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Und sie bewegt sich doch! E-Book

Horst Evers

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Beschreibung

Sie wird von der Politik kaputtgespart und gleichzeitig als Klimaretter gepriesen, und vielleicht teilen wir ja alle dieses sonderbare Verhältnis zwischen Geringschätzung und Zuneigung, wenn es um dieses gute alte Verkehrsmittel geht: die Bahn. Wer hätte nicht schon geflucht, wenn sie mal wieder Nena-Style fährt (irgendwo, irgendwie, irgendwann) oder uns mangels erreichbarer Anschlusszüge in Elsterwerda übernachten lässt? Und wer fühlte, andererseits, nicht auch tiefe Verbundenheit, sei es aus Gründen des Komforts (alles nichts gegen eine Flugreise vom Berliner BER) oder der Nostalgie (Klassenfahrt im Nachtzug)? Vor allem aber ist die Bahn einer der allerletzten Orte, an dem alle Milieus, Klassen, Stile und Weltanschauungen ganz hart und direkt aufeinandertreffen. Wo sonst erlebt man heute noch so viele unvermutete Begegnungen, mit Leuten, die man nie kennenlernen wollte, und Personen, deren Intimstes man schutzlos erfährt – aber auch zauberhafte Momente mit besonderen, gar reizvollen Menschen? Von alldem lässt sich wunderbar erzählen, und das tun in diesem Buch Autorinnen und Autoren auf herrlich komische Weise. Ein Buch voller Geschichten, die man nicht erfinden könnte – Geschichten, wie sie nur die Bahn schreibt.

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Seitenzahl: 267

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Horst Evers • Cordula Stratmann • Dietmar Wischmeyer u.a.

Und sie bewegt sich doch!

Bahngeschichten

 

 

 

Über dieses Buch

Sie wird von der Politik kaputtgespart und gleichzeitig als Klimaretter gepriesen, und vielleicht teilen wir ja alle dieses sonderbare Verhältnis zwischen Geringschätzung und Zuneigung, wenn es um dieses gute alte Verkehrsmittel geht: die Bahn. Wer hätte nicht schon geflucht, wenn sie mal wieder Nena-Style fährt (irgendwo, irgendwie, irgendwann) oder uns mangels erreichbarer Anschlusszüge in Elsterwerda übernachten lässt? Und wer fühlte, andererseits, nicht auch tiefe Verbundenheit, sei es aus Gründen des Komforts (alles nichts gegen eine Flugreise vom Berliner BER) oder der Nostalgie (Klassenfahrt im Nachtzug)? Vor allem aber ist die Bahn einer der allerletzten Orte, an denen alle Milieus, Klassen, Stile und Weltanschauungen ganz hart und direkt aufeinandertreffen. Wo sonst erlebt man heute noch so viele unvermutete Begegnungen, mit Leuten, die man nie kennenlernen wollte, und Personen, deren Intimstes man schutzlos erfährt – aber auch zauberhafte Momente mit besonderen, gar reizvollen Menschen?

Von alldem lässt sich wunderbar erzählen, und das tun in diesem Buch Autorinnen und Autoren auf herrlich komische Weise. Ein Buch voller Geschichten, die man nicht erfinden könnte – Geschichten, wie sie nur die Bahn schreibt.

Vita

Mit Geschichten von Horst Evers, Cordula Stratmann, Dietmar Wischmeyer, Christine Prayon, Dennis Gastmann, Barbara Ruscher, Jörg Thadeusz, Renate Bergmann, Johann König, Lea Streisand, Juan Moreno, Fil, Katrin Seddig, Steffen Kopetzky, Helene Bockhorst, Matthias Egersdörfer, Bernd Eilert, Kirsten Fuchs, Stefan Schwarz, Lisa Catena, Oliver Maria Schmitt und Paula Irmschler und Hans Zippert.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Illustration im Innenteil Priya Mistry 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Frank Ortmann, nach einem Entwurf von Coco Meurer

Coverabbildung Priya Mistry

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01644-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Planmäßig ist hier nur die Überraschung:Erlebnisse

Horst EversDer Vorfall

Es gibt eine Zeit vor dem Bandscheibenvorfall und eine Zeit nach dem Bandscheibenvorfall.

Sagt meine Physiotherapeutin. Bis zum Vorfall verbraucht man zumeist sorglos einen an sich üppigen Bandscheibenkredit. Nach dem Vorfall jedoch muss man diesen zurückzahlen. Mit Zinsen. Für den Rest des Lebens. Die Zinsen sind in diesem Falle die täglichen Rückenübungen. Dazu sonstige große Umsicht und gewissenhaftes Körperbewusstsein bei allen Dreh- und Hebebewegungen. Natürlich werde nicht sofort bei jedem kleinen Verstoß wieder unbedingt ein neuer Vorfall ausgelöst. Jedoch habe man nun so etwas wie einen Bandscheiben-Schufa-Eintrag, der eine neuerliche Kreditaufnahme bei der Rückenmuskulatur sehr schwierig mache, wenn nicht gar ausschließe.

Seit meine Physiotherapeutin sich selbstständig gemacht hat und dazu viele lange Gespräche mit ihrem Bankberater führen musste, haben ihre Metaphern gelitten. Finde ich zumindest.

