Über dem Orinoco scheint der Mond - Harald Lesch - E-Book
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Über dem Orinoco scheint der Mond E-Book

Harald Lesch

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Beschreibung

Lasst uns den Menschen als Teil der Natur neu denken!

Alles hängt mit allem zusammen, und wir Menschen sind ein Teil des Ganzen der Natur. Diese Einsicht ist in unserer technologisch-ökonomisch geprägten Welt in Vergessenheit geraten, mit immer negativeren Folgen für unsere natürliche Mitwelt, unsere Lebensgrundlagen und letztlich uns selbst. Wie kommen wir da wieder raus? Harald Lesch und Klaus Kamphausen entwerfen ein Welt- und Menschenbild, das den Menschen wieder als Teil der natürlichen Zusammenhänge begreift und ihn als Wesen zeigt, das erst im Für- und Miteinander sein volles, zukunftsfähiges Potential entfaltet – ein Welt- und Menschenbild, das sich von der Durchrationalisierung und -ökonomisierung des Lebens verabschiedet und dem Staunen und Mitfühlen wieder mehr Platz einräumt. Ein Leitstern ihrer Überlegungen ist der Naturforscher Alexander von Humboldt, der vor über 200 Jahren den südamerikanischen Fluss Orinoco bereiste.

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Lasst uns den Menschen als Teil der Natur neu denken!

Alles hängt mit allem zusammen, und wir Menschen sind ein Teil des Ganzen der Natur. Diese Einsicht ist in unserer technologisch-ökonomisch geprägten Welt in Vergessenheit geraten, mit immer negativeren Folgen für unsere natürliche Mitwelt, unsere Lebensgrundlagen und letztlich uns selbst. Wie kommen wir da wieder raus?

Harald Lesch und Klaus Kamphausen entwerfen ein Welt- und Menschenbild, das den Menschen wieder als Teil der natürlichen Zusammenhänge begreift und ihn als Wesen zeigt, das erst im Für- und Miteinander sein volles, zukunftsfähiges Potential entfaltet – ein Welt- und Menschenbild, das sich von der Durchrationalisierung und -ökonomisierung des Lebens verabschiedet und dem Staunen und Mitfühlen wieder mehr Platz einräumt. Ein Leitstern ihrer Überlegungen ist der Naturforscher Alexander von Humboldt, der vor über 200 Jahren den südamerikanischen Fluss Orinoco bereiste.

Klaus Kamphausen lebt als Publizist und Dokumentarfilmer in München. Gemeinsam mit Harald Lesch veröffentlichte er die Bestseller »Die Menschheit schafft sich ab«, »Wenn nicht jetzt, wann dann?« und zuletzt »Denkt mit!«.

Harald Lesch ist Professor für Theoretische Astrophysik am Institut für Astronomie und Astrophysik der Ludwig-Maximilians-Universität München und einer der bekanntesten Naturwissenschaftler in Deutschland. Seit vielen Jahren vermittelt er einer breiten Öffentlichkeit spannendes populärwissenschaftliches Wissen. Durch die Sendereihe »alpha-Centauri« bekannt geworden, moderiert er heute u. a. »Leschs Kosmos« im ZDF. Er hat, allein oder mit Co-Autoren, eine Vielzahl erfolgreicher Bücher veröffentlicht, zuletzt »Was hat das Universum mit mir zu tun?«, »Wenn nicht jetzt, wann dann?« und »Denkt mit!«.

»Lesch und Kamphausen ist ein Buch gelungen, das sehr zum Nachdenken anregt.« Thorsten Naeser, »Spektrum der Wissenschaft«, zu »Wenn nicht jetzt, wann dann?«

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HARALD LESCH

KLAUS KAMPHAUSEN

Über dem

Orinoco scheint

der Mond

Warum wir die Natur

des Menschen

neu begreifen müssen,

um die Welt von morgen

zu gestalten

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81 673 München

Lektorat: Anne Tucholski

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © akg-images

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27476-4V001

www.penguin-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Über dem Orinoco scheint der Mond

