Überfallkommando - Edgar Wallace - E-Book

Überfallkommando E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Überfallkommando Edgar Wallace - Bis vor kurzem hat ein Schmuggler Mark McGill mit seinem Partner Ronnie Perryman erfolgreich zusammengearbeitet. Doch dieser ist nun tot. Deshalb ist seine Schwester aus Frankreich gekommen. Sie will wissen wie ihr Bruder gestorben ist. Deshalb hat Mark sie an diesem Abend nach Ladys Stairs gebracht. Dort soll sein Untergebener Li Yoseph ihr erzählen, dass die Polizei ihn umgebracht hat. "Mich kannst du nicht umbringen, Mark" sagte der alte Li Yoseph leise. "Ich werde wiederkommen." Zwei Schüsse folgten kurz aufeinander dann hörte Mark McGill, wie der Körper des Alten auf das Wasser klatschte. Ein Jahr später berichtet man Mark: Li Yoseph ist wieder in London aufgetaucht.

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Edgar Wallace
Überfallkommando

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Überfallkommando

Titel des englischen Originals:The Flying Squad.

Ins Deutsche übertragen von Ravi Ravendro.

Kriminalroman

Ungekürzte Ausgabe

Kapitel 1

Zwischen dem Kanal und dem Fluß dehnte sich ein sumpfiges Feld aus. Lady's Stairs, ein sonderbares altes Holzhaus, das sich auf Pfählen erhob, schaute dort auf die Wasserfläche hinab. Die Schleuse am Ende des Kanals bildete zugleich den Anfang des morastigen Gewässers. Das Haus machte einen traurigen, verfallenen Eindruck und schien im Lauf der Zeit immer tiefer in den Sumpf einzusinken. Die Fassade war einst mit weißer Ölfarbe gestrichen gewesen, aber der Anstrich war nie wieder erneuert worden, und der Bau hatte allmählich eine dunkelgraue Farbe angenommen. Er hätte sich kaum von seiner Umgebung abgehoben, wenn er nicht zwischen einem hochaufragenden Lagerhaus und dem tonnenförmig gedeckten Gebäude einer Reparaturwerkstatt eingeklemmt gewesen wäre.

In Lady's Stairs wohnte Li Yoseph. Bei Flut stieg das Wasser fast bis zu dem Fußboden seines Wohnzimmers.

Die Zeiten, in denen Lady's Stairs seinen Namen erhalten hatte, gehörten längst der Vergessenheit an. Früher war diese düstere und schmutzige Gegend eine schöne Bucht an der Themse gewesen; grüne Wiesen und Weideplätze hatten sich hier ausgedehnt. Aber nur die Namen erinnerten noch daran. In den angrenzenden Straßen erhoben sich die Häuser armer Leute, die ebenso schmutzig und verkommen aussahen wie Lady's Stairs. Trotzdem hieß diese Gegend immer noch ›The Meadows‹ – Wiesenland.

Li Yoseph pflegte am Fenster seines Zimmers zu sitzen und zu beobachten, wie die Kohlenschiffe während der Flut bei Brands Wharf festmachten, oder wie die Leichter und die Flußkähne langsam nach der Schleuse zu getreidelt wurden. Wenn er sich zum Fenster hinauslehnte, konnte er sogar die großen holländischen Dampfer sehen, die auf der Themse zum Meer hinausfuhren.

Die Polizei hatte nicht viel gegen Li Yoseph. Die Beamten wußten wohl, daß er ein Hehler und Schmuggler war, aber man hatte keine klaren Beweise und versprach sich von ferneren Haussuchungen nicht mehr Erfolg als von den früheren. Die Nachbarn hielten Li für einen reichen Mann. Auch stand es bei ihnen fest, daß er verrückt sei.

Er besaß die eigentümliche Angewohnheit, lange Gespräche mit unsichtbaren Freunden zu führen. Wenn dieser merkwürdige Alte mit dem großen, gelben, bartlosen Gesicht, das von Falten und Runzeln durchfurcht war, die Straßen mit schlürfendem Gang entlangschritt, sprach er vor sich hin. Er gestikulierte und lachte unheimlich, während er sich mit seinen Gefährten unterhielt, die außer ihm niemand sehen konnte. Meistens sprach er fremde Worte, die allgemein für deutsch gehalten wurden, in Wirklichkeit aber russisch waren. Er gab zu, daß er mit guten und bösen Geistern umging; er konnte Tote sehen und sich mit ihnen unterhalten. Er besaß auch die Gabe des Zweiten Gesichts und hatte schon erstaunliche Dinge vorausgesagt.

Li ging in seinem Wohnzimmer auf und ab und murmelte vor sich hin. Drei Kerzen brannten, aber ihr Licht vermochte den ungewöhnlich hohen Raum nicht genügend zu erhellen und betonte eher noch den düsteren Eindruck, da sie gespenstische Schatten warfen. Die früher freundlich gestrichenen Wände hatten ihre Farbe längst verloren, das Dach war undicht, und bei Regenwetter rannen kleine Bäche an den Wänden herunter. Li schlief in einer kleinen Kammer, die nicht viel größer als ein geräumiger Schrank war. Sie besaß nur den einen Vorteil, daß sie als einziger Teil des Hauses trocken war.

Der größere Raum diente Li zu gleicher Zeit als Büro, Lagerraum und Wohnzimmer.

Holländische, deutsche und französische Matrosen ruderten bei Flut in kleinen Booten hierher und steuerten zwischen den von grünem Moos und Schlamm bedeckten Holzpfählen hindurch, auf denen Li Yosephs Haus stand. Wenn sie dann unten am Fuß der gebrechlichen Leiter festgemacht hatten, stieg der Alte hinunter und feilschte und handelte mit ihnen über allerlei Artikel dunkler Herkunft, die sie ihm brachten.

Unter dem Haus war es dunkel, und selbst bei Tag ließen die vielen Pfähle und Balken kein Licht herein. Lis Besucher konnten nur zu gewissen Zeiten kommen, denn während der Ebbe war dort unten weiter nichts als zwei Mannslängen tiefer, morastiger Schlamm zu sehen, aus dem große Blasen aufstiegen und unruhig durcheinander quirlten, wie von einem vorsintflutlichen Drachen.

