Und wenn der Himmel es so will - Jette Engels - E-Book

Und wenn der Himmel es so will E-Book

Jette Engels

4,9

Beschreibung

Robert und Christin freuen sich auf ihr neues Zuhause in Spanien. Die Kinder sind aus dem Haus und ihr lang ersehnter Wunsch auszuwandern ist endlich wahr geworden. Doch da erhält Robert nach über zwanzig Jahren als erfolgreicher Makler für Auslandsimmobilien von seiner Bank die Kündigung! Während Christin in Sant Jordi ihren Traum vom eigenen Café verwirklicht, lernt der gefrustete Robert den Banker Clemens Lutz kennen, der in dubiosen Kreisen verkehrt, und fliegt mit ihm nach Brasilien. Auf einem Segeltörn geraten sie in ein Unwetter. Während Clemens tot aus dem Meer geborgen wird, bleibt Robert verschollen. Alles deutet darauf hin, dass er Opfer krimineller Machenschaften geworden ist. Damit nicht genug, erfährt Christin auch noch, dass sie hoch verschuldet ist und Insolvenz anmelden muss! Da begegnet sie ihrer Jugendliebe Alex. Von wirren Gefühlen verfolgt, fliegt sie mit ihm ebenfalls nach Brasilien. Aber dann kreuzt in Rio de Janeiro ein Mönch ihren Lebensweg und wendet das Leben noch einmal in eine ganz andere Richtung.

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Für Moritz, ohne den ich mich nicht getraut hätte

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Ein Jahr später

Mann, war mir schlecht. Es war erst sechs Uhr in der Früh und schon sehr warm. Ich stand in meinem blau-weiß gestreiften Lieblingsnachthemd auf den Sandsteinfliesen der Dachterrasse und blickte über die Dächer der spanischen Stadt Colonia Sant Jordi auf das Meer. An diesem Morgen verwünschte ich die Sonne und das blaue Meer, verwünschte den Rotwein der letzten Nacht und, weil ich schon einmal dabei war, das ganze Leben. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, Robert zu verwünschen, aber dazu fehlte mir an diesem Morgen die Sicht auf das Wesentliche.

Normalerweise liebte ich die Sonne und mein neues Zuhause in Spanien. Erst vor zwei Jahren hatten wir uns diesen Traum erfüllt, das kleine Domizil günstig erworben und mit viel Liebe hergerichtet. Mein Mann Robert hingegen genoss seinen gut bezahlten Job bei der Bank – noch mehr allerdings, für Auslandsimmobilien in der ganzen Welt unterwegs zu sein.

Während Robert für sein Leben gern reiste, mochte ich mein bodenständiges Leben. Mein Lebenstraum bestand darin, nach der Kindererziehung ein Buch zu schreiben und vielleicht ein kleines Buch-Café zu eröffnen, in dem sich Menschen trafen und austauschten. Schon immer liebte ich Menschen, aber vor allem liebte ich ihre Geschichten über das Leben – ihre Erfahrungen, ihre heimlichen Gedanken und Wünsche.

Als die Kinder nacheinander das Haus verlassen hatten, um ihre eigenen Wege zu gehen, hatte ich bereits angefangen, Geschichten aus dem Leben unserer Kinder aufzuschreiben, zu dem später auch meine eigene Lebensgeschichte gehörte. Am Anfang benutzte ich dafür ein kleines buntes Tagebuch, das ich zur Hochzeit von meiner Mutter bekommen hatte.

In meinem Leben war ich nicht immer den leichtesten Weg gegangen. Mein Vater war früh verstorben und so wuchs ich als einzige Tochter bei meiner Mutter auf, die immer versuchte, für mich da zu sein, obwohl sie berufstätig, selbstständig und alleinerziehend war und wenig von diesem kostbaren Gut besaß: Zeit. Während mein Vater als Architekt imposante Bürogebäude für die Stadt Hannover plante, unterhielt meine Mutter ihren eigenen kleinen Buchladen, der bekannt war für gute Beratung und jede Menge schöne, mit Bedacht ausgewählter Bücher. Unzählige Bildbände aus der ganzen Welt, aber auch angesagte Krimis oder Liebesgeschichten von Dora Heldt waren hier über den Tresen von anno dazumal gegangen. Alte, historische Bücher standen in edlen Regalen an den vertäfelten Wänden. An der Wendeltreppe, die zur Wohnung meiner Mutter hinaufführte, stand ein bequemer Lehnstuhl mit Leselampe. So manche Lese-, Kauf- und Reiselust wurde hier geweckt. Ein Buchladen, wie Leser ihn liebten. Nach dem Tod meines Vaters zog meine Oma bei uns ein und nahm meiner Mutter einiges an Arbeit ab, damit sie sich ganz ihrem Buchladen widmen konnte. Er war der einzige Ort, an dem sie sich wohlfühlte.

Mein Leben war ganz anders verlaufen, immer öfter fragte ich mich: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Da muss doch noch was kommen!

An manchen Tagen wusste ich nicht mehr, wo der Mann geblieben war, der früher einmal gesagt hatte: »Wo ich bin, brauchst du vor nichts mehr Angst zu haben.«

Jetzt hatte ich Angst und machte unliebsame Bekanntschaften mit Menschen, die auch nicht vor Mord und skrupellosen Geschäften zurückschreckten. Mein Leben veränderte sich schlagartig. Es wurde bereichert von Erfahrungen, die niemand wirklich brauchte. Ich reiste nach Brasilien, um den Mann zu suchen, der mir nahestand, und traf Menschen, deren Bekanntschaft ich besser nie gemacht hätte, aber auch Freunde, die ich nie vergessen werde.