»42« und andere Antworten

1  Warum?

2  Kursänderung

3  Dimensionswechsel

4  Das Wunder Natur

5  Mut

6  Raum und Zeit

7  … so wie du bist

8  Dasein

9  Die Natur des Menschen

10  Vorstellung

11  Erkenntnis im Miteinander

12  Energie

13  Keine Grenzen

14  Ein Teil des Teils, der zu Anfang alles war

Über dem Orinoco geht die Sonne auf

Anmerkungen

Vorwort

»Es gab schon genug Weckrufe und Appelle. Der heute vorgestellte IPCC-Bericht führt uns erneut vor Augen, dass die Zeit für die Rettung des Planeten, wie wir ihn kennen, abläuft. Der Bericht verdeutlicht auch, viele Klimawandelfolgen können wir schon heute nicht mehr vermeiden – wir können uns als internationale Staatengemeinschaft nur bestmöglich darauf vorbereiten und anpassen.«

Bundesumweltministerin Svenja Schulze am 9. August 2021 bei der Vorstellung des ersten Bands des sechsten Berichts des Weltklimarates der Vereinten Nationen (IPCC)

In unserem Buch »Die Menschheit schafft sich ab« haben wir das Anthropozän und seine Wirkung auf unseren Planeten beschrieben. Das zweite Buch »Wenn nicht jetzt, wann dann?« erzählt von weiteren Fakten und Handlungsoptionen für eine Gesellschaft und eine Welt, in der wir leben wollen. Jetzt, in diesem dritten Buch, geht es um die große Frage nach dem »Warum«. Warum sind wir nicht in der Lage, unser Handeln und Denken so zu ändern, dass das Leben von uns Menschen und der Erhalt unseres Lebensraums auf diesem Planeten nachhaltig gesichert sind? Warum können wir offensichtlich keine Schlüsse aus Fakten und Tatsachen ziehen?

Um diese Fragen zu beantworten, richten wir unseren Blick auf den Menschen und seine Natur. Denn wir meinen: Um überhaupt handlungsfähig zu sein und Veränderung zu bewirken, müssen wir die Natur des Menschen neu begreifen. Dabei werden wir die Welt der Fakten immer wieder verlassen und einen Blick in die Welt der Ideen wagen. Denn es geht uns im Kern darum, das Diktum der puren Ratio hinter uns zu lassen und dem Gefühl neuen Platz und Bedeutung einzuräumen.

Wenn wir im Folgenden von Gefühl reden, meinen wir die Möglichkeiten der Entfaltung aller Aspekte des Menschseins, den Zugang zur eigenen Natur und die Wiederentdeckung des immanent menschlichen Wesens.

Wir reden über die Bedeutung von Gefühlen für den Gewinn von Erkenntnissen, für die Transformation unserer Denkmodelle, unserer Vorstellungen und folglich auch unseres Tuns und Handelns. Das heißt, wir reden über die Bedeutung von Gefühlen für unser Denken, unser Entscheiden, unser Handeln.

Wir reden über die Bedeutung von Gefühlen, wenn es darum geht, uns in einer durch und durch ökonomisierten, zunehmend fragmentierten Gesellschaft von Angst und Apathie zu befreien und wieder Halt, Haltung, Selbstachtung und ein Zusammen zu finden.

Wir reden über Gefühle, durch die sich der Einzelne wieder als Individuation der Natur, als Teil des Ganzen erfährt und somit erlebt, dass er sich selbst verletzt, verwundet und zerstört, wenn er die Natur verletzt, verwundet und zerstört.

Wir reden über die Bedeutung von Gefühlen, ohne die wir unsere Verantwortung, unser Mitgefühl für unsere Mitwelt und unsere Mitmenschen nicht vollumfänglich wahrnehmen können.

Und damit reden wir von Gefühlen und deren Bedeutung für unsere Zukunft, für unser Morgen. Wir geben den Gefühlen wieder Inhalt, Raum, Zeit und Energie.

Wir reden in diesem Buch über Humboldt.

Wir reden in diesem Buch über die Mondlandung.

Und wir reden über Hannah Arendt.

Wir reden in diesem Buch darüber, dass wir Perspektivwechsel vornehmen müssen, um die Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit der Dinge zu erkennen, den Standpunkt anderer verstehen und nachvollziehen zu können, um unsere Vorstellung verändern und zusammen für ein zukünftiges Miteinander handeln zu können.

Wir reden in diesem Buch darüber, dass wir miteinander reden müssen, dass wir über geografische Grenzen, Vorstellungsgrenzen, Denkgrenzen hinweg miteinander reden müssen. Und noch mehr: dass wir einander zuhören müssen. Warum haben wir eine Zunge, aber zwei Ohren?

