Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Dieser Essayband gehört zu den wichtigsten Schriften der schwedischen Frauenrechtlerin. Inhalt: Aus der Vorrede zur schwedischen Ausgabe Die Entwicklungslinie der geschlechtlichen Sittlichkeit Die Evolution der Liebe Die Freiheit der Liebe Die Auswahl der Liebe Das Recht auf Mutterschaft Die Befreiung von der Mutterschaft Die Mütterlichkeit der Gesellschaft Freie Scheidung
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 490
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über Liebe und Ehe
Ellen Key
Inhalt:
Ellen Key – Biografie und Bibliografie
Über Liebe und Ehe
Aus der Vorrede zur schwedischen Ausgabe
Die Entwicklungslinie der geschlechtlichen Sittlichkeit
Die Evolution der Liebe
Die Freiheit der Liebe
Die Auswahl der Liebe
Das Recht auf Mutterschaft
Die Befreiung von der Mutterschaft
Die Mütterlichkeit der Gesellschaft
Freie Scheidung
Über Liebe und Ehe, Ellen Key
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849629267
www.jazzybee-verlag.de
Schwed. Essayistin, geb. 11. Dez. 1849 auf Sundsholm in Småland, verstorben am 25. April 1926 in Strand am Vättern. Wirkte zuerst als Lehrerin und seit 1883 als Vorleserin im Stockholmer Arbeiterinstitut. Ihre Hauptwerke sind: »Wie Reaktionen entstehen«; »Bilder aus der Frühzeit und dem Mittelalter Schwedens«; die Biographien »Ernst Ahlgren« (1889) und »Anne Charlotte Leffler, duchessa di Cajanello« (1893); »Schwedens modernster Dichter: C. J. L. Almquist« (1897); »Frauenpsychologie und weibliche Logik« (1896); »Essays« (»Tankebilder«, 1898, 2 Bde.; deutsch von Francis Maro, 6. Aufl. Berl. 1905); »In Finnland und Russland« (1899); »Menschen, zwei Charakterstudien: C. J. L. Almquist, Elisabeth Barrett-Browning und Robert Browning« (1900; deutsch, 3. Aufl., Berl. 1905); »Das Jahrhundert des Kindes« (1900; deutsch, 10. Aufl., das. 1905); »Die Wenigen und die Vielen«, neue Essays (deutsch, 4. Aufl., das. 1905); »Lifslinjer« (1903; deutsch, »Über Liebe und Ehe«, Berl. 1904). Sie ist in Tat, Wort und Schrift für radikalen Fortschritt auf jedem Gebiet und besonders für Frauenrecht und Kindererziehung aufgetreten. Es erregte daher großes Aufsehen, als sie 1896 in einem Vortrag und in der Schrift »Mißbrauchte Frauenkraft und natürliche Arbeitsgebiete der Frau« (deutsch, 3. Aufl., Berl. 1905) gegen die Richtung auftrat, die, ohne Berücksichtigung der weiblichen Eigenart, die Frau in männliche Bahnen hineinlenken will. Von den äußersten Frauenrechtlern, Chauvinisten und Reaktionären beständig angegriffen, findet sie unter der Jugend Skandinaviens die begeisterten Verehrer ihrer edlen Persönlichkeit und ihrer hohen Ideale. Rein künstlerisch stehen ihre vielgelesenen Bücher nicht ganz auf der Höhe ihres mündlichen Vortrages; mit den feinsten rednerischen Mitteln versteht sie ihre Zuhörer zu fesseln und zu überwinden. In neuester Zeit (1905) hielt sie auch in Deutschland und Österreich öffentliche Vorträge. Vgl. G. Brandes, Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Münch. 1903); Luise Nyström-Hamilton, Ellen K., ein Lebensbild (Leipz. 1904); Neményi, Ellen K. (Berl. 1904).
Wie die Linien auf der Innenseite der Hand zusammenlaufen, sich schneiden und wieder trennen, so bilden auch die Zeitgedanken in ihren einander begegnenden oder sich kreuzenden Bahnen ein geheimnisreiches Liniennetz. Der Wahrsager sucht in der Hand nach der Lebenslinie; der Deuter der Zeichen der Zeit forscht überall nach derselben Linie.
Dies habe ich in diesem Teil auf dem Gebiete getan, auf dem ich vor allem ein "Verführer der Jugend" genannt wurde. Dieses Namens, den so mancher Grössere als ich vor mir erhalten hat, hoffe ich würdig zu bleiben. Denn wozu ich die Jugend zu verführen suchte, das war, ihre Seele zu vergrössern und ihr Leben zu verschönern durch das Wagnis, an die Seele und an den Traum in einer Welt zu glauben, in der alles darauf abzielt, die Seelen zu fesseln, und alle den Träumer belächeln.
Mit Gewissensruhe habe ich die damit verbundene Verantwortung getragen, in der Überzeugung, dass jede aus innerer Notwendigkeit ausgesprochene Meinung von einer gewissen Art von Anhängern in ebenso hohem Grade missbraucht wie von einer gewissen Art von Gegnern missdeutet wird. Wenn die Furcht vor diesen unvermeidlichen Folgen das Suchen nach der Wahrheit hätte hemmen können, dann läge nun die Welt des Glaubens ebenso wie die des Gedankens öde und leer da.
Die Älteren preisen das Glück der Jugend ... Es besteht ihrer Ansicht nach darin, dass die Jugend starke Lungen hat, mit denen sie ein Hoch auf die Ideale der Väter ausbringen kann, und frische Kräfte, schon betretene Wege zu wandern. Hingegen sehen sie das Unglück der Jugend in ihrem Mute und in ihren Möglichkeiten, neue Ideale zu schaffen, ungebahnte Wege zu finden.
Mein Glaube, dass unserer Jugend – wie der jeder neuen Zeit – eine Güte innewohnt, um sie zu leiten, eine neue Wesensart zu vervollkommnen, noch unentdeckte Werte zu erstreben, dieser Glaube ist das ganze Geheimnis meines sogenannten "Einflusses auf die Jugend" im allgemeinen. Wenn irgend ein einzelner junger Mensch meinen Rat suchte, dann gab ich ihn stets mit dem Vorbehalt: ihn erst nach der gewissenhaftesten Prüfung zu befolgen, weil das Wesentliche darin liegt, dass das junge Wesen seinen eigenen Weg findet. Und nie enthielt ich jemandem die Überzeugung vor: dass so der Weg gefährlicher wird, die Verantwortung grösser, die Wahl schwerer.
Aber wer kann von einem jungen Menschen – der mit zahllosen unklaren Wünschen vor dem Leben steht, der durch das Leben zahllose unverkennbare Leiden erfährt – erwarten, dass er stets bereit sein kann, die Aufgabe der persönlichen Wahl gut zu erfüllen? Was ist natürlicher, als dass eine von Sehnsucht und Begeisterung überströmende Seele auf dem weglosen Meere den Kurs verliert und so das Ziel ihres innersten Wesens verfehlt?
Ob nun ein solcher junger Mensch das Ziel findet oder nicht, so wird er doch ganz gewiss auch auf andere als sich selbst Leid herabbeschwören. Diese so Verwundeten sind es, die dann meine Feinde werden. Sie finden eine Linderung des Schmerzes, wenn sie die geliebten Wesen freisprechen, um die Schuld ihren sogenannten Verführern aufzubürden. Und können wir mithelfen, eine Wunde zu heilen, so mögen immerhin Stücke unserer eigenen Haut für die "Transplantation" gebraucht werden!
Die denkende Jugend von heute hat eine geistige Regsamkeit, eine empfindliche Sensibilität, eine Schärfe der Auffassung, eine Bereitschaft der Ausdrucksmittel, wie sie der vorhergehenden Generation nicht eigen waren. Diese frühe Reife kommt nicht nur daher, dass die Jugend jetzt um eine Generation älter ist, als alle vorhergehenden. Sie kommt auch daher, dass während des Heranwachsens der jetzt Zwanzigjährigen so viel in der Luft gelegen hat. Und dies birgt die Gefahr, dass ihre Entwicklung nicht immer aus der persönlichen seelischen Arbeit hervorgegangen ist, die allein dauernden Gewinn bringt. Selten wird das ohne Mühe Errungene so teuer, dass wir etwas dafür leiden wollen. Aber nur das, wofür wir gelitten haben, macht uns zielbewusst inmitten der Mannigfaltigkeit der Meinungen, fest in den Gefahren der Verwirklichung.
Darum richte ich nun an jene unter der Jugend, die meine Ansichten in gewissem Masse teilen, die Forderung, sie persönlich zu prüfen. Und diejenigen, welche nach einer solchen Prüfung noch immer meine Lebensanschauung teilen, müssen eingedenk sein:
dass niemand das Recht hat, meine Sätze als Pfeile in dem Kampf um die Freiheit seiner Persönlichkeit, meinen Namen als Schild für seine von der Sitte abweichenden Handlungen zu gebrauchen, der nicht mit seiner ganzen Lebensführung die Wahrheit bezeugt, die ich nach Massgabe meiner Kräfte zu vertreten suchte, Goethes Überzeugung: "Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst."
Ich habe trotz der Angriffe, die mir Mangel an Wissenschaftlichkeit und systematischer Klarheit vorwarfen, die mir natürliche Form der Mitteilung beibehalten, für die ich dieselbe Berechtigung beanspruche wie die Schulphilosophen für die ihre: dass sie nämlich als das gelte, wofür sie – nach ihrer Art und ihrem Grade – gelten kann.
Und sicherlich wird niemand ein unsystematisches Denken an und für sich geringschätzen. Um gar nicht so weit wie auf Jesus oder Sokrates zurückzugehen, sondern um bei neueren Zeiten zu bleiben, müsste er dann einen Pascal ebenso geringschätzen wie einen Montaigne, einen Carlyle wie einen Emerson, einen Ruskin wie einen Nietzsche!