Meine Ehe zerbröselte wie ein alter Keks, und ich wurde das Gefühl nicht los, dass der Lebensabschnitt für manche Herren der Schöpfung wie eine dritte Pubertät war, die erste mal nicht mitgerechnet. Und ich lernte nach fast dreißig Ehejahren, dass man immer auf alles gefasst sein muss.

Kapitel 1

Während meiner Ausbildung als Buchhändlerin traf ich Robert wieder, der eine Banklehre bei der städtischen Sparkasse in Hannover ausübte. Ich besuchte das gleiche Englischseminar für Fortgeschrittene und war total berührt, als wir uns im Kurs begegneten. Schon seit der Schulzeit eilte Robert der Ruf voraus, ein Herzensbrecher zu sein, er wusste um seine Wirkung bei den Frauen und ließ sich keinen Flirt entgehen. An die große Liebe dachte er dabei nie.

Robert war sehr groß und schlank, hatte dunkelbraunes, dicht gewachsenes Haar und sein Körper wirkte gut durchtrainiert. Es waren nicht nur sein umwerfend gutes Aussehen und seine sportliche Erscheinung, die ihn zu einem Frauenmagneten machten, sondern auch sein Charme und seine Zielstrebigkeit. Auch ich hatte damals heimlich für ihn geschwärmt.

Robert hatte schon früh gewusst, wo er hinwollte und wie man am schnellsten dort hinkam. Aber es hatte auch noch Alex gegeben. Alex war kein Draufgänger, Alex Thiel war meine Sandkastenliebe. Wir besuchten gemeinsam die erste Klasse, und für unsere Eltern waren wir schon seit dem Kindergarten füreinander bestimmt.

Alex war ein richtiges Wunderkind oder vielleicht frühreif, seine Eltern trugen diesen Stolz gerne nach außen, vor allem bei Schulveranstaltungen stand er immer im Mittelpunkt.

Er konnte im Alter von fünf Jahren schon einfache Texte lesen und schreiben, was sicher daran lag, dass seine Eltern einen Buchverlag besaßen und Bücher in bester handwerklicher Qualität herstellten. Alex konnte geschickt Buchstaben zu einem Wort zusammensetzen und war in der Schule bei den Lehrern sehr beliebt. Mir half er später bei den Hausaufgaben und nach der Schule war er ein gern gesehener Gast bei meiner Mutter, die ihn mit seinen Lieblingsgerichten bekochte. Für sie war er der Sohn, den sie nicht hatte.

Unsere Freundschaft hielt bis zum Abitur, dann änderte sich die Situation schlagartig.

Während Alex schon an die große Liebe dachte und seine Gefühle unter Kontrolle hatte, war ich noch nicht so weit und brachte das auch ziemlich deutlich zum Ausdruck.

»Wir sind noch viel zu jung für die Liebe«, hatte ich zu ihm gesagt, als er eine Woche vor dem Abiball eine echte Beziehung mit mir eingehen wollte. Außerdem wollte ich nicht, dass die Mitschüler Bescheid wussten.

»Aber alt genug für Gefühle«, war seine Antwort.

Alex war damals so tief enttäuscht und derart verletzt, dass er mir seit diesem Tag aus dem Weg gegangen war. Robert dagegen flirtete auf Teufel komm raus mit allem, was ihm über den Weg lief. Und das machte ihn irgendwie anziehend.

Beim Abiball allerdings hatten seine plumpen Annäherungsversuche bei mir zu leichten Irritationen geführt, woraufhin ich ihn arrogant am langen Arm verhungern ließ. Meine Ausreden waren immer originell und trieben ihn in den Wahnsinn, während ich meinen Spaß daran hatte, ihm auf diese Art zu zeigen, dass ich nicht eine seiner Blüten war, die er bestäubt, bevor er zur nächsten fliegt. Für mich war er »Robert, der Schmetterling«.

Dieses Katz-und-Maus-Spiel hatte einige Monate angehalten, bis er überraschend in die Buchhandlung kam, in der ich arbeitete, und das Buch kaufte: Darum liebe ich dich.

Nachdem Robert bezahlt hatte, fragte er:

»Kannst du mir das Buch bitte als Geschenk einpacken? Es ist für eine gute Freundin.«

Zum Glück hatte ich mich mit meinen vorlauten Bemerkungen zurückgehalten, wählte ein exklusives Design, durchgefärbtes Seidenpapier in Rosé mit aufwendiger Strukturoberfläche und Glanzeffekt. Dazu lila Schleifenband und eine Seidenblüte, die ich in der Mitte platzierte. Es entstand ein richtiges kleines Kunstwerk. Robert nahm das Geschenk, bedankte sich mit einem verschmitzten Lächeln und verließ die Buchhandlung.

Schon wieder ein neues Opfer, dachte ich, dieses Mal lässt er sich das ja richtig was kosten. Zum Glück hatten wir ein weiteres Exemplar in der Auslage, denn der Buchtitel und vor allem der Klappentext hatten eine gewisse Neugierde in mir erregt.