 

Dennoch hat sie mir irgendwann erlaubt, wieder mit der Bahn auf Tournee zu gehen. Allerdings unter der Voraussetzung, dass mein Koffer weniger als zehn Kilo wiegt und ich ihn mir immer von anderen Reisenden in den Zug rein- und wieder rausheben lasse.

Seitdem hat sich mein Blick auf fremde Menschen verändert. Im Wesentlichen unterteile ich sie nun in zwei Gruppen: «könnte meinen Koffer tragen» und «könnte meinen Koffer nicht tragen». Wobei es bei der Gruppe «könnte meinen Koffer tragen» natürlich noch weitere Differenzierungen gibt. Beispielsweise in puncto: Wie groß ist das Risiko, dass der- oder diejenige, welche man bittet, mich womöglich in ein Gespräch verwickelt? Es könnte eines von unvorhersehbarer Länge sein. Welches ich dann schlecht ablehnen kann, da der- oder diejenige schließlich meinen Koffer getragen hat. Wahrscheinlich fahren wir ja im selben Zug. Das kann also eine lange gemeinsame Zeit werden. Denn als jemand, der die Bahn sehr mag und viel fährt, weiß ich eben auch: Die Bahn ist sehr viel besser als ihr Ruf. Ganz häufig bekommt man von ihr noch sehr viel mehr Fahrzeit dazu, als einem eigentlich zusteht.

 

«Bandscheibe!», jubiliert der Mann, den ich am Berliner Hauptbahnhof nach langem Abwägen endlich angesprochen hatte. «Das ist keine schöne Sache!»

Beherzt greift er sich meinen Koffer. Schon an der Art, wie er dies tut, erkenne ich, dass meine Wahl keine weise war. Er würde mein Gepäck wohl erst wieder loslassen, wenn er alles gesagt hätte, was ihm zum Thema Bandscheibe sowie auch zu allen anderen mehr oder weniger verwandten Belangen durch den Kopf ging. Dabei spricht er jeden einzelnen Satz wie einen Triumph: «Aber machen Sie sich mal keine Gedanken! So einen Vorfall! Den haben ja heutzutage oft auch schon Junge! Gesunde! Ganz fitte Menschen!» Womit er mich offensichtlich trösten will. Also mit der Aufzählung von Beschreibungen, die seines Erachtens auf mich wohl nicht mehr zutreffen. «Auch ganz normale Menschen haben das! Ich habe einen Kollegen!», begeistert er sich weiter selbst. «Der ist bestimmt zehn Jahre jünger als Sie! Macht jeden Tag Sport! Und hatte schon drei Bandscheibenvorfälle! Ist einfach so! Da steckt man nicht drin!»

Der Rhythmus seiner Sprache fasziniert mich. Ein Leben in Ausrufezeichen. Warum eigentlich nicht? Die gefühlte Lebensqualität erhöht es wahrscheinlich schon. Werden doch so vermutlich selbst die profansten Dinge und Neuigkeiten zum Ereignis:

«Oh! Frühstück! Wie schön! Ich habe Hunger! Das trifft sich gut! Vielleicht ein Ei! Ja! Ein Ei! Das esse ich doch häufig gern! Das schmeckt mir! Mmmh! Lecker! Das muss ich später meinem Kollegen erzählen! Auf Arbeit! Ich habe einen Kollegen! Der wird staunen! Wenn ich! Ihm von meinem Ei! Erzähle!»

Fühlt sich toll an. Je mehr ich über diese Art des Redens nachdenke, desto besser gefällt sie mir. Womöglich probiere ich das demnächst auch mal aus.

Meinen Koffer jedoch trägt und verstaut der Mann wirklich souverän. Er findet für ihn sogar einen ebenerdigen Gepäckplatz im Waggon. Wodurch ich ihn später ohne fremde Hilfe wieder greifen kann. Das passt mir. Allerdings stellt sich auch heraus, dass wir tatsächlich Plätze am selben Tisch reserviert haben. Genau gegenüber. Er freut sich.

«Oh! Wie schön! Wir sitzen zusammen! So ein Glück! Warten Sie! Dann kann ich Ihnen gleich mal Fotos zeigen! Von meinem Kollegen! Der sieht Ihnen sogar ein bisschen ähnlich!»

Schaue mir, warum auch immer, die Fotos seines Kollegen an. Denke spontan: wie, «ähnlich»? Also wenn das «ähnlich» ist, möchte ich aber anders aussehen. Was denkt der sich eigentlich? Das ist nun wirklich nicht das «ähnlich», das ich mir für mein Gesicht vorgestellt habe. Sage aber nichts, sondern lächle nur kommunikativ.

Dem Mann reicht das als Gespräch. Er redet munter weiter: «Sieht man jetzt natürlich nicht! Also die Bandscheibenvorfälle! Auf den Fotos! Da sieht man sie nicht! Obwohl! Wenn man genau guckt! Nee! Ich glaub nicht!»

Während er sein Handy offen vor uns hinlegt und auf den Fotos nach Indizien für die Bandscheibenvorfälle sucht, schaue ich zur Seite. Die junge Frau neben mir guckt eine Serie. Offensichtlich «Better Call Saul». Trotzdem scheint mir die Handlung fremd. Oh Gott, das ist die letzte Staffel. Die habe ich noch nicht gesehen. Die haben wir uns aufgehoben, um sie mit der ganzen Familie zusammen vor Weihnachten zu schauen. Wie soll ich es denn schaffen, bis Frankfurt nie zur Seite auf ihren Bildschirm zu blicken? Das geht doch gar nicht. Zumal der Mann vor uns jeden Blick nach vorne, zu ihm, als Gesprächsangebot wertet. Wie jetzt auch.