Wenn auch die philosophisch Geschulten natürlich jene Form des Denkens am höchsten stellen, die sie selbst gewählt haben, dürften sie doch weniger meine unsystematische Weise zu denken missbilligen, als die Denkweise selbst. Das ist ihr Recht, nicht aber, meine Schriften mit einem philosophischen Massstabe zu messen, der an sie nicht angelegt werden darf, weil sie nicht nach diesem Masssystem geschaffen worden sind.
Auch die Landschaft der Seele hat ihre Berge und Täler, ihre Wälder und Ströme. Der Philosoph gibt sie in seiner Weise wieder, der Laie in einer anderen, ganz wie der Topograph die wirkliche Landschaft durch die Karte, der Maler durch das Bild wiedergibt. Keine Darstellung macht an und für sich die des anderen überflüssig. Aber prüft der Topograph die Skizze des Malers mit dem Landmesserstab in der Hand, dann muss er sie selbstverständlich verwerfen. Die Erkenntnis der Notwendigkeit, genauer auf die Valeurs meiner Farben zu achten, das ist der Gewinn, den mir die Angriffe brachten, die mir im übrigen berechtigten Grund gaben, mich an Renans Worte zu erinnern:
"Die Logik erfasst niemals die Nuance. Aber alle Wahrheiten, die von geistiger Natur sind, beruhen ganz und gar auf der Nuance."
Man hat meinen Individualismus sehr richtig als sozialen Individualismus
Alle Denkenden sehen, dass die von den Religionen und Gesetzen des Abendlandes aufrecht erhaltenen Begriffe über die Sittlichkeit des Geschlechtsverhältnisses in unserer Zeit eine eingreifende Neugestaltung erfahren.
Wie allen anderen derartigen Umwandlungen stemmt sich auch dieser das Misstrauen der Gesellschaftserhalter entgegen, welches sich auf die Überzeugung gründet, dass dem Menschen die Macht gebricht, selbst die Entwicklung in aufsteigende Richtung zu leiten. Diese Leitung kommt, meinen sie, der transzendenten Vernunft zu, die sich in dem Wirklichen ausdrückt und so das Wirkliche vernünftig macht. Die jetzige Ehe ist eine historisch entstandene Wirklichkeit und folglich auch vernünftig. Die historische Kontinuität – und religiöse und ethische Bedürfnisse – bedingen die Fortdauer der jetzigen Ehe als unabweisliche Voraussetzung für den Bestand der Gesellschaft.
Die Neuerer lassen die transzendente Vernunft aus dem Spiele. Aber auch sie anerkennen den Zusammenhang zwischen dem Wirklichen und dem Vernünftigen in gewissem Grade, nämlich dass das, was wirklich geworden, auch vernünftig gewesen ist – solange es unter gewissen gegebenen Gesellschaftsverhältnissen und Seelenzuständen am besten den Bedürfnissen der Menschen in irgend einer bestimmten Richtung entsprochen hat. Sie erkennen die Unentbehrlichkeit fester Gesetze und Sitten an, denn nur sie vertiefen die Gefühle zu Quellen von Willensimpulsen, welche stark genug sind, von Handlungen ausgelöst zu werden. Sie begreifen, dass die bewahrenden, die festhaltenden Gefühle für die Seele dieselbe Bedeutung haben, wie das Knochengerüst für den Körper.
Die historische Notwendigkeit hingegen, die darin bestehen sollte, dass die Menschheit Schicksale, die sie selbst nicht bestimmt, abwartet und über sich ergehen lässt, ist für diese Neuerer eine Sinnlosigkeit. Das "historisch Notwendige" ist in jeder Zeit der verwirklichte Wille der der Anzahl oder der Art nach stärksten Menschen, verwirklicht in dem Masse, in dem Natur und Kultur ihrer Machtausübung günstig sind. Diese Neuerer wissen, dass die abendländische Ehe teils aus den stets gleichbleibenden physisch-psychischen Ursachen der Arterhaltung entstanden ist, teils aus historischen Ursachen, die vorübergehend waren, obgleich ihre Wirkungen auf diesem Gebiete wie auf vielen anderen, noch immer fortdauern. Sie wissen, dass von allen Schöpfungen des Gesellschaftslebens die Ehe die zusammengesetzteste, die verletzlichste, die bedeutungsvollste ist; und sie begreifen darum, dass Entsetzen die Mehrzahl ergreifen muss, wenn jemand an das Heiligtum so vieler Generationen Hand anlegt.
Aber – sie wissen auch, dass Leben Umwandlung ist; dass jede Umwandlung ein Absterben früher lebenstauglicher Wirklichkeiten und eine Bildung neuer solcher bedeutet. Sie wissen, dass sich dieses Absterben und diese Neubildung niemals gleichförmig vollziehen; dass Gesetze und Sitten, die sich jetzt für die Höherstehenden als lebenshemmend erweisen, für die Mehrzahl noch lebensfördernd sind und darum auch so lange bestehen müssen, wie sie diese ihre Eigenschaft bewahren. Aber sie wissen auch zugleich, dass durch die wenigen Höherstehenden – diejenigen, deren Bedürfnisse und Kräfte die veredeltsten sind – auch den Vielen schliesslich ein höheres Dasein zuteil wird. Die Voraussetzung aller Entwicklung ist, sich nicht mit dem Seienden zu begnügen, sondern den Mut zu der Frage zu haben, wie alles besser werden könnte, und das Glück, im Denken oder Handeln eine richtige Antwort auf diese Frage zu finden.
Die Unzufriedenheit der Höchststehenden mit den Widersprüchen zwischen ihren erotischen Bedürfnissen und der Form für deren berechtigte Befriedigung ruft nun Angriffe auf die Ehe hervor, die doch ihren eigenen Grosseltern noch genügte, wie sie unzähligen Zeitgenossen genügt. Diese Menschen wissen wohl, dass ihre Unzufriedenheit die Ehe nicht zerstören wird, so lange die Seelen- und Gesellschaftszustände fortdauern, die sie aufrecht erhalten. Aber – sie wissen auch, dass ihr Wille allmählich Seelen- und Gesellschaftszustände umgestalten wird. Und sie sehen schon auf der Hemisphäre der Seele Zeichen und Wunder, die die Erfüllung der Zeit künden.
Die Neuerer glauben nicht, dass die Missverhältnisse und Widersprüche, die mit den natürlichen Bedingungen der Arterhaltung unauflöslich verbunden sind, durch irgendwelche Gesetze aufgehoben werden können. Und weil sie einsehen, dass vollkommene Freiheit ein Begriff ist, der nur mit vervollkommneter Entwicklung zusammenfällt, sehen sie auch ein, dass neue Formen oft nicht nur Freiheitserweiterungen, sondern auch bisher unbekannte Freiheitseinschränkungen mit sich bringen.
Was sie wollen, das sind solche Formen, die, ob sie nun die Handlungsfreiheit einschränken oder erweitern, einen für das Individuum und das Menschengeschlecht lebenssteigernden Gebrauch der erotischen Kräfte fördern. Sie hoffen nicht, dass die neue Form fertig dastehen werde, ebensowenig wie sie erwarten, dass alle Menschen dafür fertig sein werden. Aber sie hoffen, die höheren Bedürfnisse zu nähren, die reicheren Kräfte zu wecken, die schliesslich die neue Form auch für die Mehrzahl notwendig machen werden. Diese Hoffnung befeuert ihr zielbewusstes Streben, das von der Gewissheit geleitet wird, dass die persönliche Liebe der höchste Wert des Lebens ist, sowohl unmittelbar für den einzelnen selbst, wie mittelbar für die neuen Leben, die seine Liebe schafft.
Und diese Gewissheit breitet sich von Tag zu Tag rings in der Welt aus.
Ohne an eine übermenschliche Vernunft zu glauben, die die Entwicklung leitet, muss doch jeder an eine in-menschliche glauben, an eine Triebkraft, die die jedes besonderen Volkes ebenso sehr übertrifft, wie die des Organismus die des Organs. Diese Vernunft wächst, je mehr die Einheit der Menschheit sich consolidiert. Immer weniger kann das eine Volk seine Eigenart vor dem Einflusse des anderen bewahren. Und dies zeigt sich nun besonders deutlich auf dem Gebiete der Erotik. Während nordische und angelsächsische Ideen über die geschlechtliche Sittlichkeit in der romanischen Literatur aufblitzen, sind romanische Gesichtspunkte der Liebe teilweise für die Meinungen bestimmend, die man im Norden als "die neue Unsittlichkeit" bezeichnet.
So fliegen zwischen Land und Land Schiffchen aus Gold und Schiffchen aus Stahl, die den bunten, feinen Einschlag des Gegenwartsbewusstseins durch Faden um Faden der starken Kette ziehen, die aus den Gesetzen und Sitten der verschiedenen Völker gebildet ist. Das Folgende ist zum Teil eine Zeichnung des neuen Musters, das von dieser Webekunst gebildet ist, zum Teil enthält es einige in dieses Muster eingefügte neue Motive.
Diejenigen, welche die Monogamie als das einzige Ziel der geschlechtlichen Sittlichkeit und als die einzige berechtigte Form der persönlichen Liebe betrachten, meinen damit nicht die scheinbare Monogamie, die das Gesetz vorschreibt, aber die Sitten umgehen. Sie meinen die wirkliche Monogamie: ein einziger Mann für eine Frau während der Lebenszeit dieses Mannes; eine einzige Frau für einen Mann während der Lebenszeit dieser Frau, und ausserhalb dessen vollständige Enthaltsamkeit. Als Entwicklung erkennen sie nur eine immer vollere Verwirklichung dieses Ideals an; in der Tendenz der Gegenwart, mehrere Entwicklungslinien anzunehmen, sehen sie nur Verfall – und in diesem Sinne wird das Wort Monogamie in diesem Buche gebraucht werden.