Harald Lesch und Klaus Kamphausen, Frühjahr 2022

Über dem Orinoco scheint der Mond

Nichts war dicht genug, den Regen abzuhalten, sie standen knöcheltief im Uferschlamm und blickten über die braunen, aufgeschäumten Fluten in die Dämmerung der langsam hereinbrechenden Nacht. Der Regen war den ganzen Tag über in dicken Tropfen niedergeprasselt. Im Zwielicht schienen Fluss und Land am weit entfernten Ufer ineinander überzugehen.

Wenn der Regen später aufhörte, der Himmel sternenlos über ihnen hängen würde, die Luft heiß, wattig und feucht, dann würden, wie an den Abenden zuvor, Millionen angriffslustiger, hungriger Moskitos aus ihren Verstecken kommen und sich auf sie stürzen. Ihr hochfrequentes Surren würde an den Nerven zerren wie jetzt das dumpfe Trommeln des Regens. Das eine folgte unausweichlich auf das andere, so wie die Nacht auf den Tag. Am nächsten Morgen würden die Moskitos das Licht der aufgehenden Sonne fliehen, sich in finstere Spalten und modrige Erde zurückziehen, sich an ihrer in der Nacht errungenen Beute laben. Regen würde sich wieder in schweren, schwarzen Wolken am Himmel sammeln. Und kaum, dass die Sonne eine Handbreit über den Horizont geklettert wäre, würden Sturmböen die Wolken mit ihrer nassen Fracht unter Blitz und Donner unerbittlich aufeinanderjagen, dicke Tropfen würden fallen, unermüdlich. Es würde sein, wie es heute war.

Jetzt aber taucht das leuchtende Kreisrund des Vollmonds langsam hinter einer Wolke auf, die, so scheint es, wie eine Theaterkulisse von einem langen, unsichtbaren Seil am Himmel entlanggezogen wird, um das Licht des Erdtrabanten freizugeben. Für ein paar Sekunden werden die Gesichter der am Ufer Versammelten so hell angestrahlt, dass wir ihr Staunen, ihr Lächeln und die Freude in ihren Augen deutlich erkennen können.

Harald kann den Astronomen, den Mondfahrer, das Kind in sich nicht halten und paraphrasiert, teils fantasiert, aus seinen Erinnerungen heraus los: »Ich weiß noch genau, wie ich als Neunjähriger bei meinem Opa in der Kneipe saß und in diesen kleinen Schwarzweiß-Fernseher in der linken Ecke im Regal über der Theke, in dem sich Gläser, Jägermeister-, Korn- und Eierlikörflaschen aneinanderreihten, starrte. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden, staunte gebannt, als Neil in seinem klobigen Astronautenanzug die klapprige Leiter von der Ausstiegsluke der Landefähre, durch die er sich was weiß ich wie hindurchgequetscht hatte, in Richtung Mondoberfläche hinunterstakste, und dann … Ich meine, überlegt doch mal, die Zusammenarbeit, der Ehrgeiz, der Wille Hunderttausender Menschen über mehr als zehn Jahre, modernste Technologie, Milliarden von Dollar, der donnernde Feuerstrahl der gewaltigsten Rakete, die Ingenieure je erdacht hatten, Kühnheit und Mut und Angst, all das verdichtete sich und vermischte sich mit dem Jubel von Hunderten Millionen Menschen weltweit in der kleinen Staubwolke, die der erste Schritt eines Menschen auf dem Mond aufwirbelte. Das war am 21. Juli 1969, um 02:56:20 UTC. Ich war einfach außer mir, ich staunte, ohne Worte, wäre am liebsten durch die Mattscheibe direkt auf den Mond gestiegen. Gleich am nächsten Morgen habe ich mich mit einem Brief an die NASA als Astronaut beworben. Aber das ist eine andere Geschichte …«

Mit den letzten Worten war der Mond hinter der nächsten schwarzen Wolke verschwunden.

Während Harald an seiner Pfeife pafft, zieht Neil noch einmal an der Zigarette, bevor er sie ins feuchte Dunkel auf den Boden fallen lässt: »Freunde, der Countdown läuft, gehen wir ins Zelt, da ist es trocken, da sind weniger Moskitos, es gibt etwas zu trinken, etwas zu essen und Aimé wartet auf uns.«

»Ja, ja«, schmunzelt Alexander, »jeder Mann hat die Pflicht, in seinem Leben den Platz zu suchen, von dem aus er seiner Generation am besten dienen kann, warum also nicht in diesem Zelt?« Mit diesen Worten stapfen die drei, einer nach dem anderen, als dunkle Schattenrisse kenntlich Richtung Zelt.