Du hast so viele schöne Seiten, ich kann sie gar nicht alle aufzählen. Aber jetzt will ich wenigstens mal einen Anfang machen. So begann dieses wunderschön gestaltete Büchlein. Und es hilft einem, die Gefühle auszudrücken für den Menschen, der einem der liebste ist. Wie ein bunter, dicker Liebesbrief. Darum liebe ich dich.

Ein Anflug von Eifersucht überkam mich, betroffen schaute ich ihm mit offenem Mund hinterher. Fünf Minuten später hatte sich erneut die Ladentür geöffnet und Robert trat ein. Er legte mein Kunstwerk auf die Theke, schaute mich an und sagte:

»Es ist für dich. Christin, dich liebe ich, mit dir möchte ich zusammen sein – und jetzt bitte keine neuen Ausreden mehr! Du kannst dir etwas vormachen, aber mir nicht, ich weiß, dass du mich auch magst.«

Er hatte mich durchschaut, meine Tarnung war aufgeflogen. Gerührt fiel ich ihm um den Hals, bei so einer Liebeserklärung konnte auch ich der Versuchung nicht mehr widerstehen.

Wir verabredeten uns für den nächsten Abend. Es wurde ein Rendezvous der Extraklasse. Ein wunderschöner warmer Sommerabend mit unbestimmtem Ausgang. Der Himmel war noch leuchtend blau, als ich Robert schon von Weitem sah, wie er grüßend die Hand hob und über die Brücke eilte. Er sah aus wie ein britischer Botschafter, der in den Buckingham Palace eingeladen war. Dunkelblaues Sakko, helle Anzughose und dazu ein weißes Hemd mit gestreifter Krawatte. Ich musste so herzhaft lachen, dass er sich gleich mit den Worten entschuldigte, er habe bei der Wahl der Garderobe ein wenig die Nerven verloren.

»Schön, dich zu sehen«, lachte er und küsste mich auf die Wangen. »Ich habe viel an dich gedacht.«

»Danke gleichfalls«, sagte ich und spürte, wie ich leicht rot wurde.

Robert bot mir seinen Arm, und voller Stolz ging ich neben ihm. Er sah unheimlich gut aus und war größer, als ich es in Erinnerung hatte.

Wohin er mich wohl ausführen wird?, überlegte ich, aber eigentlich spielte es keine Rolle, Hauptsache, wir waren zusammen.

Wir fuhren zum teuersten Italiener der Stadt, und Robert redete die ganze Fahrt über ununterbrochen, bis er mich irgendwann fragte, was mich an Büchern eigentlich so fasziniere.

»Vielleicht weil sie nicht andauernd reden?«, erwiderte ich lachend.

»Ich kann auch schweigen«, versicherte er gleich und redete tatsächlich bis zum Restaurant kein einziges Wort mehr. Wir verbrachten einen romantischen Abend und waren sehr verliebt. Von Robert lernte ich eine ganz andere Seite kennen, die mir wesentlich besser gefiel. Seine überhebliche Art war wie ausgelöscht.

Seit diesem Abend waren wir ein Paar, woraus wir kein Geheimnis machten. Jeder sollte sehen, wie glücklich wir waren.

Jeden Tag nach Ladenschluss holte mich Robert von der Buchhandlung ab. Während er noch bei seinen Eltern wohnte, besaß ich bereits eine eigene Zweizimmer-Wohnung am Ende der Stadt.

Nach ein paar Wochen verweilte sogar sein Kulturbeutel bei mir im Bad, aber Robert versicherte mir, es sei nur ein Kulturbeutel, kein Ehering. Das beruhigte mich natürlich ungemein.

Zwei Jahre später heirateten wir. Meine Ausbildung als Buchhändlerin war abgeschlossen und ich verdiente bereits mein eigenes Geld.

Unsere Hochzeit war kein riesiges Fest, dafür aber eine harmonische Zeremonie in der Wülferoder Kapelle, die schon über zweihundertfünfzig Jahre alt war und in der schon meine Eltern geheiratet hatten.

Meine Mutter schluchzte ununterbrochen, als mich mein Trauzeuge Felix (der Mann meiner Freundin Petra) zum Altar führte. Bis zum Schluss hatte sie noch gehofft, dass Alex doch noch das Rennen machen würde, aber der war leider immer noch verletzt und sprach kein einziges Wort mit mir. Selbst an meinem Polterabend hatte er sich nicht blicken lassen.

Ich trug ein cremefarbenes, kurzes, schlichtes Kleid. Für einen Traum in Weiß war es im sechsten Monat reichlich spät, und festliche Umstandsmode war nur schwer zu bekommen. Nach der kirchlichen Trauung gab es ein schönes Fest bei unserem Lieblingsitaliener. Meine Oma sagte später, ich hätte sehr elegant ausgesehen und ziemlich verliebt.

In Abständen von drei Jahren brachte ich Paul, Thomas und Peter zur Welt. Es folgten turbulente, aber erfüllte Jahre mit Robert und drei wunderbaren Jungs. Wir wurden zu einer richtigen Großfamilie, die mittlerweile, dank Robert, in einem schönen, großen Haus am Stadtrand von Hannover wohnte.

Während Robert als Makler für Auslandsimmobilien bei der Bank Karriere machte, kümmerte ich mich hauptsächlich um die Kindererziehung. Ihm blieb nur wenig Zeit für die Familie, was er sehr bedauerte. Aber daran hatte ich mich schnell gewöhnt. So engagierte ich mich in Sportvereinen, übernahm Ehrenämter in der Schule und backte Kuchen für den Weihnachtsmarkt.