Die Bekenner des Lebensglaubens hingegen sehen die Ideale des Menschen als Ausdrucksformen für die Steigerung seiner Lebensbedürfnisse an. Ideale, die einstmals ein Ansporn zur Entwicklung waren, werden so zu ihrem Hemmnis, sobald die Lebensbedürfnisse neue Formen verlangen, die von dem herrschenden Idealismus nicht gutgeheissen werden. Nur wer an übersinnliche, gotteingegebene Ideale glaubt, stellt sie für alle Naturen und alle Zeiten auf. Der Evolutionismus hingegen weiss, dass niemals alle Wesen, die wir mit einem Worte das Menschengeschlecht nennen, die aber in Wirklichkeit fast ebensovielen verschiedenen Geschlechtern angehören wie die Tierwelt, einem und demselben Ideal gehuldigt haben oder huldigen können. Ja, sie freuen sich, dass sich die Menschheit nicht durch einen einzigen Glauben, eine einzige Sitte, ein einziges Ideal gleichformen lässt, weil sie in der Mannigfaltigkeit des Lebens einen grossen Teil seines Wertes sehen. Sie meinen, dass schon dies Grund genug ist, allmählich den einzelnen innerhalb derselben Zeit und demselben Volke die Freiheit zu geben, die, historisch gesehen, demselben Volke zu verschiedenen Zeiten zuerkannt wird, oder ethnographisch gesehen, verschiedenen Völkern zur selben Zeit: die Freiheit nämlich, innerhalb gewisser Grenzen selbst die Form seines geschlechtlichen Lebens zu wählen. Und dies um so mehr, als die geographischen, klimatischen, historischen und ökonomischen Verschiedenheiten zwischen den Seelen ebenso gross sind, wie zwischen Völkern und Zeiten, und das, was den Bedürfnissen und der Kraftentwicklung des einen entspricht, folglich nicht der des anderen entsprechen kann.
Nichts ist weniger bewiesen, als dass die Monogamie die für die Lebenskraft und die Kultur der Völker unentbehrliche Form des Geschlechtslebens ist. Weder die Geschichte noch die Ethnographie brauchen gegen eine Behauptung ins Treffen geführt zu werden, die sich genügend durch die Tatsache widerlegt: dass die Monogamie in dem eben erwähnten strengen Sinne selbst bei den christlichen Völkern noch niemals Wirklichkeit gewesen ist – ausser für eine verschwindende Anzahl von Menschen; dass alle die Fortschritte, die man der christlichen Kultur zuschreibt, sich vollzogen haben, während die Monogamie wohl Gesetz, aber die Polygamie Sitte war. In der Zeit, die rhetorisch die "der Tugend und Manneskraft" genannt wird, in der nordischen Heidenzeit, herrschten die Gesetze und Sitten, von denen man jetzt – nach weiterer tausendjähriger christlicher Kultur des Gefühlslebens – meint, dass sie die Auflösung der Gesellschaft nach sich ziehen würden! Unsere ausgezeichneten Vorväter, deren Moral in so hohem Grade die unsere überstrahlt haben soll, waren alle in bürgerlichen Ehen geboren, in einem Heim erzogen, wo die Buhlerin nicht selten am selben Herde mit der Gattin lebte, und wo diese letztere aus äusserst unbedeutenden Anlässen verstossen werden oder auch selbst Scheidung verlangen konnte. Ja, zuweilen waren diese Väter Kinder einer "freien Liebe", die ihr Nest in der Wildnis gebaut, wenn der Muntmann die gesetzliche Vereinigung eines Liebespaares gehindert hatte! Dass die katholische Kirche die unlösbare Ehe einführte, hinderte nicht, dass unser schwedisches Volk im Mittelalter an den Rand des Unterganges kam. Das Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts dürfte hingegen wohl kaum jemand wegen seiner monogamischen Sittlichkeit rühmen. Aber es bewahrte dessenungeachtet Lebenskraft genug, mit seiner ökonomischen, geistigen und militärischen Macht Europas Geschichte zu entscheiden. Ja, der Kern des französischen Volkes besitzt trotz seiner erotischen "Unsittlichkeit" immer noch grosse Gesundheit und Zähigkeit, und vortreffliche bürgerliche Tugenden und Arbeitskräfte.
Die so eifrig beteuern, dass die Monogamie und die Unlösbarkeit der Ehe das Dasein der Völker entscheiden, wissen wenig von der Vergangenheit und der Gegenwart der Völker, oder sie vergessen ihre Einsicht über ihrer Absicht: dass Europas weisse Menschheit – und ihre sittlichen Ideale um 12 Uhr Mittag des heutigen Tages – überall und für immer die Norm für die Sittlichkeit und für den Glauben des ganzen Menschengeschlechts feststellen soll!
Was sich hingegen beweisen lässt, ist: dass die Lebenskraft eines Volkes in erster Linie von der Fähigkeit und der frohen Willigkeit seiner Frauen abhängt, lebenstaugliche Kinder zu gebären und zu erziehen, sowie von der Fähigkeit und dem frohen Willen seiner Männer, das Dasein des Volkes zu verteidigen. Ferner hängt sie von der Arbeitslust des ganzen Volkes ab und von seiner Fähigkeit, Wohlstand für sich selbst und Werte für die ganze Menschheit hervorzubringen, und schliesslich von dem Willen des Einzelnen, eigene Ziele zu opfern, wenn das allgemeine Wohl es erheischt.
Was sich weiter beweisen lässt, ist: dass wenn ein Volk seine Kräfte in geschlechtlichen Ausschweifungen verbraucht, dies oft verhindert, dass das Volk die erwähnten Bedingungen für seine Fortdauer erfüllt und seinen Untergang herbeiführt.
Aber damit ist nicht auch bewiesen, dass ein Volk untergeht, wenn es die Formen des Geschlechtslebens nach einer neuen Erkenntnis der vernünftigsten geschlechtlichen Sitten ändert.
Die Monogamie siegte durch viele Ursachen, vor allem durch die Erfahrung, dass sie viele Vorteile brachte. Sie verringerte die Kämpfe der Männer um die Frauen und sparte so ihre Kräfte für andere Ziele; sie spornte zur Arbeit für die Nachkommenschaft an; sie entwickelte die Schamhaftigkeit und Zärtlichkeit innerhalb der geschlechtlichen Verbindungen und hob so mit der Stellung der Frau auch ihre Bedeutung für die Erziehung der Kinder; sie bot diesen und ihr selbst Schutz vor der Willkür des Mannes; sie entwickelte durch das Familienleben Selbstbeherrschung und Zusammenwirken. Dass die Gatten aufeinander angewiesen waren, führte zum Wohlwollen gegeneinander. Die Machtvollkommenheit des Mannes wurde durch Verantwortlichkeitsgefühl und Beschützerfreude veredelt; die Abhängigkeit der Frau durch Zuneigung und Treue. Diese wurde durch die Furcht vor der besitzrechtlichen Eifersucht des Mannes gestärkt, durch seinen Anspruch zu wissen, dass sein Eigentum sich auf seine eigenen Kinder vererbte; durch Religionen, nach denen die Einmischung von fremdem Blute in den Stamm ein Verbrechen war; durch die Hoffnung des Christentums auf ein Zusammensein jenseits des Erdenlebens; durch die gemeinsamen Kinder, für die sich im Laufe der Entwicklung das Zärtlichkeitsgefühl vertiefte. Und diesen sitten- und seelenveredelnden Einfluss übt die Monogamie noch jetzt aus. Es könnte also den Anschein haben, als müsste diese Anerkennung, die man schon der unvollkommenen Monogamie zollen muss, diejenigen jeder weiteren Beweispflicht entheben, welche behaupten, dass die richtige Entwicklung der geschlechtlichen Sittlichkeit nur durch eine immer vollständigere Monogamie gesichert werden kann. Aber diese vergessen, dass die monogamische Ehe, die schon lange vor dem Christentum Sitte war, von der Stunde an, in der die Kirche sie als einzige Form der geschlechtlichen Sittlichkeit verkündete, der echten Sittlichkeit ebensoviel geschadet wie genützt hat.
Mit einem gewöhnlichen Gedankensprung kam man dann zu der Schlussfolgerung, dass die gewaltige Kulturentwicklung, die sich während der Alleinberechtigung der monogamischen Ehe vollzog, ohne diese unmöglich gewesen wäre. Und so wurde sie einfach als unentbehrliche Voraussetzung jeder höheren Kultur hingestellt!
Der Kern der jetzt immer häufiger entbrennenden Sittlichkeitsdiskussionen ist die Prüfung, ob die freie Ehe oder die unlösbare Liebe den relativ höheren Wert für die echte geschlechtliche Sittlichkeit hat.
