Raspot beiläufig und erntete damit gehässiges Gelächter, während er sich ein Stück Wachtel nahm und sie mehr fraß als aß. Das Fett rann über den Bart den Hals hinab, doch bevor es den Kragen berührte, wischte er es mit dem Handrücken weg, schmierte es an das Tischtuch.

Fjanski ließ sich nicht beirren. »Mein guter Vasruc Klepmoff, ich habe niemals einen Hehl daraus gemacht, an die Spitze zu wollen, doch im Gegensatz zu Euch hätte ich es auch verdient.« Seine graublauen Augen schweiften über die Gesichter der Anwesenden. »Ich erinnere Euch daran, dass uns keine Zeit bleibt, um Intrigen zu betreiben, denn die Untertanen Borasgotans müssen rasch wieder an die Kandare genommen werden, ehe sie zu lange den Wind der Freiheit spüren, der aus dem benachbarten Tarpol herüberweht. Die künftige Kabcara Norina untergräbt die Rechte der Adligen, das gemeine Volk steigt empor und schwingt sich in den Sattel der Regentschaft. Govan Bardri¢ tat uns den Gefallen, die Borasgotaner nach seiner Machtübernahme von seinem Vater Lodrik zu knechten. Wir lockern die Fesseln, damit sie dankbar sind. Aber wir nehmen sie ihnen nicht ab!« Er ballte die Faust, schüttelte sie. »Sind wir uns darüber einig?« Die Männer und Frauen riefen ihre Zustimmung. Raspot verhielt sich schweigsam, was ihm merkwürdige Blicke seines Nachbarn einbrachte. »Dann lasst uns im Gleichklang das Lied der Macht singen. Keine Zwiste, keine Streitereien, sonst stärken wir das Bauernpack und die reichen Bürger, denen zu viele sanfte Reden über eine neue Zeit der Gleichheit aller Borasgotaner das Hirn verdarben.« Wieder brandete Beifall auf.

»Ist das Eure Bewerbungsrede, Hara¢?«, kam es blasiert vom kauenden Klepmoff. »Ich finde sie gelungen, dennoch werde ich nicht für Euch stimmen.«

»Das müsst Ihr gar nicht«, erwiderte Fjanski ruhig. »Ich habe mir überlegt, dass wir jemanden auf den Thron setzen sollten, der absolut rein von jedem Makel ist, der sich nicht durch Händel mit anderen hervorgetan hat und weder Verbindungen zu Arrulskhán noch zu Govan Bardri¢ hatte. Dies wird bei den anderen Königreichen einen guten Eindruck machen; sie werden es als einen Neuanfang werten, während wir unseren Kabcar beim Regieren unterstützen.« Einige der Adligen lachten leise.

Klepmoff warf den Wachtelkopf auf seinen Teller. »Eine Marionette demnach. Und wer soll das Holzpüppchen sein, Hara¢?« Fjanski hob den rechten Arm und deutete wortlos auf Raspot. Klepmoff wälzte sich in seinem Stuhl auf die Seite, um den jungen Mann besser betrachten zu können, dann lachte er schallend los, und die Mehrheit der Adligen fiel ein.

Raspot schaute verblüfft auf den Hara¢, der ihn mit dem Vorschlag mehr als überrumpelt hatte. Der Schlangenbeschwörer schlug überraschende Töne an. Dann starrte er auf den grölenden Adligen, der sich gar nicht mehr beruhigen wollte. Im ersten Augenblick hatte er die Nominierung ablehnen wollen, doch das Gelächter all der überheblichen Männer und Frauen um ihn herum schürte seinen Trotz, seine Wut und kratzte empfindlich an seiner Ehre als Mann und Vasruc.

»Was ist daran so komisch?«, fragte er fordernd, doch seine Worte gingen in dem Lärm unter, also sprang er auf, schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich fragte, was so komisch ist?«, rief er erbost.

Die Kerzenflammen auf den Tischen duckten sich, die Kristalllüster bebten und klirrten, jegliche Lichtquelle in dem Thronsaal erlosch, und mit dem Schein verschwand das Lachen. Besorgte Rufe mischten sich in das Schaben von Stuhlbeinen und das metallische Geräusch von Säbeln, die aus ihren Hüllen gezogen wurden.

Diener eilten mit brennenden Spänen und Fackeln herbei, und die Helligkeit kehrte zumindest am Tisch zurück. Viele der Gäste hatten sich von ihren Plätzen erhoben, der Saal war in Aufruhr.

Nun stand der unscheinbare Raspot im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der sich selbst wohl am meisten über das wunderte, was geschehen war. »Wieso schaut Ihr alle mich an?«, fragte er befremdet.

Hara¢ Fjanski betrachtete ihn. »Herrschaften, ich glaube, wir haben hier soeben einen jungen Menschen entdeckt, der ein Geschenk in sich trägt, wie es nur wenigen auf diesem Kontinent vergönnt ist«, sagte er. »Ihr, Vasruc Putjomkin, tragt Magie in Euch.«

»Ich? Nein, das kann nicht …«

Der Hara¢ ließ Ausflüchte nicht zu. »Wie könnte es sonst geschehen, dass das Feuer Eurem Zorn gehorcht? Die Fenster sind allesamt geschlossen. Ich habe keinen Windstoß gespürt. Ihr vielleicht?«, richtete er die Frage an die Versammelten, die die Köpfe schüttelten und den Mann, den sie eben noch verspottet hatten, mit Angst und Bewunderung zugleich anstaunten.

Bis auf einen.

»Ihr habt das fein eingefädelt, Fjanski«, zeterte Klepmoff und wuchtete sich aus dem Stuhl. »Ihr kennt den Knaben, das ist vollkommen offensichtlich, und Ihr wollt ihn auf dem Thron sehen, damit Ihr am meisten von der Regentschaft profitiert.« Er hob den Kopf, sein Finger wies zur Decke. »Ich verwette meinen gesamten Besitz, dass dort oben Löcher gebohrt wurden, durch die Eure Diener Luft bliesen und uns dieses Schauspiel lieferten, damit wir gefügig werden.«

Fjanski hob die Hände. »Ich schwöre bei Ulldrael dem Gerechten, dass ich mit dem Wunder nichts zu tun habe. Es ist Magie gewesen.«

»Lügner!« Klepmoff lachte die Adligen aus. »Und Ihr glaubt ihm noch! Aber wartet, Euch beweise ich es. Mal sehen, ob der faule Zauber auch dagegen wirkt.« Seine feiste rechte Hand zog mit einer schnellen Bewegung den Ehrendolch, den er von Arrulskhán IV. bekommen hatte, aus der Halterung am Gürtel. Die Klinge stieß nach Raspots Oberarm.

