Ulla mischt sich ein - Anny von Panhuys - E-Book

Ulla mischt sich ein E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

"Es ist besser, ein guter Handwerker zu sein als ein mittelmäßiger Anwalt", so Ulla Uttens Stimme der Vernunft, die jedoch einfach kein Gehör finden will ... Im "Haus zu den Lilien" in Frankfurt am Main wohnt die einst hochangesehene Uhrmacherfamilie Jost, in der sich seit vielen Generationen Talent und Beruf vom Vater auf den Sohn vererben. Auch Christian, der jüngste Spross, hat diese Begabung in ganz ungewöhnlichem Maß geerbt, doch die verblendete Eitelkeit der Mutter verleitet ihn dazu, statt den elterlichen Betrieb zu übernehmen, lieber Rechtswissenschaft zu studieren. Christians Jugendfreundin Ulla Utten, ein liebes und engagiertes Mädchen, führt einen unentwegten Kampf mit ihm, um ihn seinem eigentlichen Beruf zuzuführen. Als Christian nun Gefahr läuft, in einer Welt unter die Räder zu kommen, die seinem eigentlichen Wesen so sehr fremd ist, mischt sich Ulla energisch ein und öffnet ihm nach vielen Irrungen und Wirrungen über seinen falschen Umgang die Augen. Aber auch gegenüber der so aufopferungsvollen Jugendfreundin fällt es Christian schließlich wie Schuppen von den Augen ... Ein Roman einmal nicht über den Aufstieg zum Ruhm und den Griff nach den Sternen, sondern über das Maßhalten und die Besinnung auf das Machbare und die eigenen Grenzen. Einer von Anny von Panhuys reifsten Romanen.-

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Anny von Panhuys

Ulla mischt sich ein

Roman

Saga

Ulla mischt sich ein

© 1953 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570289

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel

In einer der ältesten Gassen der einstigen freien Reichsstadt Frankfurt am Main, unfern des Domes, steht ein Haus, das, von Wind und Wetter der Jahrhunderte schief geworden, sich wie scheu zwischen die vielleicht ein wenig jüngeren Nachbarn einschiebt, so, als wünsche es, nicht beachtet zu werden. Und doch fällt es in der ganzen Gasse am meisten auf, das alte „Haus zu den Lilien“.

Oft stehen Fremde, die den Stadtteil Alt-Frankfurt besuchen, vor dem Hause zu den Lilien und bewundern es, besonders, weil es sich eine eigentümliche Vornehmheit bewahrt hat aus jenen fernen Tagen, da es noch der Patrizierfamilie von der Lilie gehörte, die es um das Jahr 1600 herum erbauen liess.

Von einem Herrn von der Lilie, dem letzten dieser Linie des alten Geschlechtes, kaufte es Anfang des achtzehnten Jahrhunderts der junge Uhrmacher Gottfried Jost; und von da an blieb das Haus, über dessen Eingangstür ein schon vielfach ausgebessertes Wappen mit zwei Lilien in Stein gehauen war, Eigentum seiner Nachkommen.

Ein ganzer Stamm von Uhrmachern ging aus dem alten Hause hervor, und sie waren alle tüchtig und erfolgreich gewesen; einer davon, der Grossvater des jetzigen Besitzers, sogar berühmt. Von weit und breit kam man zu Christian Jost, Fürstlichkeiten gehörten zu seinen Kunden, und es verstand sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ganz von selbst, dass alle vornehmen Frankfurter ihre Uhren im Hause zu den Lilien kauften oder ausbessern liessen. Angesehen war Christian Jost, und sein Geschäft, sein Heim, seine Familie umgab die Gediegenheit reicher Bürger.

Heute war davon nichts mehr zu spüren im Hause zu den Lilien. Man musste sich vielmehr sehr einrichten, um leidlich durchzukommen.

Seit langer Zeit schon arbeitete Mathias Jost ohne Freude; gutzahlende Kundschaft kaufte in den Läden der Goethestrasse und Zeil, zu ihm verliefen sich nur noch Nachbarn und Leute, die annahmen, in dieser Gegend recht billig wegzukommen, Leute, die wegen jeder grösseren Ausbesserung schimpften und quengelten.

In der langgestreckten Werkstatt hinter dem Laden sass Mathias Jost und untersuchte mit der Lupe, die er in das linke Auge geklemmt hatte, eine Damenuhr. Neben ihm arbeitete sein Gehilfe, Hans Weigand. Eine Wanduhr schlug sechsmal, andere Wanduhren folgten, der tiefe Ton einer Standuhr mischte sich ein. Alle grossen Uhren in Laden und Werkstatt beteiligten sich an dem Konzert.

Mit einem hörbaren Ruck schob Hans Weigand seinen Stuhl zurück und sang vergnügt:

„Jetzt ich heim zu Frauchen lauf,

bums vallera, ich freu mich drauf!“

Hans Weigand war seit vier Wochen verheiratet und freute sich immer auf das Heimgehen.

Als er fort war, liess Mathias Jost müde die Schultern sinken. Nun war er allein und brauchte sich nicht mehr zusammenzunehmen, sein Kopf schmerzte von dem angestrengten Sehen, die Augen brannten. Die armen Augen, vor denen es manchmal wie graue Spinnweben zitterte.

Die Augen waren durch Überanstrengung allmählich schwach geworden. Mathias Jost seufzte — und er war doch noch gar nicht besonders alt mit seinen fünfundfünfzig Jahren.

