Unglaublich, Stina - Cora G. Molloy - E-Book

Unglaublich, Stina E-Book

Cora G. Molloy

4,4

Beschreibung

Unglaublich und doch alltäglich, was Stina erlebt. In ihrem imaginären Kokon fühlt sie sich sicher und unsichtbar. Das gefällt ihr, zumindest solange, bis sie erkennt, dass unsichtbar zu sein, kein Schutz, sondern eine Flucht vor dem Leben ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 75

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,4 (16 Bewertungen)
9
5
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der erste Schritt, führt zu dir selbst …

Inhaltsverzeichnis

Unsichtbar

Unerreichbar

Unfassbar

Unglücklich

Unsterblich

Unheimlich

Unbeschreiblich

Unerträglich

Unausweichlich

Unglaublich

Unsichtbar

Gerade war ich mal wieder unsichtbar. Meine Kolleginnen unterhielten sich lautstark während der Pause und ich betrachtete sie stumm. Ihre Gespräche drehten sich um die gleichen Themen wie jeden Tag und meine Gedanken machten sich auf und davon – und weil ich eh meistens nichts sagte und unsichtbar war, fiel es auch heute keinem auf.

Ich war nicht immer unsichtbar gewesen. Als Kind war ich eine schillernde kleine Fee, eine gute Fee natürlich, dabei wäre ich auch gerne eine böse Fee gewesen, die andere straft, die zornig ist und gemein, die sich nicht um das schert, was alle sagen. Aber das ging nicht, weil ich zur guten Fee erzogen wurde: „Sei freundlich, hilfsbereit, leise und gut, wie sich das für eine Fee gehört und alle werden dich lieben!“

Und natürlich war ich wunderschön! Alle bewunderten mich, weil ich so eine wunderschöne, gute kleine Fee war. Besonders schön war ich, wenn ich mir aus Tüchern lange Gewänder umhängte, mit verzierten Gürteln und Bändern, die Haare hochgesteckt und den Schmuck meiner Mutter tragend. Ich tanzte elfengleich durch mein Zimmer und verzauberte alle, die mich sahen. Da war ich nicht unsichtbar! Andererseits bekam mich keiner in all meiner Feen-Schönheit je zu Gesicht, so dass ich auch da schon ein gewisses Maß an Unsichtbarkeit erreicht hatte, dessen ich mir aber noch nicht bewusst war.

Es ist darum auch wenig verwunderlich, dass ich auch erwachsen eine gute Fee sein wollte. Naja, der Krankenhauskittel machte mich nicht so schön wie die Tüchergewänder, aber ich war freundlich, hilfsbereit, leise und gut. In mir drinnen wunderschön, auch wenn ich wenig davon nach außen trug und für andere unscheinbar aussah und auch deshalb eher nicht wahrgenommen wurde.

Ich fühlte mich wie eine Raupe in ihrem Kokon. Nur ich wusste um den Schmetterling, der in mir war, während alle um mich herum nur die Tarnfarbe meines Kokons sahen. Irgendwie verständlich und von der Natur ja auch so gewollt. Im verletzlichsten Stadium seiner Entwicklung ist der Schmetterling gut geschützt und möglichst nicht wahrnehmbar, damit sich der schwierige, anstrengende und kräftezehrende Prozess der Transformation in größtmöglicher Ruhe vollziehen kann. Kräftezehrend, schwierig und anstrengend war in meinem Fall meine Arbeit als Krankenschwester, die mich voll und ganz ausfüllte; da war keine Zeit und Motivation für die innere Transformation. Ich nahm Anteil am Leben meiner Patienten, alten Menschen in der Geriatrie, was vielleicht nicht so gut war für mein emotionales Gleichgewicht, aber immerhin brauchte ich mich dadurch nicht mit mir selbst auseinanderzusetzen, während ich doch als gute Fee für andere da war und für sie sorgte.

Über mich selbst dachte ich einfach nicht nach und erfüllte meinen Dienst mit dem größtmöglichen Großmut und Mitgefühl. Energie für mich blieb da einfach nicht übrig, aber den alten Menschen, die noch unsichtbarer waren als ich selbst, tat ich wohl, das merkte ich. Da spürte ich mich zumindest in ihren Reaktionen auf mich.

Ich arbeitete in keiner schönen „Seniorenresidenz“, sondern einem Aufbewahrungsort für menschliche Altlasten, die von ihren Familien möglichst kostengünstig der Verantwortung anderer übergeben worden waren. Besucher gab es wenig, denn die meisten fanden den Aufenthalt in dem alten Gebäude mit kleinen, dunklen, renovierungsbedürften Zimmern, bei den alten, siechen Menschen sehr unangenehm. Kein Wunder, es war auch unangenehm. Nur durch die tägliche Arbeit hier wurde das Ganze erträglich, weil man sich daran gewöhnte, so wie man sich an die Menschen hier gewöhnte: Traurige, Vergessliche, Vergessene, Kranke, Krumme, Unterforderte, Gebrochene, Einsame, Kluge – und viele alles davon zusammen. An einem freundlicheren Ort hätte man ihnen viel Gutes tun können, an diesem Ort hier waren sie abgestellt wie ein rostiges Fahrrad auf der Müllkippe.