So lange der Mensch sich vollkommen geschaffen, dann gefallen und in ewigen Kampf zwischen Geist und Fleisch versetzt glaubte, konnte kein Zweifel an dem unbedingten Wert des christlichen Sittlichkeitsideals auftauchen. Selbst diejenigen, welche, um es zu erreichen, am härtesten kämpfen mussten, selbst die im Kampfe Besiegten bekannten sich als Sünder, in dem Masse, in dem das Fleisch den Sieg über den Geist davontrug. Erst der Evolutionismus hat dem Menschen den Mut gegeben, die Frage aufzuwerfen, ob er nicht auch "sündigen" kann, wenn der Geist über das Fleisch siegt; ob nicht die Ehe um der Menschen willen da ist, nicht diese um der Ehe willen; den Mut schliesslich, das Recht der Gegenwart auf immer allseitigere Erfahrungen über die der Entwicklung der Menschen günstigsten geschlechtlichen Sitten zu vertreten. Denn "die Idee der Ehe" ist für sie keine andere, als die, diese Entwicklung zu begünstigen. Aber allseitige Erfahrungen können nicht gewonnen werden, so lange Religion und Gesetz eine einzige Sitte als die rechte erklären und dadurch alle anderen hart verurteilt oder erschwert werden – sowie sie mit ernster Offenheit hervortreten – während man die heimlichen Vergehungen gegen das Ideal der Monogamie duldet oder sogar begünstigt. Gewiss hat die Feststellung dieses Ideals so manchen angefeuert, es zu verwirklichen zu trachten; ja selbst die Heuchelei ist eine mittelbare Ehrenbezeugung, die seinem Werte gezollt wird. Aber diese Festigkeit gefährdet eine fortschreitende Entwicklung.
In Beziehung auf die Ehe, wie in allen anderen Beziehungen, ist das Luthertum die Halbheit, die Brücke zwischen zwei folgerichtigen Weltanschauungen: der katholisch-christlichen und der individualistisch-monistischen. Und Brücken sind dazu da, dass man hinübergeht, nicht dass man darauf stehen bleibt.
Keiner unserer "unsittlichen" Schriftsteller hat stärker als Luther die Macht des Geschlechtslebens betont. Er betrachtet Keuschheit ohne Ehe als undenkbar. Er sieht in der Ehe das von Gott gegebene Mittel, das Verlangen zu stillen, wie in der Nahrung das von Gott gegebene Mittel, den Hunger zu stillen. Aber ebensowenig wie der Mensch diesen letzteren durch Diebstahl stillen darf, darf er das erstere durch Unzucht stillen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn man nicht jedes Verhältnis ausserhalb der Ehe Unzucht genannt hätte, während Zucht sich mit jeder Art von Ehe deckte!
Luther wusste mancherlei von der Natur, als er lehrte, dass der Mensch ausserhalb der Ehe wohl seine Handlungen unterdrücken könne, nicht aber seine Gedanken und Begierden. Er wusste hingegen nichts von jener Schöpfung der Kultur, die Liebe heisst. Und darum wusste er auch nicht, dass ganz derselbe Satz, den er gebrauchte, um gegen das Cölibat zu sprechen, sich auch gegen die Ehe anwenden lässt. Denn ebensowenig wie das Keuschheitsgelöbnis an und für sich wirkliche Reinheit mit sich bringt, ebensowenig vermag das Treugelöbnis wirkliche Treue hervorzurufen. Diese kann nur entstehen, wenn Ehe und Liebe gleichbedeutende Begriffe werden. Der Ideeninhalt von Luthers Ehekampf war nicht ein höherer Ehebegriff als der der katholischen Kirche, sondern er bestand nur darin, den Klosterleuten und den Männern der Kirche die Ehe wiederzugeben. Man hat ihm den protestantischen Pfarrhof zu danken, und damit einen grossen Einsatz für die Poesie des Landlebens, für Volksbildung, für die Hervorbringung grosser Geister und – mittelbar – auch für die Heranbildung leidenschaftlicher Freidenker! Die lutherische Ehelehre hingegen ist keines Dankes wert, da sie – wie der Protestantismus in seiner Gesamtheit – in einem unlösbaren Widerspruche stecken blieb. Anstatt in dem Geiste Christi und der katholischen Kirche, an der Unlösbarkeit der Ehe festzuhalten und das Ertöten der Sinnlichkeit zu fordern, wenn der Friede der Seele es erheischte, wurde Luther, dadurch, dass er die Macht des Naturtriebs anerkannte, in Konzessionen hineingezwungen, die bis zu der – ganz bibelentsprechend – gutgeheissenen Doppelehe gingen. Für die grobe Auffassung der Reformationszeit bedeutete eine persönlich wählende Liebe nichts. War die Ehe nur vom natürlichen Gesichtspunkt aus möglich, so konnte sie mit jedwedem geschlossen werden, ja, der echten Frömmigkeit dünkte es höher, sie ohne die irdische Liebe einzugehen, die die Liebe zu Gott beeinträchtigte. Die lutherische Ehelehre machte Gott "nachsichtig" gegen all die Unreinheit, die das Geschlechtsleben innerhalb der weissgetünchten Gruft der Ehe einschloss. Er hat vor all den Frauenmorden, die das Gebot der Fruchtbarkeit mit sich brachte, ein Auge zugedrückt; vor all den lebensunfähigen Kindern, die in unzusammengehörigen und unreinen Ehebündnissen zur Welt kamen. Er hat alle aus den niedrigsten Beweggründen, unter den unnatürlichsten Verhältnissen geschlossenen Bündnisse "geheiligt": Bündnisse zwischen einem kranken und einem gesunden, einem alten und einem jungen, einem willigen und einem unwilligen Teil, oder zwischen zwei unwilligen, von der Familie Zusammengekuppelten. Und immer noch wird solchen "christlichen Ehebündnissen" Gottes Segen und das Gebot der Fruchtbarkeit und Untertänigkeit des Weibes verkündigt. Dieser Ehelehre sowie ihren unbewussten Wirkungen fallen noch unzählige Frauen zum Opfer; ihr ermatteter Schoss ist ein karges Erdreich für das neue Geschlecht; ihre unterjochten Seelen eine zerbrochene Stütze für das Wachstum neuer Willen. Auf eine Frau mit der Entschlossenheit zur Selbstverteidigung kommen Tausende, die ihre Kinder mit Widerwillen empfangen haben und empfangen. Auf eine Gattin, der die zaghafte Bitte der Liebe begegnet, kommen Tausende, die in dem Gefühl ihrer Erniedrigung ihren Gläubigern das Recht bewilligen, das die lutherische Ehelehre und der christliche Untertänigkeitsbegriff einprägen. Aber auch innerhalb der lutherischen Kirche zeigt sich die Macht der Zeit. Es treten jüngere Männer hervor, die den Grundsatz verfechten, dass Liebe da sein muss – nicht nur im Trauungsformular von Liebe gesprochen zu werden braucht – wenn die Ehe als sittlich angesehen werden soll. Und wahrscheinlich machen die neu-protestantischen Verkünder der Liebe ihren Einfluss geltend, eine Anzahl widriger Ehestiftungen zu verhindern. Aber es fällt weder ihnen noch ihrer Gemeinde ein, ein aus den niedrigsten Beweggründen getrautes Ehepaar mit Missachtung zu behandeln. Wenn hingegen zwei junge, gesunde, nur durch ihre Liebe vereinte Menschen zusammenwohnen und das Gebot der Fruchtbarkeit erfüllen, dann werden sie durch schimpfliche Behandlung – wenn nicht seitens des jungen Geistlichen selbst, so doch seitens seiner Gemeinde – davon überzeugt werden: dass nur die gesetzgeweihte Geschlechtsverbindung geachtet wird; dass also durchaus nicht der Ernst der persönlichen Liebe selbst, sondern nur der gesellschaftliche Stempel sie dazu befähigt, die sittliche Grundlage für das erotische Zusammenleben zweier Menschen zu bilden! Und wenn ein in einer liebeleeren Ehe unglücklicher Mensch sich befreit, um ein neues Zusammenleben "auf der sittlichen Grundlage der Ehe, der persönlichen Liebe" aufzubauen, dann beeilen sich die Männer der Kirche, die Sittlichkeit der Ehe auf die Grundlage – der Pflicht zu verlegen!
Der Satz von der Liebe als sittlicher Grundlage der Ehe ist also vorderhand nur noch eine Redensart. Seine Verwirklichung war in der protestantischen Welt lange ein strafbares Verbrechen und wird wahrscheinlich noch im Jahre zweitausend als strafwürdiges Vergehen betrachtet werden.
Nach dem Sittlichkeitsbegriff des Lebensglaubens ist also die Ehelehre des Luthertums – sowie die des Christentums überhaupt – in Unsittlichkeit ausgemündet, weil sie ebensowenig das Recht der Gattung auf die besten Lebensbedingungen schützt, als sie dem einzelnen das Recht zugesteht, seine Liebe nach seiner persönlichen Sittlichkeitsforderung zu verwirklichen. Das Ziel der lutherischen Ehe war, mit oder ohne Liebe Mann und Weib zu paaren, als gegenseitige Sittlichkeitsmittel, als Kindergrosszieher für die Gesellschaft, und zugleich um den Mann als Familienversorger festzuhalten. Dadurch, dass die Kirche rücksichtslos dieses Ziel verfolgte, ist es ihr wohl gelungen, die Sinnlichkeit einzudämmen, nicht aber sie zu läutern, – das Verantwortlichkeitsgefühl zu entwickeln, nicht aber die Liebe. Sie hat so nur den Rohstoff zu einer höheren Sittlichkeit grob zugehobelt. Das Grobgehobelte dürfte jetzt noch das im allgemeinen Verwendbarste sein. Aber ihrer werden immer mehr, die sich nach feineren Geräten sehnen.
Der neue Sittlichkeitsbegriff erwächst aus der Hoffnung, dass das Menschengeschlecht der Steigerung zu immer grösserer Vollkommenheit fähig sei. Die Formen des Geschlechtslebens, die dieser Steigerung am besten dienen, müssen also die Norm der neuen Sittlichkeit werden. Aber da die Art eines Verhältnisses nur durch seine Folgen bestimmt werden kann, wollen die Bekenner des Lebensglaubens auch auf dem Gebiete des Geschlechtsverhältnisses wie auf dem strafrechtlichen Gebiete das "bedingte" Urteil anwenden. Erst das Zusammenleben kann über die Sittlichkeit eines Zusammenlebens entscheiden – mit anderen Worten, über seine Fähigkeit, das Dasein der Zusammenlebenden und das der Generation zu steigern. Folglich kann keinem ehelichen Verhältnis im Vorhinein die Weihe erteilt und auch nicht – mit gewissen, die Kinder betreffenden Ausnahmen – abgesprochen werden. Jedes neue Paar muss – welche Form es auch für sein Zusammenleben gewählt hat – erst selbst dessen sittliche Berechtigung erweisen.