Es klopfte an der Tür, die vom Flur in die Werkstatt führte. Gleich darauf stand Ulla Utten auf der Schwelle, grüsste und fragte lächelnd: „Gibt’s viel zu tun, Uhrendoktorche?“ „Uhrendoktorche“ nannte ihn Ulla seit ihren Kindertagen. Acht Jahre war sie alt gewesen, als ihre Mutter in das kleine Hintergebäude des Hauses zu den Lilien gezogen war.

Ihr Vater war seit zwanzig Jahren verschollen, aber Frau Luise Utten hoffte immer noch, er würde eines Tages wiederkehren.

Ulla drückte die niedrige Tür ins Schloss. Niedrig waren Türen und Fenster, niedrig waren die Decken hier im Hause, aber die Wände so dick, dass alle Geräusche von draussen matt zu sein schienen.

Als Mathias Jost seine Arbeit wieder aufnehmen wollte, sagte Ulla freundlich: „Lass das, Uhrendoktorche, ich habe ein Stündchen oder zwei Zeit, Mutter ist weggegangen, abliefern, sie arbeitet in letzter Zeit Jumper, und auf dem Rückwege besucht sie immer eine alte Freundin. Nirgends kann sie so ausgiebig vom Vater reden wie dort.

Sie schob Mathias Jost einfach von seinem Arbeitsplatze weg, liess sich auf seinen Stuhl nieder und nahm die Damenuhr auf, mit der sich der Uhrmacher vor ihrem Kommen beschäftigt hatte.

„Na, das ist ja ein ziemlich schwerer Fall, Bruch der Achse!“ stellte sie nach einem Weilchen stummer Betrachtung fest und sah jetzt ganz fachmännisch aus. Ihr sehr regelmässiges, helles Gesicht neigte sich über die Tischplatte, und sie begann mit geübten Händen zu hantieren.

Mathias Jost sank in den alten Armstuhl und seufzte ein wenig traurig und auch ein wenig wohlig.

„Mädelche, wenn ich dich nicht hätte! Fremdes, liebes Mädelche, ich hab’ dich gern, als wärst du mein eigenes Kind. Immer hilfst du mir, immer stehst du mir bei. Ich könnte ja keinen zweiten Gehilfen bezahlen, soviel bringt’s Geschäft nicht ein! Es ginge wohl, wenn Christian nicht studierte. Das kostet auf die Dauer viel Geld. Er braucht Anzüge, er muss dieses und jenes mitmachen und will nicht zurückstehen, wenn sein Freund, den er sich auf der Universität angeschafft hat, sich etwas leistet.“

Ulla fuhr mit der Rechten glättend über ihr Haar, das in leicht gewellten Scheiteln die gerade Stirn umrahmte und im Licht der niedrigen, grünbeschirmten kleinen Arbeitslampe hellgolden leuchtete. Es gab in Wahrheit nichts zu glätten an dem Haar, Ulla hatte nur allerlei Gedanken wegschieben wollen, die plötzlich hinter ihrer Stirn aufgesprungen waren und Neigung zeigten, sich in Worte umzuformen und sich zu melden.

Aber Mathias Jost tat ihr leid. Christian war sein einziger Sohn, er hing mit grosser Liebe an ihm. Ab und zu sagte er dem Sohne ja auch ein wenig die Wahrheit, aber niemals so gründlich, wie er es wohl hätte tun müssen, denn Christian war auf einen falschen Weg geraten. Sie sah es, sie fühlte es, sie wusste es und litt darunter, weil sie ihn liebhatte. Das wusste sie auch, aber er wusste es nicht, und es würde ihm wahrscheinlich auch höchst gleichgültig sein, wenn er es erführe, wie ihm alles gleichgültig war, was sie anging.

Er mochte sie nicht leiden, seit sie ihm ein paarmal, wenn auch in mildester Form, erklärt hatte, es wäre besser, er gäbe sein Studium auf und würde Uhrmacher, wie sein Vater, Grossvater und deren Väter es gewesen waren.

Sie mochte jetzt nicht daran denken, und während sie mit ihren spitzkuppigen, wie für Arbeiten der Feinmechanik geschaffenen Händen an dem Ührchen arbeitete, sagte sie: „Mutter wird nicht müde, auf den Vater zu warten, aber ich meine, einer, der vor zwanzig Jahren weggegangen ist und seitdem nichts mehr von sich hat hören lassen, von dem keine Spur zurückgeblieben, der kommt nicht wieder.“

Mathias Jost sass mit geschlossenen Lidern da. Ein solches Ausruhen tat seinen Augen gut. Er lächelte traurig und stimmte ihr bei: „Nein, Kind, der kommt nicht wieder!“ Das Lächeln schwand, der schmale Gelehrtenkopf drückte sich an die hohe Sessellehne, und leise sagte Mathias Jost: „Ich weiss es noch wie heute, das, was vor zwanzig Jahren solches Aufsehen in der ganzen Stadt hervorrief. Der junge Wirt Utten, da drüben aus der Wirtschaft ‚Zum Hühnchen‘ war urplötzlich verschwunden, auf eine Weise verschwunden wie einer, dem ein Geist eine Tarnkappe aufgesetzt und ihn dann, unsichtbar für jedes menschliche Auge, entführt hat.“

Ulla arbeitete ruhig weiter. Sie hatte das schon allzuoft gehört, ihre Wimpern blieben trocken, ihre Hände zitterten nicht, aber ihr Herz tat immer wieder weh, wenn sie daran erinnert wurde, wie seltsam der Vater sich aus dem Leben der Mutter fortgestohlen, sie mit ihr, dem damals einjährigen Kinde, in einem mit Hypotheken überlasteten alten Hause dieser Gaffe zurücklassend.