Wieso ich dort überhaupt blieb? Ich hatte hier die Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und war einfach hängen geblieben. Immer gab es Menschen, die ich lieb gewann, auch wenn der Tod sie mir irgendwann nahm. Dann waren da immer wieder andere, die mich – MICH – zu brauchen schienen, und was wäre ich für eine schlechte Fee, wenn ich sie im Stich ließe? Und in meinem Beruf ist die Bezahlung überall gleich schlecht, auch das konnte kein Grund sein, die Stelle zu wechseln. Und man gewöhnt sich wirklich an eine Situation und sie wird so normal, wie sie nur sein kann, auch wenn sie es von außen betrachtet nicht ist. Aber so ist das nun mal, wir betrachten nicht von außen, denn wir stecken ja mittendrin in unserem Leben. Ganz tief drin und manchmal ganz weit unten, ohne es zu merken. So ist das im Kokon. Er schützt, macht blind, hält fest. Vor allem, wenn man nicht bemerkt, dass es sich gar nicht um einen schützenden Kokon, sondern eher um ein unsichtbares Gefängnis handelt, in das wir uns selbst gesteckt haben.

Da saß ich also in meinem Gefängnis, die gute Fee, gefangen, darauf wartend, dass der Schmetterling eines Tages herausflattern würde, ohne dass ich auch nur das Geringste dafür tun müsste. Denn in der Natur passiert es doch auch einfach: Die Raupe denkt ja nicht darüber nach: heute muss ich viel Essen, damit ich morgen, wenn ich mich im Kokon verpuppen werde, genug Kraft habe, damit ich die Umwandlung zum Schmetterling übermorgen gut hinkriege …

„Hey, die Pause ist um! Träumst du mal wieder?“, holte mich eine Kollegin aus meinen Gedanken. Ich lächelte nur nichtssagend und stand auf. Lächeln, die schönste Art, anderen die Zähne zu zeigen… Dabei dachte ich nur: „Kann sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, bevor mein Pflichtbewusstsein wieder die Fee weckte und wir uns auf den Weg zu den Patienten machten. Ein wenig wie ein Roboter erfüllte ich meinen Dienst, wobei auch die persönliche Kontaktaufnahme zu jedem Patienten für mich dazu gehörte. Mein Ziel war es, den ansprechbaren Patienten jeden Tag mindestens ein Lächeln zu entlocken. Manchmal war es gar nicht so einfach, aber meistens gelang es mir, was mich stolz machte. Denn es ist weitaus anstrengender, einen traurigen Menschen zum Lächeln zu bringen, als einen Bettlägerigen umzulagern.

Unerreichbar

Als der neue Arzt bei uns anfing, verliebten sich alle sofort in ihn. Er strahlte alles aus, was man von einem guten Arzt erwartet: Freundlichkeit, Menschlichkeit und Kompetenz gepaart mit einer gewissen Unverbindlichkeit, die die emotionale Distanz zu den Patienten konservierte und ihn damit unerschütterlich rational, unbestechlich und unnahbar machte. Eine unmögliche Mischung? Ja, vielleicht. Und er strahlte all das ja auch nur aus. Es dauerte nicht lange und die Gerüchte um seine Affären schlugen selbst mir entgegen. Aber kein Problem für mich, ich war ja unsichtbar und damit außerhalb jeder Konkurrenz. Ich wollte gar nicht hören, was sich angeblich oder tatsächlich zwischen ihm und Schwester Angela (oder war es Vanessa oder waren es beide?) passierte. Ich wollte ihm gar keine Aufmerksamkeit schenken, was mir aber nicht wirklich gelang, denn er sah wirklich gut aus und das offensichtlich nicht nur subjektiv, sondern auch ganz objektiv, denn wie gesagt: alle Schwestern himmelten ihn an. Der Virus hatte mich auch ergriffen, ich konnte nicht anders, als es ihnen gleich zu tun. Ein unweigerlicher Sog schien mich immer wieder in seine Nähe zu ziehen, nur um still leidend wieder abzuziehen, da ich in meinem Kokon weder Wahrnehmung verdiente noch bekam. Ich träumte mir eine Wirklichkeit zurecht, die niemals auch nur einen Hauch von Realität in sich trug. Träumte, wie er mich zum Essen einlud, nachdem er mich nach Feierabend in einem meiner Tuchgewänder gesehen und ihn meine Schönheit und Besonderheit schier umgehauen hatte. Es war der alte Traum des Mauerblümchens, der sich in zahlreichen Märchen manifestiert. Cinderella und all die anderen Kreaturen, die in ihrer wahren Schönheit unerkannt dahinlebten, bis endlich der Prinz sie fand, errettete und selbstverständlich heiratete. Ach, verflucht seien all die Märchen und Lügengeschichten, die uns weis machen wollen, dass wir nur auf den Prinzen warten müssen, der uns von unserer elendigen Einsamkeit erlöst und fortan für immer glücklich und zufrieden mit uns lebt. Es ist doch nur ein Mittel zum Zweck gewesen, Mädchen brav, geduldig und erduldend zu halten! Aber hey, es funktionierte hunderte Jahre später immer noch!

Doch so sehr ich mich über meine Schwärmerei für Doktor Sven Lindberg auch ärgerte (und mich für sie schämte), ich konnte sie nicht ablegen. Insgeheim wollte ich ihn als meinen Prinzen, meinen Erretter aus dem Kokon betrachten und mich als die Auserwählte fühlen, die ihn wirklich im Innersten berührte und bei der er endlich nach langem Suchen – und zahlreichen, intensiven Affären - die Liebe seines Lebens fand, bei der er für immer bleiben wollte… das Leben könnte so schön sein!