Dies ist die neue Sittlichkeit, die heute von denselben Seelen unsittlich genannt wird, die Luther bei seinem Auftreten als unsittlich verdammten. Ein Urteilsspruch, der in der katholischen Welt wiederholt wird, wo noch "auf den unzüchtigen Mönch" dieselben Schmähungen gehäuft werden, wie in den lutherischen Gemeinwesen auf die Anhänger der "freien Liebe". Für Luthers jetzige "freisinnige" Nachfolger handelt es sich auf diesem Gebiete wie auf dem des Glaubens darum, dass sie entweder umkehren oder vorwärts gehen müssen. Zurück zu dem festen Boden der unbedingten Autorität oder hinüber über die Brücke der freien Prüfung in das unerforschte Land des voll-persönlichen Glaubens; zurück zur unauflösbaren Ehe oder über die Brücke des Ehezwangs vorwärts zu dem Rechte der Liebe. Der gerade Weg eines folgerichtigen Denkens lässt keine dritte Möglichkeit zu.
Die Ehelehre der Neuprotestanten ist schon viel weniger folgerichtig als die Luthers. Mit ihm erkennen sie das Recht der Sinnlichkeit in der Liebe an, mit ihren Zeitgenossen das Recht der Liebe im Menschenleben. Aber wenn sie dann beiden die Grenzen ziehen, bleiben sie in Unnahbarkeiten stecken.
Nicht weil sie innerhalb wie ausserhalb der Ehe Beherrschung verlangen. Alle Vorbereitung zu einer schliesslichen Lebenssteigerung bringt vorübergehende Lebenshemmungen mit sich. Sondern weil die Beherrschung, die sie fordern, so umfassend ist, dass sie in hohem Grade lebenshemmend wird, ohne eine entsprechende, schliessliche Lebenssteigerung herbeizuführen. Sie beschränken nämlich das geschlechtliche Moment in der Liebe auf die Aufgabe, die Gattung fortzupflanzen, und die Liebe im Menschenleben auf ein einziges Verhältnis. Jene Ehegatten, welche die Verantwortung für ein neues Leben nicht auf sich nehmen sollen, wollen oder können, werden so zum Zölibat in der Ehe verurteilt, und die Gatten, welche einmal ihre Ehe auf Liebe gegründet haben, müssen sie auch ohne Liebe fortsetzen.
Aber diese Forderungen sind rücksichtsloser gegen die menschliche Natur als der Zwang, den Luther bekämpfte. Das vollkommene Zölibat ist leichter als das eheliche. Die Forderungen der Seele sind stärker als die der Sinne. Dies dürfte jedoch kein Hindernis für die Aufstellung der strengen Forderungen sein, wenn diese wirklich einem geschlechtlich höheren Dasein förderlich wären. Aber nur der von der Wirklichkeit des Lebens Wegsehende – und der Christ ist gewöhnlich ein solcher Wegsehender – kann die persönliche Liebe als Grundlage der geschlechtlichen Sittlichkeit aufstellen und zugleich ihr Recht innerhalb der oben erwähnten Grenzen der Sittlichkeit einsperren.
Denn so wie die Kultur jetzt die persönliche Liebe entwickelt hat, ist diese so zusammengesetzt, so umfassend und eingreifend geworden, dass sie nicht nur an und für sich – unabhängig von der Arterhaltung – einen grossen Lebenswert bildet, sondern auch alle anderen Werte hebt oder herabmindert. Sie hat neben ihrer ursprünglichen eine neue Bedeutung bekommen: die Flamme des Lebens von Geschlecht zu Geschlecht zu tragen. Niemand nennt jemanden unsittlich, der – in seiner Liebe getäuscht – davon absteht, in einer Ehe die Gattung fortzupflanzen; auch jene Gatten wird man nicht unsittlich nennen, die in ihrer durch die Liebe glücklichen Ehe verbleiben, obgleich dieselbe sich als kinderlos erwiesen hat. Aber in beiden Fällen folgen diese Menschen ihrem subjektiven Gefühl auf Kosten des künftigen Geschlechts und behandeln ihre Liebe als Selbstzweck. Das in diesen Fällen den einzelnen auf Kosten der Gattung schon zuerkannte Recht wird sich immer mehr erweitern, in dem Masse, in dem die Bedeutung der Liebe zunimmt. Hingegen wird die neue Sittlichkeit von der Liebe eine immer grössere freiwillige Rechtseinschränkung in den Zeiten, wo ein neues Leben es erheischt, verlangen, sowie einen freiwilligen oder notgedrungenen Rechtsverzicht, neue Leben unter Bedingungen zu zeugen, die dieselben minderwertig machen würden.
Die Ehelehre des Neuprotestantismus, wie die Tolstois, beruht im letzten Grunde auf dem asketischen Misstrauen gegen das Geschlechtsleben. Keiner von ihnen nimmt an, dass dessen sinnliche Seite anders veredelt werden könnte, als indem man sie ausschliesslich in den Dienst der Arterhaltung stellt. Dieser Gesichtspunkt ist zuletzt der entscheidende für alle christlichen Sittlichkeitsbegriffe. Das Christentum wird von der Gewissheit getragen, dass das Ziel von des Menschen Erdenleben seine Entwicklung als Ewigkeitswesen ist. Darum kann keine seiner Lebensäusserungen Selbstzweck sein, sondern muss einem höheren Ziele dienen als dem irdischen Leben und Glück des einzelnen, ja sogar des Menschengeschlechtes.
Aber indem man die Grundlage der geschlechtlichen Sittlichkeit in ein überirdisches Dasein verlegte, beraubte man sie ihres Zusammenhanges mit der Arterhaltung und geriet so in Widerspruch mit sich selbst. Dies ist die Ursache, warum es dem Christentume – während es mittelbar für die Vergeistigung der Liebe höchst bedeutungsvoll geworden ist – doch niemals gelungen ist, die Forderungen des einzelnen mit denen der Gattung, die Bedürfnisse der Seele mit denen der Sinne zu versöhnen. Allumfassend wird nur die sittliche Norm, die von dem Glauben bestimmt wird, dass der Sinn des Lebens seine Entwicklung durch die einzelnen zu immer höheren Lebensformen für das ganze Menschengeschlecht ist. Diese Norm hält keine Askese für sittlich, die darauf abzielt, die Seele aus den Banden der Sinnlichkeit zu befreien: dieses grosse Ziel der morgenländischen Askese. Sie nennt nur die Selbstzucht berechtigt, die eine immer grössere Einheit zwischen dem Willen der Seele und dem des Körpers herbeiführt. Eine solche Selbstzucht steht ebenfalls von dem näheren und geringeren Guten um des ferneren und grösseren willen ab. Aber sie findet dieses Gute auf dem Gebiete der Liebe wie auf jedem anderen in einer immer seelenvolleren Sinnlichkeit oder einer immer sinnlicheren Beseeltheit, nicht in der von Sinnlichkeit immer mehr befreiten Geistigkeit der Askese. Zu dieser Kapelle der Geistigkeit führt ein Bergpfad, der – wie mühsam jeder Schritt auch sein mag – doch gerade aufs Ziel losgeht. Das seelenvoll-sinnliche Dasein hingegen ist eine Zelle, zu der ein Labyrinth führt. Jeder Schritt ist da weniger mühevoll, aber die ganze Wanderung bringt unvergleichlich grössere Gefahr und Spannung. Dies dürfte der Grund sein, warum sie bis jetzt nur die Stärksten lockt – jene, welche niemals darauf verzichten zu geniessen, denn sie geniessen auch, wenn sie verzichten! Für den, welcher dem letzteren Ziele zustrebt, wird eine einzige Sittlichkeitsnorm einfältig – ganz einfach, weil die Menschen vielfältig sind. Geschlechtliche Enthaltsamkeit in den Jugendjahren kann zum Beispiel neun Jünglinge von zehn stärken. Der zehnte kann dadurch in ein Halbtier verwandelt werden, das, obgleich er vor der Ehe im äusseren Sinne "keusch" gewesen, in dieser eine Roheit oder Verdorbenheit an den Tag legen kann, die die Frau auf seinen Standpunkt herabzieht oder einen Abgrund zwischen ihnen auftut. Ausschliesslich sinnliche Geschlechtsverbindungen können in neun Fällen von zehn die Frau wie den Mann geringer machen. Im zehnten Falle kann sich eine solche Verbindung zu einem lebensentscheidenden Gefühl vertiefen, und die Ehe, zu der es führt, besitzt grössere Glücksmöglichkeiten als die so manches jungen Paars, das die seine in der Ordnung schliesst, die als die einzige glückverheissende angesehen wird. So ist es in einem Fall von zehn möglich, dass die Liebe, für die ein junger Mann sich bis zur Ehe rein bewahrt hat, wirklich die persönliche Liebe ist. In neun Fällen ist sie es nicht, sondern im Gegenteil die unpersönlichste aller Arten von Liebe. So ist es in neun Fällen von zehn denkbar, dass solche Enttäuschungen durch das Pflichtgefühl so getragen werden können, dass die Persönlichkeit dabei wächst. Im zehnten wieder führt das Verharren im Irrtum zum Untergang der Persönlichkeit.