Fast hatte die Waffe den jungen Mann erreicht, da prallte die Klinge plötzlich gegen ein unsichtbares Hindernis, bog sich weit zur Seite und zersprang klirrend.

Die scharfkantigen Metallsplitter schwebten frei in der Luft, ehe sie blitzschnell auf den Angreifer eindrangen, ihm in die Brust, ins Gesicht und in den Hals fuhren.

Blutend sank Klepmoff auf den Stuhl zurück, der gleich darauf wie von Geisterhand angehoben und mit Leichtigkeit über die Tafel hinweg durch den Saal geschleudert wurde, als wöge der fette Vasruc nicht mehr als die Wachtel, die er vertilgt hatte.

In vier Schritt Höhe endet der rasende Flug an der Wand. Es knackte vernehmbar, als mehrere Knochen in Klepmoffs Leib brachen; zusammen mit den Trümmern des Stuhls fiel Klepmoff tot auf den Marmorboden. Unter der Leiche sickerte alsbald ein rotes Rinnsal hervor, das über den polierten Stein kroch.

Jetzt wichen die Frauen und Männer schweigend vor Raspot zurück, selbst die letzten Hartnäckigen erhoben sich. Niemand wagte ein Wort des Widerspruchs gegen ihn.

Der junge Adlige hob die Hände und betrachtete sie verwirrt. Ich trage Magie in mir? Aber wie beherrsche ich sie?

»Bei allen Göttern! Gäbe es einen besseren Anwärter auf den Thron Borasgotans als diesen von Ulldrael Gesegneten?«, fragte Hara¢ Fjanski beinahe euphorisch. »Wer stimmt für Raspot Putjomkin?« Als Antwort verneigten sich die Adligen tief vor dem jungen Mann. »Lange lebe Raspot der Erste, Kabcar von Borasgotan!«, rief Fjanski und lächelte ihm zu.

Raspot konnte nicht fassen, wie sich sein Leben innerhalb weniger Augenblicke geändert hatte; in seinem Innern fühlte er sich unschlüssig, ob er die Bürde der Macht überhaupt annehmen sollte. Andererseits bot sich eine solche Gelegenheit wohl kaum ein zweites Mal.

»So hat meine Heimat einen neuen Kabcar«, sagte Raspot und ärgerte sich darüber, dass seine Stimme belegt klang. Es zerstörte das Überlegenheitsgefühl. »Ich bitte Euch alle, Schweigen über meine magischen Fähigkeiten zu bewahren. Es würde womöglich die Angst unserer Nachbarn schüren, dass Borasgotan sich unter meiner Führung zu einer neuen Kriegsmacht aufschwingen könnte. Das will ich nicht.«

Die Adligen hoben die Köpfe, setzten sich an die Tafel und warteten, was es noch zu besprechen gab, nachdem das höchste Amt des Landes unerwartet und auf spektakuläre Weise besetzt worden war.

Fjanski bat Raspot an das Ende des Tisches, um den ihm gebührenden Platz einzunehmen, und setzte sich zu seiner Linken. Alsbald begann ein Austausch der unterschiedlichen Vorstellungen, wie am besten vorzugehen sei, um Borasgotan neu zu ordnen.

Die Stunden verstrichen. Lange nach Mitternacht hob Raspot die Versammlung auf, um allen ein wenig Schlaf zu gönnen, denn am folgenden Tag sollten die Gespräche fortgeführt werden. Schließlich blieben er und Hara¢ Fjanski im Saal zurück. Ein Stück entfernt lag eine stockbetrunkene Vasruca mit dem Oberkörper auf dem Tisch und schnarchte leise.

»Nun, hoheitlicher Kabcar, wie fühlt Ihr Euch?« Fjanski goss sich vom Wein ein, roch daran und nahm einen Schluck. »Hättet Ihr Euch in Euren Träumen vorstellen können, einmal der mächtigste Mann Borasgotans zu werden?«

»Bin ich denn der mächtigste Mann Borasgotans?«, erwiderte Raspot und schaute dem Hara¢ erkundend in die Augen. »Ich bin mit den Legenden über Lodrik Bardri¢ und seinen Ratgeber Nesreca aufgewachsen. Viele sehen ihn als das eigentliche Übel und in ihm den Verantwortlichen für das Unheil und die tausenden von Toten, deren Blut der Kontinent getrunken hat und an dem das Land beinahe erstickt wäre.« Er bemerkte, dass Fjanskis Gesichtsausdruck sich wandelte; er sah ertappt aus. »Ihr seid es, der Magie beherrscht, nicht wahr, Hara¢? Ihr habt Klepmoff umgebracht«, raunte er. »Weshalb diese Maskerade? Soll ich Euer Lodrik Bardri¢ werden?«

Fjanskis Lippen wurden schmal, dann wanderten seine Mundwinkel in die Höhe. »Ihr seid auf alle Fälle klüger als Bardri¢. Oder jedenfalls nicht ganz so arglos.«

»Ihr selbst hattet mich vor der Schlangengrube gewarnt. Sagt mir den wahren Grund, weshalb ich Euer Platzhalter sein soll, oder ich trete noch in dieser Nacht von meinem Amt zurück.« Raspot scherzte nicht; er wirkte entschlossen, seine Drohung wahr zu machen.

»Sollte ich davor Angst haben?«

»Die Wahlen müssten von vorn beginnen, und wer weiß, wer daraus als Sieger hervorginge?«

Fjanski grinste. »Gut, ich weihe Euch ein. Bschoi und ich haben uns lange besprochen, wie es mit Borasgotan weitergehen soll. Leider verstarb er unerwartet früh, aber er erwähnte in seinen Briefen stets Euch und Euren Mut. Als ich Euch auf der Brücke sah und Zeuge wurde, welche Beherztheit Ihr an den Tag legtet, entschied ich mich endgültig für Euch«, erklärte er. »Der Grund ist: Es geht um Eure und meine Heimat, hoheitlicher Kabcar. Ihr seid ein blütenweißes Blatt, sowohl beim Volk als auch bei den anderen Königreichen, ich sagte es bereits. Und ich meinte es ernst.« Er warf einen abwesenden Blick zu der schlafenden Vasruca, die murmelnd den Kopf zur Seite drehte und eine gemütlichere Position suchte. »Sie ist ein gutes Beispiel. Schaut sie Euch an: besoffen, zügellos, ohne Anstand und wahrlich kein Vorbild. Kaum einer der Adligen bekleckerte sich in den letzten Jahren mit Ruhm oder steht beim Volk gut da. Die meisten sind nur auf ihre eigenen Vorteile bedacht. Ihr, Raspot, bietet dem Land die Möglichkeit, einen Kabcar zu inthronisieren, der von den Brojaken, Vasrucs und Hara¢s ebenso angenommen wird wie von den einfachen Borasgotanern. Ihr beherrscht in den Augen der anderen die Magie, das macht Euch zu einem Auserwählten Ulldraels. Und wer könnte besser dazu geschaffen sein, das Land zu einen und endlich die ersehnte Ordnung zu schaffen?«