Aus dem Gedanken heraus erwiderte sie: „Es gibt keine Geister, die Tarnkappen für die Menschen bereithalten und sie entführen. Vater hat nicht mehr ein noch aus gewusst in dem Schuldendurcheinander, in dem er steckte, und hat alles sorgfältig für seine Flucht vorbereitet, sein Verantwortlichkeitsgefühl aber hat er in den Main geworfen. Vielleicht gräbt er heute in einer fernen Ecke Amerikas nach Gold, vielleicht hat er es auch zu etwas gebracht und längst vergessen, dass es hier in Deutschland noch Pflichten für ihn gibt, dass er Mutter und mich im Stich gelassen, vielleicht ist er aber schon längst irgendwo gestorben. Die Welt ist ja so gross, wie kann man wissen, wo er sein Grab gefunden in der grossen Welt.“ Sie atmete bedrückt. „Mutter tut mir leid, sie glaubt nicht an seinen Tod und behauptet, er würde heimkehren und sie und mich dann mit Reichtümern überschütten.“

Mathias Jost öffnete seine Augen, stille, graue, nachdenkliche Augen.

„Ich meine, Ulla, den Glauben an die Wiederkehr deines Vaters muss mau ihr lassen, der hält sie aufrecht und macht ihr alles leichter. Sie wartet immer auf ihn, das strafft ihre Lebensgeister. Sie hat sich ein eigenes Geschichtchen über sein Verschwinden zusammenphantasiert, daraus holt sie sich ständig Mut und Frische. Sie hat deinen Vater sehr geliebt, und anscheinend er sie auch; hier in unserer Gasse nannte man die beiden nur die Turteltauben. Unfassbar und unbegreiflich bleibt deshalb deines Vaters geheimnisvolle Flucht. Aber er wusste wohl kaum, was er tat, die Schulden drückten ihn zu sehr, er hatte Grundstück und Wirtschaft tiefverschuldet vom Vater übernommen.“ Er hüstelte. „Das war in der damaligen Zeit wohl so, dass man zugrunde gehen musste, wenn man als ein Überbleibsel längst vergangener Tage in den alten Gassen hocken blieb, wo Licht und Luft sich nicht wohlfühlen. Aus Tradition hält man dann wohl am Alten, Gewohnten fest, ehrt damit die Vorfahren und wird allmählich selbst eine Art Vorfahre, verliert schliesslich Mut und Unternehmungslust. So alte Gassen haben es in sich! Die wissen festzuhalten! Mit weichen Armen, wie es scheint, und eigentlich sind sie doch eiserne Schraubstöcke. Man wühlt sich wie in behagliche Kissen hinein, in die immer dämmerige Luft der Enge unserer kleinen Häuser, ist davon immer ein wenig benommen und erschlafft. Nur Junge und zugleich Starke, Begabte, finden hier wieder heraus, aber die dürfen ruhig hierbleiben, wenn sie mögen, die verstauben auch hier nicht, die können es auch hier, oder richtiger von hier aus, zu etwas bringen. Aber Menschen wie ich werden grau und alt vor der Zeit — — — und ihr Geschäft mit ihnen, Männer wie dein Vater, die nehmen sogar Reissaus und laufen gleich so weit, dass sie nie mehr gesehen werden.“

Ullas grosse blaue Augen blickten ihn an.

„Uhrendoktorche, ich vermag mir gar nicht vorzustellen, dass du in einem anderen Heim als im Hause zu den Lilien wohnen könntest, das schräg gegenüber dem Haus mit der Wirtschaft ‚Zum Hühnchen‘ steht, in dem ich geboren worden bin.“ Sie lächelte. „Ich liebe unsere alte Gasse, in der so viele Häuser von altersher Namen führen, aber ich sehne mich zuweilen doch danach, anderswo zu wohnen.“

Sie arbeitete schon wieder eifrig weiter.

„Manchmal male ich mir aus, wie schön es sein müsste, in hohen Zimmern zu leben und einen Balkon vor den Fenstern zu haben. Die Fenster müssten auf Bäume, vielleicht auf Gärten hinausgehen, und nachts könnte ich den Himmel mit seinen Sternen sehen, von dem man hier, weil die Häuser der anderen Seite zu nahe sind, immer nur schmale Streifen erhascht. Ich male mir weiter aus, in der Wohnung wäre immer frische, gute Luft.“ Sie verstummte. „Ich schilderte als Ideal die Wohnung von Justizrat Hermann, Uhrendoktorche.“

Er nickte und fragte: „Wie bist du zufrieden beim Justizrat, Ulla?“

„Ach, zufrieden bin ich schon. Er ist sehr gerecht, der Justizrat, und verlangt nichts Unmögliches, aber arbeiten muss ich tüchtig, schenken tut er einem nichts.“ Sie liess die Finger sekundenlang ruhen. „Ein ganz prachtvoller Mensch ist Justizrat Hermann, und deshalb ist er auch so gesucht. Wenn der seine Klienten anguckt, dann wagen sie kein Beschönigen und kein Vertuschen und Schwindeln, der holt aus jedem heraus, was in ihm ist, der schaut durch die Menschen hindurch wie durch gläserne Wände. Er ist ein Fanatiker seines Berufes, kein Rechtsverdreher, der aus Recht Unrecht und aus Unrecht Recht macht. Wenn der einen Angeklagten verteidigt, dann verstummt der Staatsanwalt und sieht alles so wie er. Trotz seines stark ausgesprochenen Gerechtigkeitsgefühls besitzt der Justizrat aber unendlich viel Menschenliebe, und mit der geht er an die bösesten Dinge heran und mildert sie vom rein menschlichen Standpunkt aus. Handelt es sich jedoch um Unverzeihliches, dann wird der Verteidiger zum Ankläger.“ Ihre Augen blitzten. „So wie Justizrat Hermann muss ein guter Anwalt sein, denke ich mir. Oder richtiger, so sollte jeder Anwalt sein. Aber viele Menschen ergreifen den verantwortlichen Beruf, wie sie jeden anderen Beruf ergreifen würden. Es fehlt die Begabung dafür, und man braucht nicht nur zum Künstler Begabung, das ist eine ganz falsche Ansicht.“