Unten an der Leiter war auch ein kleines Motorboot vertäut, das der alte Li trotz seiner Jahre bedienen und steuern konnte. In unbestimmten Zwischenräumen fuhr er selbst manchmal auf den Strom hinaus. An diesem Abend überlegte er gerade, ob er wieder eine Fahrt unternehmen solle. Zweimal hatte er den abgenutzten Teppich schon aufgrollt und die Falltür geöffnet, die von dem Teppich verdeckt wurde. Stöhnend und mit sich selbst sprechend war er die Sprossen der Leiter hinuntergeklettert und hatte ein Bündel in das Boot gebracht, das sich während der Ebbe im Schlamm auf die Seite gelegt hatte. Schließlich war er mit seinen Vorbereitungen fertig und hatte nun wieder Zeit, sich mit seinen unsichtbaren Besuchern zu unterhalten.

Er sprach und scherzte mit ihnen und rieb sich lachend die Hände über ihre erstaunlichen Antworten. Schon den ganzen Tag hatten sie ihm Dinge zugeraunt, die einen gewöhnlichen Menschen vor Furcht hätten erstarren lassen, aber Li schenkte ihren Zuflüsterungen diesmal keinen Glauben.

Der schrille Klang einer Glocke ließ ihn aufhorchen. Mit schlürfenden Schritten verließ er den Raum und stieg die steile Treppe hinunter, die zu einer Seitentür führte.

»Wer ist dort?« fragte er.

Als er die leise Antwort von draußen hörte, drehte er den Schlüssel um und öffnete.

»Du bist früh oder spät gekommen – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll.« Lis Stimme klang tief und heiser, und er sprach mit kaum merklichem, fremdem Akzent.

Nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte, folgte er seinem Besucher nach oben.

»Ich kenne keine bestimmten Tageszeiten.« Er lachte leise vor sich hin. »Für mich gibt es weder Tag noch Nacht. Es ist Flut, ich meinen Geschäften nachgehen muß, und es ist Ebbe, wenn ich mich ausruhen und mit meinen lieben kleinen Freunden sprechen kann.« Er warf eine Kußhand nach einer dunklen Ecke.

Mark McGill wandte sich böse nach ihm um.

»Laß das dumme Geschwätz ... deine verdammten Geister! – Seine Schwester kommt heute abend noch hierher.«

»Seine Schwester?«

»Ronnie Perrymans Schwester – sie ist von Paris herübergekommen.«

Li Yoseph starrte seinen Besucher erstaunt an, aber er stellte keine weiteren Fragen an ihn.

Es lag etwas im Wesen Mark McGills, das jede Vertraulichkeit ausschloß. Er war eine gebieterische Erscheinung, breitschultrig und groß; in seinem wilden, herrischen Gesicht zeigte sich eine gewisse Schönheit. Seine vielen Untergebenen zitterten vor ihm, aber sie fürchteten weniger seine Strenge und Brutalität, als den Blick seiner zwingenden, hellblauen Augen.

Er rollte seine halbaufgerauchte Zigarre von einer Ecke des Mundes in die andere, ging quer durch den Raum zu der Schlafkammer, in der Li Yosephs Bett stand, und schaute nachdenklich auf das dunkle Wasser hinaus.

»In einer Stunde haben wir Flut«, sagte er halb zu sich selbst.

Li Yoseph ließ ihn nicht aus den Augen und sah, wie der große Mann eine Violine von dem Bett aufnahm.

»Du hast sicher wieder den ganzen Tag auf der Fiedel herumgekratzt – ist die Polizei hier gewesen?«

Li Yoseph schüttelte den Kopf.

»Wie, sie haben nicht mehr nach Ronnie gefragt? – Nun gut, aber sie wird alles von dir wissen wollen. Ich habe versucht, sie von hier fernzuhalten, aber ohne Erfolg. Du weißt doch, was du ihr zu sagen hast?«

Nach einer kleinen Pause nickte Li Yoseph langsam.

»Er ist umgebracht worden – von Polizeibeamten... Sie haben ihn in einem Boot mit Ware erwischt, die er vom Schiff geholt hatte. Da haben sie gefragt: ›Wo hast du das her?‹ Und dann haben sie ihm eins über den Kopf gegeben, daß er in den Fluß fiel und tot war.«

»Ja – so machst du deine Sache richtig.« Mark beugte den Kopf vor und lauschte. »Da kommt Tiser mit dem Mädchen – bring sie herauf.«

Li stieg geräuschlos die Treppe hinunter. Nach kurzer Zeit kam er wieder; er ging voraus und zeigte den anderen den Weg. Hinter ihm erschien Tiser, ein unruhiger, nervöser Mensch, der beim Lächeln stets seine großen Zähne zeigte. Seine Stirn war immer feucht; sein schwarzer, steifer Hut und seine schwarze Krawatte machten ihn nicht anziehender. Er hatte Ann Perryman vom Bahnhof abgeholt, aber sie hatte sofort eine instinktive Abneigung gegen den Menschen gefaßt.

Langsam stieg sie die letzten Stufen empor, trat dann ein und schaute sich ohne wahrnehmbare Erregung in dem schmutzigen Raum um. Einige Sekunden lang betrachtete sie Mark, der sich unter ihrem forschenden Blick sonderbar unbehaglich fühlte.

Ann war ein schönes, schlankes Mädchen. Ihr Haar schimmerte je nach der Beleuchtung in tiefgoldenem Blond oder in rötlichem Schein; es war aus der hohen Stirn zurückgebürstet, was ihr in gewisser Weise ein etwas altmodisches Aussehen gab. Sie hielt sich gerade, beinahe steif, als ob sie dadurch ihre Zurückhaltung ausdrücken wollte. Es war nicht leicht, sich ihr zu nähern. Die Männer hielten sie für kalt und abweisend und sagten, daß sie keinen Spaß verstehe, weil sie nicht über ihre Witze lachte. Der Ausdruck ihrer großen, grauen Augen konnte bisweilen sehr hart und streng sein. Ihr Bruder Ronnie allein hatte gewußt, wie sanft und mild sie blicken konnte; aber Ronnie war nun tot, und keinem anderen Mann hatte sie jemals einen liebevollen Blick geschenkt.

Ihr klarer Verstand und ihre Charakterstärke machten sie fähig für den Kampf gegen ein hartes Geschick. Sie besaß einen unbeugsamen Willen und ausdauernden Mut.

Das also war Ann Perryman! Mark hatte sie vorher noch nie gesehen und war überrascht von ihrer anmutigen Erscheinung.

Sie reichte ihm ihre kalte Hand, und er drückte sie. Einen Augenblick hielt er sie fest, dann ließ er sie wieder los. Er wußte kaum, wie er das Gespräch mit Ann beginnen sollte.