«Ja! Man sieht sie nicht! Die Bandscheibenvorfälle! Auf den Fotos! Schade! Aber ich mache mal ein Foto von Ihnen! Und schick das meinem Kollegen! Der wird auch staunen! Wie ähnlich Sie sich sehen!»

Bin zu perplex, um zu protestieren. Er tippt noch eine längere Nachricht, ehe er das Foto abschickt. Dann legt er das Handy zurück, offen auf den Tisch, und verabschiedet sich zur Toilette. Ich nutze die Pause, um die junge Frau neben mir anzusprechen. Etwas unwillig stoppt sie die Serie und nimmt einen Kopfhörer raus, um mich besser verstehen zu können. Dann ist sie aber sehr nett. Ich erkläre ihr meine «Better Call Saul»-Problematik. Sie hat Verständnis, aber keine Lust, was anderes zu gucken. Schlägt stattdessen vor: «Wollen Sie sich nicht lieber weiter auf die vielen Fotos konzentrieren, die Ihr Freund von Ihnen gemacht hat?»

Ich bin verwirrt. Dann kapiere ich. «Oh, das ist nicht mein Freund. Und das auf den Fotos bin auch nicht ich, sondern ein Kollege von ihm.»

«Echt? Boah, Sie sehen dem aber total ähnlich, was?»

Sie schaut noch mal genauer auf das letzte Foto des Kollegen, das noch auf dem Handydisplay leuchtet. «Sagen Sie, kann das sein, dass der kürzlich einen oder mehrere Bandscheibenvorfälle hatte?»

«Ach. Woran sehen Sie das denn?»

«Ich bin Physiotherapeutin.»

«Ist das eine Begründung?»

«Nein, ein Beruf.»

Lächelnd steckt sie den Kopfhörer wieder ins Ohr und lässt ihre Folge weiterlaufen. Bevor ich beleidigt sein kann, antwortet der Kollege. Auf dem Sperrbildschirm erscheint seine Antwort:

«Hallo Jörg, dolle Geschichte mit dem Bandscheibenmann! Obwohl ich echt nicht finde, dass wir uns irgendwie ähnlich sehen. Aber egal. Ich schicke dir gleich mal eine Reihe von richtig guten Übungen nach so einem Vorfall. Kannste ihm ja vielleicht alle mal zeigen und mit ihm durchsprechen. Habt ihr was zu tun auf der langen Zugfahrt!»

Mir bricht der kalte Schweiß aus. Schaue entsetzt zur Seite und sehe, wie eine der Hauptpersonen aus der Serie stirbt. Gerate in Panik. Als der Mann zurückkommt, springe ich auf. Höre mich zu meiner eigenen Überraschung sagen: «Sooo, gleich Wolfsburg. Da muss ich dann ja raus!»

Er ist mindestens so verblüfft wie ich über meinen Satz: «Wolfsburg! Hatten Sie nicht Frankfurt gesagt! Ursprünglich!»

«Hatte ich? Ach, Wolfsburg, Frankfurt … Wo ist da der Unterschied? Zeigen Sie mir einen Menschen auf der Welt, der diese beiden Städte nicht ständig verwechselt!»

«Na, ich zum Beispiel!»

«Echt? Das freut mich. Die junge Frau hier ist übrigens Physiotherapeutin. Nur falls Sie mit ihr über die Bandscheibenvorfälle Ihres Kollegen sprechen wollen.»

Mit diesen Worten laufe ich zu meinem Rollkoffer, und schon mache ich mich damit vom Acker. Ich muss einfach nur vier, fünf Waggons zwischen uns bringen, mir dort einen freien Platz und dann in Frankfurt jemand anderes suchen, der meinen Koffer aus dem Zug hebt. Das sollte ja wohl nicht so schwierig sein.

 

Als der Zug in Wolfsburg einrollt, bin ich noch auf dem Weg, aber ich beschließe, an einer Tür zu warten. Um dort, wenn die geöffnet ist, kurz draußen, ohne Maske, ein paar tiefe Züge frischer Luft zu nehmen. Doch dann geschieht es.

Während die Tür sich öffnet, erblicke ich auf dem Bahnsteig eine sehr feine, aber doch auch schon etwas gebrechliche ältere Dame. Sie strahlt mich an. Ruft:

«Oh, thank god! Would you please help me with my luggage?»

Freudig und erwartungsvoll zeigt sie auf ihren erstaunlich großen Koffer. Bin starr vor Schreck. Kriege nichts anderes raus als: «No!»

Sie wirkt ungläubig. Ruft: «What?»

«I can’t.»

«But why? You are a big strong man. Please help me. I really have to get this train.»

Das Entsetzen in ihrem Blick scheint zu Wut zu werden.

«No. I can’t. I have a … a … a …, na, hier … a Bandscheibenvorfall!»

«What?»

Überlege verzweifelt, was der englische Begriff für mein Leiden sein könnte. Trete aus dem Zug und zeige hilflos auf meinen unteren Rücken. «Big trouble in my lower back. You know? Bandscheibenvorfall.»

«What?»

Sie greift meine Hand und versucht, sie zum Griff ihres Koffers zu ziehen. «Come on!»