Mathias Jost erwiderte langsam: „Du siehst das richtig an; aber nicht jeder sieht es so, Christian auch nicht. Meine Frau hat ihm von jeher eingeredet, er müsse Rechtsanwalt werden. In ihrer Familie gab’s einmal einen Anwalt, die ganze Familie war stolz auf den akademisch gebildeten Herrn, und als er schon längst gestorben war, schwebte sein Geist immer noch wie etwas Strahlendes über dem Namen aller, die so hiessen wie er. Christian kannte deshalb kein anderes Ziel, als auch so einer zu werden wie jener ferne Onkel, der, nebenbei bemerkt, nichts weiter gewesen ist als ein ganz kleiner Durchschnittsanwalt. Als meine Frau starb, hatte sich Christian schon vollkommen festgelegt, da konnte ich ihm nicht mehr abreden, da durfte ich ihn nicht mehr mahnen: Lass deinen Plan fallen, mein Junge, du wirst wahrscheinlich doch kein besonderer Anwalt werden, aber ganz gewiss ein ganz besonderer Uhrmacher, denn deine Begabung für alles Feinmechanische ist ungewöhnlich.“

Er faltete die Hände. Es war wie eine Gebärde der Ergebung.

„Ich habe schon oft solche Worte auf der Zunge gehabt, und es wäre vielleicht noch gar nicht zu spät, denn besser ist’s wohl, einen Fehler spät erkennen als niemals. Ich habe oft sagen wollen: Lass Universität Universität sein und werde, was ich bin und was die Jostens vor uns gewesen, du hast das Zeug dazu, den alten, einstmals so klangvollen Alt-Frankfurter Uhrmachernamen wieder voll und ganz zu Ehren zu bringen. Aber dann schluckte ich alles hinunter und schwieg.“

„Und das ist fast so etwas wie eine Schuld, die du auf dich geladen, Uhrendoktorche“, sagte Ulla sehr ernst. „Mit der Begabung soll man rechnen; ich behaupte, Christian ist geradezu für die Uhrmacherei geboren. Der hat nichts weiter fachlich gelernt, als was er dir abgeguckt hat, und er spielt förmlich mit den winzigsten Teilchen einer Uhr herum. Er spricht über Dinge der Feinmechanik wie ein alter Fachmann auf dem Gebiet und löst spielend die schwierigsten derartigen Probleme. Als Anwalt wird er einmal einer derer sein, von denen mindestens vierzehn aufs Dutzend gehen, als Uhrmacher aber könnte er einen Teil der Glanzzeit seines Vorfahren zurückerobern, der Christian hiess wie er, und zu dem alle Vornehmen Frankfurts kamen und sogar Fürstlichkeiten von Mainz und Karlsruhe.“

Mathias Jost löste die gefalteten Hände.

„Ach, Mädelche, das ist nun alles schon mal so, dagegen können wir nichts mehr tun. Und wenn es auf Begabung ankommt, dürftest du auch nicht als Tippmamsell im Anwaltsbüro sitzen, sondern müsstest einen ganz hervorragenden Platz in einer grossen Uhrmacherei einnehmen, in so einer, wie sie im Schwarzwald zu Hause sind. Hast mir ja auch bloss abgeguckt, was deine Finger nun so geschickt arbeiten, um mir in deiner knappen Freizeit zu helfen, damit ich meine immer so müden Augen schonen und die Kunden besser bedienen kann.“

Ulla Utten lachte froh und jung.

„Ein Mädel als Uhrmacherin ist immer noch etwas Seltenes, und ich wollte doch möglichst bald selbst mein Brot verdienen, um Mutter zu entlasten. Die Handelsschule forderte keine besonders lange Lehrzeit. Ich freue mich, dir helfen zu dürfen, wenn der Gehilfe gegangen ist, ich tue es herzlich gern.“

Leise sagte Mathias Jost: „Schade, dass ihr beide, Christian und du, euch so schlecht versteht in den letzten Jahren. Früher war das doch anders.“

Ulla neigte sich tief über ihre Arbeit, und erst nach einem Weilchen gab sie zurück: „Ich bin ihm nicht mehr besonders angenehm, doch das schadet nichts, damit habe ich mich abgefunden; aber du und ich, wir bleiben immer gute Freunde, Uhrendoktorche.“

Er lächelte. „Ja, wir beide bleiben immer gute Freunde.“

Ulla wurde traurig. Sie hatte sich noch längst nicht damit abgefunden, dass alles zwischen Christian und ihr anders geworden war als früher. — — —

Zweites Kapitel

Jan van Straaten lachte. Er lachte so eigen. Ganz leise war das Lachen, es klang wie vom Winde aus irgendeiner Ferne hergeweht. Auch sein Sprechen war leise, es schien immer, als sage er etwas Besonderes, was nicht jeder hören sollte, auch wenn er nur vom Wetter redete.