Raspot bekam eine Ahnung von dem, was der Hara¢ ihm gegenüber andeutete. »Ansonsten gäbe es andauernde Streitereien, und das Leiden ginge weiter«, vollendete er die fürchterliche Vision. Er atmete tief ein, leerte seinen Wein auf einen Zug und warf das Glas hinter sich. Splitternd zerschellte es auf dem Marmor. »So bleibe ich Raspot der Erste, aber ich warne Euch, Hara¢ Fjanski. Ich habe, anders als Lodrik Bardri¢, einen eigenen Willen, eine eigene Meinung und eine eigene Vorstellung. Ihr wolltet eine Marionette oder eine Schlange, die nach Eurer Melodie tanzt? Nun, das werde ich gewiss nicht tun. Auch mir geht es um meine Heimat, erst danach mögen meine eigenen Interessen und die der Adligen folgen.« Der Kabcar stand auf. »Zu einem Herrscher gehört eine Herrscherin. Ich gedenke, bald zu heiraten.«

»Sicherlich. Ich werde die hübschesten Töchter der Reichen und Mächtigen Borasgotans zu einem Ball laden, auf dem Ihr Eure Gemahlin wählen könnt.«

»Nicht nötig, Hara¢ Fjanski. Mein Herz ist bereits vergeben.« Raspot lächelte. »Ich werde sie herbeirufen lassen und sie ehelichen.«

»Es wird doch hoffentlich eine Dame von Stand sein, die zu Euch passt, hoheitlicher Kabcar?«

Die überraschende Antwort erfolgte prompt. »Es ist Bschois Witwe. Nach dem Tod ihres Gatten gestand sie mir ihre Liebe. Auch ich fühlte mich zu ihr hingezogen, seit ich sie das erste Mal sah. Sie ist klug. Sie wird uns beim Aufbau Borasgotans unterstützen.«

Fjanski wirkte nicht unbedingt glücklich. »Hoheitlicher Kabcar, habt Ihr bedacht, wie Euer Vorhaben für die einfachen Leute aussieht? Der Mann, der Euch zu seinem Erben machte, ist kaum tot, da heiratet Ihr seine noch trauernde Witwe und kürt sie zur Kabcara …«

»Ich kann nichts Schlechtes daran erkennen. Gäbe es einen angemesseneren Weg, meine Dankbarkeit dem Toten gegenüber zu zeigen, als dass ich seiner Gemahlin die höchste Position des Landes anvertraue?«

»Dann denkt für einen Augenblick wie ein schlechter Mensch, und Ihr werdet einräumen müssen, dass man annehmen könnte, Ihr und die Witwe hättet den Tod Bschois eingefädelt, um ihn aus dem Weg zu räumen und Platz im Bett zu schaffen.«

Raspot lachte. »Nein, davor habe ich keine Angst. Bschoi ist beim Angeln vor aller Augen ertrunken. Niemand hatte die Hand im Spiel. Es war ein Unfall.«

Der Hara¢ war nicht überzeugt, ersparte sich jedoch weiteren Widerspruch. »Dann soll es so sein. Ich freue mich, Eure Gemahlin kennen zu lernen«, sagte er stattdessen und verneigte sich. »Begebt Euch zur Ruhe, hoheitlicher Kabcar, damit Ihr munter seid und die weiteren Unterredungen frisch wie der junge Morgen führen könnt.«

»Das gilt für Euch ebenso.« Raspot schritt zum Ausgang, nahm sich im Vorbeigehen einen Apfel von der Platte und aß ihn unterwegs.

Fjanski beobachtete ihn zufrieden und goss sich vom Wein nach, sobald der designierte Herrscher Borasgotans die Halle verlassen hatte.

Es hätte nicht besser laufen können. Alles befand sind auf dem richtigen Weg, und der junge Putjomkin würde spuren, ohne dass er es merkte, trotz seiner Ankündigung. Eine Marionette merkte nie, wer ihre Fäden zog, wenn man darauf achtete, dass sie den Kopf nicht hob. »Willst du, kleiner Putjomkin, dagegen eine Giftnatter sein und versuchen, deinen Beschwörer zu beißen, werde ich dir deine Zähne schon ziehen.« Er erhob sich, ohne seinen Wein abzustellen, streckte sich und schlenderte auf die Tür zu. Sein Bett wartete auf ihn.

Kaum war er verschwunden, hob die Vasruca den Kopf. Sie wischte sich die Brotkrümel aus dem Gesicht und lief keineswegs schlaftrunken oder vom Alkohol benebelt durch das Portal hinaus, die kaum erhellten Gänge der Festung entlang, bis sie in ihr Zimmer gelangte.

Dort verfasste sie im schwachen Schein einer Lampe eine Nachricht auf einem winzigen Stück Papier. Zeile für Zeile füllte sich das Blatt mit merkwürdigen Zeichen, die von keinem Uneingeweihten zu entziffern waren. Sie faltete es mehrfach, bis daraus ein Zettel von der Größe eines Daumennagels entstand, und schob die Nachricht in ein kleines Lederetui. Dann trat sie zu ihrem Schrankkoffer.

»Sei leise«, wisperte sie und öffnete ein verborgenes Fach. Darin saß eine Taube und hob erschrocken die Lider. Das Tier gurrte aufgeregt und ließ sich nur mit Mühe greifen.

Die Vasruca schob das Etui in das Brustgeschirr des Vogels, streichelte ihm noch einmal über das weiche Kopfgefieder. »Im Morgengrauen fliegst du zu Perdór und bringst ihm die Nachricht.«

Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, als das Tier noch einmal mit den Flügeln zuckte und dann leblos in ihren Fingern hing.

»Was ist mit dir?« Sie schüttelte die Taube vorsichtig, klopfte gegen den Schnabel. Doch es brachte nichts, der Vogel war tot.

Die Frau aber erhielt einen mörderischen Schlag in den Rücken, der sie gegen den Tisch schleuderte. Die tote Taube fiel aus ihrer Hand und landete auf den Dielen, während man ihr die Perücke vom Haupt riss und in ihr echtes, dunkelblondes Haar griff. Brutal wurde sie daran in die Höhe und nach hinten gezogen.

Die Vasruca schrie auf und schlug verzweifelt um sich. Der weite Rock verfing sich im Stuhl, sie strauchelte, sodass sie zu Boden ging. Im nächsten Augenblick bekam sie einen Tritt in den Bauch, der ihr die Luft abschnitt und sie zum Würgen brachte.