In der Buchhandlung meiner Mutter half ich morgens aus, wenn die Kinder in der Schule waren. So sicherte ich mir meinen eigenen Lebensunterhalt, um nicht abhängig zu sein wie die meisten Frauen in meinem Freundeskreis. Wie oft predigte mir meine Mutter diesen Satz ein: »Es gibt noch ein Leben nach der Kindererziehung.« Vorsorge war gefragt und daran hielt ich mich.

Robert wurde erfolgreicher denn je. Mit Leidenschaft und Engagement begutachtete er Häuser und fand immer eine Gelegenheit, für die Bank ein gutes Geschäft zu machen, bei dem eine angemessene Provision für ihn abfiel. Er war einfach die perfekte Symbiose aus mathematischem Genie und architektonischem Visionär.

Als das verwahrloste Haus in Spanien mit dem Dornröschen-Garten zum Verkauf stand, überlegte Robert nicht lange und kaufte es für uns. Es gehörte einem armen, alten Fischer, der es nicht mehr unterhalten konnte. Das Fischerleben an der Küste war härter geworden, seit die EU Fangquoten für ihre Mitgliedsstaaten eingeführt hatte. Davon profitierten hauptsächlich die großen Fabrikschiffe. Seit Jahrzehnten gingen die Fänge aufgrund der Überfischung zurück.

Die Region Sant Jordi war am stärksten betroffen, und für Juan wurde es wirtschaftlich sinnlos, aufs Meer hinauszufahren. Sein marodes Fischerboot, die Angelique, war mit einem kleinen Galgen ausgestattet, sodass er nur vor den Küsten seine Fischgründe fand. Hochseefischerei war ausschließlich den Fabrikschiffen vorbehalten. Seine Fänge wurden immer kleiner, sodass er manchmal mit nur dreißig Kilo Fisch im Hafen anlandete.

Sein Lebensunterhalt war auf diese Weise längst nicht mehr zu verdienen. Netze, Garne, Treibstoff wurden zum unbezahlbaren Luxus. Juan war seit vier Jahren nicht mehr hinausgefahren. Seine Ausrüstung verrottete, die Bootsplanken faulten – die Angelique war nicht mehr zu gebrauchen. Juans Freund Antonios kaufte ihm sein Boot ab, oder das, was noch davon übrig war. Den Motor konnte er noch als Ersatzteil verwenden. Sonst war der Kahn weitgehend schrottreif. Was blieb, waren nur noch die Erinnerungen. Juans Rente, die weniger als fünfhundert Euro im Monat betrug, war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.

Die örtliche Banco de España hatte Juan stets begleitet. Aber nachdem die Umsätze und Erlöse aus den Fischverkäufen zurückgegangen waren, konnte er seinen Kredit nicht mehr bedienen. Die Bank kündigte ihm die Geschäftsbeziehung – drei Monate hatte er um Aufschub gebeten, um für sein geliebtes Haus einen Käufer zu finden. Informationen über den mallorquinischen Mittelstand wurden natürlich auch nationalen Instituten zur Verfügung gestellt. Vermutlich liefen hier die Fäden ineinander, die erklären würden, woher Robert diesen Tipp erhalten hatte.

Mit fadenscheinigen Argumenten und wenig Einfühlungsvermögen hatte er dem Fischer erklärt, wie marode sein Haus sei – hatte ihm Stellen gezeigt, an denen es durchregnete und verfaulte Dachbalken sichtbar an der Statik nagten. Wenn nicht umgehend mit der Renovierung begonnen würde, könnte man die Hütte nur noch abreißen. Den nächsten Winter würde dieses Gemäuer nicht überleben.

Juan war sprachlos – und zu sehr verarmt, um weiterzuverhandeln. Die Hoffnung, doch noch einen guten Preis für sein Kleinod zu bekommen, löste sich in Luft auf.

Robert hatte ein kleines Paradies zum Spottpreis ergattert. Wie immer hatte er einen Riecher für gute Geschäfte und verstand es, Menschen, denen das Wasser schon bis zum Hals stand, weiter in die Knie zu zwingen.

»Außerdem kommt so eine Gelegenheit so schnell nicht wieder«, lobte er sich selbst. Die Immobilien-Abschlüsse in den letzten Jahren waren trotz Finanzkrise mehr als gut ausgefallen; sie ließen es zu, bei diesem Objekt an uns zu denken.

Unser Leben war in all den Jahren problemlos und sorgenfrei verlaufen, obwohl mir Roberts Machenschaften manchmal einfach zu weit gegangen waren. Die Kinder waren inzwischen aus dem Haus und über hundert Seiten meiner Lebensgeschichte waren bereits geschrieben. Nun hielt uns nichts mehr davon ab, den Traum, den wir seit Jahren hegten, nach Spanien auszuwandern, zu erfüllen. Nicht einmal unsere Freunde und Bekannten, die uns mit ihren belehrenden Sprüchen diesen Neuanfang auszureden versuchten.

Die Einzige, die sich mit uns freute, war meine Freundin Petra. Wir kannten uns seit der Schulzeit, sie hatte Architektur studiert und arbeitete trotz ihrer Scheidung noch immer mit ihrem Exmann im eigenen Planungsbüro zusammen. (Mein Trauzeuge!)