Christian Jost fragte: „Weshalb lachst du, Jan?“

Sie gingen beide am Main entlang, unten im „Nizza“. Das war ein tiefgelegener Promenadenteil dicht am Mainufer, den man so nannte, weil er besonders günstig zur Sonne lag und obendrein windgeschützt war. Hier hatten südliche Bäume eine Heimat gefunden, und vom Frühling bis zum Herbst blühten hier in Überfülle die herrlichsten, buntesten Blumen.

Jetzt herrschte der Vorfrühling. Man schrieb den ersten März, Krokus und Schneeglöckchen sah man schon auf den gepflegten Beeten, alle Büsche und Bäume hatten dicke Knospen, vorwitzige Blättchen zeigten sich schon hier und da, Sonne hatte sie aus der Hülle gelockt.

Jan van Straaten antwortete dem Frager nicht gleich, erst nach Minuten war seine leise Stimme da: „Ich lachte, weil du immer so geheimnisvoll mit deinem Zuhause tust, weil du mich noch niemals eingeladen hast, dich einmal zu besuchen. Ich glaube, du musst irgend etwas zu verbergen haben, was ich nicht sehen soll.“

Christian Jost antwortete mit zusammengezogenen Brauen: „Zu verbergen habe ich nichts, aber ich mag dich nicht mitschleppen in die alte Bude. Mein Vater ist nicht imstande, sich vorzustellen, dass man auch anderswo als in seiner mittelalterlichen Baracke leben kann, und ich bin von ihm abhängig.“

Jan van Straaten war klein und zierlich. Er war der Sohn eines holländischen Plantagenbesitzers aus Ostindien aus dessen Ehe mit einer dortigen Eingeborenen, einer Javanerin, und war äusserlich der Mutter nachgeschlagen. Er hatte in Heidelberg und Berlin studiert; jetzt besuchte er die Universität Frankfurt. Überall hörte er ein paar Halbjahre Rechtswissenschaft und lernte bei der Gelegenheit gleich Deutschland kennen. Auch in Holland hatte er schon studiert, nur aus Neigung, und weil er als Nachfolger seines sehr reichen Vaters etwas von Rechtsdingen der verschiedenen Länder verstehen wollte.

Wieder dauerte es geraume Zeit, bis Jan van Straaten Antwort gab.

Er lächelte, und seine etwas schräg stehenden Augen wurden dabei noch schräger.

„Christian Jost, du bist sehr töricht! Ich weiss ja, wo du wohnst, und ich habe es mir schon mehrmals angesehen, das Haus zu den Lilien. Wie erfüllt von tausend Geheimnissen ist die Luft eurer alten Gasse, und euer Haus steht besonders vornehm darin und zugleich bescheiden, als das eigenartigste Haus unter den anderen, als das geheimnisvollste. Du solltest mich einmal mit hineinnehmen, ich liebe alles Alte, liebe alles, was schon vor Jahrhunderten dagewesen. Kult müsstest du mit eurem Hause und eurer Familie treiben, statt dessen möchtest du am liebsten alles verleugnen.“

Christian Jost gab zögernd zurück: „Manchmal fühle ich so, wie du es richtig findest; aber dann schäme ich mich wieder, dann scheint mir unsere Gasse hässlich und unser Haus abscheulich, dann bedrückt mich die Luft, dann stört mich alles darin.“

„Nimm mich doch einmal mit zu dir, Christian“, bat der andere.

Christian Jost lachte ein bisschen gezwungen: „Wenn du durchaus willst, meinetwegen.“

„Lass mich gleich mit zu dir gehen“, bat Jan van Straaten weiter, „und stell mich deinem Vater vor, ich möchte doch gern den Vater meines besten deutschen Freundes kennenlernen.“

Meines besten deutschen Freundes! Das klang gut, und Christian Jost nahm es wohlgefällig auf. Es gefiel ihm, der beste Freund des interessanten Jan van Straaten zu sein.

In einer knappen Viertelstunde standen sie vor dem Haus zu den Lilien, vom Dome hatte es kurz zuvor sechs Uhr geschlagen. Eben trat Hans Weigand aus der Tür. Er grüsste und sagte zu seiner jungen Frau, die ihn an der nächsten Ecke erwartete: „Grad’ kam der junge Jost nach Hause mit einem Kerlchen, das aussah wie ein Hunne.“

Sie staunte: „Ein Hunne?“

„Na ja“, gab er zurück, „Hunnen waren ein früherer asiatischer Volksstamm. Kleine Kerle mit Schlitzaugen, breitem Maul und mit so scharfen Backenknochen, dass man sich daran verwunden konnte. Immer haben sie auf kleinen struppigen Pferden gesessen, und das rohe Fleisch, das sie vertilgen wollten, legten sie sich, um es mürbe zu reiten, als Sattel unter!“

„Aber mit so einem wird doch der Sohn deines Chefs nicht herumziehen!“ lachte die blutjunge Frau.

„Hunnen gibt’s ja wohl nicht mehr“, erklärte er, „aber irgendwie muss der kleine Kerl mit sowas noch verwandt sein.“

Jan van Straaten war inzwischen mit eingetreten in das Haus zu den Lilien, und seine braunen Augen suchten auf dem schmalen langen Flur umher, tasteten die Stufen der leicht gewundenen Treppe ab, die durch ein schön geschnitztes Geländer auffiel. Die Augen flitzten überall herum, als warteten sie auf das Erscheinen einer bestimmten Person.