Als Letzte kommt Hannah vom Flussufer hochgetrottet. Sie hat noch einmal nach dem Boot gesehen, die Leinen kontrolliert, die Knoten festgezurrt. Sie läuft zum Zelt, aus dem lebhafte Stimmen und Gläsergeklirr dringen, die sich mit dem Zirpen der Grillen und einem fernen Donnergrollen mischen. Sie schiebt den Vorhang zur Seite und der Lichtschein der Lampen im Inneren des Zelts taucht die Umgebung kurz in ein helles Licht. Es ist, als würde der Mond noch einmal für einen kurzen Moment hinter den Wolken hervorkommen, um zu schauen, was dort vor sich geht.

»42« und andere Antworten

1  Warum?

Klaus Kamphausen: Harald, lass mich mit einem kurzen Nachrichtenrückblick auf das Jahr 2021 beginnen.

•  14. Juli 2021: Eine Studie brasilianischer Wissenschaftler kommt zu dem Ergebnis, dass die Regenwälder Amazoniens durch Abholzung, Brandrodung und Klimawandel mehr CO2 emittieren als versenken.1

•  Mitte Juli 2021: Eine Flutkatastrophe von unvorstellbarem Ausmaß trifft nach extremem Starkregen die Regionen Trier, Ahrtal und Eifel. Die Folgen: mindestens 180 Tote, viele Vermisste und Verletzte, zerstörte Dörfer und Landstriche, Schäden in Milliardenhöhe.

•  5. August 2021: Der Golfstrom, der das Klima in unseren Breiten maßgeblich mitbestimmt, schwächelt. Zu diesem alarmierenden Ergebnis kommen Forscher in einer Studie, an der auch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung beteiligt ist. Die Studie über die Atlantische Meridionale Umwälzströmung, zu der auch der Golfstrom gehört, kommt zu dem Ergebnis, dass sich das Strömungssystem in den letzten Jahrzehnten so stark wie nie zuvor in den vergangenen tausend Jahren abgeschwächt hat.2

•  August 2021: Die halbe Welt steht in Flammen. Ausgelöst durch extreme Hitze, brennen im Nordosten Russlands Wälder auf einer Fläche fast so groß wie Mitteleuropa. Diese Brände sind nicht nur eine Katastrophe für Mensch und Natur, setzen nicht nur Hunderte Millionen Tonnen von CO2 frei, sondern lassen auch die Permafrostböden tauen, in denen gewaltige Mengen von extrem klimaaktivem Methan gespeichert sind. Ebenso hart getroffen von extremer Hitze und zerstörerischen Bränden sind Wälder, Mensch und Natur an der Westküste Kanadas und der USA sowie an der Mittelmeerküste der Türkei und Griechenlands.

•  14. & 15. August 2021: Zum ersten Mal ist es auf Grönland so warm, dass auf dem höchsten Punkt des Eisschilds Regen fällt. Die mehrstündigen Niederschläge über weiten Teilen Mittel- und Südgrönlands bringen mehr als sieben Milliarden Tonnen Regen – mehr, als je zuvor in Grönland gemessen wurde. Das warme Wetter und der Regen führen zudem zu einer extremen Eisschmelze. Laut National Snow & Ice Data Center ist der Eisverlust an der Oberfläche des Eisschilds um das Siebenfache höher als der Normalwert für Mitte August. In der ersten Jahreshälfte 2021 ist das Oberflächeneis Grönlands auf einer Fläche von 21,3 Millionen Quadratkilometern abgeschmolzen, dreimal so viel wie im langjährigen Mittel.3

•  6. September 2021: Auf der Südhalbkugel, in Neuseeland, bricht der Frühling an, und das nach dem wärmsten Winter seit über 100 Jahren. Die Durchschnittstemperaturen in den Wintermonaten Juni, Juli und August lagen 1,3 Grad Celsius über dem langjährigen Durchschnitt.4

Nachrichten wie diese sind fast täglich in den Medien zu lesen, im Radio oder Fernsehen zu hören und zu sehen. Egal, ob sie das Klima betreffen, die Verschmutzung oder Ausbeutung der Meere, die Erwärmung der Ozeane, die Vernichtung von Wäldern und Ackerböden oder die Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten: Sie sprechen eine deutliche Sprache, erreichen uns aber nicht so, dass wir unser Handeln wirklich maßgeblich und nachhaltig verändern. Die Frage ist, warum?