Unsere Söhne hatten nicht schlecht gestaunt, als wir ihnen diese Botschaft so ganz nebenbei bei einem gemeinsamen Abendessen übermittelt hatten – was auch daran lag, dass wir mit ziemlicher Sicherheit wussten, was nun kommen würde. Paul, der Ältere, war begeistert, er bewunderte seinen Vater, der sein Homeoffice nach Sant Jordi verlegen konnte. Nicht ganz uneigennützig sah er dieser Veränderung sehr positiv entgegen. Thomas, der Mittlere, fand, es sei eine Schnapsidee. »Auswandern, was für eine absurde Idee. Du kannst kein Wort Spanisch, dein Englisch ist auch nicht gut und von der schlechten medizinischen Versorgung will ich gar nicht erst reden.«

Peter, der Jüngste, fand es supercool.

»Endlich mal Eltern, die sich was trauen«, ergriff er Partei für uns.

Er freute sich aufrichtig, noch mehr natürlich darüber, dass er mit seinen Studienkollegen kostenlos Urlaub machen konnte. Peter liebte es zu verreisen, wie sein Vater, der ihn gelegentlich bei Auslandsbesichtigungen mitnahm.

Durch Roberts Kontakte hatten wir rasch einen Käufer für unser Anwesen in Hannover gefunden. Der neue Geschäftsführer von Toyota Deutschland war begeistert, für ihn war es genau die richtige Immobilie, wie geschaffen für seine große Familie.

Für Robert und mich wurde es ernst.

Sant Jordi, wir kommen!

Schon bei der ersten Besichtigung des alten Fischerhauses wusste ich, wie dieses Haus einzurichten war. Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis es in neuem Glanz erstrahlte und in eine spanische Finca verwandelt worden war. Petra hatte ganze Arbeit geleistet, es war ihre Herausforderung gewesen. Sie verbrachte gemeinsam mit Robert sehr viel Zeit an der spanischen Baustelle, während ich in Hannover alle Formalitäten für den Umzug in Angriff nahm.

Nach dem Umbau bestand die Finca durchgehend aus Glasfronten, Holz und Naturstein. Das Bad wurde zur Wellness-Oase umgebaut, die großzügige Küche ein Traum in Weiß, mit einer Profikochinsel in der Mitte, alles modern und stilvoll, und dazu der faszinierende Blick auf die idyllische Ursprünglichkeit der Natur, wie sie ein Maler mit Farbe und Pinsel nicht schöner hätte zaubern können.

Am Ende war es das Haus unserer Träume geworden.

Petra hatte noch ein paar Leute mehr angestellt, um den Termin, den Robert vorgegeben hatte, einzuhalten. Am Tag des Einzugs zog sie einen neuen Hausschlüssel aus ihren Jeans, der glänzte wie alles, was vor uns lag.

»Dann schaut euch mal an, wofür ihr mich bezahlt habt«, strahlte sie und trat einen Schritt zurück, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.

Robert trat als Erster über die Schwelle und war schier geblendet von der Helligkeit. Die Sonne strahlte jeden Winkel aus, es roch nach Wind und Meer, das nur wenige Meter entfernt war.

»Wir werden eine Menge Jalousien brauchen«, sagte ich und blinzelte unter meiner Hand hinweg, mit der ich meine Augen beschattete.

Dann standen wir mitten im Wohnzimmer, ein Raum, der sich über gut fünfzig Quadratmeter erstreckte. Lichte, offene Räume, die ineinander übergingen, dazu zwei in sich abgeschlossene Trakte. Einer mit zwei Schlafzimmern für die Hausherren und der andere für Gäste und die Kinder, jeder mit herrlichem Meerblick. Es war ein traumhafter Garten entstanden, den der Gärtner zur Meeresseite hin liebevoll mit Blumeninseln, Lorbeersträuchern und Zypressen gestaltet hatte.

Unter dem Schatten einiger Olivenbäume keimte ein Kräutergarten, der stufig angelegt worden war. Im Vorgarten hatte Pedro Hand angelegt und ein Blumenmeer aus weißen Rosen und Lavendel gepflanzt, dazu ausgesuchte Skulpturen moderner Kunst aufgestellt, wie es die kulturelle Tradition vorgab. Pedro war mein neuer Nachbar. Wir mochten uns auf Anhieb. Er liebte die Gartenarbeit und ich wusste schnell diese zauberhafte Geste an ihm zu schätzen. Pedro war ein früh pensionierter Mittfünfziger, groß, schlank, schwarzhaarig und gutaussehend. Er war schwul und noch dazu sehr einsam, nachdem ihn seine große Liebe, Ludwig aus Garmisch, mit dem er zehn Jahre seines Lebens glücklich gewesen war, wegen eines Jüngeren verlassen hatte. So kam es ihm sehr gelegen, dass neue Nachbarn im direkten Umfeld einzogen, die ihm auf Anhieb auch noch sympathisch waren.