«No. I have Bandscheibenvorfall … Äh, how to say, a Tape-Disc-Incident!»

Sie starrt mich ratlos an und zerrt weiter an der Hand. Mit Tränen in den Augen versuche ich zu erklären: «Tape-Disc-Incident! Bad Back!»

Da werde ich plötzlich zur Seite geschoben und höre eine mir wohlbekannte Stimme.

«Da sind Sie ja! Mensch! Fällt mir plötzlich ein! Sie brauchen mich ja! Zum Koffer-aus-dem-Zug-Heben! Wieso sind Sie denn so weit gelaufen! Hätte Sie fast nicht gefunden!»

In Sekunden wuchtet er meinen Koffer aus dem ICE und trägt auf dem Rückweg das schwere Gepäck der englischsprachigen Dame in den Waggon. «Disc prolapse!», erklärt er nebenbei der Frau und zeigt auf mich. «My colleague! Had even three of them! I can show you fotos! Even normal people get this!»

Dann schließt sich die Tür. Beide winken mir noch freundlich zu, als der Zug schließlich abfährt und ich mit meinem Koffer auf dem Bahnsteig in Wolfsburg zurückbleibe.

Na ja, so hatte ich immerhin mal Zeit, mir in Ruhe einen neuen Träger für den nächsten Zug zu suchen und vorsichtshalber schon mal «Bandscheibenvorfall» in weiteren verschiedenen Sprachen zu googeln. Man weiß ja nie.

Kirsten FuchsWas sagt man da?

Ich hab es mir schon tausendmal gesagt: «Setz dich nicht in so ein Sechserabteil!». Und wer setzt sich auf der Fahrt nach Freiburg prompt wieder ins Sechserabteil?

Ich schiebe die Tür auf, frage: «Ist hier noch frei?» – «Ja, hier ist noch frei», höre ich, und ich bin in der Falle. Schiebetür zu.

In dem Sechserabteil sind mit mir nur drei Plätze besetzt. Eine Jacke wird von einem Sitz genommen. Ein Platz am Gang wird für mich freigeräumt. Ich lehne mich zurück und hole mein Buch raus. Sechs Stunden lesen. Ah!

Aber im Sechserabteil kann man nicht sechs Stunden lesen, auch wenn nur drei Menschen drin sind. Die beiden Fensterplätze sind besetzt von allein reisenden Kindern, die Karten spielen, dann Schiffe versenken, dazu hören sie Radio und singen mit. Das ist alles herzerweichend süß, aber lesen kann ich dabei nicht.

Nachdem ich dreimal versucht habe, dieselbe Seite zu erfassen, während ich sie lese, immer wieder abgelenkt von «D5? Treffer … D6? Wasser», steigt in Spandau eine junge Familie ein.

«Ist hier noch frei?»

Natürlich ist hier noch frei, nicken wir.

Die Mutter bittet mich, mit ihr den Platz zu tauschen, damit das junge dreifaltige Glück sich gegenübersitzen kann.

«Natürlich! Kein Problem.»

Ich sitze jetzt zwischen Rabea, acht, und der Mutter mit dem Kleinkind Marta auf dem Schoß, welches sich rasend für Rabea interessiert und darum geschwind über mich drüberkrabbelt.

«Ach, die Marta, die zerreißt so gerne was», lacht Martas Mama.

Rabeas Zöpfe kann man nicht zerreißen. Marta hat wieder was gelernt. Aber die Seiten eines Buchs kann man zerreißen. Martas Äuglein funkeln unternehmungslustig. Ich versuche, das Buch mit ausgestreckten Armen über meinem Kopf weiterzulesen.

Irgendwann beginnt die junge Mutter, ihre Mutterqualitäten an den allein reisenden Kindern auszuprobieren. In langsamem Ton fragt sie die eigentlich ganz pfiffigen Kinder totalen Tantenquatsch. Welche Klasse sie sind? Ob sie gut in der Schule sind? Was sie mal werden wollen? Dazwischen sagt sie: «Wenn du nicht willst, dass die Marta die Karten runterwirft, dann musst du sie ihr wegnehmen.»

Marta ist mit ihrem Mörder-Klammerreflex dem sechsjährigen Joschi haushoch überlegen. Beide zerren an den Karten. Marta sieht dabei so niedlich aus, dass man ihr unmöglich einfach eine klatschen kann. Armer Joschi.

«Hast du denn noch jüngere Geschwister?», fragt ihn die junge Mutter, als wäre Joschi zu blöd, Marta zu erziehen, was genau genommen ihre Aufgabe ist.

Marta, das flinkmobile Kleinkind, interessiert sich inzwischen für Rabeas Rucksack.

«Ja, den möchtest du gerne auspacken, nicht?», kommentiert die Mutter, bleibt aber sonst passiv. «Wenn die Marta das nicht soll, dann musst du ihr das sagen, ja?»

Ich verstehe nicht, warum sie nicht selber ihrem Kind sagen kann, was es soll und was nicht. Eigentlich sollte das eigene Kind nie die Tasche anderer Leute ausräumen.

Marta findet viel schönes Spielzeug in dem Rucksack, und sie beginnt, fröhlich Spuckeblasen glucksend, unter meinem Sitz zu spielen. Die jungen Eltern scheinen für ihr klebriges Kind kein Spielzeug eingepackt zu haben. Vielleicht haben sie extra nach allein reisenden Kindern Ausschau gehalten, die sich nicht dagegen wehren können, wenn ein Ganz-frisch-auf-der-Welt ihre Tasche ausräumt.