Aber diejenigen, welche die vollkommene Reinheit vor der Ehe und die persönliche Liebe in der Ehe mit vollem Rechte zur Norm der Sittlichkeit machen, sollten sich auf Grund unzähliger solcher und ähnlicher Erfahrungen entschliessen, jeden selbst entscheiden zu lassen, wie diese Reinheit vor wie nach der Ehe am besten erreicht wird, und welchen Inhalt diese persönliche Liebe haben soll. Entweder darf sie nichts weder für noch gegen die Heiligkeit der Ehe bedeuten. Oder wenn sie bei der Schliessung der Ehe ihre Heiligung bedeuten soll, dann muss ihr diese Bedeutung auch während der Fortdauer der Ehe zukommen. Aber nur das Individuum selbst weiss, wie lange seine Ehe durch persönliche Liebe heilig verbleibt, oder wann sie aufgehört hat, es zu sein. Niemandem kann die Pflicht auferlegt werden, in einem unheiligen Verhältnisse zu verharren, und folglich muss der Neuprotestantismus entweder die persönliche Liebe als sittliche Grundlage der Ehe, oder die unbedingte Treue als Ausdruck der sittlichen Persönlichkeit fallen lassen.
Der erotische Monist fragt nicht, ob ein Geschlechtsverhältnis das erste und einzige ist, ehe er ihm Sittlichkeit zuerkennt. Er will nur wissen, ob es derart war, dass es nicht die Persönlichkeiten der Liebenden aus dem Spiele gelassen hat. Ob es ein Zusammenleben gewesen ist, wo "weder die Seele die Sinne, noch die Sinne die Seele betrogen haben".
Mit diesen Worten hat George Sand den Begriff der neuen Keuschheit gegeben.
Die Forderungen der neuen geschlechtlichen Sittlichkeit zeigen eigentümliche Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten mit denen, die die Ritterzeit auf diesem Gebiete aufstellte. Die Liebesgerichte setzten beispielsweise fest, dass Ehe und Liebe einander ausschliessen. Der Persönlichkeitsbegriff hat hingegen einen Willen zur Einheitlichkeit mit sich gebracht, der es undenkbar erscheinen lässt, in einer Ehe zu leben, ohne dass die Sehnsucht der Seele und die der Sinne der Gatten aufeinander gerichtet sind. Die Ritterzeit liess das kommende Geschlecht ausserhalb des Bereichs der Liebe. Die Hoffnung der Gegenwart ist es hinwiederum, durch die Liebe die neue Generation ebenso zu vervollkommnen wie die Liebenden selbst.
Auch die neue Sittlichkeit gesteht den vielen, die noch nicht einmal fähig waren, von persönlicher Liebe zu träumen, das Recht zu, eine Ehe zu schliessen, die ihrem armen Dasein wenigstens den Inhalt der Elternfreude und des Heimatsgefühls geben kann. Aber sie wird streng gegen jene sein, die, obwohl sie die Liebe erfahren oder geahnt haben, ohne sie eine Ehe schliessen, die dann sicherlich noch andere Leben ausser ihrem eigenen verringern, vielleicht zerstören wird. Die Weisheit kann fordern, dass das Urteil in gewissen einzelnen Fällen milde sei, denn die Mehrzahl der Menschen lernt spät oder nie ihr eigenes Herz kennen. Als leitender sittlicher Grundsatz hingegen muss die Einheit der Ehe und der Liebe unerschütterlich festgehalten werden. Durch seine idealbildende Macht, seine dadurch immer gesteigerte Glücksforderung hat der Mensch die Triebe zu geistigen Bedürfnissen vertieft, und dieselbe idealbildende Macht zieht nun rücksichtslos die äusseren Stützen der geschlechtlichen Sittlichheit fort und ersetzt sie durch die des Einheitsbegriffs. Dass dadurch Lahme und Hinkende ihrer Krücken beraubt werden, kann den nicht irre machen, der an den Lahmen und Hinkenden vorbei auf die schöneren und gesunderen Menschen der Zukunft blickt.
Der Einheitsgedanke schliesst allerdings das Recht jedes Menschen ein, sein Geschlechtsleben seinen persönlichen Forderungen gemäss zu gestalten, aber nur wenn er damit nicht bewusst die Einheit und dadurch mittelbar oder unmittelbar das Recht der Wesen verletzt, denen seine Liebe das Leben schenken kann. Die Liebe wird so immer mehr eine Privatsache des Menschen, die Kinder hingegen immer mehr eine Lebensfrage der Gesellschaft, und daraus folgt, dass die beiden niedrigsten und gesellschaftlich sanktionierten Äusserungen der geschlechtlichen Zersplitterung (des Dualismus), die Zwangsehe und die Prostitution, allmählich unmöglich werden, weil sie nach dem Siege des Einheitsgedankens den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr entsprechen werden.
Zwangsehe ist das, was nicht nur die Sittlichkeit des Zusammenlebens und das Recht der Kinder von der Form dieses Zusammenlebens abhängig macht, sondern auch die Möglichkeit der Trennung für den einen Teil von dem Willen des anderen. Prostitution ist aller Handel mit seinem Geschlecht, möge der Handel von Frauen oder von Männern betrieben werden, die sich aus Not oder Lust ausserhalb der Ehe und durch sie verkaufen. Beides geschieht in gröberer und in feinerer Form. Es gibt eine Rangskala für die Ehe ohne Liebe wie für die "Liebe" ohne Liebe. Der Abstand zwischen beispielsweise der Kameliendame oder Raskolnikows Sonja auf der einen Seite und einem wilden Tier des Rinnsteins auf der anderen ist gross. So auch zwischen einer Frau, die aus Mütterlichkeitssehnsucht, und einer, die aus Luxusverlangen eine Ehe eingeht; zwischen einem Manne, der eine Arbeitskameradin, und einem, der eine Trösterin für seine Gläubiger sucht. Aber ob man sich nun mit einem Teile seiner Person von Hunger oder Schulden, Einsamkeit oder Verlangen loskauft, welchen an und für sich hohen Wert man auch gewinnen mag, so bleibt doch der Handel für Käufer wie für Verkäufer aus dem Gesichtspunkt der einheitsbestimmten geschlechtlichen Sittlichkeit eine Erniedrigung.
Die Entwicklung des erotischen Persönlichkeitsbewusstseins wird nun in ebenso hohem Grade durch die von der Gesellschaft geregelte "Sittlichkeit" wie durch die von der Gesellschaft reglementierte "Unsittlichkeit" gehindert. Sowohl wenn es gilt, die erstere aufrechtzuerhalten, wie wenn es sich darum handelt, die letztere zu entschuldigen, bekommt man zu hören, dass der Idealismus sich "den Forderungen des wirklichen Lebens" fügen müsse. Dieselben Menschen, die mit Recht die Auflösung der Gesellschaft befürchten würden, wenn man als "die Forderungen des wirklichen Lebens" das Recht aller Hungernden zu stehlen verkündete, halten sich für lebensklug, wenn sie, auf einem unendlich bedeutungsvolleren Gebiete als dem des Eigentums, die Notwendigkeit des Diebstahls – in der Form der Prostitution – verkünden.
Das wirkliche Leben hat allerdings Forderungen. In dem einen Falle die, dass alle nach Nahrung Hungernden Arbeit erhalten müssen, und zwar so entlohnt, dass sie essen können. In dem anderen, dass alle Geschlechtsreifen die Möglichkeit erhalten, zur rechten Zeit eine Ehe zu schliessen. Aber die Umwandlungen, die sich vollziehen müssen, damit das geschehen kann, werden so lange ausbleiben, wie die Gesellschaft – in der Annahme, dass die Prostitution ein notwendiges Übel sei – ihre Folgen überwacht und sich so selbst in den Irrwahn wiegt, dass ihre Gefahren verhütet werden können. Denn damit kauft man sich davon los, nach den Auswegen zu suchen, die besser die beiden Grundbedürfnisse – Liebe und Hunger – befriedigen könnten, zu deren Stillung die Prostitution jetzt für viele Männer und Frauen der einzige Ausweg ist.
Aber diese Umwandlungen werden auch ausbleiben, so lange die Gesellschaft – in der Annahme, dass die Trauung ein notwendiger Segen ist – an ihr als einem Sittlichkeitspostulat des Geschlechtsverhältnisses festhält.
Denn die Trauung verleitet mittelbar wie die Prostitution unmittelbar zu Verbrechen gegen die ungeborene Generation, Verbrechen, mit denen verglichen Raub und Mord an den Lebenden Harmlosigkeiten sind!
An diesem Zustand der Dinge machen sich auch die Sittlichkeitsverkünder mitschuldig, die sich weismachen, dass nur die immer strenger aufrechterhaltene Forderung der Monogamie das Heilmittel des Übels sei. Sie fürchten alle Betonung des Inhaltsreichtums des Lebens, des Glückstraums, der Lebensberauschung. Sie predigen nur Pflichtgefühl und Verantwortung für die eigene Seele und gegen die Gesellschaft. Aber – das ist beständig von den ersten Zeiten des Christentums an gepredigt worden, ohne dass die geschlechtliche Sittlichkeit sich im grossen Ganzen gehoben hat! Das gibt zu denken. Umsomehr, wenn diese Furcht vor der Liebe bis zu Tolstois – oder richtiger des Morgenlandes – Abscheu vor der Sinnlichkeit getrieben wird; wenn man die Ehe nur als ein gefährliches Palliativ gegen eine erbliche Krankheit betrachtet, die am besten so überwunden werden soll, dass das Heilmittel überflüssig wird!