»Tiser hat Ihnen schon alles erzählt?«

Sie nickte ernst.

»Vor vierzehn Tagen las ich den Bericht in der Zeitung. Ich bin Lehrerin an einer Schule in Paris, und ich lese dort auch die englischen Blätter. Aber ich wußte nicht« – sie machte eine Pause –, »daß Ronnie hier unter falschem Namen lebte.«

»Das hätte ich Ihnen vorher mitteilen können«, sagte Mark, »aber ich hielt es für besser, damit zu warten, bis alles vorüber war.

Marks Stimme klang so teilnehmend, daß Mr. Tiser, dessen Blicke unruhig im Raum umherschweiften, seinen Gefährten plötzlich überrascht und erstaunt ansah. Mark spielte seine Rolle wirklich ausgezeichnet!

»Ich befand mich in einer sehr schwierigen Lage«, fuhr Mark leise fort. »Sehen Sie, Ronnie hat das Gesetz übertreten, und ich habe es auch getan. Man überlegt es sich natürlich, bevor man sich selbst beschuldigt.«

»Ja, ich weiß, Ronnie war nicht ...«, sie zögerte. »Er war sein ganzes Leben hindurch vom Unglück verfolgt, der arme Junge! Wo hat man ihn denn gefunden?«

Mark zeigte auf die schlammige Bucht hinaus.

»Ich will ganz offen mit Ihnen sprechen, Miss Perryman. Ihr armer Bruder und ich waren Schmuggler. Ich weiß, daß das strafbar ist, und ich entschuldige mich nicht. Ihnen will ich auch das Letzte sagen. Die Polizei war darauf aus, uns eine Falle zu stellen. Die Leute glaubten, daß Ronnie nicht dichthalten würde. Zufällig erfuhr ich, daß sie ihm verschiedene Angebote machten – sie hofften, er würde die Organisation verraten. Das klingt zwar etwas pathetisch, aber es ist die Wahrheit.«

Ann schaute von Mark auf Tiser. Der alte Li war hinter den Vorhängen seiner Kammer verschwunden.

»Mr. Tiser sagte mir, daß Ronnie von Polizeibeamten ermordet wurde – es ist kaum zu glauben!«

Mark zuckte die Schultern.

»Es gibt nichts Unglaubliches, was die Londoner Polizei nicht fertigbrächte«, erwiderte er trocken. »Ich will ja nicht behaupten, daß sie die Absicht hatten, ihn zu töten, aber es ist nun einmal Tatsache, daß sie ihn niederschlugen. Sie müssen ihn gefaßt haben, als er in einem Boot von einem der Schiffe zurückkam, die uns Schmuggelware liefern. Entweder hat er einen Schlag bekommen, daß er ins Wasser stürzte, oder sie haben ihn nachher ins Wasser geworfen, als sie sahen, wie schwer, vielleicht sogar lebensgefährlich, sie ihn getroffen hatten.«

»Inspektor Bradley war es?«

»Ja, so heißt der Beamte. Er hat Ronnie immer gehaßt. Bradley ist einer dieser geschickten Leute von Scotland Yard, die nur geringe Bildung besitzen und von Minderwertigkeitsgefühlen beherrscht werden.«

Hinter dem Vorhang ertönte plötzlich der weiche, klagende Klang einer Violine. Mark fuhr herum, aber Ann legte ihre Hand auf seinen Arm und gab ihm ein Zeichen, ruhig zu sein.

Die süße, melancholische Melodie von Tostis »Chanson d' Adieu« erfüllte den Raum.

»Wer spielt da?« fragte sie leise.

Mark zuckte ungeduldig die Schultern. »Ach, das ist der Alte – Li Yoseph. Ich möchte doch, daß Sie mit ihm sprechen.«

»Li Yospeh – er hat gesehen, wer Ronnie umbrachte?«

Mr. Tiser mischte sich plötzlich in die Unterhaltung.

»Aus ziemlicher Entfernung«, sagte er nervös. »Genau natürlich nicht. Ich habe Ihnen das doch schon alles erklärt.«

Marks kalter Blick brachte ihn zum Schweigen.

»Es ist schon gut, Tiser. Sage Li Yoseph, daß er herauskommen soll.«

Das Violinspiel hörte auf, und Li Yoseph trat mit hochgezogenen Schultern näher. Er sah Ann unter seinen buschigen Augenbrauen hervor an und rieb dabei seine langen Hände, als ob er sie mit unsichtbarer Seife wüsche. Er sah beinahe geisterhaft aus, und Ann schrak ein wenig zurück.

»Dies ist Miss Perryman, Ronnies Schwester.«

Das Gesicht des Alten verzog sich zu einem Lächeln.

»Ich habe gerade mit ihm gesprochen.«

Ann schaute ihn entsetzt an.

»Wie, Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Sie müssen sich nicht um sein Gerede kümmern.« Marks Worte klangen scharf, fast befehlend. »Er ist ein wenig ...« Er zeigte bedeutungsvoll auf die Stirn. »Er sieht Geister und dergleichen Dinge –«

»Ja, viele Dinge«, wiederholte Li Yoseph. Seine Augen wurden größer und größer. »Seltsame Dinge – Dinge, die niemand sieht außer mir – Li Yoseph!«

»Nun sei aber still, Yoseph«, sagte Mark rauh. »Du erschreckst die junge Dame durch dein albernes Geschwätz.«

»Ach nein, ich fürchte mich nicht«, erwiderte Ann standhaft.

Li Yoseph ging in den kleinen Nebenraum zurück und lachte merkwürdig vor sich hin.

»Ist er öfters so wie jetzt?«

»Immer«, entgegnete Mark, aber er fügte schnell hinzu: »Abgesehen davon ist er aber vollkommen klar. – Yoseph, bleibe hier. Ich sagte dir doch, daß du Miss Perryman alles erzählen sollst, was du gesehen hast.«

Li Yoseph kam langsam zurück und blieb ein paar Schritte vor Ann stehen. Seine Hände waren auf der Brust gefaltet, als ob er betete.

»Ich will Ihnen sagen, was ich sah.« Seine Stimme klang plötzlich mechanisch. »Erst kommt Ronnie in einem Boot vom Schiff. Er rudert und rudert, dann kommt das Polizeimotorboot und holt ihn ein. Dann sehe ich, wie sie kämpfen und kämpfen, und ich höre einen Fall ins Wasser, und plötzlich höre ich Mr. Bradleys Stimme: ›Der ist erledigt – niemand darf etwas darüber sagen.‹«

Während er sprach, schaute er sie an, und sie glaubte, in seinem Blick einen gewissen Trotz zu lesen, als ob er schon darauf vorbereitet wäre, daß sie seiner Geschichte keinen Glauben schenken würde.