Jan van Straaten war vor zwei Tagen um die gleiche Stunde zufällig an dem Hause zu den Lilien vorbeigegangen, und da hatte er ein blondes, schlankes Mädchen eintreten sehen, das seinem verwöhnten Geschmack zusagte. So sehr gefallen hatte sie ihm, dass er seitdem immer und immer an die Blonde hatte denken müssen.

Sein Interesse für das alte Haus war gleich Null, sein Interesse für die Blonde war gross.

Er wusste, Christian Jost besass keine Schwester; aber irgendwie musste die Blonde hierhergehören, denn er hatte drei Stunden auf ihr Wiedererscheinen gewartet.

Als hätte sein Wunsch, ihr zu begegnen, Kraft gehabt, tauchte eben in der vom Hofe in den Flur führenden Tür ein junges Mädchen auf. Blondes Haar schimmerte golden, flinke Füsse kamen näher, verhielten flüchtig den Schritt, als sie ganz nahe gekommen waren.

Ulla Utten grüsste, sagte kurz: „Ich möchte zu deinem Vater, Christian!“

Er nickte nur. „Ich weiss, ich weiss!“

„Willst du mich nicht vorstellen?“ mahnte Jan van Straaten.

Christian erwiderte lässig: „Selbstverständlich gern. Also Ulla: Dies ist mein Freund und Studiengenosse Jan van Straaten.“ Er legte seine Hand auf des anderen Arm. „Dich, lieber Jan, mache ich mit unserer Hausgenossin, Ulla Utten, bekannt.“ Es mischte sich leichte Ungeduld in seine Stimme. „Nun komm zuerst in mein Zimmer, Jan.“

Ulla hatte die tiefe Verbeugung des ihr Vorgestellten mit einem kurzen Neigen des Kopfes erwidert und schien nicht daran zu denken, ihm die Hand zu reichen. Sie verschwand hinter einer der Türen.

„Eine Stolze ist sie“, sagte Jan van Straaten hinter ihr her. Er sah zu Christian Jost auf. „Du liebst sie, nicht wahr?“

Christian Jost erschrak. Die Frage gefiel ihm nicht. Ja, es war schon einmal so gewesen, dass er an nichts anderes gedacht hatte als an Ulla Utten; aber jetzt hasste er sie, weil sie alles, was er tat, bemängelte, weil sie sich seinen Zukunftsplänen in den Weg zu stellen versuchte und ihn in den Beruf des Vaters hineindrängen wollte.

Drittes Kapitel

Frau Luise Utten hatte ihre Arbeit abgeliefert. Sie strickte für ein elegantes Geschäft in der Goethestrasse Wollkleider und Jumper. Sie befand sich auf dem Nachhausewege. Eigentlich hatte sie noch eine alte Freundin besuchen wollen, aber sie hatte diese nicht angetroffen.

Die Zeil, die Hauptverkehrsstrasse Frankfurts, strahlte schon im hellsten Licht, die Laternen brannten, und aus allen Schaufenstern strömte neuer Beleuchtungszufluss. Als Frau Utten in eine schmale, aber sehr belebte Seitenstrasse einbog, wurde sie von dem Glanz und Leuchten noch ein Stück des Weges begleitet; allmählich aber drängten sich Schatten vor, und nur noch ab und zu schob sich ein strahlend erleuchtetes Schaufenster ein; in dieser Gegend blieb der Abend Sieger.

Frau Utten sah den Dom vor sich, seine gewaltigen Umrisse wuchsen wie eine starke Festung des Glaubens zum Himmel auf, wie ein wunderbar ergreifendes Abendlied aus Stein.

Sie verhielt den Schritt, das Herz lag ihr heute seltsam schwer in der Brust. Mehr noch als sonst hatte sie seit dem frühen Morgen an ihren Mann denken müssen, und ihr armes Hirn wurde wundgerieben von der immer wiederkehrenden Frage: Wohin hatte sich ihr Mann gewandt, damals, vor zwanzig Jahren?

Sie seufzte und schritt weiter, bog in die Gasse ein, in der sie wohnte. Sie musste an dem Hause „Zum Hühnchen“ vorbei, und wie immer grüsste sie es mit jenem nie müde werdenden Sehnen, das sich an ein Glück anklammern wollte, das doch längst und jäh zu Ende gegangen.

Plötzlich erschrak sie bis ins Innerste, es war, als ob ihr Herzschlag aussetzte, und sie fühlte einen wilden Schrei in sich aufsteigen. Über die Lippen wollte er sich zwängen, alle Menschen wollte er zusammenrufen.

Sie presste die Rechte auf den Mund. Still musste sie sein, ganz still! Sie drängte sich mit dem Rücken gegen eine nahe Mauerecke und starrte hinüber nach dem Hause, darin sie einmal daheim gewesen. Vor dem Hause ging ein Mann auf und ab, ihre brennenden Augen verfolgten jede seiner Bewegungen. Er schien auf jemand zu warten. Und sie kannte den Mann. Er war einmal ihr Liebstes auf der Welt gewesen.

Da drüben sah sie ihren Mann, der sie vor zwanzig Jahren verlassen. Er war barhaupt und trug den gleichen alten Hausanzug, den er getragen, als er abschiedlos fortgegangen war in ein Rätseldasein hinein.

Sein Name lag auf ihren Lippen, sie wollte rufen und schwieg doch. Kein Aufsehen erregen auf der Strasse, nur nicht! Sie war doch seine Frau, konnte einfach hinübergehen zu ihm und fragen: Wo bist du so lange gewesen und auf wen wartest du hier? Ich wohne ja schon lange nicht mehr in dem alten Hause!