Pedro verbrachte die meiste Zeit mit seinem Garten, sprach mit den Pflanzen und war sich sicher, dass sie so besser gedeihen würden. In seinem Garten blühte sogar ein Enzian, ein Geschenk von Ludwig. Er hatte dieses Gewächs gehegt und gepflegt, wie seine Beziehung, die es nun nicht mehr gab. Pedro verglich die Charaktere seiner Mitmenschen gerne mit Blumen. Eines Tages fragte ich ihn, mit welcher Pflanze er mich vergleichen würde, fügte aber noch schnell hinzu: »Bitte jetzt kein Männertreu!« Worauf er charmant antwortete:

»Du bist eine Strelitzie, auch Papageienblume genannt, kräftige warme Farben, eine Spur provokant, ein bisschen kantig, aber schön.« Ich fühlte mich geschmeichelt. Pedro war immer für eine Überraschung gut. Seine Finca stand direkt unter unserem Haus, wir benutzten eine gemeinsame Auffahrt und bei jedem Kommen und Gehen winkten wir uns freundschaftlich zu. Er begrüßte es, dass das baufällige Fischerhaus nicht länger ein Schandfleck war, auf den er jeden Tag blicken musste.

Bereits in der Renovierungsphase hatten wir uns besser kennen gelernt. Gemeinsam rissen wir alte Tapeten von den Wänden, spachtelten Fußböden und redeten dabei über Gott und die Welt. Pedro befreite die Zimmer im oberen Stockwerk von Müll und längst ausgedienten Möbelstücken, während ich alte, verkalkte Armaturen ausbaute und uralte Fliesen von den Wänden schlug. Mit ihm machten sogar die Abbrucharbeiten Spaß, gegenseitig klopften wir uns den Schmutz von den Arbeitssachen und husteten uns den Staub aus den Lungen. Zwischendurch tranken wir ein Glas Wein und stießen auf das neue Leben an. Die Arbeit erledigte sich fast von allein. Wer hätte gedacht, wie schnell das Leben manchmal neue Türen öffnen kann! Aber mit guten Freunden, Mut und einem gesunden Menschenverstand wurde das, was früher unmöglich schien, plötzlich Wirklichkeit.

Mit der Zeit stellten wir viele gemeinsame Interessen fest. Pedro liebte kulturelle Einrichtungen so wie ich, ausgefallene Architektur, Politik und Bilder jüngerer Künstler. So stand einer harmonischen Nachbarschaft nichts im Weg.

Nach unserem Umzug genoss ich den ewigen Frühling unter Palmen. Die kleine Stadt faszinierte mich. Sie war überschaubar und bot genügend Möglichkeiten, den großen Massen an Touristen zu entfliehen. Im Ortskern fand man eine Mischung aus privaten Wohnhäusern, Ferienbungalows und größeren Hotelanlagen. Alles war zwar ein wenig verbaut, aber es gab durchaus schöne Ecken, an denen man einen erholsamen Urlaub verbringen konnte.

Anstatt einer Promenade gab es gut ausgebaute Stege und Wege entlang der Meerseite, die zum Hafen führten. Besonders an den Wochenenden war der Hafenbereich mit seinen zahlreichen Restaurants ein beliebter Treffpunkt mallorquinischer Familien. Hier konnte man noch mehr mediterrane Lebensart erleben. Ich hatte mich schnell in diese traumhafte Landschaft verliebt, vor allem in das warme Klima, das für Spanien sprach. Hier konnte ich nach Lust und Laune leben. Dort, wo andere Menschen Urlaub machten, war nun mein neues Zuhause.

Bevor Spanien sehr hart von der Wirtschaftskrise getroffen worden war, waren die guten Aussichten am Arbeitsmarkt ein weiteres Plus. Aber das war einmal. Auch neun Jahre nach Ausbruch der Krise war es schwer, in Spanien Arbeit zu finden, und auch mich verließ langsam der Mut, weil nur Absagen ins Haus flatterten.

Robert war nach wie vor viel unterwegs, und mein Nachbar Pedro wurde zu meinem persönlichen Begleiter. Gemeinsam klapperten wir einige Buchhandlungen ab, in denen ich mich spontan vorstellte, aber leider blieb auch dort der erhoffte Erfolg aus. Zwischendurch luden sich immer wieder aufgestaute Emotionen in einer Flut von Tränen ab.

»Du hast doch noch Zeit und kannst es dir leisten, nicht zu arbeiten. Du musst nicht arbeiten, um über die Runden zu kommen«, sagte Pedro. »Mach dir keinen Kopf, mir fällt schon irgendwas ein.«

Er ließ den Rauch seiner Zigarette langsam aus dem halb geöffneten Mund entweichen, und ich sah, wie es in seinen Augen aufblitzte. In seinem Kiefer begann hartnäckig ein Muskel zu zucken. Er schnippte die Asche von seiner Zigarette und deutete auf ein Café, das auf der anderen Straßenseite lag. Pedro wusste immer mehr als die anderen, das war mir bekannt, aber trotzdem verstand ich seine Körpersprache nicht und wusste nicht, was er meinte.

»Siehst du das große Schild?«, fragte er. »Zu verpachten!«

»Was meinst du?«

Pedro gab ein seltsames Geräusch von sich, ein Mittelding aus Lachen und Räuspern.

Jetzt hatte auch ich begriffen, und meine Tränen wichen einem Lächeln, als wir vor dem Ladenlokal standen. Die Schaufensterscheiben des ehemaligen Lokals waren mit Zeitungspapier verklebt. Einige Seiten waren zerrissen, hier und da konnten wir einen Blick ins Innere werfen. Pedro schätzte die Fläche auf achtzig, neunzig Quadratmeter. Für ein kleines Café genau die richtige Größe.

»Was meinst du, was soll ich tun?«, fragte ich.

»Ich kenne den Eigentümer«, sagte er ganz nebenbei.

»Warum wundert mich das nicht?«, lachte ich.