»Haben Sie das wirklich gesehen?«

Er neigte den Kopf.

Ann wandte sich an Mark.

»Warum wurden denn diese Leute nicht angeklagt? Warum hat man nur Klage gegen ›einen oder mehrere unbekannte Täter‹ erhoben? Ist denn die Polizei in diesem Land unantastbar? Können ihre Beamten straflos jedes Verbrechen begehen – sogar Mord?«

Zum erstenmal zeigte sich ihre starke, innere Erregung. Ihre Stimme zitterte, als sie sprach.

»Bradley – Sie sagten doch, daß Bradley ihn ermordete? Ich werde den Namen nie vergessen.« Ihr Blick traf wieder den alten Mann. Er stand mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen da und schwankte leicht hin und her. »Hat Mr. Yoseph denn keine Klage gegen die Polizei erhoben?«

Mark lächelte.

»Wozu? Sie müssen verstehen, Miss Perryman, daß die Polizei ihre eigenen Gesetze hat, nicht nur bei uns, sondern auch in allen anderen Ländern. Ich könnte Ihnen Romane darüber erzählen, was in New York passiert ist ...«

»Ich will nicht wissen, was dort geschieht«, unterbrach sie ihn schnell. »Aber sagen Sie mir, ob man diesem alten Mann glauben kann!« Sie sah auf Li Yoseph.

»Durchaus«, sagte Mark nachdrücklich.

»Sie können ihm vollständig vertrauen«, mischte sich Mr. Tiser wieder in die Unterhaltung, nachdem er lange hatte schweigen müssen. »Ich kann Ihnen nur die Versicherung geben, daß er ein absolut ehrenwerter Charakter ist.«

Er begegnete Marks Blick, begann zu stammeln und schwieg dann wieder.

Anne hatte den Kopf gesenkt und einen Finger an die Lippen gelegt; ihre Stirn lag in nachdenklichen Falten. Mark hatte ihr einen Stuhl angeboten, aber sie hatte es nicht beachtet. Auch er schwieg und wartete darauf, daß sie sprechen würde.

»Was hat Ronnie für Sie getan?« fragte sie schließlich. »Sie können mir alles sagen, Mr. McGill. Er hat mir oft von Ihnen erzählt, und ich habe schon vermutet, daß Sie irgendein ... strafbares Geschäft betreiben. Wahrscheinlich sind meine moralischen Anschauungen recht sonderbar, aber es kommt mir jetzt nicht mehr so schrecklich vor wie früher. War mein Bruder sehr wertvoll für Sie? Ist der Verlust, den Sie durch seinen Tod erlitten haben, sehr groß?«

McGill antwortete nicht sofort. Er dachte darüber nach, was sie wohl mit ihrer Frage meinen könnte.

»Ja, er war beinahe unersetzlich für uns«, erwiderte er endlich. »Ronnie war ein Mann, der überall hingehen konnte, ohne den geringsten Verdacht zu erregen. Er fuhr seinen Wagen ausgezeichnet; das kam uns sehr zugute, denn die Polizei hat jetzt eine Fliegende Kolonne eingerichtet. Bradley führt die Abteilung. Vor diesen Leuten müssen wir ganz besonders auf der Hut sein. Ronnie hat gewöhnlich die geschmuggelten Waren herangeholt, manchmal hat er sie auch verteilt ... Ich habe mich in jeder Weise auf ihn verlassen. Aber warum fragen Sie?«

»Ich hätte es gern gewußt. Was ist dieser Bradley eigentlich für ein Mann?«

Bevor Mark antworten konnte, hörte sie ein leises Lachen und wandte sich schnell um.

In Türnähe stand ein Fremder. Ann wußte nicht, wie lange er schon dort war, aber er mußte schon einige Zeit anwesend sein, denn er lehnte lässig am Türpfosten. Er trug keinen Mantel, obgleich der Abend kalt war; sein Filzhut war verwegen über ein Auge gezogen. Der große, schlanke Mann hatte ein gutgeschnittenes Gesicht und freundliche Augen. Sein Blick ruhte interessiert auf Ann.

»Ich würde nicht erstaunt sein, Miss Perryman vor mir zu haben«, sagte er, richtete sich auf und lüftete seinen Hut. »Wollen Sie mich nicht vorstellen, Mark?«

»Mein Name ist McGill«, erwiderte Mark scharf.

»Welch eine Neuigkeit! Als ob Sie nicht schon Ihr ganzes Leben lang diesen Namen geführt hätten!«

Aber dann legte sich ein Schatten über seine Züge, und er sah fast traurig aus, als er langsam auf Ann zuging. Instinktiv wußte sie, wer er war; sie sah ihn mit einem stahlharten, kalten Blick an.

»Es tut mir sehr leid, Miss Perryman, daß Sie all diesen Kummer erleben mußten. Ich wünschte, ich wüßte, wer Ihren Bruder ermordet hat.«

Er biß sich auf die Unterlippe und sah nachdenklich zu Mark hinüber.

»Ich habe mein Bestes getan, um Ronnie vor schlechter Gesellschaft fernzuhalten.«

Er machte eine Pause, als ob er auf Antwort wartete. Als Ann aber nichts erwiderte, sah er sich in dem Raum um.

»Wo ist denn unser musikalischer Geisterseher?« fragte er. »Hallo, Li Yoseph! Sie haben ja Besuch hier.«

Der Alte kam unterwürfig näher. Seine Gesichtszüge verrieten eine sonderbare Gespanntheit. Mark bemerkte, daß Li Yoseph dem Detektiv einen schnellen Blick zuwarf, und beobachtete Bradley; aber in dem Gesicht des Polizeibeamten rührte sich kein Muskel.

»Ich wundere mich nur, daß man Sie hierhergebracht hat.« Bradley sprach zu Ann, aber er schaute den verlegenen, nervösen Tiser an, der nicht wußte, wohin er sehen sollte.

»Sie haben Ihnen doch nicht etwa die dumme Geschichte erzählt, daß die Polizei an dem Tod Ihres Bruders schuldig sei? Aber Sie sind sicher zu intelligent, um derartige Märchen zu glauben. Ihr Bruder wurde an Land getötet und später in den Strom geworfen.«

Ann preßte die Lippen zusammen, und Bradley sah, daß er sie nicht überzeugt hatte.

