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Alfred Marquart ergründet das Phänomen Maigret, indem er es in respektvoller Distanz zu Simenon »neu« erfindet. Paris wird zum zentralen Schauplatz einer Lebensgeschichte, die mit genauen Details aufwartet. Im Ton sachlich und kühl ist diese biographische Skizze ein Leckerbissen für alle Simenon- bzw. Maigret-Fans. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 92
Alfred Marquart
Über Kommissar Maigret
FISCHER E-Books
Es kommt neuerdings Licht in manches Dunkle der Kriminalgeschichte
Ich hab’ Methode, und die Methode ist tadellos.
Jules Barbier: Hoffmanns Erzählungen
Maigret selbst kann seine Methode nicht erklären. Weshalb auch: er praktiziert sie. Wenn er sie vorführen soll, gar einem Beamten vom Scotland Yard[1] oder auch amerikanischen Sheriffs[2], dann weiß er nicht, was er zeigen soll. Im Zweifelsfall bittet er die Kollegen, ihn bei einer Untersuchung zu begleiten.
Maigrets Methode, die, sagt er, gar keine ist, hat eine unabdingbare Grundlage: Geduld. Sitzfleisch hat er als Beamter genug, Ausdauer auch (manchmal verhört er Verdächtige allein bis zu 17 Stunden lang), und seine Geduld hat er sich antrainiert. Er kann sich stundenlang auf einer Kreuzung in der Nähe von Paris die Beine in den Bauch stehen,[3] er kann ein und denselben Besuch immer wieder machen, immer wieder dieselben Fragen stellen, immer wieder dieselben Antworten bekommen – bis dann, plötzlich, unerwartet, ein Wort anders ist, eine Geste; vielleicht auch nur ein Grammophon an einer Stelle steht, wo es gestern nicht stand, ein Morgenmantel anders geknöpft ist, das falsche Wäschestück im Bett liegt,[4] kurz: der Täter sich verrät. Denn dieser hat Maigrets Geduld nicht. Seine Inspektoren übrigens auch nicht. Deshalb arbeitet er am liebsten allein, wenn es um eine Geduldsprobe geht.
Aber es braucht noch ein paar andere Eigenschaften daneben. Gute Augen, gute Ohren, ein gutes Gedächtnis. Maigret kann zuhören, er kann hinsehen, er kann sich merken, was er gehört oder gesehen hat. Das hat er bei Sherlock Holmes gelernt. Er kann Zeichen deuten. Aber er deutet sie anders, richtig.
Holmes kann an dem abgewetzten Hut eines Mannes dessen Lebensgeschichte, seine soziale Stellung und seine Rolle in der Familie erkennen. Das könnte Maigret nicht. Er weiß, an einem Hut kann man das nicht sehen. Höchstens an einem Gesicht. Aber Zeichen sind ihm nicht fremd. In jenem Fall, den sein hier ausnahmsweise zuverlässiger Biograph Georges Simenon unter dem reißerischen Titel »Maigret und sein Toter« beschreibt, läßt sich der Kommissar von solchen Zeichen lenken. Ein Mann ist tot, man kennt seinen Namen nicht, auch seine Herkunft nicht; man weiß nur, daß er Angst gehabt hat. Maigret schaut ihn sich lange an. Der Tote trägt gute dunkle Hosen, zu denen das leichte, bequeme Schuhwerk nicht passen will. Die Schuhe sind zwar gut, aber von anderer Farbe und einer Façon, wie sie zu solchen Hosen nicht getragen werden können. »Die Limonade«, erkennt Maigret: Schuhe für einen, der viel zu stehen und zu gehen hatte, zum Beispiel einen Kellner. Der Hemdkragen ist abgewetzt, das Hemd sauber, aber viel getragen. Die Manschetten sind wie neu. Conclusio: der Mann wickelte sich die Ärmel hoch. Wer tut das in der ›Limonade‹? Der Wirt hinter dem Tresen, der viel mit Wasser zu tun hat, die Biergläser ausschwenkt, die Weingläser reinigt! Der Mann könnte also ein Wirt sein. Er war es, seine Identität wird geklärt, der Fall ließ sich lösen. Der Unterschied zur mechanistischen Deduktion von Sherlock Holmes liegt auf der Hand – Maigrets Beweisführungen rühren daher, daß er weiß, wie und auf welche Art die Menschen leben. Wenn ein großes Wort erlaubt ist: humanitas statt ratio; oder ratio, durch humanitas gemildert. Ein Verhalten, dem wir in Zusammenhang mit Jules Maigret noch häufiger begegnen werden.