»Wir sollten uns wenigstens anhören, wie hoch die Miete ist. Absagen können wir immer noch. Soll ich ihn anrufen?«

»Du meinst wirklich, das ist eine gute Idee?«

Pedro nickte eifrig.

»Also gut«, sagte ich, »rede mit ihm.«

Ich hatte kaum den letzten Satz ausgesprochen, da verhandelte Pedro schon mit dem Eigentümer, als wenn er in seinem Leben nie etwas anderes getan hätte.

Das Verhandlungsgespräch entsprach der Mentalität eines Spaniers, mal laut, mal gesittet, und dann hörte es sich wieder an wie ein heftiger Streit. Ab und zu klang es, als würde Pedro über die Wörter stolpern. Wir hatten zwar eine halbe Flasche Sekt getrunken, aber normalerweise steckte er wesentlich mehr weg. Am Ende stand ein grinsender Macho vor mir – das sah nach einem guten Vertragsabschluss aus.

»Der Vorbesitzer hat nämlich wahnsinnige Geldprobleme«, sagte er, »und kennt sich überhaupt nicht mit Verträgen aus. Genauso wenig damit, wie man aus diesem Lokal eine Goldgrube macht – es liegt superzentral, ist fußläufig gut erreichbar, und wenn nötig gibt es Parkplätze sogar hinter dem Haus.«

Pedro strotzte vor Stolz und suchte nach Anerkennung. Es machte keinen Sinn, ihm zu widersprechen. Voll des Lobes klopfte ich ihm auf die Schulter. Was würde Robert sagen?

Ich konnte es kaum erwarten, ihm am Abend davon zu berichten. Immerhin wusste er, wie gern ich mir diesen Traum erfüllen würde.

Mit so viel Verständnis hatte ich allerdings nicht gerechnet. Robert fand die Idee großartig, nachdem er sich von der perfekten Lage selbst überzeugt hatte. Der Strand war fußläufig erreichbar und das maritime Gebäude aus Glas und Holz von nebenan gab dem Umfeld ein besonderes Flair. Hinzu kam der lange Pier, der nicht weit entfernt war, mit viel Platz, um große Boote daran festzumachen. Segler und Bootsbesitzer könnten hier zu dem Publikum zählen, das von der Sonnenterrasse die perfekte Aussicht auf den Strand genießen würde.

Robert führte noch am Abend ein Telefongespräch nach dem anderen. Am nächsten Tag hatte er mir einen Business-Plan erstellt, der alle Kosten enthielt. Der Unterhalt lag im Rahmen des Möglichen, und von der heimischen Bank bekam ich einen kleinen Kredit, den wir uns leisten konnten.

Mit Petras guten Ideen verwandelten wir das heruntergekommene Gebäude in ein modernes, schickes Café. Die Außenansicht wurde dem maritimen Gebäude angepasst. Innen schuf sie eine gemütliche Atmosphäre aus runden Marmortischen, kombiniert mit alten Holzstühlen. Die kleine Terrasse wurde zum Schmuckstück, die die Mallorquiner sehr begrüßen würden. Wir nannten das Café Die kleine Auszeit.

Dank Pedros und Roberts guten Kontakten war mein Traum eher in Erfüllung gegangen als erwartet, jetzt begann meine Zeit und ich hatte mich nie besser gefühlt. Das Gefühl, dazuzugehören, teilzuhaben am Leben, an der Geschichte der Stadt und ihrer Menschen, machte mich stolz und glücklich. Es dauerte auch nicht lange, bis sich die neue Adresse herumgesprochen hatte. Mein Lokal war meist gut gefüllt und nicht nur Segler und Bootsbesitzer waren unter den Besuchern. Wer sich auf den Stühlen meines Cafés niederließ, war umgeben von Menschen jeglicher Couleur, die aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten kamen. Aber genau das machte es aus, es hatte Charme und sorgte für jede Menge zahlender Gäste, die mit Trinkgeldern nicht geizten.

Jedes Jahr, immer am ersten Samstag und Sonntag im August, fand das traditionelle Sommerfest in Colonia statt. Robert und ich erlebten dieses Fest zum zweiten Mal, und in diesem Jahr gehörten wir bereits zu den Einheimischen des Dorfes. Was auch daran lag, dass wir ihre Sprache erlernten und die mallorquinischen Regeln befolgten; so wurden wir schnell in die Gemeinschaft integriert.

Den Rest erledigte Pedro. Er war nicht nur mein netter Nachbar, der meinen Vorgarten in einen Park der Sinne verwandelt hatte, nein, Pedro führte uns auch in die gehobene Gesellschaft von Colonia ein, indem er uns wohlhabenden Geschäftsleuten vorstellte, für die sich vorwiegend Robert interessierte. Am Abend, als das Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, stellte er mir Dr. Clemens Lutz vor, den Leiter der Hauptniederlassung von Barcleys auf Mallorca, der Bank, die mir mein Lokal finanziert hatte. Aber da es Robert war, der alle Kreditgeschäfte erledigte, hatte ich die Menschen, die dort arbeiteten, nie zu Gesicht bekommen. Und da sich beide mit dem Vornamen ansprachen, konnte ich davon ausgehen, dass sie sich schon eine Weile kannten. Clemens Lutz sah sehr gut aus, groß gewachsen, braungebrannt; seine athletische Figur steckte in weißen Jeans und einem grauen Poloshirt, dazu trug er passende blaue Segelschuhe. Er hielt sich den restlichen Abend verdächtig in Roberts Nähe auf. Banker unter sich?, fragte ich mich.