»Wünschen Sie etwas?« fragte Mark heftig.

Inspektor Bradley zog die Augenbrauen hoch.

»Entschuldigen Sie«, sagte er mit ironischer Höflichkeit. »Ich wußte nicht, daß Sie Li Yosephs Wohnung übernommen haben und hier Hausherr sind. Ich werde heute nacht zwischen zehn und zwei Uhr in Scotland Yard sein.«

Ein Schauer überlief Mark McGill. An wen waren diese Worte gerichtet? Für ihn waren sie nicht bestimmt, ebensowenig für Ann Perryman oder Mr. Tiser. Warum war Bradley gekommen? Mark wußte gut genug, daß dieser Mann nicht in Lady's Stairs erschienen wäre, wenn ihm Ann Perrymans Anwesenheit bekannt gewesen wäre. Sein Besuch galt Li Yoseph! Die Bemerkung, daß er diese Nacht bis zwei Uhr in Scotland Yard sein würde, sollte also zu Lis Orientierung dienen.

Bradley wandte sich um und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um und grüßte zum Abschied.

»Ich würde gern einmal mit Ihnen sprechen, Miss Perryman vielleicht darf ich Sie morgen in Ihrem Hotel besuchen?«

Sie antwortete ihm nicht, aber in ihrem Blick lag Haß und Abscheu. Inspektor Bradley sah es zu deutlich, um sich darüber zu täuschen.

Seine Schritte verklangen auf der Treppe, dann wurde die Haustür zugeschlagen.

»Das war Bradley?« fragte Ann leise.

»Ja, das war er«, erwiderte Mark grimmig. »Einer der durchtriebendsten und schlauesten Spürhunde von Scotland Yard! Was halten Sie von ihm?«

Sie senkte den Blick zu Boden und überlegte seine Frage.

»Wer wird Ronnies Stelle in Ihrer – Organisation einnehmen?«

Mark zuckte die Schultern.

»Ja, wer könnte seine Stelle einnehmen? Solch einen Mann kann man nicht so leicht wieder finden.«

»Ich könnte es.«

Er sah sie überrascht an.

»Sie?« fragte er ungläubig.

Tausend Möglichkeiten tauchten plötzlich vor Mark auf.

»Wie, Sie wollen zu uns kommen?« Er streckte begeistert die Hand aus. »Mein liebes Kind, Sie sind der Partner, nach dem ich gesucht habe.«

Sie sah ihn entschlossen an.

»Ich heiße Ann – nennen Sie mich so. Unsere Beziehungen werden rein geschäftlich sein.«

Kapitel 2

In Lady's Stairs gab es kein Telefon. Li Yoseph war ein sparsamer Mann, der niemals unnötig Geld ausgab. Lange nachdem seine Besucher das Haus verlassen hatten, saß er zusammengekauert in einem alten, harten Lehnstuhl, den er an den großen, runden Tisch gezogen hatte. Zu seiner Linken brannte eine Lampe, und vor ihm lagen fünf engbeschriebene Bogen eines fast vollendeten Briefes.

Es fiel ihm schwer, diesen Brief zu schreiben, aber es mußte geschehen. Sobald er fertig war, wollte er ihn in einen Umschlag stecken, sich nach unten schleichen und den alten Sedeman aufsuchen, der in der Nachbarschaft wohnte und den Brief gegen ein Entgelt zu Inspektor Bradley bringen würde. Li nahm wahllos einen der Bogen auf und las ihn noch einmal durch.

»... McGill wußte, daß Ronnie mit Ihnen in Verbindung stand. Wenn Ronnie trank, war wenig Verlaß auf ihn, und er trank in der letzten Zeit heftig. Mit McGill hatte er einen Streit und sprach darüber, daß er ausscheiden wolle. Er erzählte mir die Sache, und ich sagte ihm auch, daß ich gern in meine Heimat zurückkehren wolle. Ich glaube, daß McGill das auf die eine oder andere Weise herausgebracht hat, denn in der fraglichen Nacht kam er hierher, nachdem er Ronnie von London aus gefolgt war. Ronnie hatte wieder getrunken. Um ein Uhr kamen McGill und Tiser. Sie stritten miteinander, und Ronnie sagte, daß er nichts mit Mord oder dergleichen zu tun haben wolle. Er behauptete, McGill sei für den Überfall bei der Northern- and Southern-Bank verantwortlich, bei dem ein Wachmann getötet wurde. Und dann prahlte er, daß er nur einen Finger zu heben brauche, um uns alle ins Gefängnis zu bringen. Wenn er das nicht gesagt hätte, wäre ich jetzt wohl nicht mehr am Leben; aber durch diese Äußerung wurde McGills Verdacht von mir abgelenkt. Ronnie stand mit einem großen Glas Portwein in der Hand am Tisch, als er das sagte, und wollte gerade trinken. Da schlug ihn McGill mit einem Totschläger über den Kopf, so daß er niederstürzte. McGill wickelte Ronnie in ein Bettuch und ließ ihn durch eine Falltür in mein Boot hinunter. Ich weiß nicht, wo er und Tiser ihn ins Wasser geworfen haben, aber nach einer halben Stunde kamen sie zurück und sagten, Ronnie habe sich wieder erholt und sei nach Hause gegangen. Dann drohte McGill, mich zu töten, wenn ich ein Sterbenswörtchen darüber sagen würde. Damals sprach er noch nicht davon, daß ich Ronnies Schwester eine erfundene Geschichte erzählen solle. Erst später, als er sie nach London holte, sagte er mir ...«

Li ließ den Bogen sinken. Es war nicht mehr viel zu schreiben, auf der nächsten Seite beendete er seinen Bericht, löschte das Papier ab und steckte es in einen Briefumschlag. Während er dies tat, sprach er zu sich selbst.

»... Sieh, mein kleines Täubchen, das muß ich tun, sonst kommen sie, nehmen den alten Li und legen einen Strick um seinen Hals. Und dann muß ich sterben, mein Kind.«

Er hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde, schaute auf und steckte den Brief schnell in seine Tasche. Draußen auf der Treppe hörte er Marks Schritte – er kannte sie nur zu gut. Tiser begleitete McGill; das wußte Li schon, bevor sie die Tür öffneten und in den Raum traten.

Mark ging geradewegs auf den Tisch zu und schaute auf die Feder und das Papier.