Das Hotel ›Majestic‹ hat diverse Renovierungen über sich ergehen lassen müssen. Seinen Charakter als Luxushotel haben sie nicht verändert. Es ist zudem eines der ruhigsten Hotels von Paris. Im Vordergrund der Kellereingang, der für Maigret eine große Rolle spielte (›Die Keller des Majestic‹).
Das Wissen darüber, wie Menschen sich in bestimmten Situationen verhalten, ist ein weiterer Baustein in seiner Methode. Maigret versenkt sich in die Menschen, die mit seinen Fällen zu tun haben. Er versenkt sich aber auch in Plätze, Häuser, Wohnungen – alles Dinge, die eine Atmosphäre haben; wo der Tote gelebt, womit er sich umgeben hat. Er denkt sich aber auch in die Opfer hinein – und aus all dem heraus ahnt er, weiß er schneller als andere, wie die Lösung aussieht. Mag sein, daß er mit dem Killerunwesen der Gegenwart, auch mit den der Vernunft nicht mehr zugänglichen Extremisten nicht mehr zu Rande käme. Doch ich denke, auch in solche Personen könnte er sich wohl vertiefen, auch ihr Handeln könnte er erschließen und gefühlsmäßig aufschlüsseln. Denn dahinter steckt für ihn keine Ideologie, keine ihm selber bewußte Methode – Maigret handelt in solchen Dingen gewissermaßen aus dem Bauch. Das einzige, was er wirklich weiß, ist, wie leicht ein Mensch zum Verbrecher wird, wie nahe jeder an der Schwelle steht, und wie leicht diese Schwelle überschritten werden kann.
Die klassische Anwendung seiner Methode wird in der Geschichte »Der Mann auf der Straße« beschrieben. Maigret, selber verschnupft – er leidet ständig unter Schnupfen – folgt einem andern Mann, der auch erkältet ist. Der Mann ist im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße gesetzt worden. Er ist gut gekleidet und stammt aus gutem Hause. Für den Kommissar hat das Ganze den Charakter eines Experimentes: Wie lange dauert es, bis solch ein Mann aus den Fugen gerät, bis die Elegance abblättert, das gute Benehmen verschwindet, die Selbstsicherheit, die jemand aus solchen Kreisen von vornherein besitzt, verlorengeht. Nach ein paar Tagen hat er die Antwort: Es geht relativ schnell. Der Verfolgte, erledigt, am Ende, flüchtet geradezu in Maigrets Arme. Das gleiche Schicksal erleidet auch der junge Mörder,[5] den Maigret auf eine andere, indirekte Art ebenfalls ständig beobachtet. Dieses Sich-Ergeben fällt ihnen um so leichter, als auch die Schuldigen erkennen, wie Maigret sie versteht. Seine Beobachtungen haben ihn dieses Verstehen gelehrt.
Jules’ Vater und Mutter bewohnten inmitten von Wäldern, auf dem Abhange eines Hügels, ein Schloß.
Gustave Flaubert: Die Sage von Sankt Julianus dem Gastfreien
1887 wurde Jules Maigret unweit von Moulins in Mittelfrankreich (etwa auf halber Strecke zwischen Nevers und Roanne) geboren.[6] Sein Vater, den Maigrets Biograph Simenon lediglich einen »Gutsverwalter« nennt, war in Wirklichkeit Schloßverwalter, und das Schloß, das er verwaltete, war das größte weit und breit. Maigret war das einzige Kind; seine Jugend bietet auch den Schlüssel dafür, daß seine Ehe, 1913 geschlossen, kinderlos blieb.
Sein Vater war mit einem Arzt aus der Nachbarschaft befreundet, einem Trinker. Dieser Arzt – ein gewisser Victorien-René Gardelle (den zweiten Vornamen unterschlägt Simenon) – hatte ein tragisches Schicksal hinter sich, und wie viele Menschen, denen es schlecht ergangen war, bereitete er andern das gleiche Schicksal. Er selber war Geburtshelfer bei seinem eigenen Kind, dabei starben durch seine Pfuscherei seine Frau und auch das Kind. Jean-Pierre Maigret aber wollte, aus einem Gefühl der Rechtlichkeit heraus und sicher auch aus alter Verbundenheit, den Arzt nicht aufgeben; er wollte derjenige sein, der ihn wieder aus dem Sumpf zog, in den der Arzt nach dem Vorfall versunken war. Als Maigrets Frau wieder schwanger wurde (der kleine Jules war damals gerade acht Jahre alt), vertraute er sie Gardelle an. Es kam wie es kommen mußte: Jules’ Mutter starb bei der Geburt, es starb auch ihr Kind, ein kleines Mädchen. Jules sollte diesen Schock nie verwinden.