Von den anderen Gästen erfuhr ich Näheres über den geheimnisvollen Mann, der aus dem oberen Management kam. Ein Großteil der Gäste ließ allerdings kein gutes Haar an ihm. Dr. Clemens Lutz war ihnen zufolge nicht nur machtgierig, sondern zeigte auch kein Interesse für verarmte Bürger, Mitarbeiter oder alleinerziehende Mütter; er ruinierte Existenzen und beutete andere Menschen aus, worauf er auch noch stolz war. Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. Doch hinter der noch so strahlenden Fassade eines Bankers verbarg sich sicherlich auch ein Schatten, der nicht nur dem schnöden Mammon frönte.

Nach dem dritten Glas Wein hatte ich mir nicht nur genügend Mut angetrunken, sondern auch reichlich Informationen gesammelt, um Clemens Lutz mit einer Heuschrecke zu vergleichen, und mahnte Robert, nicht weiter Kontakt mit ihm zu halten. Aber Robert versicherte mir, dass Heuschrecken nur im Schwarm gefährlich seien und ich mir keine Sorgen machen müsse.

Sehr vertraut verabschiedeten sie sich am Ende des Sommerfestes mit einem herzlichen Schulterklopfen.

Ich traute meinen Augen nicht, als ich am nächsten Morgen ein Bild von Robert und diesem Dr. Lutz, das sie in freundschaftlicher Pose zeigte, in der Klatschspalte der Colonia-Nachrichten sah. Das ließ für mich nur einen logischen Schluss zu, und eine längere Diskussion mit Robert stand an.

Es war nicht nur die lange Nacht mit Musik der 70er Jahre, auch nicht der spanische Rotwein, was meinen Kopf am darauffolgenden Morgen zum Platzen brachte, sondern die Nachricht, dass Robert von seiner Bank die Kündigung erhalten hatte.

Warum musste sich immer alles ändern? Warum konnte es nicht einfach bleiben, wie es war? Es war doch alles gut. Mit einem Grummeln im Bauch saß ich auf der Terrasse und hielt trotz der Hitze eine leicht warme Wärmeflasche vor meinem Bauch. Meine Zunge fühlte sich pelzig an, und der Geschmack in meinem Mund hatte etwas von verdorbenem Fisch.

Im Kopf ließ ich meine Gedanken kreisen, bevor ein leises Geräusch meine Fantasien beendete. Robert hatte die Terrassentür aufgeschoben; frisch geduscht, sein graues Haar noch feucht, gekleidet mit kurzen Shorts und Poloshirt, sah er mich an. Ich erwiderte seinen Blick, drehte ihm aber gleich wieder den Rücken zu.

»Ich wollte es dir schon früher sagen«, quälte ihn sein schlechtes Gewissen. »Aber ehrlich gesagt wusste ich nicht, wie.«

Ich versuchte zu lächeln, merkte aber, dass der Fisch vom gestrigen Abend zurück ins Meer wollte. Hinzu kam der Duft von Roberts Rasierwasser, der in meine Nase wehte. Ich rannte auf die Toilette und übergab mich mehrmals. Als ich zurückkam, saß Robert an dem kleinen Terrassentisch und trank Kaffee. Ich setzte mich dazu und schenkte mir ein Glas Wasser ein, in der Hoffnung, dass meine Übelkeit langsam verging.

»Soll ich dir einen Tee machen?«, fragte er fürsorglich.

»Hast du was verbockt? Hast du einen Fehler in der Bank gemacht?«

Ich hörte selbst, dass meine Stimme grell wurde.

»Robert, du bist dreiundfünfzig! Wie soll es denn jetzt weitergehen?«

»Daran musst du mich nicht erinnern!«, gab er verärgert zurück.

»Oder willst du schon in den Ruhestand? Die Politik spricht von Rente mit siebenundsechzig. Oder dreiundsechzig? Bis dahin hast du noch mindestens zehn Jahre!«

Ich versuchte mich zu beruhigen, spürte aber, dass eine Panikattacke in mir aufstieg. Der Blick aufs Meer war eindeutig der bessere als der in Roberts Gesicht.

»Ist die Bank dahintergekommen, dass du den armen Fischer über den Tisch gezogen hast? Oder hat das was mit diesem Dr. Lutz zu tun? Das Bild in der Klatschpresse sprach jedenfalls Bände. Der Mann ist korrupt und unberechenbar. Ich möchte nicht, dass du ihn so oft triffst. Die Einheimischen lassen kein gutes Haar an ihm.«

Robert sagte erst nichts, aber sein Brustkorb hob und senkte sich merklich, woran ich merkte, dass er nicht so entspannt war, wie er tat.

»Aber Christin, wer erzählt denn so einen Mist«, beruhigte er mich dann, »bei so einem Fest, Banker unter sich, lacht jedes Journalistenherz. Morgen ist es schon wieder Altpapier …«

Ich schüttelte den Kopf und sein Wortschwall verebbte mit einem fragenden Blick.

»Du kannst dir deinen Sarkasmus ruhig sparen«, platzte es aus mir heraus.

Robert saß mit ausgestreckten Beinen am Gartentisch und rührte unentwegt den Zucker in der Kaffeetasse um.

»Kann es wahr sein, dass du grinst?«, fragte ich ihn. »Sie haben dich entlassen, und du grinst?«