Es gab nicht viel Verkehr hier; aber es gingen um diese Stunde gleichwohl ständig Leute durch die Gasse.

Ein Mann zog einen Handwagen in der Richtung Domplatz; ein paar Stühle, die, übereinandergestellt, sich darauf befanden, hemmten flüchtig ihren Blick und ihren Fuss, und als der Handwagen vorüber war, war der Mann vor dem Hause „Zum Hühnchen“ verschwunden.

Luise Utten schaute nach rechts und links, doch sie sah ihn nicht mehr.

Sie dachte, er muss in das Haus hineingegangen sein, und drückte die Klinke der Eingangstür nieder. Ein enger Flur nahm sie auf, es roch muffig und staubig hier. Trübseliges Licht liess alle Ecken stockdunkel. Sie rief: „Hannes!“ Rief es einmal, rief es noch einmal. Eine nahe Tür öffnete sich, sie blickte in ein unfreundliches Männergesicht.

„Was wolle Sie denn, Frau“, fragte eine rauhe Stimme, „in dem Haus gibbt’s kaa Hannes!“ Sie antwortete nicht, rief nur noch lauter: „Hannes! Lieber Hannes!“

„Pscht, mache Sie net so e Gekreisch, sonst falle die armselig Mauere zusamme. Morge werd’ des letzt’ Gelump ausgeräumt wegen Baufälligkeit. Im Haus is deswege schon kaa Mensch mehr ausser mir, ich bin der Wächter!“

Luise Utten kannte die meisten Leute dieser Gasse und fast alle kannten sie; aber der Wächter war ein Fremder, der kannte sie nicht, und nicht die Geschichte ihres Leides und ihrer Not, der wusste nichts von Hannes Utten, ihrem Manne.

Sie erklärte: „Mein Mann ging vorhin vor dem ‚Hühnchen‘ auf und ab, er muss dann hier hineingegangen sein!“

„Was soll er denn in dem Spukkommodche, Frauche? Im Hühnche kann zeitlebens kaaner mehr e Schöppche petze.“

„Mein Mann muss hier im Hause sein“, wehrte sie ab und rief wieder, so laut sie nur konnte, „Hannes, Hannes!“

Der Wächter wurde sehr ärgerlich.

„Da soll doch gleich des Gewitter dreischlage, Sie saan narrisch, Frau!“ Sein Kopf verschwand, und eine Sekunde später trat der derbe grosse Wächter, mit einer Laterne bewaffnet, auf den Flur hinaus, dessen Steine zahlreiche Vertiefungen zeigten, die Spuren von den Tritten vieler Menschen seit drei Jahrhunderten.

Trotz seines brummigen Tones war der Wächter willig, er sagte: „Wanns net anners geht, wolle mer als mal de alt Barack durchstöbere, ob sich aaner eigeschliche hot.“

Er ging mit ihr von Raum zu Raum durch das ganze Haus, dessen Zimmer Luise Utten wohlbekannt waren. Tapetenfetzen hingen von den Wänden nieder, und ein paar kärgliche Möbelreste der letzten Bewohner standen noch umher; aber niemand hauste mehr in den Mauern, die einst ihr Glück umschlossen hatten.

Weder im unteren noch im oberen Stock fand man den Gesuchten, auch nicht im Hof oder in dem windschiefen Stalle.

Der immer wieder aufklingende Ruf „Hannes!“ verhallte überall ins Leere, nur ein paar Mäuse geisterten umher, und im Hofe zeigte sich ein auf Abenteuer ausgehender Kater.

Schliesslich stand man wieder im Eingangsflur, und der Wächter lachte verstimmt: „Unnütze Arbeit habbe Sie mir gemacht, Frau. Gehe Sie haam und warte Sie do uff Ihne Ihrn Mann, er werd schon komme!“

Sie schüttelte verwirrt und verzweifelt den Kopf.

„Ich warte doch schon so lange auf ihn, und nun habe ich ihn endlich gesehen und —“

Der Rest erstarb in Schluchzen.

Mitleidlos war der Wächter nicht, vor Frauentränen hatte er Angst.

Er klopfte Luise Utten auf die Schulter.

„Wer werd denn gleich flenne. Ihne Ihr Mann hot sicher noch ebbes zu schaffe. Vielleicht is er schon dahaam un wart’t uff Sie. Also los, Frauche, laafe Sie haam!“

Luise Uttens Schluchzen versiegte jäh. Die Worte leuchteten ihr ein.

Ihr Mann suchte sie!

Er hatte doch schon von aussen sehen können, dass in dem Hause „Zum Hühnchen“ niemand mehr wohnte. Er hatte inzwischen wahrscheinlich in der Nachbarschaft Erkundigungen nach ihr eingezogen und sass jetzt wohl längst im Hause zu den Lilien, erwartete sie voll Sehnsucht, während sie unnütz die Zeit verstreichen liess.

Sie machte kurz kehrt und eilte überhastig und ohne Dank davon.

Der Zurückgebliebene schüttelte den Kopf.

„Bei der scheint’s im Oberstübche net ganz in der Reih zu saan, mächt die e Gedäts von ihrem Hannes!“ brummte er ärgerlich, weil er kein Wort des Dankes erhalten, das er doch verdient.

Luise Utten eilte heim, das Haus zu den Lilien war ja nur wenige Schritte entfernt.