Wenn die Vorgänge der Seele ebenso erforscht sein werden wie die der Erde, wird auch die Liebe ihre Kumatologie erhalten – das ist die Wissenschaft von den Wellen. Man wird den Wellengang des Gefühls durch die Zeiten verfolgen, seine auf- und absteigende Bewegung, die Gegenwirkungen und Seiteneinflüsse, von denen es bestimmt war. Eine solche steigende Welle ist in unserer Zeit der wachsende Abscheu der jungen Männer vor der gesellschaftsgeschützten Unsittlichkeit, ihre einheitliche Liebessehnsucht. Ein entgegenwirkender Einfluss ist hinwiederum die Abneigung einer Anzahl junger Frauen gegen die Liebe. Sie begnügen sich nicht damit wie die neuprotestantischen Geistlichen zu verlangen, dass die Sinnlichkeit geheiligt werden solle: sie wollen sie ertöten. Sie hassen nicht nur – und mit Recht – die von der Liebe losgelöste Begierde: sie setzen die Liebe selbst herab, auch wenn sie sich als Einheit der Seele und der Sinne darstellt. Die Ehe darf nach ihnen nur die höchste Form sympathischer Freundschaft sein und der Ausdruck eines auf die Entstehung und Erziehung der Kinder gerichteten Pflichtgefühls. Wenn die Ehe frei von sinnlichen Lustgefühlen und von persönlichen Glücksforderungen wird, wenn sie die Vereinigung zweier Freunde in der Pflicht und der Freude, ganz für die Kinder zu leben, ist – dann erst ist sie "sittlich" geworden!!
Die Liebe, als die Synthese der geistigen Sympathie und des Geschlechtslebens betrachtet, als die Lebensmacht, durch die das Dasein des Menschen vergrössert und verschönert werden kann, erscheint ihnen wertlos. Und bedeutungslos erscheint ihnen der Gedanke eines Unterschiedes zwischen der Natur des Weibes und der des Mannes. Sie verlangen von beiden vollkommene Enthaltsamkeit ausserhalb der Ehe; und innerhalb derselben gestehen sie nur einige wenige Ausnahmen zu, die die noch unvollkommene Einrichtung der Natur zur Fortpflanzung der Gattung notwendig gemacht hat. Sie hoffen, dass mit dem Fortschreiten der Wissenschaften Chemie und Biologie die Menschen von ihrer Erniedrigung durch die Liebe befreien werden, so wie Verner von Heidenstam von dem "Esspulver" die Befreiung von der Erniedrigung durch den Hunger erhofft. Möglicherweise behalten beide Recht. Aber mit diesen Möglichkeiten haben die Menschen des 20. Jahrhunderts nichts zu schaffen. Was wir jetzt zunächst brauchen, ist mehr Liebe – und mehr Nahrung – nicht weniger!
Es ist darum nicht wahrscheinlich, dass die eben beschriebene Linie die ist, auf der die Entwicklung der geschlechtlichen Sittlichkeit sich weiter bewegen wird. Denn in immer mehr Menschen ist schon jetzt eine gesteigerte erotische Forderung, die das eben erwähnte Reinheitsideal zurückweist. Kein Gedanke an das Ziel kann für sie ein Mittel heiligen, das ihnen ohne Liebe unschön erscheint.
Die aus Pflichtgefühl entstandenen Kinder dürften ausserdem einer Anzahl wesentlicher Lebensbedingungen beraubt sein. Unter anderem der, in ihren Eltern die lebensvollen, glückausstrahlenden Persönlichkeiten zu finden, die die besten geistigen Lebensmittel der Kinder werden – wozu noch der Gesichtspunkt kommt, dass Eltern, "die nur für ihre Kinder leben", eine schlechte Gesellschaft für diese sind!
Das hier angedeutete Sittlichkeitsprogramm ist erklärlich aus einem berechtigten Hass gegen die gesellschaftsgeschützte Unsittlichkeit und aus einer – teilweise – berechtigten Empörung gegen die das Kind verhütende Liebe. Aber diese Lösung des tiefsten Konflikts der Liebe – zwischen den Forderungen des einzelnen und denen des kommenden Geschlechts – verletzt ebenso sehr den Willen der Natur wie die Grundlagen der Kultur. Unabhängig von beiden glauben diese Eiferer die weisse Welt der Reinheit erreichen zu können, die in den Leiden durch die Unreinheit und Erbärmlichkeit, mit denen das Geschlechtsverhältnis jetzt noch das Dasein erfüllt, ihren Sinn lockt. Sie vergessen, dass oberhalb der Schneegrenze nur die dürftigsten Formen des Lebens gedeihen. Aber die menschliche Entwicklung steuert einer immer reicheren und kräftigeren Formenbildung zu. Und nicht nur im geschlechtlichen Leben, nein, auf jedem Gebiet des Schaffens ist die Sinnlichkeit das nährende und tragende Erdreich, vor allem die erotische Sinnlichkeit. Jeder Versuch, Sittlichkeit von Sinnlichkeit zu scheiden, wird die Entwicklung nicht steigern, sondern sie nur verzögern, da die Umpflanzung des Geschlechtsgefühls in ein anderes Erdreich als das der Sinnlichkeit unter unseren tellurischen Bedingungen bis auf weiteres eine Unmöglichkeit ist!
Die auf Unsinnlichkeit – oder Übersinnlichkeit – abzielende Reinheitsforderung kann vielleicht gegen kleine Gefahren Schutz bieten. Bei grossen wird sie bedeutungslos sein wie ein Zaun gegen einen Waldbrand. Keine Lusthemmung, nur die Ableitung der Lust in andere Bahnen reinigt sie wirklich. Nur durch stärkere Leidenschaften werden Leidenschaften gezügelt. In der Lust und der Leidenschaft, in der die Gefahr liegt, im Liebestrieb selbst, hat man den richtigen Ausgangspunkt zu seiner Veredlung. Derjenige, für den die Ertötung des Triebs zum leidenschaftlichen Verlangen wird, kann durch diese Leidenschaft die Aussicht haben, sein lebensfeindliches Ziel zu erreichen. Wer hingegen den Geschlechtstrieb nicht ertöten, sondern nur beherrschen will, wird in seinem Kampfe gegen die – durch Erblichkeit und gesellschaftliche Sitte noch unmässig aufgestachelte – Begierde nur dann ein starker, stolzer Sieger sein, wenn er von der Einheit der Liebe träumt und sie schliesslich erfährt. Gewiss gibt es auch sekundäre Hilfsmittel. Vor allem das, schon mit dem elterlichen Blute den Instinkt der Keuschheit erhalten zu haben; von Kindheit auf gegen die Gefahren der Härte wie der Weichlichkeit geschützt zu sein; eine feinfühlige und fromme Erklärung des grossen Ziels und der grossen Verlockungen der geschlechtlichen Bestimmung zu empfangen; durch die allgemeine Meinung den Eindruck der Möglichkeit der Selbstbeherrschung und ihrer Bedeutung für das Glück des einzelnen und der kommenden Generation zu erhalten; den Missbrauch aller Art von Genussmitteln zu vermeiden, besonders berauschender Getränke, die unmittelbar wie mittelbar die Widerstandskraft des Willens auf dem geschlechtlichen wie auf jedem anderen Gebiete der Versuchung schwächen. Es ist fraglos, dass edle Leibesübungen, Tanz und Spiel – und edel sind sie nur, wenn man sie schön und würdig mit der Seele sowohl wie mit dem Körper betreibt – ein Mittel sind, den Geschlechtstrieb umzuwandeln und ihn zu beherrschen. Ebenso gewiss ist die körperliche und geistige Arbeit für eigene Rechnung sowie die Teilnahme an irgend einer Form gemeinnütziger Bestrebungen bedeutungsvoll, weil sie die erotischen Kräfte in umgesetzter Form in Anspruch nimmt und verbraucht. Aller echte Kunstgenuss ist im höchsten Grade wichtig für die Veredlung des Geschlechtslebens, nicht zum wenigsten, weil er den Menschen vor das "nackt Echte und unverhüllt Wahre" stellt (Fröding), das die Sitten im Leben noch nicht gestatten, das aber einmal eines der besten Erziehungsmittel zur geschlechtlichen Sittlichkeit werden wird, nur noch übertroffen von den Schilderungen der grossen Dichtung von der Liebe. Aber all diese Selbstzucht, all diese Hilfsmittel aus der Welt der Schönheit und der Arbeit, diese ganze körperliche Ausbildung zur Stärke und Gesundheit sind Linien ohne Zielpunkt, solange sie nicht alle zur Liebe führen – zur Liebe, die gewisse Sittlichkeitsverkünder, als ebenfalls eine Gefahr und eine Versuchung, ganz aus dem Spiele lassen wollen! Niemand wird leugnen, dass gesunde Lebensgewohnheiten und strenge Beherrschung hebend für den einzelnen werden können, auch wenn die Liebe in seinem Leben keine Bedeutung erlangt. Aber das Leben in seiner Gesamtheit gewinnt nichts durch die Hervorbringung gehärteter oder verheerter Asketentypen, die durch körperermattenden Sport, phantasievertrocknende Lektüre und nacktheitverhüllende Kunst es zustande gebracht haben, die Sinnlichkeit einzuschläfern, die dann vielleicht doch eines Tages jäh erwacht. An diesen bärbeissigen Hofwächtern ihrer "höheren" Natur hat das Leben ebensowenig Freude, wie sie selbst am Leben. Wir haben nicht viel gewonnen, wenn wir eine Jugend bekommen, die die geschlechtliche Enthaltsamkeit auf Kosten anderer für das Menschengeschlecht ebenso notwendiger Eigenschaften erreicht. Eine Jugend mit breiten Scheuklappen, die Freude der Sinne, das Spiel der Lebenslust, die Regsamkeit der Phantasie scheuend, eine Jugend ohne allen geistigen Wagemut – eine solche Jugend ist bei all ihrer "Reinheit" ein toter Lebenswert!