Marta zerbricht eine dieser Spielzeugfiguren, die immer in so Verpackungen sind, auf denen steht: «Für Kinder unter drei Jahren nicht geeignet.»

Die junge Mutter sagt: «Oh, Marta, was sagt man da?»

Marta kann noch gar nichts sagen. Alles, was sie sagt, ist Spucke. Die Mutter tätschelt dem kleinen Wunder den Kopf, wozu sie mir einfach mal zwischen den Beinen durchfasst. Ja, was sagt man da? Da sagt man eigentlich vorher: «Zu mir oder zu dir?» Genau!

«Entschuldigung sagt man da, nicht, Marta?»

Marta steckt sich Puzzleteile in den Mund und weicht die Ecken auf. Schön, am Ende wird jedes Puzzleteil an jedes Puzzleteil passen.

Die allein reisenden Kinder versichern, dass die zerbrochene Spielzeugfigur nicht wichtig war. Ach, sie sind so gut erzogen! Deshalb müssen sie auch nicht von fremden Müttern im Zug erzogen werden, was die junge Frau aber nicht davon abhält, ihnen zu sagen, dass die Schule wichtig ist, dass sie auch mal so klein waren wie die Marta und dass man Schiffe versenken ganz anders spielt.

Wer sich jetzt fragt, auf welche Art und Weise der junge Vater die ganze Zeit über handelt, der fragt sich das zu Recht, und ich will es nicht verschweigen. Der junge Vater ist kein Handlungsreisender. Er handelt nicht. Er hat sich meine Zeitung geborgt und liest.

Ich frage mich, was Jung-Mama und Jung-Papa in ihren großen Taschen haben, die die Ablage über unseren Köpfen belegen, und was in den beiden Koffern ist, die im Gang stehen. Kein Spielzeug für das Kind! Und nichts zu lesen! Und nichts zu essen, wie ich in Wolfsburg erfahre!

In Wolfsburg steigt eine alte blinde Frau ein, und ich habe mir das nicht ausgedacht. Hätte ich mir etwas ausgedacht, wäre es was ganz anderes gewesen: ein völlig leerer Zug, in dem ich in Ruhe lesen kann.

Die blinde Frau versucht, die Schiebetür aufzuziehen, die aber schon offen ist. «Ist hier noch was frei?»

Die junge Mutter ist sich nicht sicher, ob noch was frei ist, denn der eine freie Sitz ist ja Martas Sitz, die aber noch nicht einmal darauf gesessen hat. «Wir können die Kleine ja auf den Schoß nehmen!», sagt sie mit der Güte, die man eben hat, wenn einem der ganze Zug gehört.

«Das ist nett von Ihnen», sagt die blinde Frau, und der Mutti ihr Gesicht, das kleine, stets freundliche, sieht aus wie: «Ja, nicht wahr? So bin ich!»

Die blinde Frau setzt sich neben den Mann hinter meiner Zeitung und gegenüber der Frau von dem Mann hinter meiner Zeitung.

Ach, die blinde Frau hat es nicht leicht, sie isst sonst zu festen Zeiten, sagt sie, und jetzt ist sie schon eine Stunde über der Mittagszeit. Ich reiche ihr erst ihren Beutel, dann ihren Koffer, aus dem sie erst was zu trinken und dann was zu essen holt. Ausgehungert mampft sie eine belegte Stulle in sich hinein.

Der junge Vater sagt, sie hätten gar nichts zu essen mit, und er bekommt etwas zu essen ab.

Seine Frau fragt nicht: «Was sagt man da?»

Ihr Mann sagt: «Oh, Mettwurst!»

Genau, man sagt: «Oh, Mettwurst», wenn blinde alte Frauen einem Essen schenken. Die Frau schlingt so hastig, dass sie sich verschluckt, und als wäre es nicht harte Prüfung genug, blind zu sein, erst eine Stunde nach der Mittagszeit zu essen und sich zu verschlucken, bekommt sie ohne Vorankündigung von der jungen hilfsbereiten Mutter tüchtig auf den Rücken geklopft.

Mutti ist dafür extra aufgestanden. Wirklich bemerkenswert aufmerksam … außer, wenn es ihre kleine Marta betrifft, die wie ein Äffchen an mir raufkrabbelt, um die Brille aus meinem Gesicht zu entfernen.

Ich halte jetzt mein Buch in der einen Hand, meine Brille in der anderen Hand mit zwei ausgestreckten Armen über meinen Kopf. So kann ich nicht lesen. Das Buch ist zu weit weg von meinen Augen und die Brille ebenso.

Marta prüft, ob meine Nase fest sitzt oder ob man sie wie die Brille einfach abnehmen kann.

Ich puste Marta abwehrend ins Gesicht.

Sie lacht blubbernd.

Der junge Vater hinter meiner Zeitung, das Brötchen einer blinden Frau kauend, bekommt davon gar nichts mit, und seine Lebensgefährtin drischt auf die blinde Frau ein, weshalb sie keine Zeit hat, mir die Marta vom Bein zu pflücken.

Aus Mitleid rasselt Rabea mit einer Keksdose und lockt so das aufgeweckte Kind von mir runter.