Ängstlich schaute sie sich um, entdeckte jedoch keine Spur von ihren Peinigern. Sie wusste, was das bedeutete: Der Hara¢ hatte sie von Anfang an im Verdacht gehabt, eine Spionin zu sein. Nun griff er sie, nachdem er sie heimlich beobachtet hatte, mit seinen magischen Fertigkeiten an.

Ihr Gesicht wurde drei, vier Mal auf den Boden geschlagen; sie verlor fast das Bewusstsein und wurde dennoch auf die Beine gestellt.

»Fjanski, hört auf damit!«, rief sie undeutlich; Blut lief aus ihrer Nase, ihre Lippen schwollen bereits an, und einige Schneidezähne fühlten sich locker an. »Lasst mich am Leben, ich werde Euch …«

Die unsichtbaren Kräfte des Adligen traten erneut in Aktion. Sie hoben die Vasruca einen Fingerbreit von den Holzdielen und trugen sie mit enormer Geschwindigkeit auf das geschlossene Fenster zu, das zum Hof hinaus lag.

In Todesfurcht kreischend, hielt sie die Arme vor ihr Gesicht und schloss die Augen. Schon wurde sie durch die bunt bemalte Scheibe nach draußen katapultiert und fiel, umgeben von glitzernden Scherben, den Pflastersteinen entgegen.

Ihr Flug endete überraschenderweise im weichen Misthaufen; die Pferdeäpfel und das Stroh milderten die Wucht des Aufschlags.

»Danke, Ulldrael …« Die Vasruca hatte den Sturz wider alles Erwarten überlebt. Sie rollte sich herum, um rasch von dem stinkenden, doch unverhofft weichen Untergrund zu rutschen und aus dem frühmorgendlichen Checskotan zu flüchten. Noch wagte es keiner der Wächter, Fragen zu stellen; auch Hara¢ Fjanski erschien nicht, um zu beenden, was seine Magie nicht vollbracht hatte.

Doch die Frau hatte sich zu früh bei ihrem Gott bedankt.

Gerade wollte sie sich hochstemmen, um auf den steinernen Boden des Innenhofs zu gelangen, als sie das Glitzern über sich bemerkte und nach oben blickte.

Zwei Schritte über ihr verharrten die unzähligen kleinen und großen Splitter des bunten Fensters wie an Schnüren aufgehängt in der Luft. Sie drehten sich um die eigene Achse, als spielte der Wind mit ihnen, und reflektierten den Schein der Wachfeuer im Hof. Es sah bizarr und zugleich schön aus, aber der Anblick täuschte nicht über die tödliche Bedrohung hinweg.

»Gnade, Fjanski!«, rief sie flehend, doch schon fuhren die Scherben Dolchen gleich auf sie herab.

I.

Kontinent Ulldart, Königreich Tarpol, Hauptstadt Ulsar, Sommer im Jahr 1 Ulldrael des Gerechten (460 n.S.)

Es war, als hätte Ulldrael der Gerechte den Sommersonnen erlaubt, mit ihrer ganzen Macht vom Himmel zu scheinen. Sie besaβen doppelt so viel Kraft wie in dem vergangenen, finsteren Jahr, in dem Govan und seine Schwester Zvatochna geherrscht hatten. Die strahlenden Gestirne führten den Menschen unmissverständlich vor Augen, dass die Dunkle Zeit vorüber war.

Die goldenen Strahlen fanden in jeden finsteren Winkel der Hauptstadt und scheuchten den letzten, beharrlichen Schrecken aus den düsteren Gässchen. Noch nie war Ulsar derart von Helligkeit durchströmt gewesen.

Auch die Bewohner trugen ihren Teil dazu bei. Die nachträglich aufgesetzte Architektur des Grauens, die Govan für die gesamten Häuser angeordnet hatte, schwand. Die finsteren, geschwärzten Fassaden wurden gestrichen, die nachträglich angesetzten schwarzen Eisenspitzen von den Dächern abgerissen und steinerne Dämonenfigürchen von den Giebeln gestoβen.

Das unablässige Klopfen der Hämmer und Meiβel erklang allerorten. Die Steinmetzen verfolgten ihr Vernichtungswerk an den Bauten unnachgiebig und trieben das Böse aus. Die verhassten Tzulan-Zeichen wehten als harmloser Steinstaub auf das Kopfsteinpflaster und die Schindeln, wo sie der gelegentliche Landregen abwusch und zu den zerschellten Dämonen in die Gosse spülte.

Norina Miklanowo, die kommende Kabcara des sich vom Schrecken erholenden Tarpol, fand man in diesen Tagen nahezu überall in Ulsar. Die hoch gewachsene Frau mit den langen, schwarzen Haaren begutachtete die Fortschritte der Steinmetzen, legte mit Hand an, wenn es erforderlich war, und erkundigte sich unentwegt nach Dingen, die zum Gelingen der Baumaβnahmen fehlten. Das tat sie nicht etwa in feiner Kleidung und umgeben von einem dekadenten Hofstaat, sondern im Gewand einer Brojakin und nur begleitet von einigen Leibwächtern. Kein Herrscher Tarpols war dem Volk je näher gewesen als sie.

Vor der eingerissenen Kathedrale, die Govan zu Ehren Tzulans errichtet und in der er seinem Gott Menschenopfer dargeboten hatte, traf sie Matuc wieder, den betagten Mönch mit dem Holzbein. In der Fremde Kalisstrons hatte er unerschütterlich seinen Glauben an Ulldrael verteidigt; nach der Aufhebung von Govans Verbot war er zurückgekehrt, um die Lehren Ulldraels in seiner Heimat zu verkünden.

Jetzt stand er umringt von einer Schar seiner Anhänger und redete über den Triumph des Gerechten. »Norina Miklanowo!«, rief er freudig, als er die Brojakin gewahrte, und neigte sein Haupt vor ihr. »Ich meine natürlich ›hoheitliche Kabcara‹.« Die Männer und Frauen in den schlichten dunkelgrünen Roben bildeten eine Gasse für sie, damit sich die Freunde die Hand reichen konnten.