Sie ging über den Hof, und es war ihr, als sähe sie Licht hinter den Fensterläden ihrer Wohnung; aber als sie den Flur betrat, fand sie alles dunkel. Sie schaltete das Licht ein und blickte sich um wie ein Mensch, der Tagereisen hinter sich hat und nun ein Plätzchen sucht, wo er sich hinfallen lassen kann, um endlich auszuruhen.

Sie stöhnte laut auf und ihr Herz krampfte sich zusammen, ihr armer Kopf sass ihr ganz schwer auf den Schultern. Fassungslos stand sie dem Erlebten gegenüber. Sie hatte ihren Mann gesehen, war nur ein paar Meter von ihm entfernt gewesen, und nun schien doch alles zu sein wie vorher.

Sie sank auf einen Küchenstuhl nieder und atmete bedrückt. Ihre Gedanken arbeiteten ängstlich, und zugleich lauschte sie angestrengt hinaus, ob nicht ein Schritt auf den Hof käme. Sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Ihr Mann konnte beim Nachfragen aufgehalten worden sein, viele in der Gasse hatten ihn doch gekannt. Man würde ihn anstaunen, mit Fragen bedrängen. Trotzdem musste er bald hier sein, bald, bald.

So sass Luise Utten und wartete auf ihren Mann; aber anders als in den vielen Jahren wartete sie heute. Es stand eine nahe Gewissheit hinter ihrem Warten, sie hatte ihn ja schon gesehen.

Sie wartete und wartete. Zuweilen lächelte sie ein wehmütiges und doch hoffnungsvolles Lächeln. Es war das Lächeln einer Frau, deren Liebe niemals sterben kann.

Plötzlich beengte sie die Stille, sie ertrug das tiefe Schweigen um sich her nicht länger, es war, als habe man viele dicke Decken über sie geworfen.

Sie erhob sich, sie wollte zu Ulla, die sich gewiss wieder im Vorderhause bei Mathias Jost befand. Da war sie in den Abendstunden von jeher mehr daheim als hier.

Sie drehte das Licht aus und schlich die Treppen hinunter, das Knacken der alten Stufen störte sie. Ihre schon seit langem streikenden Nerven befanden sich in böser Verfassung! sie fühlte, wie sie zitterte, als sie über den Hof ging, und das Zittern verstärkte sich noch, als sie wieder auf die Gasse hinaustrat. Schräg gegenüber lag das Haus „Zum Hühnchen“, aber niemand stand davor. Sie hatte im Unterbewusstsein fast gehofft, ihren Mann wieder dort zu erblicken, wo sie ihn vorhin gesehen.

Ihr Denken ging unter in einem tollen Durcheinander, und wie eine, die sich auf der Flucht befindet, lief sie ein paar Schritte, riss die Tür des Uhrmacherlädchens auf und stürmte hinein. Sie musste anderen Menschen erzählen, was sie erlebt, musste fragen, was andere von dem merkwürdigen Betragen ihres plötzlich zurückgekehrten Mannes hielten.

Sie brauchte Verständnis, Trost, Rat und Hilfe, sie wurde nicht mehr allein fertig mit dem Übergrossen, was geschehen war.

Viertes Kapitel

Ulla sass in der Uhrmacherwerkstatt hinter dem kleinen Laden. Mathias Jost arbeitete nicht, sie hatte seinen Platz eingenommen, schaffte für ihn, und er sass im Lehnstuhl und gönnte seinen Augen Ruhe; sie ermüdeten ja immer so bald in diesem Raum, der auch tagsüber künstlich erhellt werden musste.

Ulla sagte: „Jemand erzählte mir, es soll schon in allernächster Zeit mit dem Abreissen meines Geburtshauses begonnen werden.“

Mathias Jost nickte. „Ich hörte es ebenfalls, und lange darf man auch nicht mehr damit warten, der eine Giebel neigt sich schon bedenklich.“

Ulla spürte ein Brennen hinter den Lidern.

„Armes altes Haus, das man zum Sterben verurteilt hat! Als Mutter vor Wochen die Neuigkeit mit heimbrachte, das Haus, das einmal ihr gehört hat, müsse wegen Baufälligkeit niedergelegt werden, weinte sie sehr und weinte noch viele Tage danach. Sie meinte, wenn der Vater nun heimkehre, würde er traurig sein, das alte Haus nicht mehr wiederzufinden, in dem er mit ihr so glücklich gewesen.“ Bitter setzte sie hinzu: „Als ob ihm etwas an allem läge, was er hier zurückgelassen! Was gilt einem, der sich wie ein Dieb davongemacht, so ein altes kaputtes Haus! Aber Mutter ist verstört und redet immer davon. Sie sagte, das Haus hätte noch lange Jahre Widerstand geleistet.“

Er tröstete: „Sie wird auch darüber wegkommen. Solche Abbrucharbeiten gehen verhältnismässig schnell, und wenn das Haus erst verschwunden sein wird, ist’s vielleicht sogar besser für sie. Die Erinnerung an all das, was für sie mit dem Hause zusammenhängt, wird matter werden.“

„Wollen es wenigstens hoffen!“ gab Ulla fast inbrüstig zurück; denn ihre ganze Jugend hatte, wenn sie es auch schon in frühester Kindheit verlassen, doch im Schatten des Hauses da drüben gestanden.

Draussen bimmelte die Ladentürklingel, und Mathias Jost ging hinaus. Ein alter Kunde brachte eine verbesserungsbedürftige Uhr und hielt ihn lange auf. Endlich konnte er zu Ulla zurückkehren.