Das Eheleben der Maigrets scheint – auch wenn nicht viel darüber in Erfahrung zu bringen ist – nicht besonders harmonisch gewesen zu sein. Jean-Pierre Maigret war ein sehr konservativer, streng denkender Mann mit einem gewissen Hang zum Träumen. Dieser Neigung war der Besuch des eher großzügigen Gymnasiums in Moulins entgegengekommen. Die Kosten für den Unterricht hatte damals der Dorfpfarrer getragen, der es Jean-Pierre nicht übelnahm, als er in eine landwirtschaftliche Schule überwechselte und nicht Geistlicher wurde, wie ursprünglich geplant. Jean-Pierre Maigret schloß seine Ausbildung in Roanne ab und kehrte dann wieder ins heimatliche Dorf zurück. (Das Dorf, Moulins-la-Mensonge, ist heute ein Stadtteil von Moulins. Schloß und Vaterhaus von Jules Maigret sind den Wirren des Krieges zum Opfer gefallen.) Jean-Pierre Maigret trat als Hilfsverwalter in die Dienste des Schloßherrn und machte seiner Anstelligkeit und Intelligenz wegen schnell Karriere. Die Arbeit bereitete ihm Vergnügen und ging ihm leicht von der Hand. Nach dem Tod seiner Frau entledigte er sich ihrer allerdings nur noch mechanisch. Er entfremdete sich immer mehr von seinem Sohn und verschloß sich in Erinnerungen und Träumen. Jean-Pierre idealisierte im Rückblick seine Ehe und seine Frau – die ihn in Wirklichkeit seiner Versponnenheiten wegen stets ein wenig verachtet hatte – und richtete das Haus zu einem kleinen Museum für sie her. Für Jules war nicht mehr viel Platz.
Vier Jahre später kam er als interner Schüler ins Gymnasium nach Moulins. Er fühlte sich dort nicht besonders wohl, ließ aber geduldig (eine Eigenschaft, die schon den Jungen auszeichnete) alles über sich ergehen. Sein Vater merkte aber vermutlich etwas, denn Jules wurde von ihm bald zu seiner Tante nach Nantes gebracht. Das Bäckerehepaar Personne tat zweierlei: Es schickte ihn auf die Schule und anschließend auf die Universität – und es fütterte ihn gut heraus. Maigrets füllige Figur entstand in ihren Anlagen bereits in Nantes.
Jules’ bester Freund damals war der fast gleichaltrige Julien Chabot.[7] Chabot wurde später Untersuchungsrichter in Fontenay-le-Comte. Die beiden Jungen steckten dauernd zusammen, erst durch die unterschiedlichen Studiengänge wurden sie getrennt: Chabot warf sich auf die Jurisprudenz, wie es sich für einen Jungen aus gutem Hause gehörte; Maigret wollte seinen Jugendtraum (oder sein Jugendtrauma?) verwirklichen und Arzt werden.
Er hat später versucht, in Anwendung einer stark auf den Hausgebrauch ausgerichteten Psychologie diese Entscheidung mit dem unseligen Doktor Gardelle und dem Tod seiner Mutter in Verbindung zu bringen. Tatsächlich hätte dieser Vorfall ihn eher davon abhalten müssen, und mir scheint, daß es sein ›Untersuchungs-Instinkt‹ war, wie ich das einmal nennen möchte, der ihn in diese Richtung getrieben hat. Schon als Kind versuchte er, seine Freunde und Mitschüler einzuordnen, und er ging sogar so weit, sich vorzustellen, an welchen Todesursachen sie einmal sterben würden. Auf der andern Seite war schon der junge Jules sehr methodisch: Nachdem sein Vater und auch seine Tante an Brustfellentzündung gestorben waren, ließ er sich sofort gründlich medizinisch untersuchen. Vermutlich gab es zwei Seelen in Maigrets Brust: die des Inquisitors und die des Doktors. Seine Methode versuchte, beide zu vereinen. Der äußere Grund seines Berufswechsels wurde schon genannt: Nach dem Tod seines Vaters (Jules Maigret war gerade 24 Jahre alt geworden) war kein Geld mehr da. Das Angebot seines Onkels, in die Bäckerei der Personnes einzutreten, lehnte er ab. So blieb nur eines: er ging nach Paris, allerdings ohne allzuviel Hoffnung. Mit einem abgebrochenen Studium schien ihm nicht viel mehr als eine Bürostelle übrigzubleiben.