»Noch ist es nicht so weit, und Ihr, Matuc, dürftet zu denen gehören, die allerhöchstens bei feierlichen Anlässen eine solche Anrede gebrauchen müssen. Nur wenn es das Protokoll unter allen Umständen verlangt, möchte ich diese Worte von Euch hören«, lächelte sie, und ihre braunen Augen strahlten. »Ihr seid mindestens so viel auf den Beinen wie ich. Vergesst Euer Alter nicht.«

»Ich habe es schon lange vergessen. Die Menschen hören das Wort von Ulldrael dem Gerechten gern und überall«, antwortete Matuc glücklich und fuhr sich durch die Haare, die mehr grau als schwarz waren. »Niemals hätte ich gedacht, dass ausgerechnet ich, der einst mit seinem Gott haderte und in der Fremde zu ihm zurückfand, den Orden Ulldraels neu aufbauen darf.« Er nickte in die Runde. »Niemals mehr wird Verschwendung Einzug bei den neuen Oberen unseres Ordens halten. Denn nur durch Schlichtheit und den Verzicht auf persönlichen Reichtum wird es uns gelingen, die Menschen zu begeistern und den Willen Ulldraels zu erfüllen.«

Norina betrachtete die Trümmer der Kathedrale. »Ist es schwierig, alte Freunde ausfindig zu machen?«

In Matucs Augen und auf seinem Gesicht zeigte sich Trauer. »Govan Bardri¢ war gründlich, was die Verfolgung unserer Mitbrüder anging. Da lediglich eine Hand voll der Ulldrael-Priester dem alten Glauben abschwor, wurden Unzählige von dem Wahnsinnigen ermordet und Tzulan geopfert.« Er seufzte schwer. »Doch unsere Arbeit trägt Früchte. Schon im kommenden Monat ist der Geheime Rat unseres Ordens für Tarpol gebildet, und der Aufbau wird beginnen.« Er bemerkte, dass Norinas Blick auf die Überbleibsel aus Marmor, Granit und herkömmlichem Stein fiel. »Was habt Ihr damit vor?«

»Es kann nicht liegen bleiben, das steht fest.« Norina schüttelte sich. Sie hatte das Gebäude des Schreckens nie mit eigenen Augen gesehen, sondern kannte es einzig aus den Erzählungen der Ulsarer und von Bauskizzen, welche sie im Palast gefunden hatte.

Doch in ihrer Vorstellungskraft setzten sich die Bruchstücke erneut zusammen und erhoben sich in ihrer Finsternis. Sie hörte die Schreie derer, die zu hunderten in das rätselhafte Loch geworfen worden waren, das sich irgendwo unter der Schutthalde verbarg.

»Das Geröll wird in dem See beim alten Steinbruch versenkt werden. Niemand soll die Steine, an denen das Blut der Tarpoler klebt, verwenden, um daraus ein Haus oder auch nur einen Stall zu errichten. Morgen geht es los«, erklärte sie und senkte die Stimme. »Ich gestehe, dass ich mich davor fürchte, was wir zutage fördern.«

Matuc nickte verständnisvoll. »Viele der Ulsarer denken so, aber Ulldrael der Gerechte wird über diejenigen wachen, welche die Arbeit verrichten. Ich werde Priester abstellen, die den Segen des Gerechten unablässig herabbeten. Verzeiht mir, Norina Miklanowo, aber ich muss weiter.« Er verneigte sich, aber sie hielt ihm die ausgestreckte Hand hin, und er schlug wieder ein, dann humpelte er, umschwärmt von seinen Anhängern, davon.

Norina warf einen letzten sorgenvollen Blick auf die einstige Kathedrale und machte sich auf den Rückweg zum Palast, in dem Lodrik und jede Menge Herausforderungen auf sie warteten. Es kam ihr vor, als wiederholte sich das, was sie in jungen Jahren zusammen mit Lodrik versucht hatte: die Abschaffung der Adelsprivilegien und der Leibeigenschaft.

Dieses Mal fürchtete sie kaum Widerstand.

Das Volk kannte die Vorzüge der Freiheit, und die Knechtschaft unter Govan hatte es noch mehr nach Unabhängigkeit von gierigen Brojaken und raffsüchtigen Adligen dürsten lassen.

In Gedanken versunken und mit ihren Reformen beschäftigt, grüβte sie selbstverständlich zurück, wenn die Menschen sie unterwegs auf der Straβe erkannten und ihr ehrfurchtsvoll zunickten. Norina fühlte sich ihnen nicht überlegen, obgleich sie um ihre eigene Macht wusste. Das herablassende Verhalten einer Kabcara, wie es Lodriks Frau Aljascha gezeigt hatte, war ihr fremd. Ihr Vater, einer der wenigen tarpolischen Brojaken von guter Gesinnung, hatte sie ohne jegliche Überheblichkeit und dazu zur Gerechtigkeit erzogen. Kein Wunder, dass sie sich mit ihrer Gesinnung Feinde bei jenen machte, die allein auf ihre eigenen Vorteile bedacht waren. Mehr als einmal wünschte sie sich, ihren Vater an ihrer Seite zu haben. Gegen seinen Rat hätte sie gegenwärtig nichts einzuwenden gehabt.

Endlich durchschritt sie das schmiedeeiserne Tor vor ihrem Haus. Auf eigenen Wunsch hin wohnte sie noch nicht in dem burgähnlich befestigten Palast der Bardri¢-Dynastie; ihn wollte sie erst mit ihrer Krönung beziehen. Sie ging die Marmortreppe hinauf und suchte das kleine, gemütliche Teezimmer auf, in dem sie Lodrik vermutete.

Als sie die Tür öffnete, bemerkte sie den modrigen Geruch. Es war eine Mischung aus alten, vergilbten Vorhängen und in die Jahre gekommenen Büchern; drückend hing er im Raum, obwohl die türgroβen Fenster offen standen und warme Sommerluft hereinwehte.

Es war nicht die Einrichtung, welche den Dunst des Verfalls verbreitete, sondern der einstige Kabcar von Tarpol, der mit dem Rücken zu ihr im Schatten stand, streng darauf bedacht, nicht in den honigfarbenen Sonnenschein zu treten. Er trug seine nachtblaue Robe, die bis zu Taille eng am Körper anlag und zum Saum hin wie ein Gehrock schwang.

»Lodrik?«

»Das Herz meines ehemaligen Reiches schlägt wieder.« Lodriks blaue Augen schauten melancholisch hinaus auf die bevölkerten Straβen, die neuen Dächer, das blühende Leben, welches befreit in Ulsar wuchs und gedieh. Weil er die Arme auf dem Rücken verschränkt hielt, sah Norina, dass er in ihrer Gegenwart schwarze Handschuhe trug. Das war neu. »Ich danke den Göttern, dass Govan besiegt wurde.« Er wandte ihr sein hageres Gesicht zu und lächelte. Selbst das wirkte traurig. »Du warst lange fort.«

Norina ging zu ihm und schloss ihn in die Arme, und dabei bemerkte sie, dass sein Leib dürrer und fleischloser geworden war. »Es gibt viel zu tun.« Ihr Blick wanderte vorwurfsvoll zum Tisch, auf dem sein Mahl unangetastet stand. »Du musst mehr essen, Lodrik.« Prüfend fuhr sie mit den Fingern über den Stoff der schweren Robe. Darunter waren nur Haut und Knochen.