»Du hast einen Brief geschrieben, wie? Hast du ihn schon abgeschickt?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Lieber Freund!« Tisers Stimme überschlug sich vor Erregung. »Vielleicht hast du etwas Unrechtes getan, Kamerad. Sage jetzt schnell Mr. McGill, daß sein Verdacht unbegründet ist. Sage ihm ...«

»Du brauchst ihm nicht zu sagen, was er mir zu antworten hat!« unterbrach ihn Mark eisig. »Gib den Brief her!« wandte er sich an Li Yoseph. »Du hast noch keine Zeit gehabt, ihn abzuschicken – die Tinte steht noch auf dem Tisch.«

Bevor Li wußte, was geschah, sprang Mark auf ihn zu, packte ihn und riß seinen Rock auf. Der Brief schaute aus der inneren Tasche hervor, und Mark zog ihn heraus.

»Also an Bradley – ich dachte es mir doch!«

Mark öffnete den Umschlag und überflog schnell den Inhalt.

»Du hast uns verraten wollen, was? Deshalb kam Bradley also hierher und sagte, daß er heute von zehn bis zwei in seinem Büro sei. Na, auf diesen Brief kann er verdammt lange warten!«

Li Yoseph bewegte sich nicht. Er stand dicht neben der geschlossenen Falltür, hatte die Hände vor sich auf der Brust gefaltet und schwieg. Er wußte, all dieses war verhängt, dem Geschick konnte er nicht entgehen. Vielleicht hörte er die Stimmen der Geister, die ihn umgaben und ihm Mut zuflüsterten, denn plötzlich lächelte er.

»Also nun zu dir, Li«, rief Mark erregt. Ihre Blicke trafen sich, und Li Yoseph sah Mord in Marks Augen.

»Mich kannst du nicht umbringen, mein guter Mark«, sagte er. »Ich mag sterben, ja – aber ich werde wiederkommen. Die kleinen Geister ...«

Plötzlich bückte sich der alte Mann hastig, riß die Falltür auf und eilte auf der Leiter nach unten. Mark zog seine Pistole schnell aus der Tasche; der Schalldämpfer blieb in dem Stoff hängen und riß ein Loch hinein, aber Mark achtete nicht darauf.

Zwei Schüsse folgten kurz hintereinander – der zweite klang lauter. Die Geschosse saßen zwischen den Schultern. Sie hörten, wie der Körper Li Yosephs unten ins Wasser fiel.

»Mach die Falltür zu!«

Tiser ging mit unsicheren Schritten vorwärts und schloß leise die Tür.

»Leg jetzt den Teppich darüber.«

Mark trat ans Fenster, riß einen Flügel auf und schaute hinaus. Die Nacht war dunkel; ein feiner Sprühregen fiel nieder, die Flut war auf ihrem Höhepunkt.

Tiser lehnte sich an einen Stuhl und atmete schwer wie ein Mann, der eine ungeheure Anstrengung hinter sich hat. Die Sprache versagte ihm, und er wagte nicht aufzusehen, bis er hörte, daß Mark McGill das Fenster schloß.

»Das ist in Ordnung. Komm jetzt! Vergiß nicht, was du gesehen hast!«

Tisers Zähne klapperten, als er seinem finsteren Herrn zur Treppe folgte. Sie standen auf dem Absatz, als unten laut an die Tür geklopft wurde. Tiser unterdrückte einen Schrei. Wieder ertönte das Klopfen.

»Offnen Sie die Tür!«

McGill taumelte in das Zimmer zurück, löschte schnell das Licht und schaute durch ein kleines Fenster auf die Straße.

Zwei Autos hielten unten. Das dritte fuhr gerade vor, aber noch bevor es zum Stehen kam, sprangen sechs Männer heraus und gingen eilig auf das Haus zu.

In dem hellen Licht eines der Scheinwerfer an den Wagen sah Mark ein wohlbekanntes, ihm so verhaßtes Gesicht. Nur für einen Augenblick tauchte es auf, dann verschwand es wieder in der Dunkelheit.

»Bradley!« zischte er. »Die Fliegende Kolonne – das Haus ist umzingelt!«

Kapitel 3

Mark schloß das Fenster, trat zurück und drehte das Licht wieder an. Mit einem scharfen Blick musterte er das Zimmer, verkorkte schnell das Tintenfaß und stellte es beiseite. Dann zeigte er auf die Tür.

»Geh nach unten und laß sie herein!«

Das Klopfen ertönte lauter und dringlicher als zuvor.

»Warte noch einen Augenblick!« rief Mark, als Tiser schon in der Türöffnung stand. Mit größter Eile rollte er den Teppich zurück, riß die Falltür auf und leuchtete mit seiner Taschenlampe nach unten. Aber nur das schwarze Wasser gähnte ihm entgegen. Plötzlich fiel ihm seine Pistole ein; rasch warf er sie hinunter, wartete noch, bis er das Aufschlagen auf dem Wasser hörte, schloß dann die Tür und legte den Teppich wieder darüber.

»Laß sie jetzt herein!« sagte er kurz.

Bradley trat zuerst ein. Einer der vier Detektive, die ihm folgten, hatte eine Pistole in der Hand.

»Durchsuchen Sie die beiden«, befahl Bradley.

Mark hob sofort die Hände in die Höhe.

»Wo ist Ihr Schießeisen?« fragte der Detektiv, der schnell alle Taschen Marks abtastete.

»Wenn Sie damit eine Pistole meinen«, entgegnete McGill kühl, »dann verschwenden Sie nur unnötig Ihre Zeit. Darf ich mir aber die Frage erlauben, was dieses ganze Theater zu bedeuten hat?«

»Wo ist Li Yoseph?«

Mark zuckte die Schultern.

»Das möchte ich auch gerne wissen. Ich unterhielt mich noch vor kurzem mit ihm in der freundschaftlichsten Weise. Dann ging er fort, um noch einen Bekannten aufzusuchen. In zehn Minuten wollte er zurückkommen.«

Der Detektiv verzog verächtlich die Lippen.

»So, er wollte einen Bekannten aufsuchen? Wollte ihn wohl nach seinem Hund fragen, was?« Er zog die Luft prüfend durch die Nase ein und runzelte die Stirn. »Es riecht hier ganz verdächtig nach Kordit.«

Bradley ging zu dem kleinen Schlafraum, sah sich dort um, nahm die Violine und den Bogen und betrachtete sie nachdenklich.

»Sein Instrument hat er nicht mitgenommen, wie ich sehe.« Er nahm die Violine unters Kinn und spielte eine kurze Melodie. »Sie wußten wohl nicht, daß ich Geige spiele?« fragte er, als er sie wieder auf den Tisch legte.