Diejenigen hingegen, die die reichen Inspirationen des Geschlechtslebens bewahren, aber beherrschen, werden – auch wenn die Beherrschung nicht immer vollständig gewesen ist – von unendlich grösserem Werte für das Leben sein.
Das vom Christentum genährte Vorurteil, dass die geschlechtliche Reinheit an und für sich ein so grosser Lebenswert ist, dass er das Opfer aller anderen aufwiegt – dieses Vorurteil muss überwunden werden. Ein Mensch ist durch seine geschlechtliche Reinheit nur in dem Masse bedeutungsvoll, als er dadurch mehr geeignet wird, für sich selbst und das kommende Geschlecht den Sinn des Lebens zu erfüllen: nämlich ein immer höheres Leben zu leben! Seine Reinheit wird zu teuer bezahlt, wenn sie ihm selbst und in ihm der Menschheit unersetzliche Verluste an Lebenslust, Lebensmut und Lebenskraft zufügt.
Und bis auf weiteres – bis Ehe und Erziehung durch mehrere Generationen die jetzige Natur der Menschen, besonders der Männer umgewandelt haben – wird die Reinheitsforderung nicht ohne solche Verluste durchgeführt werden können, wenn nämlich diese Forderung die neuprotestantische oder gar die Tolstoische Formulierung enthält.
Anmerkung: Man sehe Tolstoi, besonders "Die Kreutzersonate" und "Die sexuelle Frage".
Die Asketen, die gegen die Übermacht des Geschlechtstriebs nur die Beherrschung anempfehlen – auch wenn diese bloss lebenshemmend wirkt – gleichen dem Arzte, der nur darnach strebte, dass das Fieber von dem Kranken weiche: dass dieser an der Kur starb, war ihm gleichgültig!
Aber diese Asketen können auf zwei verschiedenen Wegen zu ihrem Fanatismus gekommen sein. Die eine Gruppe, – die die meisten weiblichen Asketen umfasst – hassen Eros, weil er ihnen niemals Huld bewiesen hat. Die andere Gruppe – die die meisten männlichen Asketen einschliesst – fluchen ihm, weil er ihnen niemals Ruhe lässt! Die Reinheitstollen und die Genusswütigen begegnen sich jedoch in ihrem Misstrauen gegen die Entwicklungsmöglichkeiten der Liebe. Die Liebe ist für sie Begierde und nur dies; kommt die Seele hinzu, so ist es Freundschaft und nur dies. Sie haben niemals eine Liebe erfahren, die in des Wortes allumfassendem Sinne schaffend war. Die Unfruchtbarkeit – die der Seele oder die des Körpers oder beider – ist das Kennzeichen der einzigen Liebe, welche diese beiden Gruppen kennen. Die Sklaven der Erotik sind vortrefflich durch das Geständnis eines Weltmanns charakterisiert, dass er "mindestens zwanzig Frauen leidenschaftlich begehrt habe, die ihm alle persönlich vollkommen gleichgültig waren".
Anmerkung: Lord Chesterfield.
Sie wissen nichts von dem Willen der Seele zu einem einzigen, unter unzähligen erwählten Wesen, einem Willen, dem – wenn er tief bestimmt ist – auch der Wille dieses anderen begegnet. Sie wissen nicht, dass die Wahlverwandtschaft der Sympathie den einen aus den Augen des anderen eine alles überwindende, alles befreiende Macht schöpfen lässt. Denn selbst empfinden sie durch die Gewalt der Begierde nur Ohnmacht und Erniedrigung ihres höheren Wesens. Ein im übrigen seelenvoller Mann kann sich durch die Erotik so machtberaubt fühlen, dass er bald allen Frauen den Tod wünscht, um so aus seiner Sklaverei erlöst zu sein; bald wünscht er ihnen, wie Caligula den Römern, einen einzigen Hals – aber nicht, um ihn abzuhauen! Der Hass dieser Männer gegen die Erotik ist der Hass des Wilden gegen die grausamen Götter, von denen er sich abhängig glaubt und die mit seinem Schicksal spielen. Und nichts ist gewisser, als dass die Liebe, so aufgefasst, die Menschen niedrig und lächerlich macht. Auch wer aus seiner innersten Seele die Tragödie liebt und die Farce hasst, wird unter der Attraktion dieser Liebe zwischen beiden stecken bleiben und aus seinem Leben eine – Tragikomödie machen. Denn um zu der wahren tragischen Grösse zu gelangen, muss der Mensch sich rücksichtslos von dem Grössten in seiner Natur, seinem eigensten innersten Ich leiten lassen und daran untergehen. Aber das tragische Schicksal streift auch Menschen gegen deren innersten Willen, und dann entsteht die eben erwähnte unreine Form des Tragischen. Männer und Frauen, die in der Liebelei nur neue Anreize gesucht haben, treffen so schliesslich einen Menschen, der die Liebe nicht in dieser Weise auffasst und dem Spiel für immer ein Ende macht. Oder es widerfährt ihnen, dass sie selbst von einem grossen Gefühle ergriffen werden, aber ihre Vergangenheit vernichtet ihre Hoffnung, in einem heiligen Hain die Gottheit anbeten zu können, der sie bis dahin nur Papierlaternen im Marktgewühl entzündet haben. In den meisten Fällen nimmt die Tragikomödie dieselbe Form wie für den Trinker an, dass nämlich die Befriedigung immer unmöglicher wird; dass der Unmässige sich genötigt sieht, zu immer gröberen Mitteln zu greifen, um nur einigermassen das Begehren zu stillen; die Berauschungen immer häufiger zu machen, während der Festesglanz immer geringer wird. Der diesen Berauschungen Anheimgefallene wird allmählich ebenso willenlos, herzlos, haltlos, gewissenlos wie der Alkoholiker, ebenso unfähig zur Auswahl und Schätzung auf dem Gebiete seines Verlangens. Die herrlichste Frauenliebe wird ihn schliesslich ebenso unempfindlich lassen, wie den Trinker der flüssige Topas des Rheinweins, sein Sonnenduft, seine Taukühle. "Die Freiheit der Liebe" wird für ihn schliesslich nur das Freisein von Verantwortung, von Rücksicht, von Gefahr, von Kosten bedeuten. Im Vergleich mit dieser Art "freier Liebe" ist die Prostitution allerdings gesundheitsgefährlicher, aber viel weniger persönlichkeitzerstörend. Die Prostitution verringert die Persönlichkeit durch eine Zersplitterung, die die Seele aus dem Spiele lässt. Aber sie verbraucht die Persönlichkeit nicht wie die "Liebe", die das Papiergeld ist, mit dem der Mann nicht feile Frauen kauft. Erwarten sie, dass er die Banknote in Gold einlöst, dann sind sie in grossem Irrtum. Die Liebe kann nach seiner Meinung keinen Goldwert besitzen: sie ist immer ein falsches Wertpapier, durch das die Natur die Mitwirkung des Menschen – besonders der Frau – zu ihrem Ziele erreicht.
Diese Liebe kennt nur die Luft in den Alkoven, wo sie ihre gekaufte oder gestohlene Lust gesucht hat. Die Luft der Weiten hat sie nie geatmet, die Luft, die von Sonne zittert und in Stürmen bebt; die Luft, durch die alle Sehnsucht des Lebens nach Erneuerung braust, die ganze Ewigkeitsahnung des Glückbegehrens, die Generation über Generation hinaushebt, unbekannten Zielen zu. Eine Luft, die die Kräfte ins Unermessliche steigert und sie ins Unendliche aufsaugt; die Luft über den Weiten, wo noch Wildheit und Wahnwitz keuchen, wo Mann und Weib ihre ewigen Kämpfe kämpfen und ihre ewigen Qualen leiden, Qualen, von denen schon Lukrez wusste, dass der Dualismus ihre Quelle ist.
Aber dass nur die Einheit diese Quelle versiegen machen kann – das wusste keine Zeit vor der unseren.
In der Literatur steigt bald aus den Alkoven, bald aus diesen Weiten die Klage über die Gewalt des Geschlechtstriebs auf.
Anmerkung: Tolstoi, Maupassant, Gunnar Heiberg, Strindberg, Heidenstam u. a.
Aber in den Sittlichkeitsschriften findet man selten auch nur eine Ahnung von dem Wildnisgebiete des Menschenlebens. Sie zeigen ihre Unwissenheit durch die Grenzenlosigkeit ihrer Beschränktheit, einer Beschränktheit, die die umfassendste Frage der Menschheit zwischen dem – Gymnastik- und dem Doucheapparat einschliessen will! Für diese kleinliche Auffassung offenbart sich die Unsittlichkeit in der "freien Liebe" ebenso wie in der käuflichen. Sie ahnen nicht, dass die freie Liebe ebenso wie die Ehe viele Grade der Sittlichkeit und Unsittlichkeit einschliesst, über den ethischen Nullpunkt, auf dem die freien Verbindungen und die Ehen der Mehrzahl sich befinden, steigend oder darunter sinkend.
Zwischen der freien oder legitimen Liebe, die grausam, rachsüchtig, mörderisch wird, und der Liebe, die wohl das eigene Leben opfern kann, nie aber das des Geliebten, ist der Abstand gross. Die sogenannten "crimes passionels" erfordern dieselbe Milde, die man den Diebstählen aus Hunger beweist – da beide Arten von Verbrechen den stärksten Lebenstrieben entspringen. Aber aus dem Gesichtspunkt der Lebenssteigerung ist doch ein grosser Unterschied zwischen der freien – oder legitimen – Liebe, die hingebend, mutig, opferwillig, treu ist, und der, die alle die vornehmsten Eigenschaften des Menschen ungebraucht lässt. In gleicher Weise ist der