Er lachte leise, seine Stimme klang tief wie ein Keller und schwer wie Eisen. »Wie sehr hatte ich mir in meiner Kindheit gewünscht, diesen Satz zu hören.« Er fuhr ihr mit der Rechten über das Haar, streichelte ihre Wange und küsste behutsam die kleine Narbe an ihrer Schläfe. Seine Lippen waren eisig kalt. »Was haben dir deine Untertanen gesagt? Dass sie dich lieben und verehren, wie du es verdient hast?«

Norina umschlang ihn und überraschte sich dabei, dass sie auf den Schlag seines Herzens lauschte, um sicherzugehen, einen lebenden Menschen und keinen Toten in den Armen zu haben. Ihr Gefühl für ihn war stark und überwand die Aura des Unheimlichen, die ihn umgab und Mensch und Tier dazu brachte, vor ihm zurückzuweichen; auβer ihr gelang es nur seinem Sohn Krutor und seinen unerschütterlichen Freunden Stoiko und Waljakov, länger in seiner Nähe auszuharren. Die Furcht erregenden Schwingungen schienen selbst durch Wände zu dringen und verbreiteten in den Nachbarräumen Unbehagen, ja sogar Beklemmung.

Sie nahm seine Hände und hob sie leicht an. »Seit wann trägst du diese Handschuhe?«

Lodrik wächsernes Gesicht wurde verschlossen. »Meine Nägel und Finger sind kein schöner Anblick. Sie sind dünn und knöchern geworden; ein Raubvogel könnte keine besseren Klauen haben. Also verberge ich sie vor dir.« Er blickte an ihr vorbei, starrte auf den Spiegel und sein Abbild darin, sah das strohige Haar, das immer schütterer wurde, die Adern, die bläulich durch die blasse Haut schimmerten. »Du wirst durch meinen Anblick schon genug geprüft. Ich betrachte es als ein Wunder, dass du mich dennoch geehelicht hast.«

Norina kannte die niederschmetternden Reden ihres Gatten nur zu gut. Er hielt sie gern, badete sein Gemüt in Selbstmitleid und ständigen Vorwürfen. »Hör auf damit«, lautete ihr Ratschlag, während sie seine Hände drückte. »Hilf mir lieber bei den Vorbereitungen für das Treffen mit den Brojaken und Adligen.«

»Du brauchst meine Empfehlungen nicht. Du warst schon immer weiser als ich.« Lodrik schob sie sanft von sich, setzte sich in den Sessel am Fenster und schob den Vorhang zur Seite, um das Treiben in den Straβen verfolgen zu können. »Dein Vater hat dich erzogen, als habe er gewusst, dass du eines Tages die Kabcara von Tarpol sein wirst.«

Er beobachtete, wie eine Mutter mit ihren drei Kindern vom Markt zurückkam, den groβen Weidenkorb gefüllt mit Brot und Mehl. Die Kleinen schleppten voller Stolz dicke Kohlköpfe und überboten sich gegenseitig, wer sie länger in die Höhe stemmen konnte. Die Frau lachte, sie freute sich über ihren Eifer. Der Laut rührte ihn und brachte das Eis der Gleichgültigkeit zum Schmelzen.

Eines der Kinder, ein Junge von zehn Jahren, hob den Kohlkopf hoch, drehte sich um die eigene Achse und schaute zufällig nach oben; dabei entdeckte er Lodriks Gesicht hinter dem Fenster. Erschrocken lieβ er den Kohlkopf fallen, der daraufhin die Straβe entlangrollte.

Die Mutter wollte schimpfen, aber der Junge deutete aufgeregt zum Fenster. Lodrik hörte, wie er von einem »Geist« sprach, den er gesehen habe.

Lodrik lieβ den Vorhang zurückgleiten, und sein Kopf zuckte nach hinten, damit er nicht erkannt wurde. Dabei unterdrückte er den Impuls, zusätzlich die Kapuze seiner Robe hochzuziehen. Niemand sollte ihn sehen.

Norina hatte mitbekommen, was vorgefallen war. »Nun, hast du einen Ratschlag für mich?«, fragte sie, um ihn abzulenken, da sie um seine Empfindlichkeit wusste.

Er sank zurück an die weiche Lehne. »Sie werden so sein wie damals, als ich als junger Kabcar versuchte, die ersten Änderungen herbeizuführen. Und sie werden versuchen, wie weit sie bei dir gehen können, bis du ihren Forderungen nicht mehr nachgibst. Jetzt, wo Tarpol sich erholt, setzen sie alles daran, ihren Anteil zu sichern.«

»Sie bekommen ihren Anteil. Aber nicht so, wie sie es sich vorstellen. Bald sind die einst so mächtigen Männer und Frauen nicht mehr als reiche Männer und Frauen. Ohne besondere Privilegien, ohne besondere Rechte, ausgestattet mit jeweils fünfzig Hektar Land, für das sie sorgen müssen.« Sie deutete auf den Schreibtisch, wo sie die Entwürfe gelagert hatte. »Entweder machen sie sich die Hände selbst schmutzig, oder sie stellen Leute gegen Lohn an. Die Zeit der Ausbeutung ist vorbei.«

»Ich habe gelesen, dass alles andere Ackerland an die Dörfer, Höfe und Städte fallen soll.« Er zog die Handschuhe fester. »Jeder leibeigene Bauer wird frei sein und einhundert Waslec bekommen, um sich Saatgut und Tiere zu kaufen. Ist das richtig?«

»Ja. In Tarpol beginnt eine neue Ära, deren Wirkung nicht mehr rückgängig zu machen sein wird.« Sie ging zu ihm, setzte sich ihm gegenüber. Dabei blieb sie im satten Schein der Sonne, freute sich über die Wärme auf ihrer Haut und das Licht, während der Schatten um ihn herum an Tiefe und Schwärze zu gewinnen schien, als wollte er Lodrik in sich einschlieβen und vor den Gestirnen bewahren.

Es war der Augenblick, in dem ihr in aller Deutlichkeit auffiel, wie sehr sich Lodrik verändert hatte. Nicht nur äuβerlich. Nachdem sie aus ihrer Jahre währenden Amnesie erwacht war, hatte man ihr berichtet, dass er sich mehr und mehr zu einem selbstbewussten Herrscher entwickelt hatte, bis ihn Govan und Zvatochna im Steinbruch zu töten versucht hatten.