»Ich weiß nur, daß Sie sich hier aufspielen wollen. Ihre künstlerische Veranlagung scheint sich irgendwie betätigen zu müssen«, erwiderte Mark bissig.

Bradley sah ihn scharf an.

»Sie müssen sich von dem Wahn freimachen, daß Sie hier als Volksredner vor einer großen Versammlung stehen, McGill. Sagen Sie mir lieber, wo ich Li Yoseph finden kann.«

Marks Gesicht wurde dunkelrot, offener Haß flammte aus seinen Blicken.

»Wenn Sie wissen wollen, warum ich hierher kam, dann werde ich es Ihnen sagen. Tiser und ich versuchen etwas Gutes in der Welt zu tun und den Leuten zu helfen, die Sie unterdrückt und zugrunde gerichtet haben, Bradley –«

Der Detektiv lächelte.

»Ach, ich kenne Ihre Herberge, wenn Sie dieses Heim für Obdachlose meinen«, entgegnete er trocken. »Das ist doch weiter nichts als ein Ihnen angenehmer Treffpunkt für Verbrecher, die Sie für Ihre Zwecke brauchen können. Eine geniale Idee. Ich habe gehört, daß Sie dort fromme Predigten halten, Tiser?«

Der Mann grinste nur furchtsam, er war noch nicht fähig zu sprechen.

»Sie wollen mir doch nicht etwa erzählen, daß Sie Li Yoseph aufsuchten, damit er Ihnen bei der Besserung der Sträflinge helfen sollte? Wenn Sie das –«

In diesem Augenblick wurde Bradley von einem Beamten dringend auf den Gang gerufen. Er ging sofort hin und sprach mit ihm. Mark McGill sah das Erstaunen in seinem Gesicht.

»Nun gut, sagen Sie Miss Perryman, daß sie hereinkommen kann.«

Ann Perryman trat langsam ein und schaute von einem zum andern.

»Wo ist Mr. Yoseph?«

»Dieselbe Frage habe ich eben auch gestellt«, erwiderte Bradley freundlich.

Sie beachtete ihn nicht und wiederholte ihre Frage.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Mark. »Vor einigen Minuten war er noch hier. Er ist aus irgendeinem Grund fortgegangen und bisher noch nicht wieder zurückgekommen.«

Ann fühlte plötzlich, wie jemand ihren Arm faßte und sie herumzog. Sie zitterte vor Entrüstung, als sie Inspektor Bradleys Blick begegnete.

»Miss Perryman, wollen Sie so liebenswürdig sein und mir sagen, warum Sie jetzt hierherkamen? Ich frage Sie in meiner Eigenschaft als Polizeibeamter.«

»Ich kam, weil er mir schrieb, daß ich ihn besuchen solle«, erwiderte sie atemlos.

»Bitte, zeigen Sie mir seine Mitteilung.«

Tiser starrte sie mit offenem Mund an; auch Mark McGills Züge verrieten ungewöhnliche Bestürzung.

Ann Perryman zögerte, dann riß sie mit einer hastigen Bewegung ihre Handtasche auf und zog ein Blatt Papier hervor. Bradley las die beiden schnell hingeworfenen Zeilen:

»Ich muß Sie um zehn Uhr sehen. Es ist äußerst dringend.«

»Wo ist der Briefumschlag?«

»Den habe ich weggeworfen.« Sie atmete schnell, und ihre Stimme zitterte; aber Bradley wußte, daß nicht Furcht die Ursache ihrer Erregung war.

»Der Brief wurde Ihnen wohl durch einen Boten überbracht? Li hatte zuerst die Absicht, ihn durch die Polizei zu schicken. Er wollte Sie morgen abend sehen – ich hatte auch eine Verabredung mit ihm für dieselbe Zeit«, warf Mark ein.

Bradley sah ihn durchbohrend an, aber McGill hielt den Blick aus.

»Wollen Sie mir bitte erklären, was dies alles zu bedeuten hat?« fragte Ann.

Mühsam hatte sie ihre Selbstbeherrschung wiedererlangt.

»Was das bedeutet?« erwiderte Bradley kühl. »Die Fliegende Kolonne ist hier – oder wenigstens eine Abteilung von ihr. Ich kam hierher, um Li Yoseph in Schutzhaft zu nehmen, bevor ihm etwas zustoßen konnte. Er wollte mir heute einen Brief schicken, und ich nahm an, daß er denselben Boten benützen würde, den er Ihnen gesandt hat. Ich verrate kein Dienstgeheimnis, wenn ich Ihnen sage, daß ich um Li Yoseph ernstlich besorgt war und ihn in Sicherheit bringen wollte, bevor ihn dasselbe Schicksal erreicht wie Ihren Bruder.«

Ann Perrymans Lippen zitterten, aber wieder gelang es ihr, sich zu beherrschen.

»Sie meinen, bevor er durch die Hand von Polizeibeamten umgebracht wurde?« sagte sie leise, beinahe flüsternd. »Auf diese Weise ist mein Bruder ums Leben gekommen – wollten sie mit Li Yoseph auf dieselbe Weise verfahren? Als Sie mich vorhin am Arm packten und herumrissen, als ob ich eine Ihrer Gefangenen wäre, erkannte ich, was für ein brutaler Mensch Sie sind!«

»Wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich Ihren Bruder getötet habe?«

»Li Yoseph.«

Auf diese Antwort war Bradley nicht gefaßt.

»Das ist das Unglaublichste, was ich je gehört habe«, sagte er langsam. Dann war er plötzlich wieder der sachliche Beamte und sprach ganz geschäftsmäßig. »Es ist möglich, daß ich Sie, McGill und Tiser, heute abend noch einmal sehen muß. Inzwischen können Sie nach Hause gehen. Miss Perryman, mit Ihnen werde ich morgen früh sprechen. Jetzt werde ich Sie nach Hause bringen.«

»Ich brauche Ihre Begleitung nicht – ich gehe mit Mr. McGill.«

»Sie gehen mit mir«, erwiderte er bestimmt. »Ich will wenigstens die Genugtuung haben, Sie einen Abend lang vor schlechter Gesellschaft bewahrt zu haben.«

»Was soll das heißen, Bradley?« rief McGill zornig. »Was wollen Sie von mir? Ich habe nun allmählich genug von Ihren Andeutungen und dunklen Bemerkungen. Stehen Sie mir jetzt Rede und Antwort!«

Bradley winkte einen seiner Leute heran.