Ich schaue Rabea dankbar an.

Marta taumelt auf das verlockende Rasseln zu. Rabea wirft die rasselnde Keksdose zu Joschi. Marta ändert sofort ungelenk die Richtung. Joschis Augen werden ganz groß. Er macht das einzig Richtige, indem er die Keksdose in Richtung der jungen Mutter wirft, damit ihr Kind endlich zu ihr geht.

Die junge Mutter hört einen Moment auf, der blinden Frau die Krümel aus dem Hals zu schlagen, woraufhin die blinde Frau erleichtert aufatmet, sich verschluckt und sofort wieder hustet. Die junge Mutter waltet weiter ihres Amtes, in das sie niemand erhoben hat, und klopft der blinden Frau den Rücken wie einen Teppich aus. Dabei sagt sie streng: «Die Marta darf keine Kekse essen. Der Zucker macht sie zu aufgedreht. Man darf doch fremden Kindern keine Süßigkeiten geben.» Sie kickt die Keksdose zum jungen Vater rüber und zischt: «Du kannst dich auch mal um das Kind kümmern.»

Der junge Vater löst die Situation behend, er hebt die Keksdose auf und fängt an, die Kekse in sich hineinzufressen.

Die allein reisenden Kinder machen lange Gesichter, so lange Gesichter hat nicht mal Edvard Munch gemalt.

Wie das Licht am Ende des Tunnels erklingt die Stimme des Getränkemanns, der sich durch den Gang kämpft: «Cola, Kaffee, Tee, Wasser, Süßigkeiten.»

Ich würde mir am liebsten gleich alles davon kaufen und suche mein Geld zusammen.

Die allein reisenden Kinder klimpern ebenfalls ihre Münzen durch.

Marta spitzt die Ohren und arbeitet sich Schritt für Schritt in die klimpernde Richtung vor.

Der Getränkemann bleibt kurz vor unserem Sechserabteil mit seinem Wagen an den zwei Koffern im Gang hängen. Er ruckelt und poltert und schrammt lautstark an den beiden hinderlichen Koffern vorbei, woraufhin das keksverkrümelte Gesicht des Vaters hinter der Zeitung auftaucht und die junge Mutter endlich aufhört, die blinde Frau auszuklopfen. Das Elternpaar sieht sich pikiert an. Frechheit, wirklich! Ihre Koffer wurden berührt.

«Also, was sagt man da?», plustert sich Martas Mutti auf.

Von allen Geschehnissen, denen ich auf dieser Reise bisher beisitzen durfte, empfinde ich dieses am allerwenigsten als eine Frechheit, aber egal, gleich hab ich Kaffee. Alles wird gut. Ich werde Marta davon etwas abgeben und mach mich dann aus dem Staub. Ich kichere voller Vorfreude.

Als der Getränkemann die Schiebetür aufbekommen hat, wobei erneut einer der großen Koffer in Mitleidenschaft gezogen wurde, kommt er nicht dazu zu fragen, ob hier jemand vielleicht einen …

«NEIN!», sagt die junge Mutter.

Ich wünschte, Marta wäre auch Getränkeverkäufer, zu denen kann die Frau ja streng sein.

Der Getränkemann zischt sofort ab.

Die Gesichter der Kinder zerfließen geradezu, und ich will eigentlich auch nur noch heulen. Mein Kaffee. Da geht er hin.

Marta grapscht Rabea das Geld aus der Hand und flüchtet damit unter meinen Sitz. «Was sagt man da?», würde ich gerne die junge Mutter fragen, und sie hat ja gerade bewiesen, dass sie es sagen kann: «NEIN!»

Die blinde Frau fragt: «Ist der Getränkemann schon weg?»

«Soll ich Ihnen etwas holen?», biete ich mich an. Oh, bitte, Freigang!

«Also, das können ja nun wirklich die Kinder mal machen!», findet die junge Mutter. «Wenn ihr das Geld von der Marta wiederhaben wollt, müsst ihr ihr das wegnehmen, nicht?»

Die blinde Frau sagt: «Nein, nein, ich hole mir mein Getränk schon selber.» Sie tastet sich aus dem Sechserabteil und schlurft mit Sack und Pack in die falsche Richtung.

Sicher taucht die nicht wieder auf. Ich sehe ihrem fusselig geklopften Angorapulli hinterher. Auf den freien Sitz legt der junge Vater erschöpft seine Füße ab.

Jaja, ich weiß schon, wenn Sie nicht wollen, dass mein Mann seine Füße da hinlegt, dann müssen Sie ihm das sagen.

«Bis wohin fahrt ihr denn noch?», frage ich Joschi und Rabea flüsternd.

«Nächste Station», flüstern sie zurück.

«Kann ich euch alleinlassen?»

Sie nicken tapfer.

Ich stecke das Buch weg und verkünde: «Ich gehe ins Bordrestaurant, was essen.» Ich will nicht, dass einer dieser Leseverhinderer denkt, ich würde seinetwegen oder vor allem seinetwegen das Weite suchen.

Die allein reisenden Kinder schauen mir traurig hinterher. Die junge Mutter sagt: «Jetzt können unsere Koffer endlich ins Abteil.»

«Dann haben wir ja alle was davon», sage ich, und das klingt so nett und ist es gar nicht. «Schöne Reise noch!» Ach, wir sind alle immer zu nett.