Harald Lesch: Diese Berichte sind unmissverständlich und klar. Es sind naturwissenschaftliche Fakten, die uns zeigen, dass es sehr schlecht um unseren Lebensraum steht. Wir können uns nicht darauf zurückziehen, von diesen Tatsachen nichts zu wissen, denn die Frequenz dieser Art von Nachrichten nimmt drastisch zu. Unsere scheinbare Taub- und Blindheit liegt auch nicht in irgendeiner Abstraktheit des Themas begründet, denn als Bewohner Mitteleuropas bekommen wir die Auswirkungen des Klimawandels deutlich zu spüren: Hitzewellen, Trockenheit und Überschwemmungen sind mittlerweile auch bei uns angekommen.

Unsere Art zu leben ist auf Kante genäht. Sie wird nicht bestimmt von einem rücksichtsvollen Umgang mit unserem Planeten, nein, es ist die Wirtschaft, die das Ruder in der Hand hält. Und die muss wachsen, koste es, was es wolle. Transnationale Konzerne haben die Welt kommerziell im Griff, sie machen, was sie wollen, was wir wollen, nämlich immer mehr und das immer schneller. Das zieht einen unglaublichen Verbrauch an Ressourcen und einen unglaublichen Grad an Naturzerstörung nach sich. Und das weltweit.

Was ist da passiert? Die Naturwissenschaften liefern seit vielen Jahren nicht nur Fakten, die den Grad der Zerstörung unserer Umwelt belegen. Sie liefern auch Zukunftsperspektiven, indem sie mögliche Rahmenbedingungen benennen, unter denen wir Entscheidungen treffen könnten, um zukunftstauglich für alle zu leben. Aber die Ökonomie hält sich nicht an diese Fakten. Und auch jeder Einzelne von uns versagt, denn diese Fakten sind keine durchschlagenden Wegweiser für unser Handeln, nein, Gier und Egoismen sind die treibenden Kräfte.

KK: Zu diesem Szenario gehört, dass persönliche, individuelle Vorteile und Ansprüche als Freiheit deklariert werden. Die eigenen Bedürfnisse werden über das Wohlergehen der anderen, über das Allgemeinwohl gestellt. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes asozial.

HL: Richtig, die Wissenschaften reden von einer großen, unbedingt notwendigen Transformation, soziologisch, ökonomisch und ökologisch, ohne die die Erde in naher Zukunft für Menschen unbewohnbar sein wird. Und eine Erde ohne Menschen ist weder für die Wirtschaftselite noch für irgendjemand anders von Interesse.

Unsere ethische Herausforderung besteht darin, dass die kapitalistische Ökonomie für manche Länder und Kontinente große marktwirtschaftliche Erfolge gebracht hat, die kurz davor stehen, zu kippen und eine Katastrophe von globalem Ausmaß auszulösen. Und in diesem erfolgreichen marktwirtschaftlichen System ist ein notwendiger Verzicht kein Anreiz, für niemanden.

Ökologisch handeln heißt aber nicht unbedingt verzichten, so wie es in den Medien oft und gerne dargestellt wird. Aber wenn die Politik in Deutschland zum Beispiel eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen vorschreibt, wenn sie verlangt, dass wir weniger fliegen sollen, dann fühlen sich die Menschen erst einmal eingeschränkt, ihrer subjektiven Freiheit beraubt. Denn wir sind über Jahrzehnte wie Drogensüchtige von der Nadel der Mobilität und Flexibilität abhängig geworden, wir haben einen Rausch nach dem anderen erlebt, sind noch und nöcher um die Welt gereist und tun es weiterhin und mehr denn je.

Die Menschen holen sich damit ihr schnelles, kurzes Glück, meist weil sie in Arbeits- und Lebensumständen stecken, die sie nicht sehr befriedigen. Aber sie wissen nicht, was sie tun. Das ist eine meiner Antworten auf das »Warum«. Viele Menschen wissen einfach nicht, was sie tun, kennen nicht die Fakten, die Tatsachen und erst recht nicht die Konsequenzen ihres individuellen Handelns.