Wie er den Anschlag überlebt hatte, blieb ein Rätsel. Seine Veränderung sprach nicht dafür, dass es ein Wunder Ulldraels gewesen war. Sie fragte sich immer wieder, was an jenem Tag geschehen war, doch sie drängte ihn nicht, es ihr zu erzählen.

»Ich werde aus Ulsar fortgehen, Norina«, kam es düster aus dem Schatten. »Ich ertrage die Blicke derer nicht, die mich anschauen.« Lodrik sah, dass sie ihm widersprechen wollte. »Du hast gehört, dass mich der Junge voller Furcht einen Geist genannt hat?«, setzte er rasch seine Rede fort. »Geist ist ein harmloser Ausdruck, dem bald schlimmere folgen würden, bliebe ich in der Hauptstadt und bekämen mich noch mehr Menschen zu Gesicht. Früher oder später würde das Gerede auch auf dich zurückfallen.« Er hob die Hand und deutete auf seine verhärmten Züge. »Es ist der Preis, den ich dafür zahle, dass ich den Anschlag meines eigenen Sohnes nicht mit dem Leben begleichen musste. Die Magie in mir hat nicht gestattet, dass ich sterbe, aber inmitten des Lebens gehe ich zu Grunde.«

Norinas braune Augen sprühten. »Du hast mir versprochen, mich zu unterstützen, Lodrik. Deswegen habe ich eingewilligt, den Titel der Kabcara anzunehmen. Ich brauche deinen Rat, deine Erfahrung.« Sie fasste seine Hände. »Bitte bleib bei mir.«

»Meine Erfahrung? Gerade als ich dabei war, ein eigenständiger Herrscher zu werden, wurde ich von meinen eigenen Kindern abgesetzt«, antwortete er bitter. »Ich habe in den Jahren meiner Regentschaft zu lange das getan, was Nesreca und Aljascha mir einflüsterten. Ich will nicht, dass es später heiβt, ich wäre zu deinem Mortva geworden, Norina.« Lodrik beugte sich nach vorn, und es erinnerte in der Tat ein wenig an eine Spukgestalt, wie sein bleiches Gesicht aus der dunklen Ecke auftauchte. Er drückte ihre Finger, hob sie an seinen Mund und küsste sie sanft. »Ulsar zu verlassen heiβt nicht, dass ich vollends weggehe. Ich erinnere mich sehr genau an mein Versprechen, und ich werde es auch halten. Es gibt auβerhalb der Stadt den Stammsitz der Bardri¢, in dem mein Vater einst lebte und in dem ich meine Kindheit verbrachte.«

»Er wurde geplündert, nachdem sich Govans Tod herumgesprochen hatte«, erinnerte sie ihn. »Du wirst nicht mehr viel Heiles darin finden, er ist verlassen und schmucklos. Die Menschen haben ihrem Zorn freien Lauf gelassen.«

»Ich werde es mir schon gemütlich machen«, sagte er leichthin. In Wirklichkeit dachte er daran, wie gut dieses Haus zu ihm passte: leer, kalt, tot. »Ich lasse dich wissen, was ich benötige, und du schickst es mir bitte. Auβer dir möchte ich keinen Besuch sehen. Niemand wird erfahren, dass ich dort residiere. Kannst du mir das zusichern?«

»Von mir erfährt es niemand.« Norina spürte, dass es keinen Sinn hatte, ihn umstimmen zu wollen. Es würde für ihn mehr Folter als Freude sein, in der Hauptstadt zu leben. »Mir wirst du nicht verbieten können, dich zu besuchen, und auch Krutor wird es sich gewiss nicht nehmen lassen, seinen Vater zu sehen.«

»Ihr seid beide jederzeit willkommen.« Lodrik stand auf, zog Norina zu sich in den Schatten.

Sie bildete sich ein, dass es kühler um sie herum wurde, als er die Arme um sie legte und sie an sich drückte – gerade so, als verlöre sie die eigene Körperwärme an ihn. Sie fröstelte, Gänsehaut kroch über ihre Arme, und dennoch verharrte sie bei ihm.

»Ich reise noch in der Nacht ab.« Er hatte den Schauder bemerkt, lieβ sie los und schob sie lächelnd in die Sonnenstrahlen. »Sollte dich jemand fragen, wo ich geblieben bin, sage ihm, dass ich durch Tarpol reite und in deinem Namen nach Unrecht Ausschau halte.« Er schritt langsam zur Tür. »Es wird sich herumsprechen und manchen Hara¢ oder Skaguc daran hindern, über die Stränge zu schlagen. Es hat auch einen Vorteil, eine Legende zu sein, die jeder liebt, aber keiner bei sich im Haus haben möchte.« Lodrik verlieβ das Teezimmer.

Mit ihm wich die Bedrückung. Die Farben der Teppiche leuchteten intensiv auf, der abgestandene Geruch schwand, machte dem Sommerduft Platz; das ganze Zimmer schien freundlicher und heller, seit der einstige Kabcar gegangen war.

Norina riss die Vorhänge zur Seite und öffnete die groβen Fenster, lieβ Luft und Licht vollends hereinströmen. Sie legte beide Arme um den Leib, hob den Kopf, schloss die Augen und lieβ sich von den Sonnen die schreckliche Kühle aus dem Körper brennen.

Sie würde Perdór schreiben, ihm die Veränderung ihres Mannes schildern und ihn bitten, Soschas Bemühungen um die Erforschung der Magie doppelt zu unterstützen. Es musste irgendein Mittel existieren, um ihm seine alte Lebensfreude zurückzugeben. Notfalls würde sie Dekaden warten, um den Lodrik in den Armen zu halten, den sie kannte und den sie sich ersehnte.

Für ihre Liebe zu Lodrik nähme sie alles in Kauf. Sie hatte ihn schon einmal in ihrem Leben verloren und würde es keinem Menschen und keiner Macht auf dem Kontinent ­ mochte diese Macht noch so bedeutend sein ­ ein zweites Mal erlauben, ihr den Mann zu nehmen, für den ihr Herz schlug.

Norina atmete die reine Luft tief ein, gab sich einen Ruck, nahm die Unterlagen und kehrte ins Arbeitszimmer zurück, um die verschiedenen Gesetzestexte durchzugehen, welche sie den Adligen und Brojaken vorlegen würde. Aufmerksam blätterte sie die Beschlüsse durch, die unmittelbar nach ihrer Inthronisierung in Kraft treten sollten, versah sie mit Korrekturen, Anmerkungen und Verbesserungen.

Nach vier Stunden Arbeit am Schreibtisch erhob sich Norina müde, um sich etwas zu essen zu machen.

Wieder musste sie an ihren Vater denken. Er wäre stolz auf Lodrik und sie.

Kontinent Ulldart, Südwestküste von Tûris, Sommer im Jahr 1 Ulldrael des Gerechten (460 n.S.)