Aber was würde ich für langweilige Geschichten schreiben, wenn ich im wirklichen Leben in der Lage wäre, solche Situationen schnell zu beenden? Wenn ich darin gut wäre, würde ich vielleicht gar nicht schreiben, weil ich dann nicht immer alles verarbeiten müsste, was ich so beobachtet habe.

«Was sagt man da?»

Da sagt man eben nichts. Da schreibt man was.

Die restliche Fahrt war übrigens total öde. Ich hab nur gelesen.

Barbara RuscherAchtsamkeit im IC

Alle hatten mich gewarnt. Tu es nicht, du wirst es bereuen, sagten sie. Du wirst dein ganzes Leben lang Wunden lecken, sagten sie. Nachbarn, Geschwister, Freunde. Sogar der Bofrost-Mann drückte mir mitleidig sein Schlemmerfilet Bordelaise in die Hand. «Stärken Sie sich vorher noch einmal», sagte er sorgenvoll, «wer weiß, wann es wieder was gibt», und entschwand mit seiner frostigen Eisbein-Kutsche im Nebel eines düsteren Herbsttages.

Doch ich war bereit. Für eine fünfstündige Fahrt mit der Deutschen Bahn, was sollte da schon passieren. Alles nichts gegen eine Autofahrt mit meinen pubertierenden Kindern. Eine herrlich ruhige Bahnfahrt ohne nervige Geräusche von Ballerspielen, ohne Puma-Gerüche und ohne Dauertelefonate mit Töchterchens Busenfreundin Cheyenne-Nofretete.

Wir wollten von Köln an die Nordseeküste, und mein Lebensgefährte fuhr mit den Kindern lieber im Auto, während ich schön entspannt in der Bahn sitzen würde, lesend, schlafend, über das Leben sinnierend, vielleicht wäre sogar ein netter Plausch mit den Sitznachbarn über die artgerechte Haltung von Chinchillas drin. Gerade hatte ich ein dreiwöchiges Mental-Health-Coaching hinter mir und gelernt: Wenn man frühzeitig freundlich auf die Leute zugeht, erntet man ebenfalls Freundlichkeit.

Happiness is a warm gun.

Plausibel gemacht hatte ich meiner Familie das getrennte Reisen, indem ich vorgab, ich müsse noch einen Text für den Verlag schreiben. Das Thema seien Erlebnisse auf einer Zugreise, und wo könne man so etwas besser verfassen als in einem Zugabteil der Deutschen Bahn. Ich gäbe mir halt richtig Mühe, so authentisch wie möglich zu schreiben, sagte ich überzeugend, die Recherche sei quasi eins zu eins.

Zwar hatte man mir schlimme Geschichten erzählt, von Unpünktlichkeit der ICEs und ICs bis hin zu Zugausfällen, Schienenersatzverkehr mit Umwegen über Orte wie Wolfenbüttel, Kathmandu, Phnom Penh und Helms Klamm, von Reisenden, die im Zug übel riechendes Zeug essen, und Durchsagen vom Bahnpersonal in nicht identifizierbaren Sprachen. «Tschänk juu for drävveling wiss deutschä Bahn» sei da noch das Verständlichste von allem.

Es sei schrecklich, sagten sie, die 1. Klasse vollgestopft mit Geschäftsreisenden, die ununterbrochen in der Lautstärke eines Rammstein-Konzerts telefonierten, Gruppen von kreischenden Weinfestbesucherinnen, die im Zug billigen Prosecco und Kleine Feiglinge tränken, dabei lauthals Andrea Berg sängen sowie tonnenweise hart gekochte Eier und Cabanossi herumreichten wie große schwere Joints.

All das konnte mich nicht von der Reise abhalten. Falls konfliktvolle Situationen auftreten sollten, was ich nicht glaubte, würde ich ihnen die Spannung durch positive Hinwendung und gekonnte Deeskalation nehmen. Denn es handele sich in Zügen meist um Erwachsene, die seien ja vernünftiger als hormonell irritierte Jugendliche, versicherte ich den Schwarzmalern, ein klärendes Gespräch sei nichts gegen den auf der gemeinsamen Autofahrt drohenden Kampf zwischen Pubertät und Wechseljahren.

 

Und heute geht es nun endlich los.

An das Gute im Menschen glaubend, mache ich mich auf zum Hauptbahnhof.

Früh genug am Gleis, schaue ich mich um. Ein Mann mit Vollbart kaut eilig an einem veganen Wrap und nickt mir zu. «Im Zug gibt es sicher wieder nichts», sagt er kauend, «neulich war auf der ganzen Fahrt von Zürich nach Kiel das Bordbistro geschlossen, noch nicht mal Wasser gab es da, schreckliche Zustände sind das.»

Eine ältere Frau stimmt ein: «Ich war eben extra noch im Supermarkt, bei meiner letzten Reise gab es einen Triebwerkschaden, und wir standen acht Stunden auf offener Strecke ohne Essen und Trinken und mit defekter Toilette.» Leise flüstert sie: «Einige von uns mussten gegen Dehydrierung sogar ihren Natursekt trinken.»

Die Fahrt wird fünf Stunden dauern, überlege ich, und ich habe nur ein Porridge gefrühstückt.

Als Freundin von schnellen Lösungen handele ich umgehend, suche vorbeugend das Bahnhofs-WC auf und kaufe an den Ständen in der Bahnhofshalle eine Laugenstange, einen halben Liter Wasser und eine Packung stopfende Schokokekse.