KK: Halten wir fest: Es gibt die Fakten und Tatsachen – von denen wir wissen oder nicht. Aber es fehlen auch die richtigen Rahmenbedingungen, die weder von der Politik gesetzt noch vom Großteil der Gesellschaft gefordert werden und von der Ökonomie offensichtlich nicht gewünscht sind. Von pluralistischer Ignoranz und Verantwortungsdiffusion sprechen die Sozialpsychologen, wenn trotz des Wissens vieler keiner handelt. Woran liegt das? Gibt es einen Mangel an Kommunikation für die gemeinsame Verantwortung? Oder blindes Vertrauen darauf, dass die anderen es schon irgendwie richten werden? Das Widerliche, das Makabre, das Absurde daran ist, dass wir diese systematische Zerstörung selbst vornehmen, und zwar jeder Einzelne von uns. Es sind keine bösen Aliens, die unseren Planeten angreifen und erobern wollen, es ist kein Riesenmeteorit, der die Bahn unserer Erde kreuzt und sie zu Milliarden und Abermilliarden von Staubkörnchen pulverisiert – wir, die vermutlich intelligentesten Wesen auf diesem Planeten, sind es selbst, die dieses unumkehrbare Werk vollenden!

Warum tun wir das? Die britische Verhaltensforscherin Jane Goodall hat auf diese Frage mit folgenden Worten geantwortet: »Die einzige Antwort, die ich gefunden habe, ist, dass wir die Verbindung zwischen Kopf und Herz zertrennt haben, zwischen Intellekt und Liebe.«5

HL: Ja, wir haben die Verbindung zu unserer inneren und äußeren Natur verloren. Wir stehen weder mit unseren Mitmenschen noch mit unserer Mitwelt in Resonanz, auch weil uns nicht wirklich bewusst ist, wie grundlegend unterschiedlich organische und maschinelle Kreisläufe sind. Lebewesen wirken auf sich selbst zurück, Maschinen tun das nicht.

Lass mich das veranschaulichen. Nehmen wir einmal an, es würde außerirdische Lebewesen geben, die sehr, sehr alt werden können und schon lange Zeit die Entwicklung des Menschen beobachten, so wie es Bernhard Verbeek in seinem Buch »Die Anthropologie der Umweltzerstörung« beschreibt.6 Zu Anfang sehen diese außerirdischen Beobachter ein paar Menschen, die in kleinen Gruppen verteilt auf unserem Planeten leben, ohne größere Spuren ihres Seins zu hinterlassen. Dann, ein paar Tausend Jahre später, tauchen neben diesen Menschen Maschinen auf, und es machte Wummm! Durch diese Maschinen wird die Geschwindigkeit der Bewegungen der Menschen auf dem Planeten extrem vervielfacht. Von diesem Moment an greifen wir, die Menschen, auch global auf Ressourcen zu. Vorher haben wir vielleicht im Schwarzwald, am Orinoco oder in den Steppen Afrikas Holzkohle produziert, plötzlich aber graben wir weltweit nach Ressourcen, um unsere Maschinen, die Technikwesen, zu füttern – erst mit Kohle, dann mit Öl. Wir graben, baggern und bohren an Land und in den Meeren. Dann erschaffen wir Technikwesen, die elektrische Energie benötigen, dann kommt die Zeit der Digitalisierung, und wir schreiben Programme, die helfen, dass sich die Maschinenwesen immer weiter selbst optimieren. Sie beanspruchen immer mehr Energie und Rohstoffe. Irgendwann verschwindet dann der Mensch selbst. Eine uns allen bekannte Dystopie. 

Wir sehen: Maschinen tun das, wofür sie geschaffen wurden – sie funktionieren einfach. Das hat nichts mit Herz zu tun. Das ist Kopf, blanker, harter Rationalismus. Und dieser Rationalismus hat genau die Erfolge produziert, die uns jetzt solche Probleme bereiten. Wir spüren intuitiv: Wenn der Teller leer ist, gibt es nichts mehr. Und ändern trotzdem unser Handeln nicht. Die Erfahrungen zeigen, dass Menschen, die Katastrophen wie Erdbeben, Hungersnöte, Überflutungen, Brände, Kriege überlebt haben, zwar oft traumatisiert sind, aber danach sensibler, bedachter, achtsamer handeln. Aber eine globale Umweltkatastrophe haben wir bislang noch nicht erlebt, nur lokale. Also prassen wir weiter, als gäbe es kein Morgen, als hätten wir kein Herz.