Ist es nicht herrlich, auf den Planken zu stehen und diese frische Seeluft einzuatmen, ohne Angst haben zu müssen, dass sich rogogardisches Piratenpack zeigt?« Commodore Nicente Roscario warf die störenden Locken seiner Weißhaarperücke nach hinten, die ihm die Sicht auf die immer größer werdenden Inseln verdeckten; sodann pfiff er den Pagen zu sich und winkte mit dem leeren Weinpokal, verlangte nach mehr. »Gut, dass der Krieg zu Ende ist und wir glimpflich davongekommen sind.« Zufrieden beobachtete er, wie der junge Mann den Pokal füllte. »Letztlich war er doch gut fürs Geschäft«, sagte er grinsend und trank. »Auf Palestan, den Kaufmannsrat und unseren König! Mögen unsere Kassen stets gefüllt sein.«

Neben Roscario standen zwei unbewegliche Steuermänner, die den Monolog des eitlen Mannes geduldig ertrugen und den schnellen Zweimastsegler Erhabenheit schnurgerade auf das Ziel der Reise zu lenkten: die kargen, zerklüfteten Iurdum-Inseln vor Tûris.

Das seltenste Metall des Kontinents kam, abgesehen von etwas Silber und Gold minderer Qualität, hier im Vergleich zum restlichen Ulldart in rauen Mengen vor. Das weckte natürlich Begehrlichkeiten bei denen, die auf schnellen Reichtum aus waren.

So verwunderte es den Commodore nicht, gewaltige Festungsbauten an den Küstenstrichen zu sehen, die so angeordnet waren, dass ein feindlich gesonnenes Schiff unweigerlich in das Kreuzfeuer der Katapulte und seit neuestem auch in die Reichweite von Eisenkugeln speienden Bombarden geriet.

»Ich finde, es sieht ein wenig nach dem Auswurf eines Lungenkranken aus, oder?« Roscario streckte die Hand aus und deutete auf die gelblich grünen Felsen, die sich hinter den Mauern erhoben, mal senkrecht ansteigend, mal sanft geschwungen. Überall gähnten schwarze Löcher, als wären sie von Riesenwürmern hineingefressen worden und dienten ihnen als Behausung. In Wirklichkeit waren es die jahrzehntealten Hinterlassenschaften vergangener Grabungen.

Der Commodore stellte den Pokal ab und zückte das Fernrohr. »Wie trostlos es dort aussieht«, näselte er. »Verlassene Stollen, Hangabbrüche, aufgegebene Minen und dazwischen von der Seeluft platt an die Erde gedrücktes Gras.« Schwungvoll schob er das Rohr zusammen. »Nicht einmal ein Schaf wollte da leben. Eher stürzte es sich in den Abgrund.«

Sein Adjutant eilte die Stufen aufs Achterdeck hinauf; die langen Schöße seines aufwändig gearbeiteten, hellblauen Brokatrocks wehten im Wind, und es kam Roscario in dem Licht ein wenig so vor, als könnte die Kleidung seines Untergebenen wirklich mehr gekostet haben als seine eigene.

»Commodore!«, schnaufte der Adjutant aufgeregt, während die Schmuckschnallen seiner Schuhe leise klirrten. »Ich habe eine Ungereimtheit entdeckt.«

Missbilligend schnappte Roscario nach dem fremden Kragen, rieb den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ihr, mein lieber Puaggi, werdet, sobald wir von unserer Mission nach Palestan zurückgekehrt sind, auf der Stelle zu einem Schneider Eures Vertrauens marschieren und Euch einen Rock fertigen lassen, der weniger als einhundert Heller kostet!«, fuhr er ihn an. »Und es ist mir gleich, dass unser König Euer Urgroßstiefwasauchimmercousin ist und Ihr Euch diesen Prunk leisten könnt. Solange Ihr neben mir steht und mein Adjutant seid, wird Eure Garderobe gefälligst schäbiger aussehen als meine! Haben wir uns verstanden?!«

Sotinos Puaggi, ein junger Mann von höchstens achtzehn Jahren, von schlanker Statur und mit einem so schmalen Gesicht bestraft, dass der Wind Melodien an seiner spitzen Stirn spielen konnte, schaute frappiert drein. »Verzeiht, Commodore, aber der Rock ist ein Geschenk des Königs. Wenn ich ihn nicht trage, so ehre ich seine Gabe nicht.«

Roscario hob den Gehstock; das untere Ende schnellte in die Höhe und kratzte über die Vorderseite des Rockes. Durch die ruppige Behandlung lösten sich Fäden, und einige der eingewobenen Perlen fielen nieder, rollten über die Planken und verschwanden in den Ritzen – oder wurden von Matrosen verstohlen aufgesammelt. Damit war ihnen ein Krug Branntwein in der nächsten Schenke gesichert. »Nun, dann tragt ihn weiter, doch lasst ihn, wie er ist«, lautete der zufriedene Kommentar. »Es geht auch so.«

Puaggi starrte auf den in Mitleidenschaft gezogenen Stoff. Er rang mit der Fassung und vor allem nach Worten, um sich gegen diese Unverschämtheit zur Wehr zu setzen.

»Ja?«, machte Roscario lauernd. »Was gibt es, Puaggi, dass Ihr da steht und einen glotzenden Karpfen nachäfft?«

Der Adjutant verkniff sich jeglichen Widerspruch, der an der Tat als solcher nichts mehr ändern würde und seinen Vorgesetzten ansonsten nicht weiter berührte. Stattdessen hielt er ihm den Brief hin, in dem sich unter anderem die Vollmacht des palestanischen Königs für diese diplomatische Mission befand. »Ich habe eine Ungereimtheit gefunden«, wiederholte er seine anfängliche Meldung.

»Worin kann sie denn liegen?« Roscario schnappte nach dem Umschlag, nahm zwei Papiere heraus und faltete sie mit viel Schwung und Gestikulieren auseinander, um seinen Unglauben bezüglich der Entdeckung des Adjutanten zum Ausdruck zu bringen. »Wir liegen auf dem richtigen Kurs, es ist der richtige Tag, und wir haben sogar herrliches Wetter, mein werter Puaggi.« Er hob das erste Blatt. »Der Auftrag unseres Königs«, erklärte er und wedelte mit dem zweiten, »und die Erlaubnis des neuen Königs von Tûris, Hoheit Bristel, das ungereinigte Iurdum direkt auf der Insel zu kaufen und es auf dem Schiff zu befördern.« Er schleuderte Puaggi die Schriftstücke ins keilförmige Gesicht. »Nehmt sie und steckt sie in den Umschlag zurück, damit sie nicht verloren gehen.«