Zurück am Bahnsteig, schaue ich auf die Anzeigetafel.

Mein Zug hat vierzig Minuten Verspätung. Der Grund: Laub auf den Schienen.

Laub auf den Schienen im Herbst, denke ich, das ist so ungewöhnlich wie Bäume im Dschungel, aber trotzdem eine Unverschämtheit, das Wetter nimmt überhaupt keine Rücksicht auf die DB, kein Wunder, dass es da zu Chaos kommt.

Ich beschließe, mich durch diesen unglücklichen Start meiner Reise nicht entmutigen zu lassen und die gewonnene Zeit am Bahnhof sinnvoll zu nutzen.

Warum nicht kulinarisch mal etwas ausprobieren, denke ich und gehe zurück in die Bahnhofshalle. Auf der Fahrt habe ich ja Zeit und Muße. Vergnügt erstehe ich drei Mettbrötchen mit Zwiebeln, ein Dutzend gefärbte hart gekochte Eier und eine Hanf-Salami im Textildarm.

So bepackt, streife ich durch den Hauptbahnhof und besehe die Auslagen in den Schaufenstern der Geschäfte. Wie günstig hier das Einkaufen ist, denke ich. Ich weiß zwar nicht, was Kopfhörer und Nackenhörnchen normalerweise kosten, aber die durchgestrichenen alten Preise, ersetzt durch geringere neue, lassen den Schluss zu, dass es sich hier um außergewöhnliche Schnäppchen handelt.

Neben dem heruntergesetzten Noise-Cancelling-Bluetooth-Kopfhörer erstehe ich nun außerdem eine von niederländischen Waldorfschülern handgeknüpfte Hängematte (als Vorsorge, falls wir Triebwerkschaden haben sollten) sowie ein beiges Reisekissen mit der Aufschrift «Nicht lang schnacken, Kopp in Nacken» und für die Kinder als Mitbringsel je eine Panflöte.

Da kommt auch schon der ersehnte IC «Funklok», allerdings in umgekehrter Wagenreihung. Mit Koffer, Handgepäck und Hängematte lege ich einen Spurt hin, der Usain Bolt weinend zusammenbrechen lassen würde. Dann steige ich keuchend, aber glücklich ein und suche meinen gebuchten Platz auf.

Wagen 10, Platz 35, lese ich, vergleiche es mit meinem Ticket, befinde die Position als korrekt, doch der Platz ist bereits besetzt.

Eine Frau mit stacheligen Piercings im Gesicht wie ein unregelmäßig rasierter Kaktus, Fingernägeln, von deren Länge Struwwelpeter nicht in seinen kühnsten Träumen zu träumen gewagt hätte, und einem sehr stark geschminkten Gesicht thront auf meinem Platz.

Sie müssen sich das so vorstellen: Sie sieht aus wie ein Chamäleon, das auf Harald Glööckler sitzt.

Durch abermaliges Vergleichen von Anzeige und Reiseticket vergewissere ich mich, dass dies mein Platz ist, und ich zeige die Unterlagen auch der Frau.

«Wo soll ich denn jetzt hin, du Honk», zischt sie echsengleich, und tatsächlich, der Zug ist voll. Da ich mir vorgenommen habe, zu jedem und jeder im Zug freundlich zu sein, will ich sie nicht verscheuchen, und ich finde schnell eine Lösung.

Ich setze mich auf sie.

Doch diese freundliche Entschärfung der Situation stößt bei ihr nicht auf Zuspruch. Ich finde es eigentlich ganz bequem, zumal sich durch die körperliche Nähe zu ihrem gepiercten Körper eine schöne Akupunktur meiner mittleren Wirbelsäule ergibt.

Sie zetert irgendwas von «Unverschämtheit» und «Irgendwann werden sie dich holen, du Evolutionsbremse», schubst mich runter und verschwindet mit grauem Fledermauskoffer und Totenkopftasche in Richtung Bordrestaurant.

Manche Menschen sind einfach merkwürdig, stelle ich fest und richte mich auf dem nun frei gewordenen Platz ein.

Mein Sitznachbar grüßt freundlich und fängt an, eine Banane zu pellen.

Die folgenden Schmatzgeräusche stören mich zugegebenermaßen ein wenig, doch steht dieses negative Empfinden nicht im Einklang mit meiner positiven Haltung zu dieser Zugfahrt, und so beschließe ich, die Geräusche mit dem Essen eines knackigen Zwiebelmettbrötchens akustisch zu übertönen.

Der Bananenmann sieht mich an und verzieht angewidert sein Gesicht. Er mag gar keine Bananen, denke ich bestürzt. Der arme Mann, offensichtlich hat er das nicht gewusst, die Banane sein einziger Proviant, was macht er wohl jetzt mit dem Rest?

Aufmunternd nicke ich ihm zu, nicht zuletzt wegen der Vitamine, und schiebe mir den letzten Teil des Zwiebelmettbrötchens in den Mund. Er lächelt gequält. Neidisch auf meine schön gewürzte Speise, wer wäre das nicht.

Ich biete ihm eines der gepökelten Rohfleischbrötchen an.

Er weist es zurück und sagt eindringlich: «Ihnen hängt da ein Mettfaden zwischen den Zähnen, glaube ich.»