»Begleiten Sie Miss Perryman zu meinem Wagen!«

Einen Augenblick sah sie ihn trotzig an, dann drehte sie sich um und folgte dem Detektiv die Treppe hinunter. Nachdem sie gegangen war, wandte sich Bradley an McGill.

»Ich will Ihnen sagen, was ich gegen Sie habe. Im ganzen Land ist in letzter Zeit ein starkes Anwachsen von Gewaltverbrechen wahrzunehmen. Vorige Woche wurde in der Oxley Road ein Polizist erschossen, und als jene Bande bei den Juwelieren Isligton einbrach und auf frischer Tat überrascht wurde, haben die Leute durch eine regelrechte Schießerei ihren Rückzug gedeckt. Das ist ungewöhnlich. Sie wissen doch, daß der englische Verbrecher keine Schußwaffe bei sich trägt. Eine neue Generation von Revolverhelden ist im Land aufgetaucht – und deshalb bin ich empört über Sie.«

»Wollen Sie damit sagen, daß ich Schießstände eingerichtet habe, wo ich den Verbrechern das Knallen beibringe?«

Bradley nickte langsam.

»Ja, das meine ich. Sie benützen die schlimmste Methode, um die Leute zu solchen teuflischen Taten zu treiben. Jeder, der die Geschichte der amerikanischen Verbrecherbanden kennt, weiß, was jetzt in England vorgeht. Sie haben einen neuen Weg gefunden, den Verbrechern Rauschgifte zu liefern! Aber wenn ich Sie fasse, dann werde ich Sie auch ganz zur Strecke bringen. Zwanzig Jahre werden nach Ihrer Verurteilung vergehen, bevor Sie wieder aus Dartmoor herauskommen.« Er trat näher an McGill heran. »Und ich werde Ihnen noch etwas anderes sagen. Ich weiß nicht, was Sie mit Miss Perryman im Sinn haben, aber denken Sie daran, daß ich sie bewachen werde wie eine Katze die Maus. Und wenn Sie etwas Böses im Schilde führen, dann werde ich schon Mittel und Wege finden, Sie einzusperren – auch ohne Beweise.«

Kapitel 4

Während der Fahrt zur Stadt stellte Bradley seine Fragen klug und geschickt, und Ann Perryman wußte wohl kaum, daß sie einem Kreuzverhör unterworfen war.

Am nächsten Morgen hatte sie in ihrem Wohnzimmer im Hotel eine Unterredung mit Bradley; er hatte sich vorher telefonisch mit ihr in Verbindung gesetzt. Als er dann bei ihr erschien, war sie gesammelt und ruhig. Sie sah ihn unverwandt an, während er sprach, und in dem Blick ihrer Augen las er Haß gegen sich und seinen Beruf.

»Wir haben noch keine Spur von Li Yoseph gefunden, aber ich hoffe, daß wir ihn noch entdecken werden, wenn er nicht beiseite geschafft worden ist. Er besaß ein kleines Motorboot, das unten an seinem Haus befestigt war. Dieses Boot wurde von der Strompolizei leer auf der Themse gefunden.«

Sie betrachtete ihn mit kalten Blicken. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihn wohl für einen hübschen jungen Mann gehalten; er hatte intelligente Züge und große, ausdrucksvolle Augen. Es war seine Angewohnheit, die Menschen häufig durch halbgeschlossene Augenlider zu beobachten. Er lachte häufig; aber seine Lippen zuckten schmerzlich, als er von den armen Leuten sprach, die in Li Yosephs Nachbarschaft wohnten. Er sah gepflegt aus, hatte die Gestalt eines Athleten und schöne, wohlgeformte Hände, die er auf die Tischplatte legte – sie hatte ihm keinen Platz angeboten. Ihr Haß gegen ihn wuchs mehr und mehr, als sie seine anziehenden Eigenschaften erkannte.

»Es ist überflüssig, Theorien aufzustellen, Mr. Bradley«, sagte sie ruhig. »Li Yoseph wurde wahrscheinlich von Polizeibeamten getötet – genau wie der arme Ronnie!«

Ihre Behauptung war so lächerlich und aus der Luft gegriffen, daß Bradley, der Mutterwitz besaß und gewöhnlich sehr schlagfertig war, keine Antwort fand.

»Er wurde einfach mit einem Polizeiknüppel niedergeschlagen, weil er Ihnen nicht sagen wollte, was Sie gerne gewußt hätten. Warum sollte denn Li Yoseph entkommen? Er war ein Zeuge, der den Mord an Ronnie gesehen hatte.«

Bradley sah sie scharf an.

»Sie haben sich aufhetzen lassen. Wissen Sie eigentlich, welche Tätigkeit Ihr Bruder hatte, warum er so eng mit Li Yoseph befreundet war?«

Sie antwortete ihm nicht.

»Ich möchte Ihnen so gerne helfen.«

Er lehnte sich über den Tisch; seine Stimme klang sanft und eindringlich.

»Soviel ich weiß, sind Sie Lehrerin an einer Pariser Schule, und ich hoffe, daß Sie versuchen werden, all diese schrecklichen Ereignisse zu vergessen, wenn Sie dorthin zurückkehren. Ich habe Ihren Bruder gern gehabt, in gewissem Sinn war er sogar mein Freund. Ich war wohl einer der letzten, mit denen er vor seinem Tod sprach.«

Er sah, wie sie die Lippen unwillig zusammenzog, und schüttelte den Kopf.

»Das Unglück muß Sie so schwer getroffen haben, daß Sie im Augenblick nicht klar denken können. Warum sollte die Polizei ihm denn etwas getan haben? Und warum sollte denn gerade ich sein Mörder sein? Ich hätte mir die größte Mühe gegeben, wenn ich ihm hätte helfen können. Ich kenne seine ganze Vergangenheit, und ich weiß auch, wie wankelmütig er war ...«

»Ich glaube, wir können diese Unterredung beenden. Ob ich nach Paris zurückgehe oder nicht, ist meine eigene Angelegenheit. Ich weiß, daß Sie ihn haßten – und ich glaube, daß Sie ihn getötet haben. Alle Nachbarn Li Yosephs sind davon überzeugt, daß Ronnie von Polizeibeamten getötet wurde. Ich will nicht behaupten, daß man ihn mit Vorsatz ermordete, aber er starb von Ihrer Hand.«

Er machte eine verzweifelte Handbewegung.

»Darf ich später einmal mit Ihnen sprechen, wenn Sie die erste Aufregung überwunden haben?«